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B1|A40 THE BEAUTY OF THE GRAND ROAD

DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE 2014 EINE AUSSTELLUNG IM STADTRAUM DER A40 VON DUISBURG BIS DORTMUND 14.06.2014 – 07.09.2014 MAP MARKUS AMBACH PROJEKTE URBANE KÜNSTE RUHR (HG.) WIENAND

DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE 2014
EINE AUSSTELLUNG IM STADTRAUM DER A40 VON DUISBURG BIS DORTMUND
14.06.2014 – 07.09.2014

MAP MARKUS AMBACH PROJEKTE
URBANE KÜNSTE RUHR
(HG.)

WIENAND

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Ton und vor allem Sprache spielen in ihren<br />

Video- und Klanginstallationen eine zentrale<br />

Rolle. Sprache ist dabei meist an die menschliche<br />

Stimme gekoppelt, die auch als tragendes<br />

Gerüst, als Organ der Identitätsbildung manifest<br />

wird. Dabei bewegt sich die Künstlerin immer<br />

wieder aus den klassischen Ausstellungsräumen<br />

heraus und entwickelt spezifische<br />

Konzepte, die die historischen, sozialen, visuellen<br />

und akustischen Überlagerungen eines<br />

Orts zur sinnlichen Anschauung bringen.<br />

Bei ihren verschiedenen Besuchen rund um<br />

den Kaiserberg stieß Danica Dakić in Mülheim<br />

an der Ruhr auf einen Landhof, der tierische<br />

Produkte aus eigener Herstellung vertreibt.<br />

Dort verfestigte sich die Idee, der in Gefangenschaft<br />

hervorgerufenen Sprache der Gänse<br />

eine ungewöhnliche Bühne zu verleihen.<br />

Zwischen Oktober und Dezember 2013 entstanden<br />

in enger Zusammenarbeit mit Egbert<br />

Trogemann zahlreiche Aufnahmen von Gänsen<br />

und Umgebungsgeräuschen. In Koproduktion<br />

mit dem Komponisten Bojan Vuletić wurden<br />

die Tierstimmen zu einer 23-minütigen Komposition<br />

verdichtet, die aus sieben ineinander<br />

übergehenden Teilen besteht, unterbrochen<br />

von Momenten der Stille. Dabei wurde das Material<br />

gänzlich frei und hinsichtlich seiner musikalischen<br />

Logik verwendet.<br />

„Wie eine klassische Oper beginnt die Komposition<br />

mit einer Ouvertüre, solistischen Arien,<br />

Ensembles und Chören. Durch parallel überlagerte<br />

Rhythmen entstehen größere rhythmische<br />

Strukturen und in den chorischen Passagen<br />

addieren sich die Stimmen zu zusätzlichen<br />

Obertonmelodien. Das Stück ist melodramatisch<br />

auch insofern, als die Gänse über einen<br />

längeren Zeitraum an insgesamt sechs Tagen<br />

aufgenommen wurden. Das Ensemble veränderte<br />

sich, da sich die Zahl durch die Schlachtungen<br />

für die Sankt-Martin-Saison kontinuierlich<br />

reduzierte. Diese Thematik wurde in<br />

der Komposition als dramatischer Bogen aufgegriffen.<br />

Die Mischung und das Mastering für<br />

die spezielle Installation wurden in fünf Audiowegen<br />

umgesetzt, ein Kanal für die Stirnseite<br />

des Lagercontainers und jeweils zwei auf den<br />

Längsseiten“, erläuterte der Komponist Bojan<br />

Vuletić. So basiert die Komposition nicht auf<br />

Tierimitationen, sondern authentischem Tonmaterial,<br />

operiert aber mit ihrer digitalen Verarbeitung<br />

in einer mimetischen Kulturtradition,<br />

die etwas fortführt, das die Natur so nicht<br />

schaffen würde.<br />

Was passiert eigentlich mit Mozart, wenn man<br />

seine Musik auf einer öffentlichen Toilette<br />

hört oder eine Oper an einer Autobahnausfahrt<br />

aufgeführt wird? Wie kann klassische<br />

Musik aus den moribunden Stätten bourgeoiser<br />

Kultur befreit werden? Diese seit John<br />

Cage ausgelösten Fragen haben seit Mitte des<br />

20. Jahrhunderts eine neue Entwicklung installativer<br />

Klangkunst hervorgebracht, die sich<br />

der Schaffung von Situationen widmet und die<br />

ihre Schärfe besonders da erhält, wo klassische<br />

Konzert- und Galerieräume verlassen<br />

werden. Mittlerweile sind sich Straße, Museum<br />

und Theater deutlich näher gekommen.<br />

Doch gelten im öffentlichen Raum noch immer<br />

eigene Regeln, die nicht nur den Ordnungsund<br />

Besitzverhältnissen unterliegen, sondern<br />

ebenso der Wahrnehmungsbereitschaft eines<br />

höchst unterschiedlichen Publikums, das wie<br />

in diesem Fall nicht als Konzertpublikum angesprochen<br />

werden konnte. Trotz der musikalisch<br />

inhärenten Struktur des Stücks blieb<br />

die Ankündigung einer Gänseoper daher eine<br />

künstlerisch bewusst kalkulierte Behauptung<br />

und stellte auch damit eine Reibungsfläche<br />

dar.<br />

Der Container ist keine Bühne, kein Kunstcontainer<br />

als mobiler, wilder Ausstellungsbeziehungsweise<br />

Aufführungsort, wie er oft<br />

verwendet wurde, sondern ausschließlich<br />

Resonanzkörper, ein Instrument, das sich<br />

gegen die Umgebungsgeräusche behaupten<br />

musste. Es gab keine konzertierenden Musiker<br />

und auch der visuelle Fokus auf das vermutete<br />

Ensemble (die eingesperrten Gänse)<br />

beziehungsweise die technische Konstruktion<br />

(Lautsprecher) entfiel. Zudem musste sich der<br />

Besucher räumlich bewegen, um den Quellen<br />

der verschiedenen auf- und abschwellenden<br />

Tonspuren zu folgen. Neben der Zugangsfreiheit<br />

–Eintrittsgeld, eine spezielle Kleiderordnung,<br />

Platzanweiser entfielen – gab es auch<br />

keine festgelegten Aufführungstermine.<br />

Vielleicht gibt es nicht einmal ein Publikum?<br />

Denn auch diese Fragen wirft die Installation<br />

von Dakić auf: Was ist Kultur? Wo berühren<br />

sich Kunst und das alltägliche Leben? Wer ist<br />

das Publikum für eine Oper an einem solch<br />

abgelegenen Ort? Kann Kunst auch im öffentlichen<br />

Raum eine Autonomie bewahren, ohne zu<br />

einem akustischen Dekor zu werden?<br />

Danica Dakićs Installation präsentierte einen<br />

verschlossenen Raum, ein verschlossenes<br />

Bild, das dennoch eröffnete, was draußen ist.<br />

Die Gänseoper ist ein Drama ohne Libretto, da<br />

wir die Sprache der Gänse nicht verstehen;<br />

eine Oper, deren Gesang sprichwörtlich durch<br />

Mark und Bein geht. Sie nutzt die ästhetischen<br />

und darin realitätsverzerrenden Gestaltungsmöglichkeiten<br />

einer klassischen Kunstform<br />

und setzt zugleich im nahezu aristotelischen<br />

Sinn ein tragisches Verstricktsein der gefangenen<br />

und todgeweihten Tiere geradezu körperlich<br />

in Szene; als wäre die Gänsehaut das<br />

erste ästhetische Bild, das wir empfangen: unsere<br />

Fähigkeit, zu erschauern. Doch galt auch<br />

hier: Was im tatsächlichen Leben unerträglich<br />

sein kann, lässt sich im Medium Kunst nicht<br />

nur leichter verarbeiten, sondern durchaus<br />

genießen.<br />

SABINE MARIA SCHMIDT<br />

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