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B1|A40 THE BEAUTY OF THE GRAND ROAD

DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE 2014 EINE AUSSTELLUNG IM STADTRAUM DER A40 VON DUISBURG BIS DORTMUND 14.06.2014 – 07.09.2014 MAP MARKUS AMBACH PROJEKTE URBANE KÜNSTE RUHR (HG.) WIENAND

DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE 2014
EINE AUSSTELLUNG IM STADTRAUM DER A40 VON DUISBURG BIS DORTMUND
14.06.2014 – 07.09.2014

MAP MARKUS AMBACH PROJEKTE
URBANE KÜNSTE RUHR
(HG.)

WIENAND

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JAKOB KOLDING<br />

OHNE TITEL<br />

NEUE BEWEGLICHE SZENERIEN „Wir werden die mechanischen Zivilisationen<br />

und die kalte Architektur, die am Ende ihres Wettrennens<br />

zu langweiliger Freizeit führen, nicht verlängern. Wir haben vor, neue<br />

bewegliche Szenerien zu erfinden […]“, 1 verkündete der französische<br />

Künstler und Aktivist Ivan Chtcheglov 1953 unter dem Pseudonym Gilles<br />

Ivain in seinem Pamphlet Formel für einen neuen Urbanismus. Chtcheglovs<br />

Text inspirierte die Psychogeografie der Situationisten und<br />

ihren Modus der Bewegung durch den urbanen Raum: die dérive, das<br />

Abweichen vom vorgesehenen Weg, das leidenschaftliche Driften und<br />

absichtliche Verlaufen.<br />

Das ästhetische Modell, das der situationistischen Stadterfahrung zugrunde<br />

liegt, ist die Collage. Guy Debords Guide psychogéographique de<br />

Paris von 1957 beruhte auf dem von Georges Peltier erstellten Plan de<br />

Paris à vol d’oiseau von 1920–1940; Debords Guide zerschneidet diesen<br />

Stadtplan in verschiedene Teile – unités d’ambiance –, die mehr oder<br />

weniger weit voneinander abgerückt und durch rote Pfeile unterschiedlicher<br />

Anzahl und Stärke miteinander verbunden sind. Die Pfeile kartieren<br />

die unbewussten Bewegungen der Person, die diese fragmentierten<br />

räumlichen Einheiten durchquerte. Doch der Collage-Charakter<br />

von Debords Guide war bereits ein Merkmal des Pariser Stadtraums<br />

selbst, seit die Haussmann’schen Boulevards und Avenuen Mitte des<br />

19. Jahrhunderts die historisch gewachsenen Strukturen der Stadt<br />

durchschnitten hatten. „Die dérive“, bemerkte Henri Lefèbvre rückblickend,<br />

„war aus meiner Sicht eher eine Praxis als eine Theorie. Sie zeigte<br />

die zunehmende Fragmentierung der Stadt. Im Lauf der Geschichte<br />

war die Stadt einmal eine starke organische Einheit gewesen; doch<br />

diese Einheit war seit einiger Zeit zunehmend in Auflösung begriffen,<br />

fragmentierte sich […].“ 2<br />

Im gleichen Jahr, in dem Chtcheglov vorschlug, die Straße zum Schauplatz<br />

„neuer beweglicher Szenerien“ zu machen, brachte ein Schriftsteller<br />

die Straße ins Theater. „Landstraße. Ein Baum. Abend.“, lautet<br />

Becketts Beschreibung des elementaren Bühnenbilds von Warten auf<br />

Godot, das im Januar 1953 in Paris uraufgeführt wurde. Hier wie dort –<br />

im fiktionalen Raum des Theaters wie in der umherschweifenden Aneignung<br />

des öffentlichen Raums – wurde die Straße zu einer Bühne für<br />

mehr oder weniger prekäre Existenzen.<br />

Die künstlerische Auseinandersetzung mit Theatralizität begann im<br />

Werk von Jakob Kolding vor mehr als einer Dekade, wie etwa in einer<br />

Reihe von Collagen, in denen (teils beschnittene) Abbildungen von<br />

Robert Morris’ Arbeit Two Columns von 1961 und anderen Werken des<br />

amerikanischen Künstlers Verwendung finden. 3 Morris hatte die beiden<br />

grauen, quadratischen Pfeiler zuerst nicht als autonome Skulpturen gezeigt,<br />

sondern als Elemente einer Performance des New Yorker Living<br />

Theater eingesetzt, wo sie für die vertikale und die liegende Position<br />

des Tänzers standen. Für den Kritiker Michael Fried waren Objekte wie<br />

diese bekanntlich „ein Plädoyer für eine neue Art von Theater […]. Während<br />

in früherer Kunst‚ alles, was das Werk hergibt, stets in ihm selbst<br />

lokalisiert‘ ist, wird in der literalistischen Kunst ein Werk in einer Situation<br />

erfahren – und zwar in einer, die geradezu definitionsgemäß den Betrachter<br />

mit umfaßt […].“ 4 Oder, wie Morris selbst formulierte: „Man ist<br />

sich stärker als früher dessen bewußt, daß man selber die Beziehungen<br />

herstellt, indem man das Objekt aus verschiedenen Positionen, unter<br />

wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen räumlichen<br />

Zusammenhängen erfaßt.“ 5<br />

Hier – bei diesem Bewusstsein, „daß man selber die Beziehungen herstellt“<br />

– setzt Koldings Installation von figurativen schwarz-weißen<br />

Collagen in dem von der A40 buchstäblich zerschnittenen Areal rund<br />

um den Frillendorfer Platz an. Wie so viele städtische Plätze ist auch<br />

dieser eher ein transitorischer Funktionsraum und Nicht-Ort im Sinne<br />

Marc Augés. 6 Koldings Arbeiten besetzen die unterschiedlichen Räume<br />

in unmittelbarer Nähe der Autobahn – Bushaltestelle, Restgrünfläche,<br />

Unterführung, Treppenaufgang – wie eine Bühne und machen dadurch<br />

umso sichtbarer, was diesem Ort ansonsten fehlt: eine Art Zusammenhang.<br />

Die Übergänge zwischen den verstreuten Standpunkten der Cut-Outs<br />

sind ebenso hart und abrupt wie die Binnenbeziehungen mancher der<br />

ungefähr lebensgroßen Gestalten, unter ihnen eine wahrscheinlich<br />

weibliche Figur, deren Oberkörper von einem Pappkarton verborgen ist,<br />

in den ein maskenartiges Gesicht geschnitten ist, oder eine männliche<br />

Gestalt, deren obere Hälfte auf ein antikes Statuen-Fragment montiert<br />

wurde. In seiner physischen Integrität gefährdet erscheint auch der auf<br />

dem Kopf stehende Breakdancer, der im Beton festzustecken scheint –<br />

wobei sich durchaus unterschiedliche Lesarten seiner Gestalten herausarbeiten<br />

lassen, wie Kolding betont: „Ich habe zu schätzen gelernt,<br />

wie beispielsweise ein auf dem Kopf stehender Mann in einem sehr<br />

konkreten Sinne ein Kommentar auf Machtverhältnisse und die Nutzung<br />

von Raum sein kann – er kann ein buchstäblicher Ausdruck dafür sein,<br />

die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, oder eine Art Lebensgefühl<br />

ausdrücken.“ 7<br />

Die größte Gemeinsamkeit der Collagen besteht – neben der Reduktion<br />

auf Schwarz-Weiß-Werte – in ihrer relativen Vereinzelung. „Der Raum<br />

des Nicht-Ortes“, konstatiert Augé, „schafft keine besondere Identität<br />

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