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B1|A40 THE BEAUTY OF THE GRAND ROAD

DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE 2014 EINE AUSSTELLUNG IM STADTRAUM DER A40 VON DUISBURG BIS DORTMUND 14.06.2014 – 07.09.2014 MAP MARKUS AMBACH PROJEKTE URBANE KÜNSTE RUHR (HG.) WIENAND

DIE SCHÖNHEIT DER GROSSEN STRASSE 2014
EINE AUSSTELLUNG IM STADTRAUM DER A40 VON DUISBURG BIS DORTMUND
14.06.2014 – 07.09.2014

MAP MARKUS AMBACH PROJEKTE
URBANE KÜNSTE RUHR
(HG.)

WIENAND

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CHRISTINE UND IRENE HOHENBÜCHLER<br />

... FLIEG VOGEL FLIEG ...<br />

„Flügge werden, nomadisches Leben, (gezwungene) ständige Mobilität,<br />

Arbeitsmigration, prekäre Lebensverhältnisse, keine Zukunftschancen<br />

… ausgesetzt sein, fort müssen … ohne zu wollen … Wanderschaft ...“,<br />

so Christine und Irene Hohenbüchler zu ihrem „Hüttendorf“ in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft der unüberbietbar öden Haltestelle Eichbaum<br />

auf der Strecke Essen-Mülheim. Irgendwo nahe der A40 gelegen, deren<br />

Schönheit das übergreifende Projekt von der großen Straße feierte, ist<br />

es nur eine unter den vermeintlichen Schlagadern der Mobilität, die die<br />

alten Routen der Roma durch den Duisburger Ortsteil Werthacker blockieren.<br />

Dem Vernehmen nach haben inzwischen 35 000 Sinti und Roma einen<br />

festen Wohnsitz – und mehrheitlich auch einen Arbeitsplatz – in der<br />

Rhein-Ruhr Region. Etwa 70 000 von 120 000 Sinti und Roma besitzen<br />

einen deutschen Pass, sind mithin Staatsbürger. Sie alle haben, anders<br />

als in mitfühlend romantisierenden wie in verachtend kriminalisierenden<br />

Vorstellungen geläufig, rein gar nichts mit dem fahrenden Volk,<br />

schlimmer Gesindel, gemein.<br />

Und doch haben die Künstlerinnen ihnen „nur“ ein temporäres Lager<br />

eingerichtet. Der Platz könnte idyllischer nicht sein. Ein Feld zwischen<br />

Verkehrsknotenpunkt und reich begrünter Stadtrandsiedlung, auf dem<br />

ein Bauer immer noch sein Getreide aussät, beherbergte sieben bei aller<br />

Simplizität des Materials ebenso edle wie fragile architektonische<br />

Skulpturen, Formen zwischen Wanderhütte, Pavillon, Taubenhaus und<br />

Vogelfutterstelle – Lattenkonstrukte auf geometrischen Grundrissen,<br />

die über Jahrhunderte in allen Kulturen nützlichen ebenso wie kultischen<br />

Zwecken dienten. In deren hier und da von traditionsreichem<br />

Korbgeflecht geschütztem Inneren liegen Masken – mal auf dem Boden,<br />

mal auf spärlichem Mobiliar. Ein einziges Haus gibt seine Funktion zu<br />

erkennen: das Taubenhaus.<br />

Dass es hier nicht um die verklärte Sonnenseite der in Liedern, Mythen,<br />

Opern und Operetten lustig lustvoll gefeierten Freizügigkeit des<br />

„Zigeunerlebens“ geht, lassen die handschriftlichen Texte auf den<br />

Behausungen unschwer erkennen. Historische Edikte aus vordemokratischen<br />

europäischen Gesellschaften und nicht allzu weit zurückliegende,<br />

gleichwohl erfolgreich verdrängte Einzelschicksale aus der<br />

unmittelbaren Nachbarschaft fügen sich je nach Platzierung hier zu<br />

mehr oder minder zusammenhängenden Texten, dort zu ornamental<br />

anmutigen Schriftbändern auf den ohnehin verführerisch beschwingt<br />

im Getreidefeld gelandeten Hütten. Umso verwirrender ihre Botschaft:<br />

Ihre die individuellen Behausungen umlaufenden Bruchstücke vernetzen<br />

sich weder im Positiven noch im Negativen zu einer vollständigen<br />

Erzählung. Etwa diese auf einem schlichten, rechteckigen Gehäuse:<br />

„Die Sinti als ... dienten in vielen Edikten der absolutistischen ...“, oder<br />

„... in Duisburg wurde z.B. ... ein Autoschlosser und Soldat, der mit einer<br />

‚Arierin‘ verheiratet war und ihre sieben ...“. Die Fortsetzung folgt<br />

um die Ecke des ob seines Grundrisses – ein Hexagon – nachgerade<br />

edel anmutenden Pavillons. Und dann die immer noch nicht geklärte<br />

Namensgeschichte der „Zigeuner“, die sich genau genommen erübrigt,<br />

weil die Fremdbezeichnung nach langem Ringen der Betroffenen mit<br />

der Mehrheitsgesellschaft aus dem Alltagsgebrauch verbannt wurde.<br />

Ob das Verschwinden eines mit den traurigsten Kapiteln dieses Volkes<br />

verknüpften Namens auch nur irgendetwas zur Aufwertung der über<br />

Jahrhunderte diskriminierten Ethnie beitragen kann, ist bislang schwer<br />

absehbar. Wer reagiert wie, wenn er liest „... Zigeuner ... wahrscheinlich<br />

vom griechischen Wort atzinganoi (Unberührbare) abgeleitet ...“?<br />

Und wie wäre es, einmal die deutsche Übersetzung ausblendend, eine<br />

Brücke von der möglichen Herkunft aus der uralten Kultursprache der<br />

Griechen, genauer der Byzantiner, zu der nicht minder alten Kulturgeschichte<br />

der Roma zu schlagen? Oder wahrzunehmen, dass „der Autoschlosser<br />

und Soldat“, dem die verwerfliche Hochzeit mit einer „Arierin“<br />

zum Verhängnis wurde, selbst auf seine indo-arischen Wurzeln<br />

verweisen könnte, wenn er denn nicht – wie anzunehmen – Opfer des<br />

germanischen Rassenwahns geworden sein sollte.<br />

„... flieg Vogel flieg ...“, drei für Nicht-Insider wie das Echo eines Liedes<br />

aus fernen Kindertagen klingende Worte zieren die Frontseite des<br />

Taubenhauses. Kenner des Ruhrgebiets wissen, dass Brieftauben und<br />

Kumpel hier eine unverbrüchliche kulturelle Gemeinschaft bilden. Aber<br />

Roma und Sinti?<br />

Selbst jene, die von sich annehmen, dass sie allen Fremden mit größtem<br />

Wohlwollen begegnen, fehlt es wohl an jenem Wissen, das als Fundament<br />

jeglichen Zusammenlebens geboten wäre. Die mal verklärten,<br />

mal verfemten „Zigeuner“ leben hier, mit festem Wohnsitz, seit Jahrhunderten.<br />

Gegebenenfalls auch mit Brieftauben, jenen Boten, die seit<br />

eh und je – vormals auch in Kriegszeiten – Kommunikation über unüberwindlich<br />

scheinende Grenzen hinweg ermöglichen. Die mentalen Grenzen<br />

aus den Gefilden des Nicht-Wissen-(Wollens)s dürften unter diesen<br />

ohnehin die härtesten sein.<br />

Für Christine und Irene Hohenbüchlers Werk ist kreative Koproduktion<br />

in breit gestreuten sozialen Kontexten von Kindern über soziale<br />

„Randgruppen“ bis zu Künstlerkollegen elementar. Für das Lied von der<br />

Schönheit der großen Straße haben sie diese mit Brieftaubenzüchtern,<br />

dem jungen Roma-Theater unter der Leitung von Nedjo Osman und einem<br />

Vortrag von Merfin Demir vom Verein Terno Drom e. V. – Sinti-und<br />

Roma-Jugend NRW derart intensiviert, dass die in Kunst und Gesell-<br />

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