29.06.2021 Views

CHOREOGRAFIE EINER LANDSCHAFT

CHOREOGRAFIE EINER LANDSCHAFT VAN HEESWIJK / VAN DER MEIJS / JÜRGENSEN CHRISTINE UND IRENE HOHENBÜCHLER FOLKE KÖBBERLING/MARTIN KALTWASSER JAKOB KOLDING RITA MCBRIDE JOHN MILLER OLAF NICOLAI MARTIN PFEIFLE THOMAS SCHÜTTE ANDREAS SIEKMANN BORIS SIEVERTS PHILIPP RÜHR/HENNING FEHR MAP Markus Ambach Projekte (Hg.) im Auftrag der Stadt Dinslaken und der RAG Montan Immobilien GmbH

CHOREOGRAFIE EINER LANDSCHAFT

VAN HEESWIJK / VAN DER MEIJS / JÜRGENSEN
CHRISTINE UND IRENE HOHENBÜCHLER
FOLKE KÖBBERLING/MARTIN KALTWASSER JAKOB KOLDING RITA MCBRIDE JOHN MILLER OLAF NICOLAI MARTIN PFEIFLE THOMAS SCHÜTTE ANDREAS SIEKMANN BORIS SIEVERTS PHILIPP RÜHR/HENNING FEHR

MAP Markus Ambach Projekte (Hg.)
im Auftrag der Stadt Dinslaken und der RAG Montan Immobilien GmbH

SHOW MORE
SHOW LESS

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

VAN HEESWIJK / VAN DER MEIJS / JÜRGENSEN<br />

FOLKE KÖBBERLING / MARTIN KALTWASSER<br />

JAKOB KOLDING<br />

THOMAS SCHÜTTE<br />

WIENAND


MARKUS AMBACH<br />

<strong>CHOREOGRAFIE</strong> <strong>EINER</strong> <strong>LANDSCHAFT</strong><br />

VAN HEESWIJK / VAN DER MEIJS / JÜRGENSEN<br />

CHRISTINE UND IRENE HOHENBÜCHLER<br />

FOLKE KÖBBERLING / MARTIN KALTWASSER<br />

JAKOB KOLDING<br />

RITA MCBRIDE<br />

JOHN MILLER<br />

OLAF NICOLAI<br />

MARTIN PFEIFLE<br />

THOMAS SCHÜTTE<br />

ANDREAS SIEKMANN<br />

BORIS SIEVERTS<br />

PHILIPP RÜHR / HENNING FEHR<br />

MAP Markus Ambach Projekte (Hg.)<br />

im Auftrag der Stadt Dinslaken und der RAG Montan Immobilien GmbH<br />

WIENAND


INHALT<br />

4<br />

GRUSSWORTE<br />

8<br />

12<br />

16<br />

<strong>CHOREOGRAFIE</strong> <strong>EINER</strong> <strong>LANDSCHAFT</strong><br />

Lohberger Realität<br />

Lohberger Zukunft<br />

20<br />

24<br />

30<br />

34<br />

38<br />

43<br />

45<br />

THEMEN & ORTE<br />

Lohberg Globalokal<br />

Die Zukunft der Geschichte<br />

Nach der Natur<br />

Von der Stadt aufs Land und zurück<br />

Coop Energie Lohberg<br />

Lohberg – Beschreibung einer Lebenswelt<br />

Anja Sommer<br />

48<br />

52<br />

60<br />

62<br />

DAS WERKSTATTVERFAHREN<br />

Die Werkstatt<br />

Wie kommt das Neue in die Welt – Ein Symposium<br />

Kunst im Zusammenspiel mit Stadtplanung Ruth Reuter / Bernd Lohse<br />

64<br />

66<br />

68<br />

70<br />

74<br />

78<br />

82<br />

86<br />

88<br />

92<br />

96<br />

98<br />

102<br />

DIE PROJEKTENTWÜRFE<br />

Jeanne van Heeswijk / Marcel van der Meijs<br />

John Miller<br />

Rita McBride<br />

Jakob Kolding<br />

Andreas Siekmann<br />

Thomas Schütte<br />

Olaf Nicolai<br />

Christine und Irene Hohenbüchler<br />

Philipp Rühr / Henning Fehr<br />

Boris Sieverts<br />

Folke Köbberling / Martin Kaltwasser<br />

Martin Pfeifle<br />

106<br />

106<br />

107<br />

108<br />

DER FACHBEIRAT<br />

Ein Fachbeirat Gregor Jansen<br />

Die Realisierungsvorschläge<br />

Kunst und Öffentlichkeit Hans-Jürgen Hafner<br />

112<br />

114<br />

126<br />

132<br />

142<br />

DIE REALISIERUNGEN<br />

Parkwerk Jeanne van Heeswijk + Team Susanne Bosch<br />

Ohne Titel Jakob Kolding Barbara Hess<br />

Kraftwerk Lohberg Köbberling / Kaltwasser Martin Kaltwasser<br />

Hase Thomas Schütte Kerstin Stremmel<br />

152<br />

VIEL ANFANG UND KEIN ENDE Ein Resümee


GRUSSWORTE<br />

Dr. Michael Heidinger, Bürgermeister Stadt Dinslaken<br />

Von Anfang an war die Entwicklung des ehemaligen Zechenareals<br />

in Dinslaken-Lohberg mit Kunst und Kreativität verbunden.<br />

Und dies nicht etwa einem gerade aktuellen Trend des 21. Jahrhunderts<br />

folgend, sondern durchaus mit Blick auf die gut einhundertjährige<br />

Geschichte des Standorts. Der Bergbau war nämlich<br />

nie eine kunstfreie Zone, wie viele glauben. Im Gegenteil, Kunst<br />

und Kultur gehörten mit zum Gesamtkonzept Bergbau, so wie es<br />

sich im vorigen Jahrhundert entwickelt hat. Dies beginnt mit der<br />

Architektur von Betriebsgebäuden und Zechenwohnungen. Die<br />

denkmalgeschützten Gebäude auf dem ehemaligen Firmengelände<br />

geben Zeugnis davon, und wer mit offenem Auge durch die<br />

Gartenstadt geht, wird dies ebenfalls nachvollziehen können. Es<br />

geht weiter über die Kunst am Bau bis hin zur gezielten Förderung<br />

der bergmännischen Kultur.<br />

So ist die Idee, für Lohberg die Entwicklung als Kreativ.Quartier<br />

mit einem hohen Anteil an Kunst zu formulieren, auch das Ergebnis<br />

einer konsequenten Auseinandersetzung mit der Geschichte<br />

des Standorts. Kunst und Kultur waren hier allerdings nie eine museale<br />

Angelegenheit, sondern eingebunden in den Alltag und die<br />

Lebensgeschichten der Menschen, die hier wohnen und arbeiten.<br />

Konsequenterweise folgt die Kunst als Mittel der Standortentwicklung<br />

auch keinem museumskuratorischen Prinzip. Choreografie<br />

einer Landschaft hat nicht auf Atelierprodukte ohne Bezug<br />

zu Ort und Menschen gesetzt, stattdessen sollte hier Kunst in<br />

Kollaboration mit den Menschen vor Ort entstehen, in der Auseinandersetzung<br />

mit dem Raum und der Stimmung des Orts. Es<br />

gilt das Konzept der Künste im urbanen Raum, so wie es in der<br />

Weiterführung des Kulturhauptstadtjahrs 2010 formuliert wurde.<br />

Markus Ambachs Choreografie einer Landschaft hat diese Aufgabe<br />

beispielhaft gelöst. Sie vereint Elemente der traditionellen<br />

Skulptur und der sozialen Kreativität. Nicht nur die vier realisierten<br />

Kunstwerke, sondern alle zwölf eingereichten künstlerischen<br />

Interventionen sind Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung<br />

der beteiligten Künstlerinnen und Künstler mit dem<br />

Standort, seinen Menschen, seiner Geschichte, Gegenwart und<br />

Zukunft.<br />

Mit Choreografie einer Landschaft erhält der Bergpark Lohberg<br />

ein Gesicht und eine künstlerische Aussage. Kunst im öffentlichen<br />

Raum ist allerdings niemals statisch, Natur und Menschen<br />

werden ihrerseits in die Choreografie eingreifen und so die künstlerische<br />

Aussage immer wieder verändern. Ein Prozess, auf den<br />

wir alle gespannt sein dürfen.<br />

6


Prof. Dr. Hans-Peter Noll, RAG Montan Immobilien GmbH<br />

Auf dem Bergwerk Lohberg in Dinslaken wurde rund 100 Jahre Industrie-<br />

und Stadtgeschichte geschrieben. Heute ist das Areal als<br />

Kreativ.Quartier Lohberg (KQL) Symbol für den Umwandlungsprozess<br />

eines ganzen Stadtteils und für die Zukunft Dinslakens.<br />

Im Norden der Stadt entsteht ein neues Stadtquartier zum Arbeiten<br />

und Wohnen für rund 1000 Menschen. Die Entwicklung der<br />

Fläche erfolgt in gemeinsamer Verantwortung der RAG Montan<br />

Immobilien GmbH und der Stadt Dinslaken nach den Grundsätzen<br />

von Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Tragfähigkeit.<br />

Zentrales Element der Standortentwicklung ist der räumliche Dreiklang<br />

aus dem Stadtteil Lohberg, dem ehemaligen Zechengelände<br />

und der Haldenlandschaft. Sie bilden gemeinsam einen Entwicklungsraum,<br />

der so nirgendwo sonst in der Metropole Ruhr vorzufinden<br />

ist. Der inhaltliche Dreiklang aus Kreativität, Energie und<br />

Landschaft bildet ebenfalls ein Alleinstellungsmerkmal. Die Zusammenführung<br />

von räumlichen und inhaltlichen Dimensionen<br />

zu einer integrierten Entwicklungsstrategie definiert das Erscheinungsbild<br />

des KQL.<br />

Als Bindeglied zwischen Wohnbauflächen und Dienstleistungsareal<br />

ist der Bergpark ein wichtiges Element für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung des KQL. Dieser gesamtstädtische und regional<br />

bedeutsame Kultur-, Freizeit- und Erholungsraum wird durch internationale<br />

Kunst in einer Choreografie der Landschaft mitgestaltet.<br />

Gemeinsam mit den Bürgern wurde hier Landschaft neu gedacht,<br />

die die Umgebung spiegelt und Identifikation stiftet.<br />

Mein Dank gilt den Lohberger Bürgern, den Künstlern, den<br />

Projektpartnern und vor allem Kurator Markus Ambach, die bei<br />

Choreografie einer Landschaft Seite an Seite zusammengearbeitet<br />

haben.<br />

7


Ruth Reuter und Bernd Lohse, Projektleitung KQL<br />

Die Entwicklung der ehemaligen Zeche Lohberg ist eines der<br />

wichtigsten Stadtentwicklungsprojekte in Dinslaken. Aus ihrer<br />

strukturpolitischen Verantwortung verfolgen die Stadt Dinslaken<br />

und die RAG Montan Immobilien GmbH in partnerschaftlicher<br />

Zusammenarbeit das Ziel, das Potenzial des Standorts zu<br />

nutzen, um die Voraussetzungen für eine nachhaltige und beschäftigungswirksame<br />

Folgenutzung zu schaffen.<br />

Es ist eine spannende Herausforderung: Wenn eine Zeche<br />

schließt, gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren, man nimmt den<br />

Menschen auch ein Stück ihrer Identität. Die Folge ist oft eine<br />

regionale Depression. Mit dem Kreativ.Quartier Lohberg (KQL)<br />

setzen wir neue Impulse und kehren die Depression um. Erstmals<br />

wird hier ein Kreativquartier nicht in einer Großstadt realisiert,<br />

sondern an der Peripherie. Dies sichert dem Umland einen klaren<br />

Imagegewinn und ein deutliches Plus an Attraktivität. Lohberg<br />

als Ort der Kreativität soll im inspirierenden Umfeld von industriehistorischen<br />

Gebäuden und gestalteter Landschaft die Impulse<br />

für eine erfolgreiche und zukunftsorientierte Entwicklung<br />

des ehemaligen Bergwerkareals geben. Drei Alleinstellungsmerkmale<br />

machen aus dem Kreativ.Quar tier Lohberg etwas ganz<br />

Besonderes: Zum einen bilden der Stadtteil, das Zechengelände<br />

und die Halde einen gemeinsamen Entwicklungsraum, den es so<br />

nirgendwo sonst in der Region Ruhr gibt. Zum anderen verwandelt<br />

sich der ehemalige Standort der Kohleförderung zu einem<br />

innovativen Dienstleistungszentrum für kreative Berufe aus<br />

den Bereichen Gestalten, Wissen und Herstellen. Eine wichtige<br />

Rolle spielt dabei der Einsatz erneuerbarer Energien, die wir vor<br />

Ort erzeugen können. Und zum Dritten setzt der gesamte Entwicklungsprozess<br />

des Projekts Maßstäbe für Transparenz, interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit und aktive Bürgerbeteiligung.<br />

Auch in die künstlerische Gestaltung des Bergparks wurden<br />

die Anwohner einbezogen, arbeiteten Lohberger und Künstler<br />

Seite an Seite. Und wir alle stellten dabei gemeinsam fest, dass<br />

Kunst viel Spaß machen kann. Die ausgewogene Gestaltung von<br />

Landschaft und Natur des rund neun Hektar großen Bergparks<br />

wird nun durch internationale zeitgenössische Kunst in einer<br />

Choreografie der Landschaft mitgestaltet, die Markus Ambach<br />

kuratierte.<br />

Entwickelt wurden die künstlerischen Projekte in einem Werkstattverfahren.<br />

Ausgewählt wurden schließlich die Projekte<br />

PARKWERK – lokale Reisen ins Blaue von Jeanne van Heeswijk<br />

und ihrem Team, der Hase von Thomas Schütte, das bronzene<br />

Kohlestück von Jakob Kolding und Kraftwerk Lohberg von Folke<br />

Köbberling und Martin Kaltwasser. Die realisierten Arbeiten<br />

spiegeln die Vielfalt der Umgebung wider, stiften Identifikation<br />

und machen die Landschaft erlebbar. Nun lädt der Bergpark Besucher<br />

nicht nur in die umliegenden Landschaften ein, sondern<br />

wird auch zum Ausgangspunkt für die Entdeckung von Kunst.<br />

8


9


<strong>CHOREOGRAFIE</strong> <strong>EINER</strong> <strong>LANDSCHAFT</strong><br />

Hintergrund<br />

Das Bergwerk Lohberg-Osterfeld mit den Schachtanlagen 1 und 2<br />

in Dinslaken hat den Betrieb zum 31. Dezember 2005 eingestellt.<br />

Die Fläche wurde neuen Nutzungen zugeführt. Umgesetzt wurde<br />

die Revitalisierung des Zechengeländes durch eine Projektgemeinschaft,<br />

bestehend aus der Stadt Dinslaken und der RAG<br />

Montan Immobilien GmbH. Ein zentrales Projekt der Entwicklung,<br />

die das ehemalige Zechengelände zu einem lebhaften Stadtteil<br />

gestalten soll, ist der neu eingerichtete Bergpark Lohberg.<br />

Das Projekt<br />

Lange wurde die Landschaft des Ruhrgebiets als reine Rohstoffressource<br />

gesehen und umfangreich als solche genutzt.<br />

Ökologischer Flurschaden, radikale Umgestaltung des Lebensumfelds<br />

der Menschen und die Entfremdung dieser von ihrer<br />

Geschichte wurden dabei in Kauf genommen. Gerade in dieser<br />

Region und den weiten europäischen Landstrichen industrieller<br />

Prägung bestimmen die drastischen Eingriffe infolge dieser<br />

Politik das Lebensumfeld der Menschen bis heute, obwohl<br />

der ökonomische Nutzen für sie längst Vergangenheit ist. Auch<br />

aufseiten der Ökologie hat ein einsichtiges Umdenken begonnen:<br />

Das Bestreben, die Landschaft wieder als solche erlebbar zu<br />

machen, bestimmt heute die großen Sanierungsprojekte, in denen<br />

Kunst und Planung oft interdisziplinär zusammenarbeiten.<br />

Das künstlerische Projekt Choreografie einer Landschaft entdeckt<br />

am Beispiel Lohbergs die zerfaserten Landschaften, die die Industrialisierung<br />

zurückgelassen hat, neu als Teil einer lokalen Identität<br />

und gibt sie den Bewohnern als Ort der Identifikation und<br />

Heimat zurück. Es verknüpft ihre bruchstückhaften Fragmente<br />

zu einer sinnfälligen Choreografie, in der sie sich wieder als Ort<br />

der eigenen Identität entwirft. Landschaft definiert sich neu als<br />

großer Lebenshintergrund, vor dem sich die eigene Geschichte<br />

erzählt, die Gegenwart erlebt wird und sich die Zukunft entwirft.<br />

Dazu sind für den neu entstandenen Bergpark auf dem ehemaligen<br />

Gelände der Zeche Lohberg künstlerische Arbeiten entwickelt<br />

worden. Die Projekte nutzen die umliegenden Landschaftsfragmente<br />

wie Arbeiterviertel und Haldenlandschaft, Industriearchitektur<br />

und Landwirtschaftsflächen als Arbeitshintergrund und<br />

Kontext, um sie zu einer konsequenten Choreografie zu verknüpfen<br />

und in den Bergpark hineinzuspiegeln. In Kooperationen zwischen<br />

Künstlern, Bewohnern und Planern ist der Park zum Nukleus<br />

der neuen Lohberger Landschaften geworden.<br />

10


11


Umbruch<br />

Keine Region musste sich so oft neu erfinden wie die zwischen<br />

Ruhr und Niederrhein. Durch die rapiden Veränderungen, die bis<br />

heute durch das Land ziehen, entstand über die Jahrzehnte eine<br />

stark fragmentierte Landschaft aus Bruchstücken historischer<br />

Zeitzeugen, verbrauchter Industrieareale, zentrumsloser Halbstädte,<br />

urbaner Randlagen und renaturierter Restflächen. Die<br />

Lebensräume der Menschen sind weiterhin bestimmt vom Rückbau<br />

der Montanindustrie, die Landschaft zerfurcht von den Eingriffen<br />

des Kohlebergbaus. Eilig über die aufgelösten Stadt- und<br />

Arbeitsstrukturen geworfene Sanierungskonzepte sind oft an<br />

ihrer Totalität gescheitert. Sie hinterlassen Menschen oft als entfremdet<br />

von der eigenen Arbeit und Landschaft als Flickenteppich<br />

verbrauchter Utopien, die lose und unzusammenhängend<br />

nebeneinanderliegen.<br />

Für eine Kultur der Praxis<br />

Wo der Raum sich als unzuverlässig erwiesen hat und den wechselnden<br />

Wirkungen von Politik und Ökonomie ausgesetzt ist, haben<br />

die Menschen in der Region eine Kultur der Praxis entwickelt,<br />

die sich durch höchste Flexibilität, Pioniergeist und Einfallsreichtum<br />

im Umgang mit schwierigen Lebenslagen auszeichnet. Wo der<br />

Satz „Alles wieder anders“ Raumprogramm sein könnte, haben die<br />

Menschen eigene und ungewöhnliche Strategien entwickelt, sich<br />

in diesem Raum einzurichten und zu behaupten. Arbeitergärten<br />

und Clubheime, Nachbarschaftstreffen und Tunermeetings, Fußballkult<br />

und Kumpelsolidarität sind Zeichen einer Kultur der Praxis,<br />

die sich vielmehr an menschlichen Beziehungen und selbst<br />

entworfenen Handlungsstrukturen orientiert als an repräsentativen<br />

Räumen. Mit dieser Kultur der Praxis hat die Region aus der<br />

Not eine Tugend gemacht. Das, was andernorts noch als Modell<br />

der dezentralen Stadtlandschaft oder als Metropolregion diskutiert<br />

wird, hat sich hier schon selbst installiert. Praxisorientierte,<br />

flexible Nutzung und Rückaneignung von Räumen, ein unendlicher<br />

Einfallsreichtum im Erfinden temporärer Lösungen und das<br />

zwanglose Wechseln zwischen Städten und Peripherien, Zentren<br />

und Randlagen sind hier Tagesgeschäft. Die Region erfindet sich<br />

täglich neu, gerade da, wo die alten Entwürfe in die Krise geraten<br />

sind. Damit lernt die Landschaft sich neu zu konzipieren: im<br />

Patchwork der Dekaden, in den spannungsreichen Nachbarschaften<br />

verschiedenster Größen.<br />

12


13


Lohberger Realität<br />

14


Der Ort<br />

Die Umgebung der Zeche Lohberg ist beispielhaft für eine solche<br />

Landschaft des Ruhrgebiets. Reste alter Naturlandschaft<br />

liegen unvermittelt neben verbrauchten Industriearealen, „arbeitslose“<br />

Arbeitersiedlungen grenzen an renaturierte Feld- und<br />

Wiesenlandschaften, Abraumhalden schaffen überdimensionale<br />

Maßstabssprünge zwischen Mensch und Landschaftsraum. Das<br />

ehemalige Zechengelände wird gerahmt von einer um die Jahrhundertwende<br />

erbauten Arbeitersiedlung im Gartenstadtstil,<br />

einer Agrikulturlandschaft mit Feld- und Viehwirtschaft, einer<br />

im weiteren Umfeld liegenden Seenlandschaft (Kiesgruben), die<br />

als Freizeitraum genutzt wird, den umfangreichen Haldenbergen<br />

und einem alten Forst. Der zu Dinslaken gehörende Stadtteil<br />

Lohberg liegt räumlich durch einen schmalen Grüngürtel<br />

getrennt nordöstlich des Stadtkerns. Während Dinslaken den<br />

Eindruck einer idyllischen, niederrheinischen Stadt vermittelt,<br />

erfolgt im Wechsel nach Lohberg eine Zäsur. Die teilweise erhaltenen<br />

Industrieanlagen der ehemaligen Zeche und die gewaltigen<br />

Haldenberge artikulieren klar ihre Zugehörigkeit zum Ruhrgebiet.<br />

So zeigt Dinslaken einerseits seine Nähe zum länd lichen<br />

Niederrhein und niederländischen Ambiente, andererseits stellt<br />

es sich gerne als Tor zum Ruhrgebiet dar.<br />

Neue Strategien für alte Räume<br />

Die angrenzende Kiesgrubenlandschaft im Norden der Stadt<br />

wurde längst zum informellen Freizeitpark Dinslaken-Hünxes<br />

umfunktioniert, und in den alten Industriegebäuden der Zeche<br />

siedeln sich Kreative aus der Umgebung an, was auf die<br />

rege Umnutzung verschiedenster Räume verweist. Die intensive<br />

Nutzung der Strukturen der Gartenstadt Lohbergs<br />

zur Selbstversorgung durch zahlreiche Gärten, Hühnerzucht<br />

und Nutzpflanzenanbau, speziell auch durch die vielen türkischstämmigen<br />

Einwohner, fällt auf. Die Haldenlandschaft<br />

wird von Spaziergängern informell genutzt und hat bereits<br />

einen eigenen Jäger, der sich um die üppige Fauna kümmert. Die<br />

Kultur der Praxis, wie sie die Region auszeichnet, findet sich hier<br />

deutlich wieder und zeigt große Potenziale.<br />

15


16


17


Lohberger Zukunft<br />

18


Der Bergpark<br />

Die Schnittstelle alter und neuer Investitionen in diesen Raum<br />

stellt der neu entstandene Bergpark dar. Er verbindet einerseits<br />

die südlich gelegene Arbeitersiedlung Lohbergs mit der nördlich<br />

des Werksgeländes gelegenen Haldenlandschaft, die sich<br />

teilweise schon jetzt als skurril renaturierte Industriebrache<br />

darstellt. Wo auf der einen Seite noch heute die ehemaligen<br />

Arbeiter des Bergwerks mit ihren Familien in teils pittoresken<br />

Häusern mit großzügigen Gärten wohnen, führt der neu angelegte<br />

Park kontinuierlich hinüber von der Kultur- zur Naturlandschaft.<br />

Zunächst mit See und Pavillonelementen gestaltet,<br />

sah das Konzept der Landschaftsplaner Lohrer|Hochrein eine<br />

zunehmende Verwilderung vor, die nahtlos in den angrenzenden<br />

alten Forst und die Haldenlandschaft übergehen sollte. In den<br />

Park sind alte bauliche Elemente wie der ehemalige Wasserturm<br />

und der Kohlerundeindicker als Zeugen der industriellen Vergangenheit<br />

des Orts, aber auch neue Möglichkeitsräume eingearbeitet.<br />

Nördlich wird der Park durch eine Wohnanlage begrenzt<br />

werden, die dort demnächst entstehen soll, südlich durch das<br />

so genannte Kreativ.Quartier, in dem sich Gewerbe und Dienstleistungsunternehmen<br />

angesiedelt haben, aber auch Künstlerinnen<br />

und Künstler und lokale Protagonisten kreativer Berufs -<br />

zweige.<br />

19


20


Kunstprojekte im Bergpark<br />

Das kuratorische Konzept Choreografie einer Landschaft nutzt<br />

das fragmentierte Umfeld des Parks als Ausgangspunkt und als<br />

Kontext des Projekts. Es strebt an, die Fragmente der zergliederten<br />

Landschaft wieder miteinander zu verknüpfen und als Choreografie<br />

erlebbar zu machen.<br />

In einer intensiven Auseinandersetzung mit der Umgebung sind<br />

künstlerische Arbeiten entstanden, die diese Kontexte reinterpretieren<br />

und die entwickelte Choreografie in den Park hineinspiegeln.<br />

Dabei wird der Begriff der Landschaft räumlich und<br />

kulturell verstanden. Gerade die Bewohner dieses Raums gilt es<br />

von den Potenzialen ihres Lebensraums zu überzeugen, sie an<br />

seiner Entwicklung teilhaben zu lassen und diesen wieder als<br />

aktuellen Lebenshintergrund wahrnehmbar zu machen. Dazu<br />

ist es von Bedeutung, sie kooperativ in einzelne Projekte einzubinden.<br />

Darüber hinaus stellen sich Fragen zur zukünftigen Bedeutung<br />

von Geschichte, der Aktualisierung historischer Orte und ihrer<br />

Zukunftsfähigkeit. Fragen zur Beziehung von Stadt, Land und Peripherie<br />

wie auch von lokalen und globalen Strukturen entstehen<br />

direkt aus dem Kontext. Künstlerische Arbeiten finden hier in historischen<br />

Materialien wie Bauwerken, aber auch in Erzählungen,<br />

Recherchen und Zeitzeugen einen komplexen Arbeitskontext.<br />

So wurden installative wie kooperative, sozial engagierte wie<br />

skulpturale Projekte von Künstlern aus dem Kontext heraus entwickelt<br />

und parallel zum Bau des Parks zwischen 2012 und 2015<br />

umgesetzt. Das Projekt verknüpft dabei die Arbeit von Künstlern,<br />

Anwohnern, Freiraumplanern und Nutzern mit dem Ort zur Choreografie<br />

einer Landschaft, die die Teilhabe der Bewohner, Nutzer<br />

und Gäste an ihr ermöglicht und ihre Zukunft im globalokalen<br />

Rahmen neu diskutiert.<br />

21


THEMEN UND ORTE<br />

NACH DER NATUR<br />

TENDERINGSSEEN | AGRARWIESEN | HALDE | WALD<br />

BERGPARK<br />

LOHBERG<br />

LOHBERG GLOBALOKAL<br />

ARBEITERSIEDLUNG<br />

DIE ZUKUNFT DER GESCHICHTE<br />

ZECHE<br />

VON DER STADT AUFS LAND UND ZURÜCK<br />

DINSLAKEN-LOHBERG<br />

COOP ENERGIE LOHBERG<br />

KREATIV.QUARTIER<br />

Die Themen der Konzeption sind aus der stark fragmentierten<br />

Landschaft im Umfeld des Bergparks entstanden. An die Arbeitersiedlung<br />

Lohberg schließt unvermittelt eine Feld- und<br />

Wiesenlandschaft mit agrikultureller Nutzung an, die sich mit<br />

der renaturierten Haldenlandschaft und älteren Waldstücken<br />

verbindet. In einem weiteren Abschnitt folgen jene Flächen, die<br />

heute das industriekulturelle Erbe widerspiegeln und von baulichen<br />

Zeitzeugen des Kohlebergbaus geprägt sind. Kreative Nutzungen,<br />

die sich auch dort einschreiben, eröffnen ein neues Kapitel<br />

im Umfeld dieses Geländes. Schließlich führt der Übergang<br />

von Lohberg nach Dinslaken zu einem sich bereits am Horizont<br />

abzeichnenden Wechsel von Land und Stadt.<br />

Aus diesen unterschiedlichen Landschaftsfragmenten sind<br />

spezifische Themen recherchiert worden, um den Künstlern<br />

kontextspezifische Anhaltspunkte für ihre Arbeiten anzubie-<br />

ten. Das Arbeiterviertel legt eine Beschäftigung mit dem multikulturellen<br />

Umfeld der Zeche, seiner Entstehung und dessen<br />

aktueller Wirklichkeit unter dem Titel „Lohberg Globalokal“<br />

nahe. Angesichts der prekären ökologischen Situation stellt das<br />

Projekt die Frage nach einer Zukunft „Nach der Natur“, die hier<br />

eben nur noch als Kulturlandschaft vorkommt. Die „Zukunft<br />

der Geschichte“ bildet einen möglichen Arbeitshintergrund, um<br />

dem Umgang mit dem industriellen Erbe des Orts Rechnung zu<br />

tragen, und unter dem Titel „Coop Energie Lohberg“ wird das<br />

neue Kreativ.Quartier und der angestrebt CO₂-neutrale Standort<br />

in den Fokus gerückt. „Von der Stadt aufs Land und zurück“<br />

spiegelt die Divergenz zwischen dem städtischen, eher niederrheinisch<br />

anmutenden Dinslaken und dem dörflichen Lohberg,<br />

das sich angesichts der monumentalen Industriearchitektur als<br />

Tor zum Ruhrgebiet darstellt.<br />

22


23


Lohberg Globalokal<br />

Kulturelle Landschaften<br />

im Spiegel einer gelebten Multikulturalität<br />

Die soziokulturell komplexe Landschaft Lohbergs findet sich im<br />

Arbeiter- und Gartenstadtviertel, das heute in einer multikulturellen<br />

Gesellschaft Synergien und Problemzonen eines globalokalen<br />

Miteinanders erlebbar macht. Das um die Jahrhundertwende<br />

im Rahmen der Zechengründung erbaute Viertel besticht durch<br />

eine einzigartige Architektur, die zur Route der Industriekultur<br />

gehört und als erste Arbeitersiedlung im Gartenstadtstil erbaut<br />

wurde. Durch den massiven Zuzug türkischer Arbeitnehmer als<br />

Gastarbeiter der Zeche und ihr Bleiben nach deren Schließung<br />

gibt es hier zwei nahezu gleich starke Gruppen von Türken und<br />

Deutschen, aber auch Zuzug aus Osteuropa. Problematisch ist<br />

nach Aussage vieler Bewohner nicht das nachbarschaftliche<br />

Verhältnis, sondern die Isolation der Gruppen. Wo sich die türkischen<br />

Bewohner wesentlich in ihren Familien organisieren und<br />

26


traditionell den öffentlichen Raum des Orts nutzen, fühlen sich<br />

manche deutsche Anwohner latent verdrängt. Dieses Missverhältnis<br />

wird durch die Vermietungspolitik verschärft. Viele der<br />

verbliebenen Arbeiter der Zeche sind wie viele der Jugendlichen<br />

arbeitslos. Der Zuzug junger Menschen ist eher gering,<br />

soll aber durch den Bau des neuen Wohnquartiers aktiviert<br />

werden.<br />

Die im sogenannten Singvogelviertel beheimateten Menschen<br />

haben Bergarbeiterhäuser erworben und in Eigentum umgewandelt.<br />

Sie bilden eine gut situierte Bevölkerungsgruppe, die<br />

vom Zentrum Lohbergs und dem zukünftigen Park durch einen<br />

mit vielfältigen Freizeitangeboten (Skaterbahn, Minigolf, Spielplatz,<br />

Spazier- und Wiesenflächen, Schrebergärten) ausgestatteten<br />

Grüngürtel getrennt ist<br />

27


Einschätzung Die europaweit aktuelle Lage derer, die durch arbeitsbedingte<br />

Migration in der Fremde eine neue Heimat fanden<br />

und heute eine andere Zukunft suchen, ist weiter brisant. Das<br />

soziale Gefüge von Einheimischen und Zuwanderern ist besonders<br />

da angespannt, wo die Arbeit fehlt. Durch die Konzentration<br />

auf traditionelle kulturelle Praktiken in der nun übermäßig<br />

vorhandenen Freizeit artikuliert sich der Unterschied zwischen<br />

den Ethnien umso stärker, gerade auch, wenn Momente der Isolation<br />

hinzukommen. Beides ist hier latent gegeben: Die Zeche<br />

schreibt nicht nur einen trennenden Maßstabssprung zwischen<br />

dem Zentrum Dinslaken und der monumentalen Industriearchitektur<br />

Lohbergs in die Landschaft ein, sondern auch einen ethnischen.<br />

Fragen Vordergründig stellen sich im internationalen Kontext<br />

viele Fragen: Wie lebt man mit den hinterlassenen Strukturen<br />

des industriellen Zeitalters? Welche Probleme und Synergien<br />

ermöglicht ein multikulturelles Miteinander? Gibt es neue gemeinsame<br />

Aufgaben für eine Gemeinschaft an der Schwelle in<br />

eine neue Zukunft? Kann das neue Terrain im Park dabei eine<br />

gemeinsame Bühne für ein neues Miteinander bilden, oder ist<br />

das aktuelle Nebeneinander eine adäquate Lösung?<br />

28


29


Die Zukunft der Geschichte<br />

Landschaften zwischen Erinnerungskultur und Zukunftsfähigkeit<br />

In der Restrukturierung des Zechengeländes wird ein Weg gesucht,<br />

der eine Tabula-rasa-Mentalität vermeidet, trotzdem aber<br />

auch konsequent Platz für Neues schafft. Die Balance zwischen<br />

zu Erhaltendem, umnutzbaren Infrastrukturen und zukunftsfähigen<br />

Neubauten bestimmt den Leitgedanken der Umstrukturierung.<br />

Das Gelände hat für die Menschen in Lohberg eine<br />

ambivalente Bedeutung. Als Zeichen eines vergangenen Arbeitshintergrunds<br />

stehen die Industrieanlagen auch für schmerzhafte<br />

Einschnitte ins eigene Leben und versperren für manchen den<br />

Weg in die Zukunft. Die Frage, ob Teile der Anlage als Monumente<br />

der eigenen Geschichte gewünscht werden, wird folgerichtig<br />

zwiespältig beantwortet.<br />

Einschätzung Die Industriekultur hat überall in Europa imposante<br />

wie ambivalente Zeichen in der Landschaft hinterlassen.<br />

Dabei scheint der Umgang mit den Zeitzeugen weiterhin unausgewogen.<br />

Während das radikale Abräumen ganzer Arbeits- und<br />

Produktionsrealitäten einer Geschichtsamnesie gleichkommt,<br />

konserviert die überinszenierte Erinnerungskultur vergangene<br />

Strukturen und hindert oft neue daran, nachzuwachsen. Wo die<br />

Menschen sich nicht mehr nach Denkmälern, sondern nach erlebbaren<br />

Landschaften für die eigene Gegenwart und Zukunft<br />

sehnen, stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Geschichte<br />

und ihren Zeitzeugen.<br />

Fragen In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem<br />

sinnvollen Umgang mit Geschichte. Wie wichtig ist Erinnerungskultur<br />

für die ehemaligen Arbeiter selbst? Konserviert sie veraltete<br />

Strukturen, oder bietet sie Ansätze aus der Vergangenheit,<br />

über ein offenes Jetzt in die Zukunft zu denken? Wie kann Geschichte<br />

im Hier und Jetzt aktiviert werden, um in der eigenen<br />

Aktualisierung an der Zukunft teilzunehmen?<br />

32


33


34


35


Nach der Natur<br />

Die Landschaft zwischen<br />

Kultivierung, Renaturierung und Recycling<br />

Zwischen Dinslaken und der Halde finden sich verschiedene Formen,<br />

in denen versucht wird, die Narben der industriellen Nutzung<br />

in der Landschaft zu tilgen. Dabei stehen naturnahe wie<br />

freizeitorientierte Lösungen im Vordergrund. Die Tenderingsseen<br />

als klassische Kiesgruben bilden den Anfang einer langen<br />

Kette solcher Eingriffe, die bis auf die Halde mit deren üppiger<br />

Bepflanzung führt. Dazwischen finden sich renaturierte Flussläufe,<br />

Gartenanlagen, Bauernhöfe und Pferdezuchten, wie auch der<br />

Kaiserteich und das malerische Schilfbiotop im Ziegeleibecken<br />

als renaturierte Industrieinfrastrukturen. Der alte Forst und die<br />

anschließende Halde beheimaten eine üppige Flora und Fauna,<br />

die laut dem ortskundigen Jäger neben den üblichen Tieren auch<br />

aus Rotwild, Wildschwein, Dachs und Fuchs, Marder und Nutria,<br />

Ente, Gans, Reiher und Kormoran besteht.<br />

Einschätzung Renaturierung steht im Fokus von Regionen, die<br />

versuchen, die Narben des Industriezeitalters zu tilgen. Vom<br />

künstlich wieder verkrümmten Flusslauf zur begrünten Müllkippe<br />

kaschieren die meisten Versuche landesweit diese Zeichen<br />

nur mit einer weiteren Form der Kulturlandschaft. Nur wenige<br />

internationale Projekte entwickeln dagegen aktuell eine neue<br />

Naturlandschaft mit dem Mut zur eigenen Geschichte, die die<br />

Narben und Einschnitte, die nutzungsbedingten Eingriffe und<br />

modischen Verwandlungen dokumentiert, die die Kultivierung<br />

der Welt über Natur und Landschaft gebracht hat. Die Möglichkeit,<br />

Landschaft als komplex-vitales Terrain zwischen Kultivierung<br />

und natürlicher Rückaneignung zu denken und zu bauen,<br />

wäre hier genauso angebracht wie eine neue Diskussion über aktuelle<br />

Umnutzungsmöglichkeiten und die Wechselwirkung von<br />

Landschaft, Brache und Zwischenraum, Übergangsfläche und<br />

Interimszone.<br />

Fragen Welche Spannungsbögen bietet eine Landschaft, die so<br />

oft umstrukturiert wurde und sich unter ökologischen Aspekten<br />

dauerhaft nach Kontinuität sehnt? Sollte man der Landschaft ihre<br />

Geschichte lassen, sie in ihr dokumentieren oder sie überschreiben?<br />

Wie kann man Entschleunigung und Nachhaltigkeit in die<br />

Gestaltung von Landschaft einbringen? Wie können sich neue<br />

Energieformen so in der Landschaft verorten, dass sie dieser<br />

nicht wieder neue Bürden auferlegen? Gibt es aktuelle Formen<br />

der Umnutzung, die diesen Fragen Rechnung tragen?<br />

36


38


39


Von der Stadt aufs Land und zurück<br />

Neue Stadtlandschaften zwischen Dezentralität und Peripherie<br />

Dinslaken und Lohberg spiegeln sich selbst im Verbund mit<br />

zwei Stadtlandschaften: Einerseits entwirft sich der Ort gegenüber<br />

den holländischen Gästen als Tor zum Ruhrgebiet, andererseits<br />

zeigt er sich der Ruhrregion als Übergang und Vermittler<br />

zur Landschaft des Niederrheins. Dabei beinhaltet die Stadt<br />

zwischen Lohberg und Dinslaken eine signifikante Grenzlinie:<br />

Durch einen Grüngürtel getrennt spiegelt Lohberg die großformatige<br />

Industriearchitektur der Ruhr, während Dinslaken eine<br />

beschauliche Idylle als niederrheinisches Stadtzentrum pflegt.<br />

Die mentale Distanz zwischen beiden rührt sicher von diesen<br />

Faktoren her, wie auch von der unterschiedlichen Bewohnerschaft.<br />

Mitten im Ruhrgebiet zwischen den Giganten Duisburg,<br />

Essen und Oberhausen gelegen, kämpft die Stadt dazu mit klassischen<br />

Problemen der Peripherie.<br />

Einschätzung Immer stärkere Kontraste zwischen Land und Stadt<br />

bestimmen die Landschaft um die großen internationalen Metropolen.<br />

Die Zentralisierung lässt kaum Zwischen- und Interimszonen<br />

entstehen, die eine positive Eigendynamik entfalten können.<br />

Dabei sind gerade diese Übergangsbereiche die Stärke bei<br />

der Entfaltung einer dezentralen Stadtlandschaft. Sie vermitteln<br />

Nähe zwischen hohen Kontrasten und verknüpfen sie zu einem<br />

komplexen Feld spannungsreicher Vielschichtigkeit in nächster<br />

Umgebung. Oft unvereinbare Gebiete werden dabei überbrückt.<br />

Die dezentrale Stadtlandschaft wie sie sich im Ruhrgebiet abzeichnet,<br />

interessiert durch eine ausgewogene Modulation von<br />

Zentrum und Peripherie, ländlichen Zwischenzonen und urban<br />

hochverdichteten Sequenzen.<br />

Fragen Wie positionieren sich Städte heute, wo Zentrumshierarchien<br />

– obwohl in Frage gestellt – weiter funktionieren? Ist die<br />

im Ruhrgebiet viel diskutierte Struktur der dezentralen Stadtlandschaft<br />

eine Lösung dieser Probleme? Können Quanten- und<br />

Maßstabssprünge in der Stadtlandschaft von den Bürgern überwunden<br />

werden, und welche Attraktionen bieten sie? Wie kann<br />

sich eine aktive Stadtlandschaft aus den Bewohnern heraus entwickeln,<br />

die von diesen auch langfristig getragen und verantwortet<br />

wird?<br />

40


42


43


44


Coop Energie Lohberg<br />

Neue Energien für neue ökonomische Landschaften<br />

Zeichen des industriellen Zeitalters bestimmen mit ihren überdimensionalen<br />

Monumenten und industriekulturellen Zeugen<br />

die Umgebung des ehemaligen Zechenstandorts. Das neu entstandene<br />

Kreativ.Quartier weist hingegen in die Zukunft und<br />

beschäftigt sich nicht nur mit den Fragen nach aktuellen wie<br />

neuen Lebensökonomien, sondern fokussiert im Besonderen zukünftige<br />

Formen der Energie. Dabei sollen Kreative aus Kunst,<br />

Gestaltung, Wissenschaft und Forschung motiviert werden,<br />

sich im Quartier anzusiedeln, um sich Fragen der zukünftigen<br />

Energienutzung zwischen Niedrigenergiehaus, Windkraft und<br />

Fotovoltaik-Technik zu stellen.<br />

Einschätzung Fragen nach der Energie der Zukunft sind heute<br />

mehr diskutiert denn je. Wenn auch Techniken der Energiegewinnung<br />

im Mittelpunkt des Interesses stehen und den Nukleus<br />

des ehemaligen Zechengeländes bilden, geht die Frage hier weiter:<br />

Auch die Möglichkeiten, aus neuen Lebensentwürfen oder<br />

der Landschaft Energien zu ziehen, sollte für ein Kreativquartier<br />

eine wichtige Frage sein.<br />

Fragen Welche Energieformen sind für die Zukunft entscheidend,<br />

und welche Lebensformen bedingen sie? Welche Synergien<br />

von Energie, Natur und Landschaft sind möglich? Wie<br />

können auch Peripherien für ökonomisch sinnvolle Vorhaben<br />

das richtige Umfeld bilden? Welche Energie entspringt neuen,<br />

kreativen Lebensstrategien, und wie können diese aussehen?<br />

45


Anja Sommer<br />

Lohberg – Beschreibung einer Lebenswelt<br />

Wie schreibt man über einen Stadtteil, über den vermeintlich<br />

so vieles gesagt wurde und dessen Schattenseiten für Bekanntheit<br />

in der ganzen Welt gesorgt haben? Als ich gefragt wurde,<br />

einen historischen Überblick mit Informationen zum Stadtteil<br />

zu schreiben, war mein spontaner Gedanke, nicht eine weitere<br />

Abhandlung zu verfassen, die man doch bequem auf diversen<br />

Seiten im Internet und in einschlägigen Büchern nachlesen<br />

kann. Ich stelle Ihnen deshalb Lohberg aus meiner persönlichen<br />

Erfahrung als Gästeführerin, und Stadtplanerin vor. Es ist ein<br />

Zuruf an alle Leser, den Stadtteil und seine Lebenswelten selbst<br />

näher kennenzulernen und zu erkunden.<br />

2005, in dem Jahr, in dem die Zeche nach fast 100 Jahren Betrieb<br />

für immer ihre Pforten schließen sollte, kam ich zum ersten<br />

Mal nach Lohberg. Als Stadtplanerin fiel mir sofort der besondere<br />

Charakter einer Gartenstadt ins Auge. Die Siedlung Lohberg<br />

war damals als städtebauliches Phänomen überregional nahezu<br />

unbekannt – schnell war klar, dass hier etwas Bedeutendes im<br />

Dornröschenschlaf lag. Die Häuser der Gartenstadtsiedlung beeindrucken<br />

vor allem durch ihre architektonische Vielfalt. August<br />

Thyssen ließ sie im Zusammenhang mit der Gründung der<br />

Zeche Lohberg zwischen 1906 und 1923 als Vorbild für andere<br />

Siedlungen im Ruhrgebiet errichten. Seit 1988 stehen sie unter<br />

Denkmalschutz. Neben den verschiedenen Häusertypen als<br />

baulichem Ausdruck der sozialen Trennung zwischen Arbeitern,<br />

Handwerkern und Beamten in der wilhelminischen Zeit, prägen<br />

perspektivisch variierende Plätze, gekrümmte Straßenverläufe,<br />

grüne Innenhöfe und Vorgärten die Siedlung und geben ihr einen<br />

hohen Wohnwert. Bei einem verbindenden Entwicklungskanon<br />

zeigt sich an jedem Haus eine hohe Individualität durch architektonische<br />

Details und die Rücksichtnahme auf räumliche Zusammenhänge.<br />

Eine Meistersiedlung hervorragender Qualität.<br />

In den Steigerhäusern im ehemaligen Beamtenteil der Siedlung<br />

wohnten früher die Hauptverantwortlichen der Zeche, nicht länger<br />

als zehn Gehminuten vom Schacht entfernt. Dies war eine<br />

Vorgabe von August Thyssen, und deshalb liegt dieser Teil der<br />

Siedlung besonders nah am ehemaligen Bergwerkseingang.<br />

Nach den letzten Schichtwechseln und Seilfahrten auf dem Zechengelände,<br />

als unter anderem die riesigen Skipgefäße von<br />

Schacht 2 geborgen wurden, fragten sich einige Anwohner, ob<br />

sich Lohberg zum Besseren oder Schlechteren entwickeln wird.<br />

Eine Frage, aus der man die durchlebten dunklen Jahre des Niedergangs<br />

im Bergbau heraushören konnte.<br />

Gleichzeitig fiel auch der Startschuss für den Strukturwandel<br />

auf dem ehemaligen Zechengelände, der später dann bestimmendes<br />

Element vieler Diskussionen mit Besuchern und Anwohnern<br />

werden sollte. Dieser Strukturwandel dauert weiterhin<br />

an, und die Veränderungen im Stadtteil zeigen sich von Jahr zu<br />

Jahr wieder anders und neu. Ein spannender Prozess mit vielen<br />

neuen Impulsen.<br />

In Lohberg leben Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensstilen,<br />

Ansichten und kulturellem Hintergrund, die sich gerne<br />

auf der Straße, auf den Treppen und in den Gärten treffen. Das ist<br />

eines der liebenswertesten Merkmale der Bewohner Lohbergs.<br />

Die Offenheit für Gespräche am Gartenzaun, im Geschäft oder<br />

auf dem Markt auch mit Besuchern, die man noch nicht kennt,<br />

ist hier eine wohltuende Selbstverständlichkeit. Die negativen<br />

Aspekte einer gesellschaftlich repressiven sozialen Kontrolle<br />

oder die Vereinsamung von Menschen, wie man sie von anderen<br />

Siedlungsformen kennt, sind hier nicht dominant.<br />

Viele Lohberger sind selbst noch eingefahren und haben sich<br />

aufeinander verlassen müssen, um wieder unbeschadet aus dem<br />

Bergwerk zu kommen. Das hat auch das Verhältnis der Menschen<br />

unterschiedlicher Nationalitäten in der Siedlung geprägt.<br />

Die kinderreichen Bergmannsfamilien waren außerdem durch<br />

zwei Weltkriege, die Märzunruhen und die Ruhrgebietsbesetzung<br />

extremen Lebensumständen und großer Armut ausgesetzt,<br />

die eine Solidargemeinschaft, Selbstversorgung und Nachbarschaftshilfe<br />

unabdingbar machten. Dies erklärt übrigens auch,<br />

warum es in Lohberg immer noch so viele Gärten und Kleinvieh<br />

gibt – auch wenn wir hier wieder einen Wandel durch die Ziehung<br />

von neuen Zäunen im Zuge der Umwandlung in Privateigentum<br />

erleben und die Frage gestellt werden muss, welchen Charakter<br />

die Innenhöfe als stilprägendes Element einer Gartenstadt und<br />

einer lebendigen Nachbarschaft künftig haben werden. Die Abwanderung<br />

junger Menschen bereitet Sorgen, sind sie doch diejenigen,<br />

die die Zukunft des Stadtteils mitprägen. Hier stellt sich<br />

ganz unmittelbar die Frage, wie der Strukturwandel neue Perspektiven<br />

für die Bewohner schaffen kann, nachdem „Vater Pütt“<br />

nicht mehr da ist, und welche Potenziale in Lohberg schlummern,<br />

die für eine neue Entwicklung aktiviert werden können.<br />

Einige Künstler haben den Bewohnern Möglichkeiten eröffnet,<br />

eigene Potenziale zu entdecken und auszuprobieren. Diese ersten<br />

Dienstleistungen und Angebote nachhaltig weiterzuentwickeln,<br />

ist das Anliegen der Zukunft.<br />

47


48


49


DAS WERKSTATTVERFAHREN<br />

Werkstatt statt Wettbewerb<br />

Statt im klassischen Wettbewerb sind die Entwürfe der Künstlerinnen<br />

und Künstler in einem Werkstattverfahren entstanden,<br />

das die Einbindung der Projekte in den Kontext befördern sollte.<br />

Zwölf Künstler wurden dabei eingeladen, Projekte zu entwickeln.<br />

Im Rahmen eines zweitägigen Arbeitstreffens in Lohberg<br />

wurden 2012 Perspektiven des Orts sowie Themen und Möglichkeiten<br />

der Projektentwicklung debattiert und geschärft. Die<br />

Künstler lernten den Ort, seine Landschaftsfragmente und deren<br />

Bewohner kennen. Diese Auseinandersetzung mit den aktuellen<br />

Lebensumständen, Bedingungen und Hintergründen des<br />

Raums, aber auch seiner Geschichte und Zukunftsfähigkeit bildete<br />

die Grundlage einer kontextbezogenen Projektentwicklung.<br />

Das Werkstattverfahren ging in vielerlei Hinsicht neue Wege in<br />

der Entscheidungsfindung, verstand sich ausdrücklich als offenes<br />

Forum und Ideenwerkstatt und diente auch der Definition<br />

gemeinsamer Inhalte von Künstlern und Anliegern, eventueller<br />

Ziele und möglicher Kollaborationen. Gleichzeitig zeigte es Präsenz<br />

vor Ort: Durch das Symposium in Lohberg wurden die Bürger<br />

aktiv einbezogen und lernten die Künstler bereits im Vorfeld<br />

der Realisierungen kennen. Im Anschluss an den Workshop waren<br />

Künstler und Öffentlichkeit eingeladen, an der Vortrags- und<br />

Diskussionsveranstaltung Debattenort Kunst: Wie kommt das<br />

Neue in die Welt? teilzunehmen.<br />

Fundus statt Makulatur<br />

Gleichzeigt diente das Verfahren als Entwurfswerkstatt, die einen<br />

langfristigen und nachhaltigen Fundus an Ideen und Arbeiten<br />

entwickelt, statt kurzfristiger Wettbewerbsbeiträge, die nach<br />

der Juryentscheidung Makulatur sind. Infolge der Werkstatt<br />

erarbeiteten die eingeladenen Künstler Projektvorschläge, von<br />

denen der Fachbeirat zunächst fünf zur Realisierung vorschlug.<br />

Die nicht vorgeschlagenen Projekte verbleiben im Projektfundus<br />

und können bei Akquirierung weiterer Gelder sowie zu deren<br />

Akquise wieder herangezogen werden, da die Empfehlung<br />

des Fachbeirats keine Negativentscheidung darstellte.<br />

50


Die Künstlerauswahl<br />

Die Auswahl der Künstler erfolgte entlang der zuvor recherchierten<br />

Kontexte und Themen und sollte durch ihre Heterogenität<br />

der komplexen Gemengelage der Lohberger Landschaften<br />

gerecht werden.<br />

Kontext und Kooperation<br />

Dabei wurde die Auswahl einerseits durch ein konzentriertes Interesse<br />

der ausgewählten Künstler an einer kontextbezogenen<br />

Arbeit bestimmt. Das Ziel, das Umfeld, die Landschaften mit ihren<br />

Bewohnern, das Kreativ.Quartier und besonders die Bewohner<br />

des Ortsteils Lohberg in die Entwicklungen einzubinden,<br />

war erstes Gebot der Kuratierung. Künstlerinnen und Künstler<br />

wie Jeanne van Heeswijk, Folke Köbberling und Martin Kaltwasser,<br />

Rita McBride oder Christine und Irene Hohenbüchler<br />

zeigen in ihrer Arbeit schon lange ein intensives Interesse an<br />

partizipativen, kollaborativen oder kollektiven Arbeitsweisen,<br />

bei denen die Menschen vor Ort nicht nur in den Entstehungsprozess<br />

einer Arbeit einbezogen werden, sondern als inhaltliche<br />

und aktive Kooperationspartner die Projekte mitgestalten.<br />

Platz für die Zukunft<br />

Gleichzeitig galt ein Augenmerk dem Umgang mit der Geschichte<br />

des Geländes. Arbeitsansätze wie die von Andreas Siekmann,<br />

Thomas Schütte, Olaf Nicolai oder Jakob Kolding ließen eine<br />

intensive Auseinandersetzung mit der Frage nach der Form von<br />

Erinnerungskultur erwarten, die die Zukunft zulässt und ihr den<br />

entsprechenden Raum gibt, ohne dabei sich selbst zu negieren.<br />

Eine Choreografie als sinnstiftende Verbindung<br />

Die verbindende Wirkung von Kunst in Bezug auf die den Park<br />

umgebenden Landschaften, aber auch die Einspielung neuer Positionen<br />

in einen weitgehend verbrauchten Raum wurden durch<br />

Positionen wie die von John Miller, Philipp Rühr und Henning<br />

Fehr, Martin Pfeifle oder Boris Sieverts reflektiert.<br />

51


52


53


Die Werkstatt<br />

In einem zweitägigen Workshop in Lohberg lernten die Künstler<br />

den Ort, seine Landschaftsfragmente und deren Bewohner<br />

und Nutzer kennen. Diese intensive Auseinandersetzung mit den<br />

aktuellen Lebensumständen, Bedingungen und Hintergründen<br />

des Raums, aber auch seiner Geschichte und Zukunftsfähigkeit<br />

schärfte die Wahrnehmung der Künstler für den Kontext und vermittelte<br />

den Projektstart schon früh in die Bevölkerung.<br />

Beim Besuch im Ortsteil Lohberg, der ehemaligen Arbeitersiedlung<br />

im Gartenstadtstil, die von der Stadtplanerin und Anwohnerin<br />

Anja Sommer unter historischen Gesichtspunkten vorgestellt<br />

wurde, lernten die Künstler im informellen Gespräch mit<br />

ehemaligen Arbeitern der Zeche, beim Blick hinter die Kulissen<br />

des örtlichen Tattoo-Studios oder beim Essen mit der türkischen<br />

Gemeinde auf dem Frühjahrsbasar die soziokulturellen und individuellen<br />

Lebenshintergründe der Anwohner kennen, die die<br />

späteren Nutzer des Parks werden sollten. Problematische wie<br />

zukunftsweisende Perspektiven traten dabei zutage. Die ambivalente<br />

Haltung zur eigenen Geschichte, die von der mitunter<br />

harten Arbeit unter Tage und ihrem Verlust geprägt ist, wie auch<br />

Lebenshintergründe bestimmt von Migration und Segregation<br />

54


wurden dabei sichtbar. Aber auch die große Solidarität der Kumpel<br />

und ein vielschichtiger Heimatbegriff als positive Lebenserfahrungen<br />

wurden deutlich.<br />

Die ruhrgebietstypische Fähigkeit, sich auch in widrigen Situationen<br />

immer wieder neu zu erfinden und sich mit informellen<br />

Strategien städtischen Raum zurückzuerobern, zeigt sich gerade<br />

in der intensiven Nutzung der Gartenstadtstruktur. Was in den<br />

Zentren unter dem Titel Urban Farming als ultramodern gefeiert<br />

wird, ist hier in jedem Hinterhof schon lange Tradition. Vom<br />

Nutz- und Ziergarten bis zur Prachthühnerzucht erobern sich die<br />

Bewohner die Grünflächen der Gartenstadt bis in die Baumscheiben<br />

hinein zur Nahrungsmittelproduktion und als dörflichen Gemeinschaftsraum.<br />

Wo sich in Berlin die Prinzessinnengärten modernen<br />

Immobilientaktiken konform von Anfang an auf Umzug<br />

einstellen, findet in Lohberg die vehemente Rückaneignung von<br />

Raum statt – ganz ohne avantgardistisch-kulturellen Überbau.<br />

Die dörfliche Idylle, die sich in Lohbergs Gartenstadt nahezu pittoresk<br />

inszeniert, birgt aber auch Spannungen. Bei der Diskussion<br />

am von der türkischen Gemeinde reich gedeckten Mittagstisch<br />

zeigte sich: Der mehr gefühlte als reale Überhang der türkischen<br />

Gemeinde mit zwei Moscheen und ihrer sich klassisch im öffentlichen<br />

Raum organisierenden Gemeinschaft lässt sich manch<br />

andere Ethnie verdrängt fühlen. Das türkische Gemeindeleben<br />

bringt in seiner dörflichen Familienstruktur, die die Straßen im<br />

positivsten Sinne belebt und jeden Passanten zu Tee und Teilnahme<br />

einlädt, auch Momente der Segregation mit sich. All diese<br />

Problematiken bleiben jedoch im Rahmen. Die soziale Struktur<br />

des Orts scheint kompakt und real gelebtes Miteinander.<br />

Problematisch wird die Wohnungspolitik der Vivawest gesehen,<br />

die versucht, die ehemaligen Arbeiterhäuser zu verkaufen. So werden<br />

die sozial schwachen Stadtteile langsam durch bürgerlichere<br />

Schichten und Eigentum perforiert. Ob sich dadurch die Segregation<br />

positiv entschärft oder soziale Spannungen entstehen, bleibt<br />

abzuwarten. Für die Künstler von Interesse war auch die Perspektivlosigkeit<br />

des Orts in Bezug auf Arbeit und Beschäftigung.<br />

Auch wenn günstige Mieten und ansprechende Räumlichkeiten<br />

den Abzug der Bevölkerung gestoppt haben, sind die Arbeitsperspektiven<br />

dürftig. Wie kann man hier Aussichten schaffen, die jenseits<br />

herkömmlicher Methoden eben solche Arbeit versprechen,<br />

die sich am Ort und nicht an abstrakten Planspielen orientieren?<br />

55


58


Das Kreativ.Quartier<br />

Die Profis der internationalen Kunstszene trafen auch auf die<br />

lokalen Protagonisten der Kunst. Ob sich an einem Ort weit ab<br />

vom professionellen Kunstbetrieb eine Existenz als Künstler oder<br />

Kreativer einrichten lässt, bleibt fragwürdig. Es stellt sich für das<br />

neue Kreativ.Quartier seitens der Künstler die kritische Frage<br />

nach der sinnfälligen Verbindung zwischen kreativer Produktion<br />

und Ort. Ist Kreativindustrie etwas, das sich mit der lokalen Arbeiterkultur<br />

verknüpfen lässt, oder ist sie importiert und bringt<br />

Befremdung mit sich? Gibt es lokale, kreative Strategien, die sich<br />

vielmehr aus dem Ort ableiten lassen als aus abstrakten Planspielen,<br />

die noch heute die Konzepte zu bestimmen scheinen?<br />

Das Konzept Bergpark<br />

In der intensiven Diskussion mit dem Projektmanagement, den<br />

Landschaftsarchitekten und den verschiedenen Nutzergruppen<br />

formulierten die Künstler ihre ersten Einschätzungen zum Bergpark<br />

und den geplanten Umstrukturierungen. Sehr kritisch gesehen<br />

wurde die – der externen Verkehrsplanung geschuldete –<br />

Straßenführung, die den Bergpark zukünftig durchschneiden<br />

soll. Dass durch den Park geschaffene Übergänge wiederum gekappt<br />

und Bewegungsmuster unterbrochen werden, war jedoch<br />

nicht mehr zu ändern. Dass die Fläche zunächst als künstlich geschaffener<br />

Raum deutlich erkennbar bleiben wird, stand fest. Bezweifelt<br />

wurde, ob der Bergpark dabei identitätsstiftende Wirkungen<br />

entfalten kann. Dagegen wurde das Konzept, vom Park aus<br />

in die anliegenden Landschaften zu führen und ihn so zum Ausgangspunkt<br />

und Nukleus der Choreografie einer Landschaft zu<br />

machen, als sinnfällig begriffen.<br />

Auf dem Werksgelände<br />

Die Rundreise über das ehemalige Werksgelände zeigte einen Ort<br />

zwischen Geschichte und Zukunft. Wo die Fläche des kommenden<br />

Bergparks als leer geräumte Brache beliebig erschien, stellten<br />

sich die angrenzenden Naturräume als skurrile Renaturierungszonen<br />

postindustriell konstruierter Landschaften dar. Ob<br />

Schilfbiotop im Schlammbecken, ob idyllischer Kaiserteich in<br />

der früheren Klärsenke oder die Haldenberge als Testfeld für internationale<br />

Überlebenskünstlerpflanzen – die künstlichen Eingriffe,<br />

die der Bergbau hinterlassen hat, erzeugen einen merkwürdigen<br />

Raum zwischen Kultur-, Natur- und Freizeitlandschaft.<br />

Hier stellt sich die Frage, ob man ihr ihre Geschichte lässt oder<br />

ihre Überschreibung durch die Natur fördert. Das künstlerische<br />

Interesse, diese Bereiche direkt an den Bergpark anzuschließen,<br />

war deutlich zu spüren.<br />

Wie viel Erinnerung braucht der Mensch?<br />

Die Monumente der Industriekultur lösten eine ambivalente Diskussion<br />

um die Zukunftsfähigkeit des Orts aus. Auch wenn Infrastrukturen<br />

wie Kaue und Zechenturm die Künstler tief beeindruckten,<br />

stellte sich doch die Frage, wie viel Platz sie dem<br />

Bedürfnis nach Neuanfang lassen. Wo mancher der Ansicht war,<br />

ein radikaler Schnitt schaffe den Raum für eine neue Zukunft,<br />

sahen andere die Chance zu einem ausgewogenen Gleichgewicht,<br />

einem Diskurs der Dekaden, der sich im Wechselspiel von<br />

Geschichte und Zukunft in der Architektur des Orts verräumlichen<br />

kann.<br />

59


60


61


Wie kommt das Neue in die Welt?<br />

Ein Symposium<br />

62


Ein Stadtteil und eine Landschaft sind in Bewegung geraten. Die<br />

Dynamik dieses Prozesses ist in Lohberg spürbar. Was passiert,<br />

wenn Neues auf Altes trifft? Ist das Neue ein Wert an sich? Warum<br />

bleiben neue Projekte gerade im Ruhrgebiet häufig Exklaven?<br />

Wie viel Historisches verträgt ein Ort, und wie kann man<br />

der Zukunft und dem Neuen Platz machen?<br />

Den Abschluss der Werkstatt bildete das Symposium Wie kommt<br />

das Neue in die Welt?. Die offene Diskussionsplattform mit Dr.<br />

Brigitte Franzen, Jeanne van Heeswijk, Frauke Burgdorff, Christopher<br />

Dell und Dirk Haas griff unter anderem die zuvor erarbeiteten<br />

Themen auf und stellte sie in einen größeren Kontext. Sie<br />

ging aus verschiedenen Perspektiven der Frage nach, wie das<br />

Neue in die Welt kommt, was es für Spannungsverhältnisse und<br />

Innovationen mit sich bringt, und fragte nach den Prozessen, die<br />

dabei in Landschaften, sozialen Zusammenhängen und Stadtsystemen<br />

aktiv werden. Dabei umkreiste die Diskussion die Frage,<br />

wie Kunst im Dialog mit einem Ort, mit den Menschen und<br />

der Planung diese Prozesse befördern, initialisieren und vorausdenken<br />

kann.<br />

Mit Beträgen von:<br />

Christopher Dell, Institut für Improvisationstechnologie,<br />

Berlin: „Prinzip Improvisation“<br />

Dr. Brigitte Franzen, Direktorin des Ludwig Forums für Internationale<br />

Kunst, Aachen: „Wie kommt die Landschaft in die Kunst,<br />

und wie kommt die Kunst in die Landschaft?“<br />

Jeanne van Heeswijk, Künstlerin, Rotterdam: „Auf der Suche<br />

nach lokalen Stärken“<br />

Dirk Haas, Stadtplaner, REFLEX, Essen: „Neues, das am Rand<br />

entsteht – über marginale Praxis im Ruhrgebiet“<br />

Moderation und Diskussionsleitung: Frauke Burgdorff,<br />

Montag Stiftung Urbane Räume, Bonn<br />

63


Ruth Reuter / Bernd Lohse<br />

Kunst im Zusammenspiel mit Stadtplanung<br />

Kunst im urbanen Raum bedeutet nach heutigem Verständnis<br />

oftmals, dass die Menschen, für die sie gemacht wird, in den Prozess<br />

ihrer Entstehung miteinbezogen werden. Auf diese Weise<br />

kann das Kunstwerk zu einem integralen Bestandteil des Quartiers<br />

und des dortigen Lebens werden. Daher ist diese Kunst<br />

auch innerhalb der Stadtplanung nicht mehr nur ein Mittel der<br />

Dekoration und Möblierung, sondern ein eigenständiges Instrument<br />

in einem bürgerbeteiligten Planungsprozess.<br />

Wird Kunst nicht selten als unverständlich und vom Alltagsleben<br />

abgehoben wahrgenommen, prägt sie gleichzeitig den<br />

Raum und die Landschaft und damit das Leben und Miteinander<br />

der Menschen. In Projekten wie der Internationalen Bauausstellung<br />

(IBA) Emscher Park in den 1990er-Jahren ist Kunst im<br />

Landschafts- und Stadtraum des Ruhrgebiets gezielt eingesetzt<br />

worden. Halden, Parks, Stadträume oder Stätten alter Industriekultur<br />

wurden durch Kunstinstallationen sichtbar gemacht und<br />

gestalterisch in Szene gesetzt. Noch heute können diese Orte, in<br />

denen sich Urbanität und Landschaft auf neuartige Weise verbinden,<br />

von den Menschen erlebt werden und dient deren kreative<br />

Umnutzung einer wiedergewonnenen Identifikation mit der<br />

heimischen Umgebung.<br />

Dieser Ansatz wurde auch von der Kulturhauptstadt Ruhr.2010<br />

fortgesetzt. Unter dem Motto „Kultur durch Wandel – Wandel<br />

durch Kultur“ sind die Menschen des Ruhrgebiets dazu motiviert<br />

worden, an einer gemeinsamen Reise durch verschiedene Räume<br />

und Themen teilzunehmen. Kunst und Kultur boten den Revierbewohnern<br />

ganz pragmatisch die Möglichkeit, ihren Lebensraum<br />

neu zu entdecken und sogar aktiv mitzugestalten und dadurch<br />

eine ermutigende Perspektive für die Zukunft zu erlangen.<br />

Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Bereiche – von Kunst<br />

und Kultur mit Kreativwirtschaft, Stadtplanung, Landschaftsund<br />

Stadtraum sowie dem ganz alltäglichen Leben – zeigt zudem<br />

deutlich, dass das sonst mit den Attributen „abstrakt“ oder „abgehoben“<br />

belegte Künstlerische durchaus sehr konkret und reell gehandhabt<br />

werden kann. Der Nutzen liegt sozusagen auf der Hand:<br />

Kunst und Kultur können als selbstständiger Motor eines tief greifenden<br />

Wandlungsprozesses im Ruhrgebiet betrachtet werden.<br />

Verdeutlichen die erwähnten Beispiele von Emscher Park und<br />

Kulturhauptstadt bereits, dass Kunst zur Stadtplanung und<br />

Alltagsgestaltung dazugehört, wird trotzdem auch heute noch<br />

Kunst häufig erst am Ende eines Erneuerungsprozesses von<br />

Quartieren, Brachflächen oder Landschaftsräumen eingesetzt<br />

oder gleichsam „übergestülpt“. Dient Kunst nur als nachträgliche<br />

Dekoration eines fertigen Raums, ohne Bezug zum planerischen<br />

und örtlichen Kontext, ist sie lediglich eine Art drop sculpture,<br />

also eine „abgeworfene Skulptur“, wie es dieser Fachbegriff<br />

prägnant auf den Punkt bringt. Eine prozesshafte Entwicklung<br />

und ein Zusammenspiel von Planung, Produktion und Gestaltung,<br />

unter anderem durch die Kunst, finden nicht statt. Kunst<br />

wird hier eher wie ein repräsentatives Sahnehäubchen der gesamten<br />

Raumgestaltung und nicht als Teil von ihr betrachtet.<br />

Dabei kann ein parallel laufender künstlerischer Prozess wichtige<br />

Impulse für ein Entwicklungsgebiet und Quartier bieten.<br />

Durch gemeinsame Workshops von Planern, Bürgern, Politikern<br />

und Künstlern gelangen neue Ideen und Arbeitsweisen in die<br />

Diskussion, die alte, eingefahrene Strukturen und Denkweisen<br />

aufbrechen können. Deshalb ist es so wichtig, Kunst im öffentlichen<br />

Raum nicht nur wie eine Skulptur oder ähnlich Statisches<br />

zu behandeln, sondern den Prozess, die Veränderung, den Bezug<br />

zur Umgebung und zu den Beteiligten in den Vordergrund zu<br />

rücken. Denn gerade das Neben- und Miteinander von urbanem<br />

Raum, Landschaft, Skulptur und prozesshafter, partizipativer<br />

Kunst, die auf die Bedürfnisse des Quartiers und der Menschen<br />

eingeht, ist der Schlüssel für einen positiven Wandel. Kunst ist<br />

also nicht nur ein Element einer singulären Raumgestaltung,<br />

sondern sollte ein konzeptioneller und praktischer Teil von<br />

Stadt- und Landschaftsplanung werden.<br />

Wie schon angedeutet, bringt die frühzeitige Einbringung von<br />

Kunst positive Impulse für eine Quartiers- und Flächenentwicklung.<br />

Das bedeutet konkret, dass schon während der Planungs-<br />

64


phase, aber auch parallel zur Bauphase temporäre künstlerische<br />

Installationen, Workshops oder Events stattfinden können. Dadurch<br />

erreicht man, dass die Bürger einen direkten Zugang zu<br />

Entwicklungsprozessen wie auch zur Kunst bekommen. Gerade<br />

in benachteiligten Stadtteilen entstehen dadurch neue Inspirationen,<br />

und es wird nicht nur ein Imagewandel angestoßen. Für<br />

das Gelingen ist es unabdingbar, die Menschen vor Ort mitzunehmen<br />

und sie als aktive Mitgestalter ernst zu nehmen, sodass<br />

sie zu „Regisseuren“ ihres eigenen Lebensumfelds werden. Dadurch<br />

entsteht auch für die sogenannte Hochkultur oder schwer<br />

zugängliche Kunst eine höhere Akzeptanz, die negativen Folgen<br />

wie Vandalismus vorbeugen kann.<br />

Mit dem Potenzial von Kunst zu experimentieren, Spielräume<br />

auszuloten, Unbekanntes zuzulassen und den urbanen Raum<br />

oder die Landschaft neu zu erfinden, eröffnet auch der Stadtplanung<br />

andere Wege. In Anbetracht der Gemengelage von<br />

knappen Kassen bei den Kommunen des Ruhrgebiets, hoher<br />

Arbeitslosigkeit und prekärem Sozialstatus in der Bevölkerung<br />

und dem gleichzeitigen Anspruch nach einer qualitätsvollen,<br />

bürgernahen und nachhaltigen Quartiers- und Flächenentwicklung<br />

sind die Herausforderungen für die Stadtplanung enorm.<br />

Zumal gerade eine themenübergreifende, partizipative Herangehensweise,<br />

die die Bevölkerung und Kunst zusammenbringt<br />

und integriert, zunächst mehr Arbeit verursacht. Langfristig gedacht,<br />

ist der dadurch initiierte Wandel jedoch wirkungsvoller,<br />

die Diskussions- und Denkprozesse offener und die Akzeptanz<br />

größer. Aus eigener Erfahrung können wir sagen, dass die Gestaltung<br />

von Räumen, die Aufwertung von Quartieren und die<br />

Umnutzung von ehemaligen industriellen Flächen durch diese<br />

kooperative Arbeitsweise nachhaltiger gelingt, auch wenn<br />

es eine Abkehr von lieb gewonnenen Routinen, für Planer und<br />

Künstler gleichermaßen, bedeutet.<br />

Nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes durch die Schließung der<br />

Zeche Lohberg im Jahr 2005 erlebten viele Menschen, deren<br />

Lebensraum und Kultur durch ihre Arbeit im Bergbau geprägt<br />

worden waren, neben der ökonomischen Krise einen tief greifenden<br />

Identitätsverlust, was sich auch in ihrer direkten Umgebung<br />

auswirkte. In unserer Projektgemeinschaft zur Umnutzung und<br />

Umgestaltung der ehemaligen Zeche zum Kreativ.Quartier Lohberg<br />

(KQL) haben wir frühzeitig erkannt, dass durch die Beteiligung<br />

der Menschen am Planungs- und Entwicklungsprozess des<br />

Standorts nicht nur eine höhere Akzeptanz entsteht, sondern<br />

auch ein schnellerer und wirksamerer Strukturwandel möglich<br />

ist. Auf der Suche nach sinnvollen Aufgaben nehmen die Bürger<br />

durch ihre Mitarbeit ihre Zukunft selbst in die Hand, sind aktiver<br />

Teil dieser Veränderung und entwickeln dadurch ein neues<br />

Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl. Daher stand das<br />

Projekt von Anfang an unter dem Motto „Lohberg und Halde<br />

werden EINS“, das nicht nur als städtebauliches Ziel, sondern<br />

insbesondere als gesellschaftliche Verpflichtung zu verstehen<br />

ist. So ist auch die depressive Phase, die mit einer Zechenschließung<br />

einhergeht, durch die Einbindung und Ansiedelung von<br />

Künstlern und Kreativschaffenden tatsächlich aufgehalten worden.<br />

Gebäude standen nicht leer, was immer weitere negative Begleiterscheinungen<br />

nach sich zieht, sondern wurden direkt nach<br />

der Schließung der Zeche über Zwischennutzungen durch Kunst<br />

und Kultur belebt. Diese Reaktivierung gelingt nicht nur über<br />

die Neunutzung der Immobilien allein. Vor allem die Einbeziehung<br />

verschiedener künstlerischer Akteure und deren Kooperation<br />

mit den Bewohnern tragen dazu bei, wie auch die überregionale<br />

Strahlkraft von Kunst eine besondere Aufmerksamkeit<br />

erzeugt – ein Effekt, der durch die Kunst im öffentlichen Raum<br />

des Bergparks noch verstärkt wurde.<br />

Die Entwicklung des KQL in Dinslaken ist ein gelungenes<br />

Beispiel für diesen Wandel: von der Identitätskrise über eine<br />

Aufbruchsstimmung, durch Kunst und Kultur sowie durch die<br />

Partizipation der Menschen an der Planung des ehemaligen<br />

Bergwerksgeländes, bis hin zu einer Mitgestaltung des gesamten<br />

Stadtquartiers. So haben sich die Lohberger ein Stück ihrer<br />

Heimat zurückerobert.<br />

65


DIE PROJEKTENTWÜRFE<br />

Zwölf Projekte für den Bergpark Lohberg<br />

Infolge der Werkstatt erarbeiteten die Künstler ihre Projektvorschläge.<br />

Eine Orientierung an den angesprochenen Kontexten<br />

war freigestellt, es konnten auch eigene Themen entwickelt werden.<br />

Der Fokus der Entwürfe lag auf dem Ortsteil Lohberg mit<br />

seiner Gartenstadtsiedlung. Auch der Umgang mit der industriellen<br />

Geschichte, die Formen von Erinnerungskultur und die Funktion<br />

des Denkmals in Relation zu einer ambivalenten Vergangenheit<br />

wurden in mehreren Arbeiten thematisiert. Ein wesentlicher<br />

Faktor bei allen Arbeiten war der kontextuelle Bezug sowie die<br />

Interaktion mit den Bewohnern.<br />

Da der Fachbeirat nicht als ausschließende Jury agierte, sondern<br />

zunächst die ersten fünf zu realisierenden Arbeiten bestimmte,<br />

ist seine Auswahl nicht als Negativurteil für die anderen Projektvorschläge<br />

zu verstehen. Wo üblicherweise Jurys vieles zur Makulatur<br />

erklären, bilden die verbliebenen, noch nicht umgesetzten<br />

Projekte bei Choreografie einer Landschaft einen Fundus, auf den<br />

später zurückgegriffen werden kann und der daher gemeinsam<br />

mit den Realisierungen hier dargestellt wird. Die Anordnung erfolgt<br />

nicht alphabetisch, sondern entlang der Themen, mit denen<br />

sich die Arbeiten mehr oder weniger latent auseinandersetzen.<br />

66


67


Jeanne van Heeswijk / Marcel van der Meijs<br />

Groundwork – New Forms of Reciprocity<br />

Reciprocity: city – agriculture.<br />

Reciprocity: city – industry.<br />

Reciprocity: city – post industrial landscape.<br />

Die Arbeit von Jeanne van Heeswijk und Marcel van der Meijs<br />

reflektiert den Umstand, dass Bürgerbeteiligungsprozesse im<br />

Vorfeld großer Umbaumaßnahmen nicht wirklich bis in die Produktion<br />

neuer Vorstellungen von der eigenen Zukunft reichen.<br />

Die gut gemeinten Versuche bleiben meist beim Abfragen schon<br />

vorhandener Bilder stehen und reproduzieren eher stereotype<br />

Ideen, wie den Wunsch nach Möblierung oder Spielgeräten, statt<br />

die Frage danach zu stellen, wie ein Ort als zukünftiger Lebenshintergrund<br />

aussehen könnte, um die noch unbekannte Zukunft<br />

aufzunehmen.<br />

„Das Projekt fokussiert diese Entwicklung neuer Ansichten der<br />

eigenen Zukunft: Wie kann ich mir eine Zukunft erdenken, die<br />

ich noch nicht kenne? Welche Ansprüche werde ich in Zukunft<br />

an die mich umgebenden Landschaften richten? Was erwarte ich<br />

von dieser Zukunft, und wie kann ich sie aktiv mitbestimmen?“<br />

68<br />

IN OUR<br />

WORK<br />

WE WANT<br />

TO MAKE<br />

INHABITANTS<br />

COLLECTIVELY<br />

RESPONSIBLE<br />

FOR THE<br />

PLACE THEY<br />

LIVE IN,<br />

NOT AS<br />

CONSUMERS<br />

BUT AS<br />

CREATORS


As a first way of occupation, blending the worlds.<br />

Wichtiger Bestandteil des Projekts ist die Vorbildung und<br />

Wunschproduktion, also die Entwicklung eines Denkens, das<br />

neue Vorstellungen anhand der aktuellen Realität entwickeln<br />

kann. In einem beweglichen Klassenzimmer, das sich langsam<br />

metaphorisch durch den Ortsteil Lohberg bis in den Park hineinbewegt,<br />

bietet das Projekt Workshops und Diskussionen<br />

zur Entwicklung der Zukunft im Bergpark, die von der Ideenentwicklung<br />

bis zur faktischen Umsetzung von Projekten reicht.<br />

Das gesamte Gelände wird mit den Bürgern gesichtet, befragt<br />

und dann in ihrem Sinne umgestaltet. Möblierung und Angebote,<br />

aber auch Grünflächen und Raumplanungen werden einer<br />

Inspektion durch die Bewohner unterzogen, einem reality-check,<br />

in dem diese ihre zukünftige Landschaft transformieren und in<br />

die eigene Zukunft verwandeln werden.<br />

Dieser Gestaltungsprozess wird als Arbeit an der Gemeinschaft<br />

begriffen, als solcher ernst genommen und entsprechend entlohnt:<br />

Ein Großteil der Projektgelder fließt in das Engagement<br />

der Bürger und finanziert über Zuschüsse und Aufwandsentschädigungen<br />

deren Arbeit. So wird der Grundstein gelegt, die<br />

Erfindung der eigenen Zukunft als gemeinschaftsbildendes wie<br />

auch ökonomisch sinnvolles Programm zu etablieren, das nach<br />

der Fertigstellung des Projekts von den Bürgern eigenverantwortlich<br />

weitergeführt werden soll – ganz im Sinne eines sich<br />

selbst erhaltenden Kunstwerks.<br />

Das bewegliche Klassenzimmer, dessen Architektur die zahlreichen<br />

temporären Bauten im Lohberger Arbeiterquartier reflektiert,<br />

dient während des Prozesses als Zeichen, dessen wechselnde<br />

Positionierung im Ortsteil Lohberg den Stand des sich über<br />

zwei Jahre kontinuierlich entwickelnden Projekts anzeigt, bis es<br />

schließlich bei Fertigstellung Einzug in den Park hält und sich<br />

dort verstetigt. (Oktober 2012)<br />

69


BIR<br />

EI<br />

TRAURIG<br />

ZU


John Miller<br />

Ein Moment der Traurigkeit, der nicht zu vergessen ist<br />

ANLIK ÜZÜNTÜ,<br />

UNUTULMASIN<br />

N MOMENT DER<br />

KEIT, DER NICHT<br />

VERGESSEN IST<br />

John Millers Vorschlag besteht aus dem Satz Ein Moment der<br />

Traurigkeit, der nicht zu vergessen ist, der in deutscher und türkischer<br />

Sprache (bir anlık üzüntü, unutulmasın) auf jeweils einem<br />

markanten Betonblock von 120 x 120 x 180 Zentimetern eingraviert<br />

wird. Das skulpturale Trägersegment fügt sich in seiner<br />

Beschaffenheit in die vorgesehene Möblierung und Ausstattung<br />

des Parks ein. Beide Blöcke sollen im Park, jedoch nicht in Sichtweite<br />

zueinander, aufgestellt werden.<br />

Miller reflektiert mit seiner Arbeit den Moment des Verschwindens<br />

von etwas, das für die Menschen wichtiger wie auch schwieriger<br />

Lebenshintergrund war, ohne es konkret zu benennen. Dadurch<br />

gelingt es ihm, die in der poetischen Geste aufgehobene<br />

Erinnerung als subjektives Denkmal zu etablieren, das rein als<br />

sprachliches Zeichen gesehen das Objektivierende des Monuments<br />

umgeht und gleichzeitig für persönliche Besetzungen offen<br />

bleibt.<br />

„Basierend auf dem Satz Ein Moment der Traurigkeit, der nicht zu<br />

vergessen ist, sehe ich meinen Vorschlag als ein subjektives – im<br />

Gegensatz zum objektiven – Denkmal […]. Durch ihre Zweisprachigkeit<br />

soll sich die Arbeit in Dinslakens multiethnischer und<br />

multikultureller Bevölkerung festsetzen.“<br />

71


Rita McBride<br />

Plattform<br />

Der Vorschlag von Rita McBride stellt zwei variable, in unabhängigen<br />

Teilen hergestellte, mannigfaltig kombinierbare Plattformen<br />

in Form einer liegenden Acht zur Verfügung, die auf das<br />

Endloszeichen referiert. Die einzelnen Teile, die als Sitz- und Liegegelegenheit<br />

nutzbar sind, greifen die Funktion solcher Ortsmarkierungen<br />

als Ausweisung verschiedener Perspektiven auf.<br />

„1584 schrieb Giordano Bruno seine Theorie des unendlichen Universums:<br />

‚Es existieren unendlich viele Sonnen; unendlich viele<br />

Welten kreisen um diese Sonnen, ähnlich wie die sieben Planeten<br />

um unsere Sonne kreisen. Lebewesen bewohnen diese Welten.‘<br />

[…] Standpunkte und Perspektiven sind für jede Choreografie von<br />

essenzieller Bedeutung, da sie unsere Erkenntnis bilden und erweitern.<br />

Die beiden vorgeschlagenen Plattformstrukturen liefern<br />

zahlreiche Blickwinkel auf und Erkenntnisse über die Landschaft<br />

und bieten einen komfortablen und ungezwungenen Ort, um hinaufzuschauen<br />

in den Himmel. Sieben der unterschiedlichen<br />

Plattform-Elemente können bewegt und einzeln genutzt oder zu<br />

größeren Kombinationen zusammengestellt werden. Weitere sieben<br />

Plattformen lassen sich zu kleineren, intimen Orten verbinden.<br />

Die Kombinationsmöglichkeiten sind unendlich ∞.“<br />

72


Kooperation mit den Nutzern<br />

Die Offenheit der Arbeit, die als skulpturale Form die Anwohner<br />

in der Herstellung und Nutzung einbezieht, erlaubt eine stetige<br />

Neu- und Rekombination als nutzbare Liege-, Sitz- und Bühnenplattform<br />

durch die Parknutzer. Durch Umstellung und Beweglichkeit<br />

erfährt die Arbeit eine stetige Individualisierung und<br />

wird zum Ausdrucksmittel der Parkbesucher.<br />

Identifikationsmuster als Oberfläche<br />

Die Oberflächen werden in Zusammenarbeit mit den Anwohnern<br />

aus Abet-Laminat entworfen und hergestellt, einem Material,<br />

das ein endloses Vokabular an Formen, Zeichen und Farben darstellt,<br />

aus dem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen für sich<br />

erkennbare Identifikationsmuster erstellen können. Damit dokumentiert<br />

die Arbeit nicht nur die Multikulturalität des Orts, sondern<br />

erhofft sich auch eine Identifikation der Menschen mit dem<br />

Objekt, die es zum sozialen Gemeindegut werden lässt und sich<br />

der Verantwortung der ansässigen Bevölkerung übergibt.<br />

IN ANY CHOREOGRAPHY,<br />

VIEW POINTS AND<br />

PERSPECTIVES ARE ESSENTIAL.<br />

THEY FRAME AND<br />

EXPAND OUR EXPERIENCE.<br />

73


74


75


Jakob Kolding<br />

Ohne Titel<br />

THE PIECE<br />

PR<br />

FROM<br />

Maßstab 1 : 1<br />

Jakob Koldings Arbeit zeigt, wie man mit kleinsten Mitteln den<br />

großen Raum nicht nur des Parks, sondern auch der Erzählung<br />

und Vorstellung öffnen kann. Seine Arbeit, die lediglich aus einem<br />

klassisch in Bronze gegossenen handelsüblichen Stück Kohle<br />

von circa 10 x 10 Zentimetern besteht, das unauffällig neben<br />

einer Parkbank zum Liegen kommt, inszeniert die Ära der Kohle<br />

nach ihrem Verschwinden auf besondere Weise. Im ganz und gar<br />

neu angelegten Bergpark, in dem kaum etwas an seine Vergangenheit<br />

erinnert, findet sich dieses kleine widerspenstige Reststück<br />

gleich einem vergessenen wie aktuellen Relikt.<br />

Dass es wie eine klassische Skulptur in Bronze gearbeitet ist,<br />

kommentiert die Formen der Erinnerungskultur in einem zeitgemäßen<br />

Sinn. Die Arbeit erinnert nicht an das Vergangene, sondern<br />

transportiert die Geschichte als widerspenstigen Fakt ins<br />

Hier und Jetzt, ohne zu musealisieren oder der Zukunft im Weg<br />

zu stehen. Der rationale Realismus der 1 : 1-Reproduktion, der weder<br />

übertreibt noch stilisiert, weder heroisiert noch kritisiert, aktualisiert<br />

das Artefakt und seine Geschichte, das dadurch seinen<br />

Weg in eine offene Zukunft findet.<br />

76


IS A SMALL CONNECTION BETWEEN PAST AND<br />

ESENT BUT ONE WHICH TRIES TO STEER AWAY<br />

THE PITFALLS OF EITHER ROMANTICIZING OR<br />

STIGMATIZING THE PAST. OR THE NOW.<br />

Eine große Erzählung<br />

In seiner zurückhaltenden Form hat das winzige Stück gleichsam<br />

die Kraft, eine große Narration in Gang zu setzen, eine Geschichte,<br />

in der das Erinnerte nicht im Denkmal, sondern in der Erzählung,<br />

der Spekulation und der Weitergabe zwischen den Menschen<br />

aufgehoben ist und dadurch auf der Höhe seiner jeweiligen<br />

Zeit bleibt, da sich diese Erzählung stets aktualisiert.<br />

77


78


79


Andreas Siekmann<br />

Woher die Kohle kommt und wer die Zeche zahlt<br />

Der eindrucksvolle, dreiteilige Vorschlag von Andreas Siekmann<br />

sieht auf dem Kohlerundeindicker in luftiger Höhe ein karussellartiges<br />

Figurenszenario in Form eines Theatrum Mundi<br />

vor, das in der Mitte von einem Piktogrammband gesäumt wird<br />

und sich mit den Gründen und Folgen der Abwanderung des<br />

Kohlebergbaus aus der Region auseinandersetzt.<br />

DER RÜCKZUG AUS<br />

AUFGRUND VER<br />

RESSOURCEN<br />

IRGENDWIE ZU<br />

DES HOHEN LOH<br />

DI<br />

„Meine Arbeit behandelt die lokale ‚Deindustrialisierung‘ in<br />

Dinslaken und versucht deren globale Zusammenhänge und<br />

Bedingungen darzustellen. Dies tut sie durch eine Piktogrammsprache,<br />

die aus der Wiener Schule (Gerd Arntz und Otto Neurath)<br />

der 1920er- und 1930er-Jahre stammt. Ich habe diese<br />

Piktogrammsprache in den letzten Jahren als Instrument zur<br />

Darstellung komplexer wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge<br />

weiterentwickelt. Der erste Teil der Arbeit stellt ein<br />

Theatrum Mundi dar: lebensgroße Figuren, die auf Loren installiert<br />

mit minimalen Bewegungen auf der oberen Fläche des<br />

großen Rundeindickers im Kreis fahren. Bis Ende des 19. Jahrhunderts<br />

gab es im sächsisch-thüringischen Raum eine Tradition<br />

der Volkskunst, die von invaliden oder entlassenen Bergleuten<br />

praktiziert wurde. Sie bauten mechanisierte Figurentheater,<br />

das sogenannte Theatrum Mundi, das neben Naturkatastrophen<br />

und Weltereignissen auch den ehemaligen eigenen Arbeitsplatz<br />

nachstellte. Der zweite Teil der Arbeit ist ein grafisches Band mit<br />

Piktogrammen, es liefert eine visuelle Information zu den Tatsachen<br />

und Zusammenhängen von Woher die Kohle kommt und<br />

wer die Zeche zahlt: Statistiken von Vertreibungen und Ermordungen,<br />

Umweltverschmutzung, Emissionshandel, Ressourcen-<br />

Diplomatie, Greenwashing, Codes of Conducts, Kohleausstieg<br />

und Importwachstum, Protestbewegungen etc.“<br />

Siekmann untersucht damit eindringlich und nachhaltig die<br />

Hintergründe der Abwanderung des Kohlebergbaus aus der Region<br />

ins Ausland und zeigt auch die Gründe für den Verlust der<br />

Arbeit auf, die im Wesentlichen ökonomischer Natur sind.<br />

„Der Rückzug aus dem Steinkohlebergbau geschieht nicht aufgrund<br />

veralteter Maschinen, ausgeschöpfter Ressourcen oder<br />

weil der industrielle Kapitalismus irgendwie zu Ende gegangen<br />

ist, sondern aufgrund des hohen Lohnniveaus und der Sicherheitsstandards,<br />

die Resultate von Arbeiterkämpfen waren. [...]<br />

Bei meinen Recherchen zu Dinslaken wollte ich wissen, woher<br />

jetzt die Kohle für die benachbarten Kohlekraftwerke kommt.<br />

Neben Russland, Polen und den USA ist seit den letzten Jahren<br />

Kolumbien der wichtigste Importeur von Steinkohle.“<br />

80


DEM STEINKOHLEBERGBAU GESCHIEHT NICHT<br />

ALTETER MASCHINEN ODER AUSGESCHÖPFTER<br />

ODER WEIL DER INDUSTRIELLE KAPITALISMUS<br />

ENDE GEGANGEN IST, SONDERN AUFGRUND<br />

NNIVEAUS UND DER SICHERHEITSSTANDARDS,<br />

E RESULTATE VON ARBEITERKÄMPFEN WAREN.<br />

Siekmann zeigt in seiner Arbeit, wie durch die Globalisierung<br />

der Import von Kohle rentabler geworden ist als der lokale Abbau,<br />

und inszeniert nachvollziehbar den Preis, der für diese Politik<br />

gezahlt wird. Der Verlust der Arbeit in Deutschland ist nicht<br />

die einzige Folge dieser ökonomischen Operation: Die Rentabilität<br />

des Kohleimports wird in den Abbauländern oft mit sozialen<br />

Missständen, Vertreibung der Landbevölkerung und ökologischen<br />

Katastrophen bezahlt.<br />

„Der Einkaufspreis für eine Tonne Steinkohle beträgt in Kolumbien<br />

15 Euro. Offizielle Statistiken des Landes verzeichnen in den<br />

vergangenen sechs Jahren knapp 500 Tote und 300 Verletzte bei<br />

Unfällen im Kohlebergbau. […] Bei Auseinandersetzungen, die<br />

im Zusammenhang mit der Kohleindustrie stehen, wurden nach<br />

Angaben der Bauernorganisation Ascamcat in den vergangenen<br />

fünf Jahren mehr als 10 000 Kleinbauern getötet und 130 000<br />

zwangsumgesiedelt.“<br />

Der dritte Teil der Arbeit verknüpft die Zusammenhänge auf<br />

dem globalen Markt mit der örtlichen Ökonomie: Auf der<br />

Halde, in Sichtweite des Kohlerundeindickers, soll ein großes<br />

Ankündigungsschild aufgestellt werden, auf dem sich die<br />

Topografie des Ruhrgebiets mit der Topografie des Steinkohletagebaus<br />

der Provinzen La Guarjíra und Cesár überlagert.<br />

Die Arbeit verweist damit nicht nur auf die lokalen Wirkungen<br />

globaler Politik, sondern macht sie transparent, nachvollziehbar<br />

und diskutierbar. In einer neuen Form des Dialogs<br />

fördert sie nicht nur die Auseinandersetzung mit der eigenen<br />

Geschichte, sondern auch mit den globalen Zusammenhängen<br />

der eigenen Arbeit und Existenz. Das für manche isolierte<br />

Trauma des Verlusts der eigenen Arbeit wird sinnfälliger<br />

Teil eines andauernden Szenarios, das sich in die Gegenwart<br />

und Zukunft erstreckt und die eigene Geschichte so mit ihr<br />

verbindet und aktualisiert.<br />

81


82


83


Thomas Schütte<br />

Hase<br />

Die plastische Arbeit von Thomas Schütte, die im Sinne des Titels<br />

einen Hasen darstellt, soll mit vier Metern Höhe in Aluminium<br />

mit einer Flip-Flop-Lackierung ausgeführt werden. Die Lackierung<br />

zeichnet sich durch ein starkes Changieren zwischen<br />

zwei oft konträren Farben aus, das sich jeweils beim Perspektivwechsel<br />

ergibt.<br />

DIE FIGUR HASE<br />

STELLT DAR:<br />

OSTERHASE<br />

WEIHNACHTSMANN<br />

NIKOLAUS<br />

HALLOWEEN<br />

KARNEVAL<br />

WM-MASKOTTCHEN<br />

ETC.<br />

Aus dem Hut gezogen<br />

Gleich einer drop sculpture wie aus dem Hut gezogen, taucht die<br />

Figur auf der Wiese des neuen Parks auf und hinterfragt damit<br />

ihre Sinnfälligkeit an diesem Ort angesichts der kontextbezogenen<br />

Entwürfe im Projekt.<br />

Ein Symbol für das Neue in einem verbrauchten Raum<br />

Scheinbar ohne in Beziehung zu Ort, Zeit oder sozialem Kontext<br />

zu stehen, nimmt das Werk – im Umfeld der Bauten, die noch<br />

von der industriellen Vergangenheit des Orts zeugen – dennoch<br />

eine kontextbezogene Aussage vor. Denn vor dem Hintergrund<br />

der Frage, wo sich angesichts der schwer lastenden Geschichte<br />

eine offene Zukunft für diesen Ort und seine gerade jungen Bewohner<br />

erfinden lässt, setzt die Arbeit ein leichtes wie freches,<br />

herausforderndes wie spielerisches, aktuelles wie profundes<br />

Zeichen. Gleich dem Werk eines Kinds, das sich angesichts der<br />

schillernden Form und Lackierung in das Gewand der Jugendkultur<br />

hüllt, zu bedrohlicher Größe skaliert und auch das Monströse<br />

aktueller Game-Charaktere annimmt, vermag es, das eben<br />

absolut Neue in diesen verbrauchten Raum zu zaubern und ihm<br />

eine neue Perspektive zu geben.<br />

84


85


86


87


Olaf Nicolai<br />

Wo das Wünschen noch geholfen hat ...<br />

Mythos und Erzählung<br />

Die Arbeit von Olaf Nicolai setzt in einer verbrauchten Landschaft,<br />

die ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte weiterhin<br />

sucht, auf die Entwicklung einer großen Erzählung.<br />

„Eine Landschaft wird nicht nur durch die unmittelbare aktive<br />

Begegnung mit ihr erlebt. Auch nicht allein durch die Teilnahme<br />

an ihrer Gestaltung. Auch wenn Landschaften zumeist visuell<br />

charakterisiert werden, sind sie mindestens ebenso stark<br />

geprägt durch die mit ihnen verbundenen Erinnerungen und<br />

Erzählungen, durch Sagen, Märchen oder Gerüchte.“<br />

Hubschrauber und Froschkönig<br />

Die Arbeit sieht die Fertigung einer ein Meter durchmessenden<br />

Steinkugel aus Carrara-Marmor vor, die in der Folge von einem<br />

Helikopter über dem jetzigen Kaiserteich abgeworfen werden<br />

soll. Da die Aktion zwar sichtbar, jedoch nur von kurzer Dauer<br />

und undokumentiert bleiben soll, setzt sie auf die Entwicklung<br />

einer Erzählung. Das Ereignis, das von Mund zu Mund weitergegeben<br />

wird, entwickelt sich zum Mythos, der durch eine musikalische<br />

Aktion befördert wird.<br />

AUCH WENN<br />

<strong>LANDSCHAFT</strong>EN<br />

ZUMEIST VISUELL<br />

CHARAKTERISIERT<br />

WERDEN, SIND<br />

SIE MINDESTENS<br />

EBENSO STARK<br />

GEPRÄGT DURCH<br />

DIE MIT IHNEN<br />

VERBUNDENEN<br />

ERINNERUNGEN<br />

UND ERZÄHLUNGEN,<br />

DURCH SAGEN, MÄRCHEN<br />

ODER GERÜCHTE.<br />

„Zugleich wird ein zeitgenössischer Komponist beauftragt, ein<br />

drei- bis fünfminütiges Stück für Soloflöte für diesen Ort zu<br />

schrei ben. Dieses Stück soll dann einmal im Monat durch einen<br />

Flötenspieler für die Dauer eines Nachmittags in der Uferlandschaft<br />

aufgeführt werden, wobei der Flötenspieler umherwandert<br />

und seine Spielorte selbst wählt. Für diese Performance soll<br />

ein fester Tag im Monat bestimmt werden, sodass eine Ritualisierung<br />

möglich ist. Uhrzeiten werden nicht bekannt gegeben,<br />

sondern nur, dass das Stück am Nachmittag mehrfach aufgeführt<br />

werden wird. Als Komponist möchte ich einen zeitgenössischen<br />

Musiker beauftragen, der jedoch der Musiktradition des<br />

Mittelmeerraums und Nahen Ostens entstammt, da aus diesen<br />

Regionen viele der Gastarbeiter ins Ruhrgebiet migriert sind.“<br />

Flötenspiel und Mythologisierung<br />

Nicolai setzt im Bezug auf das Thema von der Zukunft der Geschichte<br />

eben nicht auf das Denkmal, sondern stellt der verräumlichten<br />

Form der Erinnerung deren Mythologisierung entgegen.<br />

Während die Geschichte im Denkmal ausgelagert und oft gerade<br />

dadurch dem Vergessen preisgegeben wird, lebt sie in der<br />

Weitergabe zwischen den Menschen fort und aktualisiert sich<br />

in den Transformationen, die sie durch Ergänzung, Vergessen<br />

und Interpretation erfährt. Gleichzeitig ist der Mythos der Rationalität<br />

des Wirklichen enthoben und insofern auf faktischer<br />

Ebene nicht anzweifelbar. Er vereinnahmt immer den Raum der<br />

Vorstellung, in dem sich die Gesellschaft mehr reflektiert denn<br />

bewahrt.<br />

88


89


Christine und Irene Hohenbüchler<br />

It’s a Mud Mud Mud World<br />

Die Mudbike-Bahn als Landschaftsthema<br />

Christine und Irene Hohenbüchler nehmen sich auf ganz eigene<br />

Weise der Landschaft an. In einer als große skulpturale Installation<br />

ausgearbeiteten Mudbike-Bahn, einem Fahrradparcours<br />

für Offroad-Fahrer, wie ihn sich Jugendliche allerorts oft illegal<br />

anlegen und befahren, reflektieren die Künstlerinnen mannigfaltige<br />

Bezüge zwischen Landschaft, Kunst und lokaler Kultur.<br />

„Ein Ort, denaturiert, … gebraucht, … verbraucht, ausgraben,<br />

umgraben, bewertet, umgewertet, verändert durch mehrmalige<br />

unterschiedliche Kultivierungen, Landwirtschaft, Bergbau,<br />

Indus trialisierung – Wiederaufbereitung von Landschaft … der<br />

Prozess des Abbaus findet weiter – aber anders – statt.“<br />

Land-Art und Fahrradwerkstatt<br />

Die im Park großflächig gedachte Bahn mit integrierter Fahrradwerkstatt<br />

reflektiert – rein aus verfestigter Erde gebaut – zunächst<br />

die massiven landschaftlichen Transformationen der Region,<br />

die sich auch in der nahen Haldenlandschaft spiegeln. Die lokale<br />

Gegebenheit einer künstlichen Landschaft wird in der Arbeit<br />

einerseits mit den berühmten Land-Art-Entwürfen der 1970er-<br />

Jahre eines Michael Heizer oder Richard Long konfrontiert,<br />

andererseits mit den innovativen Erdbauten jugendlicher Mudund<br />

Mountainbiker, die in Form abenteuerlicher Sprungrampen<br />

und Wellentäler zum idealen Fahrradparcours geformt werden<br />

und sich ständig verändern und transformieren.<br />

90


AUSGRABEN<br />

UMGRABEN<br />

BEWERTET<br />

UMGEWERTET<br />

Teilhabe generieren<br />

Die skulpturale Spannung dieser verschiedenen Bauansätze<br />

wird dabei kombiniert mit dem Bedürfnis des Orts nach Nutzung<br />

in zwei Richtungen: Einerseits ist es Ziel der Arbeit, Jugendliche<br />

wie Erwachsene als Protagonisten und Zuschauer<br />

in den Park zu ziehen und ihm so eine zukünftige Klientel zu<br />

bescheren. Andererseits widmet sie sich dem Thema der fehlenden<br />

Beschäftigung unter den Jugendlichen, indem die Bahn in<br />

Kooperation mit ihnen gemeinsam gebaut und mit Fahrradwerkstatt,<br />

Verleih- und Reparaturservice eingerichtet und von ihnen<br />

später selbst getragen werden soll. So involviert das Projekt die<br />

örtliche Bevölkerung als Kooperationspartner, bietet alternative<br />

Handlungskonzepte mit auch ökonomischen Zukunftsaussichten<br />

an und stellt eine aktive Teilhabe am neuen Park her.<br />

Emanzipation und Rückaneignung<br />

Gleichzeitig hat die Arbeit eine emanzipatorische und politische<br />

Dimension. Sie stellt die momentan versteckt auf dem gesperrten<br />

Gelände der Halde ausgeübte Aktivität der Jugendlichen<br />

ins Zentrum des Interesses und thematisiert die Rückaneignung<br />

von Raum und eigeninitiatives Handeln. Sie zeigt ein positives<br />

Beispiel, wie Jugendliche aus den eigenen Kapazitäten heraus<br />

und durch Teilhabe am neuen Raum des Parks eine Zukunftsperspektive<br />

für sich entwickeln können. Hohenbüchlers Projekt<br />

zeigt so eine wunderbare Kombination aus skulpturaler Intervention,<br />

landschaftsbildender Architektur und Teilhabe ermöglichender<br />

Partizipation. Es erweitert damit nicht nur den Begriff<br />

der Kunst, sondern auch das Verständnis von Landschaft als<br />

komplexem Handlungsraum, der durch die eigene Initiative wieder<br />

zum aktuellen Lebenshintergrund werden kann.<br />

91


92


93


Philipp Rühr / Henning Fehr<br />

In Advance of Étant Donnés<br />

„Der Entwurf für das Projekt In Advance of Étant Donnés umfasst<br />

einen 3,30 x 3 x 4 Meter großen Quader aus Stahl sowie<br />

eine Reihe von Bäumen, die sich in ihrer Farbigkeit und Anordnung<br />

auf den Quader beziehen. Der Quader entspricht in seiner<br />

Bauweise dem Prinzip einer Camera obscura. Demnach befindet<br />

sich in einer der vier Wände eine kleine kreisförmige Öffnung,<br />

durch die ein Abbild der Außenwelt ins Innere der Konstruktion<br />

projiziert wird. Im Gegensatz zu anderen Lochkameras soll In<br />

Advance of Étant Donnés aber weder zugänglich noch einsehbar<br />

sein, sodass der Betrachter sich die im Innern des Quaders<br />

tatsächlich stattfindende Projektion vorstellen muss, da er sie<br />

nicht sehen kann. Darüber jedoch, dass es sich um eine Camera<br />

obscura handelt, wird der Betrachter nicht im Zweifel gelassen:<br />

Auf den beiden längeren Seiten des Quaders sind jeweils besonders<br />

ausgearbeitete Schemata eingelassen, die die Funktion einer<br />

Camera obscura veranschaulichen. Durch die zentrale Lage<br />

der Installation ist sie von allen Seiten des Geländes sowie vom<br />

Stadtteil Lohberg aus sichtbar. Die Öffnung im Quader, ein Loch<br />

von geringem Durchmesser, ist in die dem Stadtteil Lohberg<br />

zugewandte Seite eingelassen. So werden sowohl ein Teil des<br />

Landschaftsparks sowie ein Teil des Lohberger Wohngebiets<br />

ins Innere der Kamera projiziert. Dies erschließt sich dem Betrachter,<br />

obwohl er die Projektion nicht sehen kann. Der Quader<br />

ist aus Stahl gefertigt, dessen Oberfläche rostet und eine ausnehmend<br />

dunkle Färbung annimmt. Die Installation wird von<br />

einer Reihe Blutbuchen, das sind hoch und breit gewachsene,<br />

sehr dunkel gefärbte Bäume, ergänzt, die rückwärtig des Quaders<br />

angeordnet sind. […] Die dunkle Farbigkeit verweist leicht<br />

surreal auf den Stoff im Boden, auf dem die Bäume wachsen, der<br />

Anlass für den Bergbau gab: die Kohle. […] Auch der Quader aus<br />

dunklem, rostendem Stahl spielt mit dem Hell-Dunkel-Kontrast<br />

im Zusammenhang mit dem Bergbau, damit mit dem Gegensatz<br />

von Oberfläche und Schacht.“<br />

Camera obscura<br />

Das in der Kamera real produzierte Bild, das sich der Betrachter<br />

selbst vorstellen muss, führt zu einer subtilen Selbstreflektion:<br />

In der vorgestellten Verbildlichung der eigenen Lebensumstände<br />

entwickelt der Besucher und Bewohner ein reflektiertes Bewusstsein<br />

von sich und seiner Situation. Die Selbstreflektion,<br />

die hier beschrieben und mutmaßlich in Gang gesetzt wird, ist<br />

prognostizierter Ausgangspunkt für eine emanzipierte Haltung<br />

zum eigenen Lebensentwurf, der sich in Folge neu zu entwickeln<br />

beginnt.<br />

Zeit zur Reflexion<br />

Dass sich die Arbeit in ihrer inhaltlichen Tiefe erst langsam erschließt,<br />

verleiht ihr eine langfristige Wirksamkeit. Ihr dauerhaftes<br />

Entstehen räumt gerade den Zeitraum ein, in dem sich ein<br />

reflexives Denken langsam entwickeln und etablieren kann. Die<br />

Arbeit bekommt damit Dauer und anhaltende Spannung mit auf<br />

den Weg. Sie stellt eine gleichsam intellektuell wie skulptural<br />

spannende Auseinandersetzung mit dem Gelände dar.<br />

94


GLEICH DEM NUN GESCHLOSSENEN<br />

SCHACHT DER ZECHE VERSCHLIESST<br />

SICH AUCH DIE GESCHICHTE IN DER<br />

ERINNERUNG VOR ÄUSSEREM ZUGRIFF.<br />

95


96


97


Boris Sieverts<br />

Haus auf der Halde / Haus am See / Tellerhaus<br />

Lohberg im Spiegel<br />

Boris Sieverts' Vorschlag sieht die Erstellung eines Gebäudefragments<br />

vor, das die Architektur eines typischen Bergmannssiedlungshauses<br />

der 1950er-Jahre reflektiert. Drei alternative<br />

Standorte wurden dabei wahlweise diskutiert: die Halde, der<br />

Uferbereich des Sees im Bergpark und die Installation der Arbeit<br />

auf dem Kohlerundeindicker.<br />

„Haus auf der Halde / Haus am See / Tellerhaus sind drei Varianten<br />

einer Idee. Lediglich eine von ihnen soll realisiert werden.<br />

Haus auf der Halde / Haus am See / Tellerhaus ist ein schillerndes<br />

Ding zwischen Bühnenbild und Gebäude. Es nimmt die<br />

Zerrbilder, die das Ruhrgebiet täglich produziert, ernst und<br />

führt diese Art der Bildproduktion weiter. Es wirft das Lohberg<br />

der Wohnstraßen wie ein Zerrspiegel in die Landschaft und<br />

den Park zurück. Es bedient sich dabei nicht des prominenten<br />

Bergmannssiedlungshauses aus dem 19. und der ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts, sondern eines noch alltäglicheren und zugleich<br />

ebenfalls qualitätvollen kleinen Mehrfamilienhauses aus<br />

den 1950er-Jahren, das sich durch seine Proportionen und das<br />

nach vorn hervorspringende Treppenhaus ohne Fensteröffnung<br />

auszeichnet, wodurch über der schlichten Eingangstür ein ungewöhnlich<br />

großes, geschlossenes Stück Wand stehen bleibt. Das<br />

schafft einen kleinen, monumentalen Moment, der den gesamten<br />

Bau bei genauem Hinsehen als Skulptur erscheinen lässt,<br />

besonders wenn man ihn aus der Reihe, in der er ursprünglich<br />

stand, isoliert, leicht im Maßstab verändert und in einen völlig<br />

neuen räumlichen Zusammenhang stellt.“<br />

98


HAUS AUF DER HALDE<br />

HAUS AM SEE<br />

TELLERHAUS<br />

IST EIN SCHILLERNDES DING<br />

ZWISCHEN BÜHNENBILD UND GEBÄUDE<br />

Nutzbare Struktur im Maßstab 5 : 4<br />

Das im Maßstab 5 : 4 verkleinerte, nach hinten und oben offen verglaste<br />

Haus sollte verschiedenen Nutzungen offenstehen. Vorstellbar<br />

ist es sowohl als Jugendhaus, als gastronomische Nutzung<br />

oder als Vereinsheim. Es transportiert einen Teil aktuellster<br />

Geschichte in die Gegenwart, indem es sich gerade jener Architektur<br />

der 1950er-Jahre annimmt, die uns heute als unattraktiv<br />

erscheint, jedoch die Lebensrealität der Bergmannsfamilien andeutet,<br />

abstrakt beschreibt und modellhaft in deren Landschaft<br />

verortet.<br />

99


Folke Köbberling / Martin Kaltwasser<br />

Kraftwerk<br />

Das Künstlerduo Köbberling / Kaltwasser artikuliert in seinem<br />

Entwurf ein elementares Thema des Standorts, seiner Vergangenheit<br />

und seiner Zukunft. Der abgeschlossene Steinkohlebergbau,<br />

der als Energielieferant für die lokale Stahlproduktion<br />

bedeutend war, soll in Zukunft im Kreativ.Quartier Lohberg<br />

mit einem CO₂-neutralen Standort konfrontiert werden und das<br />

Thema der Energie aktuell weiterdenken. In diesem Sinn schlagen<br />

die Künstler ein Kraftwerk vor, das allein aus menschlicher<br />

Eigen energie entstehen und in Zukunft betrieben werden soll.<br />

„Auf dem Gelände der ehemaligen Zechenanlage Dinslaken-<br />

Lohberg entsteht eine Einrichtung, die Energieerzeugung nach<br />

der Ära der Nutzung fossiler Energieträger in seiner ganzen<br />

Komplexität aufgreift und auf eine praktische, nutzbare, lokale<br />

Ebene bringt. Es ist ein Kraftwerk, in dem Energie einzig<br />

mit menschlicher Muskelkraft erzeugt wird. […] Das Kraftwerk<br />

ist ein aufgeständertes, lang gestrecktes, großzügig verglastes<br />

Holzgebäude, das mit muskelbetriebenen Pedalgeräten ausgestattet<br />

ist, mit denen Menschen Stromenergie erzeugen oder die<br />

Energie direkt als mechanische Kraft auf mechanische Geräte<br />

übertragen können.“<br />

Die Künstler, die dafür bekannt sind, Gebäude und Einrichtungen<br />

in kollaborativer Arbeit direkt vor Ort mit den Anwohnern<br />

aus recyceltem, lokal gefundenem Material zu entwickeln und<br />

zu bauen, wollen das hier geplante Kraftwerk zudem nur mit<br />

menschlicher Energie herstellen. Alle Werkzeuge, die dazu notwendig<br />

sind und Energie verbrauchen, werden ebenfalls mit den<br />

Bewohnern erarbeitet. In Workshops mit eben diesen und ausgewiesenen<br />

Experten soll nicht nur ein Haus mit gemeinsam zu bestimmender<br />

Nutzung entstehen, sondern auch ein Bewusstsein<br />

der Bevölkerung für die eigenen Energien und die innovativen<br />

Möglichkeiten, sich sozusagen aus dem Nichts anhand ohnehin<br />

vorhandener Möglichkeiten eine eigene Zukunft zu erfinden.<br />

100


IM POSTFOSSILEN<br />

ENERGIEZEITALTER<br />

GILT ES, SICH PRIMÄR<br />

DEM ENERGIESPAREN,<br />

DER ENERGIEEFFIZIENZ<br />

UND DER UMWELT-<br />

SCHONENDSTEN<br />

ENERGIEERZEUGUNG<br />

ZU WIDMEN. DAFÜR<br />

IST DINSLAKEN-<br />

LOHBERG EIN<br />

IDEALER STANDORT<br />

Das sich über mindestens ein Jahr langsam entwickelnde Projekt<br />

hinterlässt nicht nur Spuren in der Selbstwahrnehmung der<br />

ortsansässigen Bevölkerung, sondern auch einen innovativen<br />

Betrieb: Ob als Sportstudio oder Kulturverein, Werkstatt oder<br />

Fahrradbetrieb, als von den Bürgern erdachtes Haus mit eigener<br />

Energieversorgung strebt es eine autonome Selbstverwaltung<br />

mit ökonomisch tragfähigem Hintergrund an, das von den Bürgern<br />

selbst organisiert und verwaltet wird. Ein sich selbst betreibendes<br />

Kunstwerk also, das sich auch skulptural entlang seiner<br />

besonderen Ästhetik im Park deutlich manifestiert.<br />

101


102


103


Martin Pfeifle<br />

Color<br />

Reflektierte Wahrnehmung<br />

Martin Pfeifles Vorschlag reflektiert menschliche Wahrnehmungsmechanismen<br />

am Beispiel des CMYK-Farbmusters und<br />

setzt sie in einer skulptural eindrucksvollen, zur Teilnahme<br />

einladenden Arbeit um. Ein Feld aus drei begehbaren Kreisen,<br />

die von Aluminiumstangen in jeweils einer der Grundfarben gebildet<br />

werden, wird zum optisch wie physisch erfahrbaren Forschungsmodell.<br />

„Die Form der sich überlagernden Kreise kennt man aus der<br />

Farbentheorie. In diesem Fall der subtraktiven Farbmischung.<br />

Die Arbeit Color nimmt die wissenschaftlichen Erklärungen<br />

auf und versucht durch die Form der Anordnung eine dem<br />

Farbfilter ähnliche Mischung hervorzurufen, aber mit einem<br />

skulpturalen Erscheinen. Von Weitem nimmt man eine Farbfläche<br />

wahr, die sich beim Näherkommen in ein Farbflirren<br />

auflöst. Man erkennt einen Stangenwald, dessen Farben sich<br />

durch Überlagerung mischen. Beim Entlanggehen entstehen<br />

neue Farben und verschwinden wieder. Die Arbeit ist begehbar,<br />

in den einfarbigen Feldern mühelos, in den Mischfeldern<br />

werden die Stangenabstände dichter. Das Mischungsverhältnis<br />

der Farben wird somit psychisch und physisch erfahrbar.“<br />

CMYK<br />

104


105


107


DER FACHBEIRAT<br />

Der Fachbeirat von Choreografie einer Landschaft agierte nicht<br />

als ausschließende Jury, sondern bestimmte zunächst die ersten<br />

fünf zu realisierenden Arbeiten. Die Auswahl gilt nicht als<br />

Negativurteil für die anderen Projektvorschläge. Diese bilden<br />

heute einen Fundus, auf den in Zukunft zurückgegriffen werden<br />

kann<br />

Für den Fachbeirat konnten<br />

folgende Personen gewonnen werden:<br />

Gregor Jansen, Direktor der Kunsthalle Düsseldorf<br />

Hans-Jürgen Hafner, Künstlerischer Leiter Kunstverein für die<br />

Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf<br />

Katja Aßmann, Künstlerische Leiterin Urbane Künste Ruhr,<br />

Gelsenkirchen<br />

Melanie Bono, freie Kuratorin (2012 Landesmuseum für Kunst<br />

und Kulturgeschichte, Münster)<br />

Frauke Burgdorff, Montag Stiftung Urbane Räume, Bonn<br />

Dr. Michael Heidinger, Bürgermeister Stadt Dinslaken,<br />

Vertr. Thomas Pieperhoff<br />

Prof. Dr. Hans-Peter Noll, RAG Montan Immobilien GmbH,<br />

Vertr. Bernd Lohse<br />

Ruth Reuter, Projektleitung Stadt Dinslaken<br />

Andreas Wegner, Künstler, Berlin<br />

Dr. Martin Schmidl, Künstler, Aachen<br />

Britta L.QL, Künstlerin, Kreativ.Quartier, Lohberg<br />

Ingrid Rudolph, Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft,<br />

Natur- und Verbraucherschutz des Landes NRW<br />

Ein Fachbeirat<br />

Ein guter Fachbeirat ist meines Erachtens breit aufgestellt und<br />

beleuchtet das Fach aus verschiedenen Perspektiven. Das Ergebnis<br />

ist ein Rat, eine Empfehlung, die im besten Fall nicht nur<br />

umgesetzt und realisiert, sondern auch weiter diskutiert wird.<br />

Der Fachbeirat von Choreografie einer Landschaft war mit hochkarätigen<br />

Vertretern der aktuellen Kunsttheorie und -praxis<br />

besetzt: Museumskuratoren, Kunsthallenleiter, Kunstvereinsdirektoren<br />

und Künstler internationalen Rangs repräsentierten die<br />

gesammelte Fachkompetenz in einem hoch qualifizierten Querschnitt<br />

kunsthistorischen und praktischen Wissens. Soweit die<br />

Fachleute der Kunst. Die Fachleute der Region waren die Auftraggeber<br />

und Vertreter der Anlieger, aber auch Architekten und<br />

Stadtplaner – ein heterogener und durchaus als ideal besetzt zu<br />

nennender Fachbeirat. Ideal in dem Sinn, dass spannende Beiträge,<br />

Meinungen und Analysen, kritische und fachfremde Diskurse<br />

über Sinn und Verstand von Kunst im öffentlichen Raum<br />

allgemein und speziell im Fall des Bergparks Lohberg darin<br />

stattfanden.<br />

Verständnis beginnt beim Unverständnis, bei Fragestellungen,<br />

und gerade hier zeigte der Fachbeirat auf untypische, aber außerordentlich<br />

produktive Art Fachverstand: Zur Arbeit im Fachbeirat<br />

gehörte neben der Auswahl und Beurteilung der Künstlerentwürfe<br />

eine fruchtbare Besprechung und letztlich produktive<br />

prozessorientierte und konstruktive Zusammenarbeit im Sinne<br />

eines offenen Gesamtprojekts.<br />

Gregor Jansen, Direktor Kunsthalle Düsseldorf<br />

108


Die Realisierungsvorschläge<br />

Jeanne van Heeswijk / Marcel van der Meijs<br />

Groundwork – New Forms of Reciprocity<br />

Die Arbeit Groundwork – New Forms of Reciprocity von Jeanne<br />

van Heeswijk und Marcel van der Meijs ist als prozesshafte Anleitung<br />

zum eigenständigen Denken zu verstehen. Das bewegliche<br />

Klassenzimmer bildet als wandernde skulpturale Setzung<br />

eine Brücke zwischen Gartenstadt und Bergpark Lohberg und<br />

steht zugleich als Metapher für eine kollaborative Arbeitsweise.<br />

Jakob Kolding Ohne Titel<br />

Der kleine Kohlestein aus Bronze von Jakob Kolding gefiel dem<br />

Fachbeirat unter Aspekten wie Irritation, Überraschung, Verwunderung<br />

und zugleich als sensibles, mit Charme konzipiertes<br />

Mini-Element der großen Sache „Kohle“.<br />

Thomas Schütte Hase<br />

Gegenüber den Arbeiten und Bauwerken, die die Erinnerungskultur<br />

und industrielle Vergangenheit des Orts fokussieren,<br />

nimmt die Skulptur – augenscheinlich vollkommen neu und<br />

fremd am Ort – eine dennoch kontextbezogene Aussage vor.<br />

Denn vor dem Hintergrund der Frage, wo sich angesichts der<br />

schwer lastenden Geschichte eine offene Zukunft für diesen Ort<br />

und vor allem seine jungen Bewohner erfinden lässt, setzt die<br />

Arbeit ein leichtes wie freches, herausforderndes wie spielerisches,<br />

aktuelles wie profundes Zeichen.<br />

Andreas Siekmann<br />

Woher die Kohle kommt und wer die Zeche zahlt<br />

Der Entwurf von Andreas Siekmann hat durch seine intensive<br />

Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Bergwerk und den bis<br />

in die Gegenwart reichenden Auswirkungen seiner Schließung<br />

beeindruckt. Siekmann setzt eine klare politische Stellungnahme<br />

und zeigt, dass Kunst im öffentlichen Raum ökonomische<br />

Themen kritisch reflektieren kann. Mit seiner komplexen Analyse<br />

der Auslagerung von Kohleförderung in andere Länder legt<br />

er den Finger in die Wunde, den die Umgestaltung und Umnutzung<br />

der Zeche Lohberg nicht kaschieren darf, um glaubwürdig<br />

zu sein.<br />

Folke Köbberling / Martin Kaltwasser Kraftwerk<br />

Die Arbeit der Künstler greift viele Themen des Standorts und<br />

der Standortentwicklung auf, verknüpft sich so stark mit dem<br />

gegebenen Kontext und involviert verschiedene Elemente. Hervorzuheben<br />

ist der kollaborative Aspekt, in dem das Kunstwerk<br />

in Kooperation mit den Anliegern entstehen wird und eine lange<br />

Zeit zur Verfügung stellt, in der sich die Menschen mit dem<br />

Kunstwerk und den verschiedenen Thematiken auseinandersetzen<br />

und identifizieren können.<br />

Die Texte wurden von den Mitgliedern des Fachbeirats verfasst.<br />

109


Hans-Jürgen Hafner<br />

Kunst und Öffentlichkeit<br />

Nach wie vor besteht ein – insgesamt vermutlich eher intuitiver<br />

– Konsens darüber, dass Kunst und Öffentlichkeit irgendwie<br />

zusammengehören. Kunst kann selbst in Zeiten ihrer von einem<br />

zunehmenden Rückzug der öffentlichen Hand aus der Kulturförderung<br />

flankierten Ökonomisierung immer noch als von öffentlichem<br />

Interesse gelten, für die es – als Wert an sich – einzutreten<br />

gilt. Und der Behauptung, dass Kunst nun einfach mal<br />

in die Öffentlichkeit gehöre, lässt sich problemlos zustimmen.<br />

Schließlich wissen wir mittlerweile genau, dass Kunst nur durch<br />

ihre Veröffentlichung zur Kunst wird. Dass solche, die vielleicht<br />

im Geheimen vor sich hin gedeiht, in der Abgeschlossenheit von<br />

Dach- oder Oberstübchen blühen mag, sehr wohl und womöglich<br />

sogar gute Kunst sein könnte, würden wir zwar zugestehen – nur,<br />

wen sollte das kümmern. Hier spätestens wird klar: Kunst kann<br />

keine Privatsache sein. Erst in der Veröffentlichung öffnet sich<br />

der kritische Raum, in dem Kunst abgelehnt oder anerkannt, bewertbar<br />

und faktisch wird. Entsprechend wurde die Veröffentlichung<br />

zunehmend selbst zum Arbeitsfeld für KünstlerInnen.<br />

Mit der beginnenden Moderne integrieren Courbet, Duchamp,<br />

Warhol und viele andere als Auftraggeber ihrer selbst die gezielte<br />

Veröffentlichung ihrer Kunst in ihre künstlerische Praxis.<br />

Diese Praxis endet nicht mit der Produktion künstlerischer Objekte,<br />

sie bearbeitet ihre Distribution zunehmend als Voraussetzung<br />

der Kunst. Mit den Errungenschaften der Conceptual Art<br />

Ende der 1960er-Jahre wird die Kunst regelrecht zum Agenten<br />

einer Politik der Veröffentlichung. Das Ende der 1980er-Jahre<br />

neu entstehende Genre einer Public Art setzt dieses Projekt gezielt<br />

an den Schauplätzen fort, wo sich Öffentlichkeit idealerweise<br />

austrägt.<br />

Die Geschichte der modernen Kunst ist – gerade mit Blick auf die<br />

Kunst – auch eine ihrer Märkte und Institutionen, überlappt mit<br />

Sozial- und, als ökonomischer Sonderfall, Wirtschaftsgeschichte.<br />

Gleichwohl scheint es heute darüber, wie die Verbindung<br />

zwischen Kunst und Öffentlichkeit konkret aussieht, auf welchen<br />

Voraussetzungen sie beruht und welche faktischen Konsequenzen<br />

sie in der ästhetischen und gesellschaftlichen Praxis<br />

bedeutet, wenn schon kein gesichertes Wissen, vor allem keine<br />

Leitlinien mehr dafür zu geben, wie ein geordnetes öffentliches<br />

Gespräch darüber funktionieren könnte. Hier müsste eine Frage<br />

sein, wer dieses Wissen sicherstellt, die Leitlinien bestimmt und<br />

das Gespräch koordiniert. Eine weitere Frage müsste allerdings<br />

auch sein, was einerseits Kunst und andererseits Öffentlichkeit<br />

heute eigentlich füreinander sind und meinen. Aktuell wirkt<br />

es so, als geriete die Kunst zunehmend in Gefahr, zur reinen<br />

Privatsache zu werden. Eine breitenwirksam öffentliche Aufmerksamkeit<br />

für die Kunst gewährleistet heute jedenfalls fast<br />

ausschließlich ein Händler-Sammler- oder, schlimmer, Händler-<br />

Spekulanten-System, in dem seinerseits nur mehr ein kleiner<br />

Ausschnitt der gegenwärtigen künstlerischen und kulturellen<br />

Praktiken Platz findet. Dieser beschränkt sich naheliegend auf<br />

das für ein Händler-Sammler bzw. Händler-Spekulanten-System<br />

Verwertbare. Anstelle des Werts der Kunst tritt dabei ihr Preis.<br />

Dass Kunst sozusagen automatisch von öffentlichem Interesse<br />

sei, ist allerdings ihr Asset und wirkt als wesentlicher Faktor bei<br />

der Preisbildung mit. Genau der idealerweise hohe Preis entzieht<br />

sie aber der Öffentlichkeit, was, nebenbei bemerkt, nur auf Kosten<br />

der Öffentlichkeit und der Kunst geht. Wenig belastet Konsens<br />

mehr als dauerhafte Kosten.<br />

Darum wäre angezeigt, dass Kunst und Öffentlichkeit einander<br />

nicht stillschweigend voraussetzen, sondern sich gegenseitig<br />

vergewissern, indem sie sich permanent herausfordern und sich<br />

füreinander herstellen. Denn nicht anders als die Kunst ist das<br />

Konzept Öffentlichkeit selbst unter dem derzeitigen Ökonomisierungsdruck<br />

in die Krise geraten. Dabei wurden und werden<br />

zentrale Funktionen des Gemeinwesens outgesourct, Gestaltungsspielräume<br />

des Öffentlichen privatisiert. Genau hier ist<br />

Kunst umso mehr wieder ins Spiel zu bringen. Sie öffentlich<br />

zu verankern, sie – gerade auch kritisch – in die planerisch-gestalterische<br />

Herstellung von Öffentlichkeit einzubeziehen und<br />

auf diese Weise den gesellschaftlichen Status quo unmittelbar<br />

herauszufordern, erlaubt es, Öffentlichkeit im Spannungsfeld<br />

zwischen privaten und gemeinschaftlichen Einsätzen, großen<br />

und kleinen Interessen, sozialen und ökonomischen Perspektiven,<br />

als Feld des Politischen und Ästhetischen mittlerweile zu<br />

re-konstruieren.<br />

In diesem Sinn ist das Projekt Choreografie einer Landschaft für<br />

den Dinslakener Stadtteil Lohberg einer von vielen notwendigen<br />

Anfängen, das Terrain wiedergutzumachen, auf dem zukünftige<br />

Perspektiven für ein produktives, das heißt permanent zu<br />

hinterfragendes und neu zu justierendes Verhältnis zwischen<br />

Kunst und Öffentlichkeit möglich werden. Dabei erfahren nicht<br />

zuletzt Kunst und Öffentlichkeit Wesentliches über ihr jeweiliges<br />

Funktionieren voneinander. Davon kann es gar nicht genug<br />

geben.<br />

110


111


112


DIE REALISIERUNGEN<br />

Infolge der Fachbeiratsentscheidung sind vier Arbeiten im<br />

Bergpark entstanden. Gemäß der Offenheit des Projekts wurden<br />

sie im Realisierungsprozess stets den jeweiligen Änderungen<br />

des Kontexts angepasst. Besonders die Arbeit von Jeanne van<br />

Heeswijk durchlief entlang der Gespräche und Workshops mit<br />

den Anwohnern verschiedene Aktualisierungen. Woher die Kohle<br />

kommt und wer die Zeche zahlt von Andreas Siekmann ließ<br />

sich aus technischen und finanziellen Gründen bis heute leider<br />

nicht umsetzen 1 , könnte aber in Zukunft realisiert werden. Thomas<br />

Schüttes Hase transformiert den flachen Rundeindicker<br />

nun mit großzügigem Umlauf zum ambivalenten Monument<br />

zwischen Geschichte und Zukunft. So reflektiert die gesamte<br />

Konzeption wie auch die Arbeit der Künstler den Versuch der<br />

Anlieger, mit der Gestaltung des Bergparks eine neue Perspektive<br />

auf die eigene, noch offene Zukunft zu finden.<br />

Die leuchtend rote Figur von Thomas Schütte, die sich vor den<br />

verbliebenen Bauwerken einer schwer lastenden Geschichte wie<br />

aus dem Hut gezogen auf dem Mittelpfeiler der monumentalen<br />

Industrieanlage präsentiert, setzt dabei ein freches wie tiefgründiges<br />

Zeichen für die Notwendigkeit einer Zäsur und einer neuen<br />

Erzählung. Dass dies hier in Form einer wie von Kindeshand<br />

geschaffenen Figur geschieht, die beim Rundgang über den imposanten<br />

Umlauf subtil und ambivalent zwischen freundlichem<br />

Hasen, melancholischem Romantiker, voluminösem Kraftpaket<br />

und diabolischem Game-Charakter changiert, veranschaulicht<br />

deutlich, wie etwas absolut Neues in diesen Raum gebracht werden<br />

kann.<br />

Bei aller räumlichen Kontextualität bilden die ersten realisierten<br />

Projekte auch grundlegende künstlerische Diskurse ab. Wenn<br />

Jakob Kolding in seiner Arbeit der Kohle ein Denkmal ganz klassisch<br />

in Bronze setzt, das aber durch seine verschwindende, kaum<br />

weiter reduzierbare Größe gerade deshalb Erzählungen (zum<br />

Beispiel über seine Verortung, Existenz und Bedeutung) wieder<br />

in Gang setzt, die den ganzen Bergpark erfassen, thematisiert<br />

er auch die Frage nach Erinnerungskultur und ihren Formen.<br />

Denn wird die Erinnerung in der Gedenkskulptur nicht aus dem<br />

aktiven Gedächtnis der Bevölkerung aus- und im öffentlichen<br />

Raum endgelagert, wohingegen sie mittels Erzählung in der Gemeinschaft<br />

zirkuliert und sogar durch Mythologisierung ständig<br />

aktualisiert wird? Koldings Arbeit beantwortet diese Frage<br />

mit einer bemerkenswerten Antinomie. Indem er gerade anhand<br />

einer klassischen (Gedenk-)Skulptur Erzählungen hervorruft,<br />

die sich in der Suche nach dem verlorenen wie widerspenstigen<br />

Reststück der Geschichte realisieren, wird diese Geschichte<br />

wiederum zum Objekt des Narrativs, das sich ständig erneuert.<br />

Der Herstellung eines gemeinsamen Narrativs als Zentrum<br />

gemeinschaftlich erlebter Geschichte, Gegenwart und Zukunft<br />

widmet sich Jeanne van Heeswijk mit ihrem Team besonders intensiv.<br />

Zunächst pragmatisch als Frage in den Raum gestellt, was<br />

sich die Anlieger eigentlich von dem neuen Bergpark erwarten,<br />

eröffnet sie mit PARKWERK eine Zukunftswerkstatt mit ungewissem<br />

Ausgang. In Workshops, bei Treffen und gemeinsamen<br />

Aktivitäten mit den Bewohnern Lohbergs werden Fähigkeiten<br />

erarbeitet, eben das zu denken, was bisher unmöglich erschien.<br />

Wie sieht eine Zukunft aus, die ich mir heute noch nicht vorstellen<br />

kann? Wie entwickeln sich Perspektiven, die über das Bestehende<br />

hinausreichen? PARKWERK versteht sich dabei als offene<br />

Arbeitsstruktur, die von den Bürgern selbst getragen und gestaltet<br />

wird. Die gemeinsame Erzählung artikuliert sich über einen<br />

Verein, dessen Arbeit gerade erst begonnen hat – als sich selbst<br />

realisierendes Kunstwerk, das aus dem Bedürfnis der Menschen<br />

nach einer eigenen Zukunft entsteht. Die ersten Projekte sind so<br />

pragmatisch wie erfindungsreich. Ob das Café im Wasserturm<br />

als sozialer Treffpunkt oder der Kiosk im Bergarbeiterhaus, die<br />

öffentliche Bühne für alle, der fahrende Kiosk-Kurier oder die<br />

Stadtführungen in Lohberg – die Angebote generieren den potenziellen<br />

Arbeitsplatz genauso wie die benötigte Dienstleistungen,<br />

vor allem aber: eine eigene Zukunftsperspektive.<br />

Als sich selbst realisierendes Kunstwerk versteht sich auch das<br />

Kraftwerk von Folke Köbberling und Martin Kaltwasser. Das aus<br />

Recyclingmaterial gebaute Gebäude mit pedalbetriebener Energieproduktion<br />

bietet neben seinem Thema, das mit der Entwicklung<br />

des Geländes zu einem CO₂-neutralen Standort korrespondiert,<br />

einen klassischen Möglichkeitsraum, der den Bürgern eine<br />

Teilhabe am Park einräumt. Die letztendliche Nutzung dieses<br />

Orts entsteht erst im zukünftigen Gebrauch, der von den Protagonisten<br />

noch zu erarbeiten ist. Dieses teilweise ergebnisoffene<br />

Arbeiten verweist erneut auf den Aspekt der Einbeziehung von<br />

Zukunft im Konzept von Choreografie einer Landschaft.<br />

Trotz der verhältnismäßig kleinen Zahl der zunächst realisierten<br />

Arbeiten hat das Projekt bereits heute dem Park ein neues<br />

Gesicht gegeben und den Bürgern eine aktive Teilhabe an seinen<br />

Räumen ermöglicht. Diese Entwicklung soll in Zukunft mit<br />

weiteren Arbeiten fortgesetzt werden.<br />

1 Der ehemalige große Kohlerundeindicker sollte bei Projektbeginn noch<br />

begehbar gestaltet werden. Dies erwies sich aber nach längeren technischen<br />

Prüfungen als undurchführbar, wodurch eine Realisierung der Arbeit<br />

bis heute nicht möglich war.<br />

114


115


Jeanne van Heeswijk<br />

Britt Jürgensen<br />

Marcel van der Meijs<br />

PARKWERK – lokale Reisen ins Blaue<br />

Selbstermächtigung<br />

Die Region um Dinslaken, die ökonomisch auf Bergbau basierte,<br />

hatte eine Tradition und Kultur um diese Industrie geschaffen,<br />

die davon lebte, die Ressourcen einer bestimmten geologischen<br />

Formation zu entnehmen. Der lebensnotwendige Zusammenhalt<br />

der Männer unter Tage sowie der Familien „über Tage“ war unabdingbar.<br />

Die ständige Präsenz eines möglichen Todes erzeugte<br />

in Bergwerksgemeinschaften eine bestimmte Form des Zusammenhalts<br />

und der Lebendigkeit. Ohne die Arbeit wandelte sich<br />

all dies zu einer nicht mehr situationsgemäßen Hülle, und die<br />

post industrielle Phase der letzten Jahrzehnte verlangte von den<br />

Menschen der Region, sich neu zu verankern. Arbeitsbedingte<br />

Mi gration setzte ein, Neue kamen, Alte gingen.<br />

Eine Freizeit- und Kulturlandschaft bildet die neue Ökonomie der<br />

Region. Das Projekt Groundwork – New Forms of Reciprocity mit<br />

dem darin geplanten beweglichen Klassenzimmer von Jeanne van<br />

Heeswijk, Britt Jürgensen und Marcel van der Meijs stellte von<br />

Beginn an die Frage, wie die jetzigen AnwohnerInnen, die den<br />

Transformationsprozess auf existenzielle Art erleben, diesen aktiv<br />

mitgestalten und darin neu eingebunden werden können. Der<br />

Fokus liegt auf den AnwohnerInnen als lokale ExpertInnen, die<br />

aktiv ihre Zukunft erschaffen.<br />

Die initiale Frage des Projekts war, wie die Produktivität der AnwohnerInnen<br />

in diese neue grüne Freizeitlandschaft passen kann.<br />

Der Ansatz der Künstler verkörpert einen Prozess, der die AnwohnerInnen<br />

in die Lage versetzen soll, Verantwortung für ihren<br />

öffentlichen Raum und ihr Sein darin zu übernehmen. Ein<br />

solcher künstlerischer Prozess im gesellschaftlichen Raum folgt<br />

ästhetischen Kriterien, die in diesem Alltagsraum Bestand haben<br />

müssen.<br />

Neue Beziehungen zwischen Land und Leuten<br />

In Anbetracht globaler Veränderungen entwickeln viele Regionen<br />

lokale Resilienzen und damit diversifizierte Landschaftsstrukturen.<br />

Dinslaken-Lohberg als Randgegend des Ruhrgebiets hat historisch<br />

eine komplexe Landschaftsstruktur, die als Garten- sowie<br />

ehemalige Zechenstadt mit landwirtschaftlichen Wurzeln ihre<br />

landschaftliche Identität in der gegenwärtigen Zeit neu definieren<br />

muss. Der Bergpark, in dem das künstlerische Projekt angesiedelt<br />

ist, wurde Ausgangsort für die Frage, wie junge Arbeitslose<br />

zu „Grundstücksverwaltern“ dieses Parks und zu denjenigen, die<br />

diesen Ort mit verschiedenen Service-Angeboten zu einem neuen<br />

gemeinschaftlichen Raum gestalten werden können.<br />

Welche Angebote diese zu gestaltende Landschaft erfordert, galt<br />

es innerhalb des Projekts durch Workshops zu erkunden und entsprechend<br />

auszubilden. Von vornherein war es geplant, junge<br />

Menschen einzubeziehen und kreative Kleinstunternehmen aus<br />

dem Projekt erwachsen zu lassen. Deshalb war das bewegliche<br />

Klassenzimmer sowohl als Methode als auch als realer Raum in<br />

Form einer wandernden skulpturalen Setzung im Park gedacht.<br />

Neben dem Faktor, das Menschen den Mittelpunkt dieser Arbeit<br />

bilden, galt es, die frakturierten Teil-Landschaften zwischen Bergbau<br />

und Gartenstadt wieder näher zusammenzubringen.<br />

„Und tatsächlich kannte ich einen dieser Männer. Er<br />

kam nach Krieg und Gefangenschaft Anfang der 1950er-<br />

Jahre hierher und hatte nix! Keine Familie, keine Wohnung,<br />

keine Freunde und kein Geld, nur eine unbekannte<br />

Zukunft lag vor ihm. Er wohnte im Ledigenheim, auch<br />

Bullenkloster genannt. Frauen waren nicht erlaubt. Das<br />

Leben dort war kein Zuckerschlecken – Villa Hügel war<br />

etwas anderes! Aber eben dieser Mann schaffte es trotz<br />

des Verbotes, seine Liebste in der ersten Etage einzuquartieren,<br />

um ihr sein Leben, seine Arbeit und diese Gartenstadt<br />

zu zeigen. Also fuhr er mit seiner 500er-BMW<br />

nach Bayern und holte seine Frau fürs Leben dort ab. Tja<br />

und hätte er das nicht getan, so gäb es mich heute nicht.“<br />

– Auszug aus Stadtteilführung, Manuela Held –<br />

116


117


118<br />

Zeit, Wo/manpower und Fähigkeiten<br />

In Workshops lernten die TeilnehmerInnen, eigene Denkansätze<br />

zu finden und diese in Ideen und Handlungsstrategien umzusetzen.<br />

Es ging darum, einen Prozess zu initiieren, der von der<br />

Ideenentwicklung bis zur faktischen Umsetzung reicht. Gemeinsam<br />

wurden in zahlreichen Gesprächen und Workshops über Monate<br />

Fragen an den Raum gestellt und die Ideen und Wünsche<br />

der TeilnehmerInnen ausgearbeitet. Dabei kam man zu dem Ergebnis,<br />

dass im Bergpark Angebote fehlen, um den Park sinnvoll<br />

zu nutzen und mit Leben zu füllen. Gemeinschaftlich wurde entschieden,<br />

das bewegliche Klassenzimmer durch den Ausbau einer<br />

bereits vorhandenen Architektur – des Wasserturms des alten<br />

Zechengeländes – zu ersetzen. Der Akt symbolisierte einen<br />

wichtigen Schritt hin zu der gewünschten eigenständigen Aneignung<br />

des Projekts durch die AnwohnerInnen. Der Wasserturm<br />

symbolisiert als Architektur genau diesen Akt der Selbst- und<br />

Vorsorge, war er doch als Sammelspeicher dafür da, in Stoßzeiten<br />

wie dem Schichtwechsel genug Duschwasser für alle Bergleute<br />

zu garantieren. Aus dem beweglichen Klassenzimmer wurde<br />

PARKWERK – lokale Reisen ins Blaue. Durch Um- und Anbauten<br />

wurde der Wasserturm zum bleibenden Zeichen für den künstlerischen<br />

Prozess und Arbeitsort für unterschiedliche Dienstleistungsangebote,<br />

die gemeinsam entwickelt wurden und nun von<br />

den Stadtteilbewohnern als Kleinunternehmen betrieben werden.<br />

In Workshops, Veranstaltungen und Design- und Bauprozessen<br />

wurde dazu eingeladen, sich den Park zu eigen zu machen und<br />

gemeinsam die Weiterentwicklung und Nutzung dieses Raums<br />

zu produzieren.


PARKWERK beschäftigt sich mit dem Strukturwandel der Region<br />

in einer kollaborativen Form. Damit eröffnet das Künstlerteam einen<br />

Arbeitsansatz, der sich der Komplexität der Situation stellt.<br />

Anwesenheit vor Ort und Zeit, sich lokal zu verorten, sind Grundvoraussetzungen<br />

für das Gelingen solcher Transformationsprozesse.<br />

Ein empathisches Handwerkszeug des Zuhörens und Recherchierens,<br />

das Verstehen lokaler sozialer Strukturen sind<br />

notwendig für solch ein Co-Kreationswerk. Das Künstlerteam<br />

hat eine eigene professionelle Praxis in Theater, Stadtplanung<br />

und Kunst und damit Fähigkeiten, nach der lokalen Teamfindung<br />

einen initialen Impuls zu begleiten. Da Handlung angestrebt<br />

wird, werden diese Impulse in Design, Bauen, in Service-Formaten<br />

und schließlich in diesem Fall in kreative Jungunternehmen<br />

gesetzt, aber auch in Grundlagenbildung von Marketing, Dokumentation<br />

und Öffentlichkeitsarbeit. Der Inhalt bekommt eine<br />

Form und betritt damit sichtbaren Raum. Das Team lädt immer<br />

wieder externe ExpertInnen hinzu, so internationale Studenten<br />

eines Social-Design Kurses der Universität Eindhoven, die im<br />

Auftrag der beteiligten LohbergerInnen Prototypen entwickelten.<br />

David Snowden veranschaulicht in seinem Cynefin-Framework 1<br />

die evolutionäre Natur komplexer Systeme, einschließlich ihrer<br />

inhärenten Unsicherheit. Er „untersucht die Beziehung zwischen<br />

Mensch, Erfahrung und Kontext“ 2 und schlägt neue Wege für<br />

Kommunikation, Entscheidungs- und Richtlinienfindung und<br />

Wissensmanagement im komplexen sozialen Umfeld vor. Snowden<br />

spricht von einer nachträglichen Kohärenz. Er rät für komplexe<br />

Situationen, eine Anzahl einfacher praktischer Ansätze zu<br />

verwenden, um zu sehen welche sich im Feld behaupten. Denn<br />

Komplexität lässt sich nicht mit Komplexität begegnen. Wichtig<br />

ist zu wissen, welche Rolle man in einem komplexen System spielt.<br />

Die Künstler im erweiterten PARKWERK-Team wissen um diese<br />

Komplexität und ihre Kompetenzen. Sie dehnten den gegebenen<br />

Wettbewerbsrahmen um mehr Zeit und selbstgenerierte Förderung<br />

aus. Sie verschrieben sich der Prozessdynamik vor Ort und<br />

nicht der Auftragsarbeit.<br />

„Vor dem Bergbau gab es hier so gut wie nichts. Wenige<br />

unproduktive Bauernhöfe und vielleicht zehn Familien.<br />

Was heißt, dass Lohberg heute fast komplett aus<br />

Immi granten besteht. Nicht nur ich als Sohn türkischer<br />

Gastarbeiter bin Immigrant, sondern auch der Deutsche<br />

der hier lebt, dessen Großvater auch von weit weg<br />

hierherzog. Alle mit derselben Intention: Arbeit. Sprich,<br />

wir alle sind hier, weil die Kohle hier war. Die Kohle bestimmte,<br />

wo wir hinzogen, wie wir lebten, womit wir<br />

lebten, wie viel wir aßen und tranken. 2005 wurde diese<br />

Verbindung getrennt, und Lohberg war nun nur noch<br />

die Gemeinde ohne die unsichtbare Hand der Zeche. Sie<br />

war selbstständig und musste sich entscheiden, wie sie<br />

nun vorgeht. Man entwickelte gemeinsam ein starkes<br />

Heimatgefühl. Häuser wurden gekauft, Gärten wurden<br />

ausgebaut, und aus den Gastarbeitern Lohbergs wurden<br />

einheimische Lohberger.“<br />

– Auszug aus Stadtteilführung, Ömür Hafizoglu –<br />

119


Lebensunterhalt und ein sich selbst erhaltendes Kunstwerk<br />

Wie kann dieser Teil des Zechengeländes den Menschen in Lohberg<br />

Arbeit und Identität geben? In den Sommermonaten startete<br />

PARKWERK Stadtteilrundgänge vom Wasserturm aus. Von<br />

den AnwohnerInnen selbst wurden dort eine Bühne, eine schwimmende<br />

Terrasse sowie ein Café und ein Informationspunkt im Stil<br />

der Lohberger Gartenstadt-Architektur, ferner ein mobiler Fahrradkiosk<br />

realisiert. Ein Großteil des Projektgeldes floss in das Engagement<br />

der BürgerInnen und finanzierte über Zuschüsse und<br />

Aufwandsentschädigungen ihre Arbeit. Damit wurde ein Grundstein<br />

gelegt, die Erfindung der eigenen Zukunft als gemeinschaftsbildendes<br />

wie auch ökonomisch sinnvolles Programm zu etablieren,<br />

das nach der Fertigstellung des Projekts von den BürgerInnen<br />

eigenverantwortlich weitergeführt wird – ganz im Sinne eines sich<br />

selbst erhaltenden Kunstwerks. Der Gestaltungsprozess wird als<br />

Arbeit an der Gemeinschaft begriffen, als solcher ernst genommen<br />

und entsprechend entlohnt.<br />

Existenzbedrohende Lebenssituationen erschweren Selbstermächtigung<br />

und lassen Gemeinschaftsprozesse schnell in den Hintergrund<br />

treten. Anders ist es, wenn durch die Schaffung selbst entwickelter<br />

Arbeitskontexte ein Lebensunterhalt bestritten werden<br />

kann. Der Weg dahin ist ein lernender, durch eine „Lehrlingsentlohnung“<br />

den Zugewinn an Erfahrung und die Ausdauer wertschätzend.<br />

Das Künstlerteam hat in diese positive Verankerung<br />

investiert. Snowden betont, dass alle menschlichen Interaktionen<br />

stark von unseren Erfahrungen beeinflusst und häufig ganz davon<br />

bestimmt sind, sowohl durch den direkten Einfluss der persönlichen<br />

als auch durch kollektive Erfahrung.<br />

„Hallo, mein Name ist Jasmin Schneidewind. Ich selbst<br />

bin gebürtig aus Recklinghausen und wohne seit fünf Jahren<br />

in Lohberg. Für mich sind seit meiner Teenager-Zeit<br />

Wassertürme eine Faszination. An der Stadtgrenze von<br />

Recklinghausen und Herten stehen die größten Wassertürme<br />

Deutschlands, und als Teens war das für uns der<br />

Top Act, da oben hinaufzukommen, ohne erwischt zu werden.<br />

Kurzum, wir haben es geschafft, wurden allerdings<br />

einmal dabei erwischt, was einige Ohrfeigen zu Hause<br />

nach sich zog, genutzt hat es aber nicht. Der Wasserturm<br />

sorgte für den Druckausgleich und diente zur Wasserversorgung<br />

z. B. in der Kaue. Stellen Sie sich mal vor, was passiert<br />

wäre, wenn es hier einen Ausfall gegeben hätte. Ich<br />

sag' nur: ca. 1000–1500 Kumpel stehen eingeseift unter<br />

der Dusche – Wasser Marsch – aber da kommt nichts!!!“<br />

– Auszug aus Stadtteilführung, Jasmin Schneidewind –<br />

120


Kooperation als Integrationsform<br />

Zwischen der alten Gartenstadt und dem ehemaligen Zechengelände<br />

bestand seit jeher ein starker gegenseitiger Bezug. Gleichzeitig<br />

blieb der Arbeiter- und Migrantenstadtteil von der eher bürgerlich-ländlichen<br />

Umgebung isoliert, die Lohberg auch heute<br />

noch mit Vorurteilen begegnet. Die Kooperationen innerhalb von<br />

PARKWERK ermöglichen völlig neue Beziehungen der AnwohnerInnen<br />

zueinander. Zum einen durch Nachbarschaft verbunden,<br />

werden AnwohnerInnen nun auch TeilhaberInnen einer erfolgreichen<br />

und nachhaltigen Geschäftsform in Lohberg.<br />

Durch PARKWERK entsteht vor Ort durch den Mehrwert an Wertschätzung<br />

und Verbundenheit eine nachhaltig andere „Temperatur“,<br />

die sich konkret materialisiert. Das Verständnis eines um<br />

die soziale Plastik erweiterten Kunstbegriffs beschreibt nichts<br />

Feststehendes, sondern einen Übergang vom Werk zum Ereignis<br />

3 und wiederum vom Ereignis zum Werk. Er äußert sich in seiner<br />

sozialen und ästhetischen Wirkung. Die lokale Reise ins Blaue<br />

hat als Ereignis gerade begonnen, denn solche gemeinschaftlichen<br />

Prozesse verdichten sich erst über die Zeit. Somit steht den<br />

gemeinsam Reisenden eine ganze Welt des gemeinsamen Lernens,<br />

Modellierens, Verwerfens und Neubeginnens bevor. Wie<br />

alle lebendigen Dinge auf dieser Welt wird dieses Miteinander-<br />

Gestalten ein Prozess mit undefinierbarem Ende bleiben. Die Herausforderung<br />

für die LohbergerInnen wird sein, gemeinsam offen<br />

zu sein für das Lernen an ihrem Umfeld und ihren Lebensrealitäten.<br />

Das Künstlerteam weiß um die neue Kunst des Zusammenlebens.<br />

4<br />

Susanne Bosch<br />

1 Snowden, David: „Cynefin: a Sense of Time and Space, the Social Ecology<br />

of Knowledge Management“, in: Despers, Charles und Daniele Chauvel<br />

(Hrsg.): Knowledge Horizons. The Present and the Promise of Knowledge Management,<br />

London 2000.<br />

2 O’Neill, Louisa-Jayne: „Faith and Decision-making in the Bush Presidency:<br />

The God Elephant in the Middle of America’s Livingroom“, in: Emergence:<br />

Complexity and Organisation, Bd. 6, Nr. 1/2, 2004, S. 149–156, hier:<br />

S. 149.<br />

3 Mersch, Dieter: Reflexion und Performativität. Ausbruch der Kunst aus<br />

dem Ghetto der Avantgarde, in: [01. 03. 2014].<br />

4 Adloff, Frank und Claus Leggewie (Hrsg.): Das konvivialistische Manifest,<br />

Bielefeld 2014, in: [14. 09.2015].<br />

121


Zukunftslabor<br />

In Workshops, Meetings und Diskussionen wurden<br />

mit den Bewohnern Ideen für den Bergpark und<br />

die eigene Zukunft entwickelt. Der Verein Parkwerk<br />

e. V. wurde gegründet, der Wasserturm kristallisierte<br />

sich als zentraler Standort heraus und<br />

wurde für einen symbolischen Betrag gekauft.<br />

Neben den aktuell umgesetzten Ein- und Anbauten<br />

sind dort weitere im Park benötigte Infrastrukturen<br />

geplant – so eine öffentliche Toilette und ein<br />

Panorama-Fenster zu Lohberg.<br />

Neue Residenz von Parkwerk e. V.<br />

Der Verein bietet im Wasserturm ein Café mit Gastronomie<br />

und Außenterrasse, die auch als öffentliche<br />

Bühne für Konzerte und andere Darbietungen<br />

von den Bürgern genutzt werden kann. Der Kiosk<br />

mit Verkauf in einem Siedlungshaus-Nachbau bietet<br />

Proviant auch zum Mitnehmen an. Dass sich<br />

die Vereinsmitglieder und Betreiber damit auch<br />

eine potenzielle Zukunft erarbeiten, ist ganz im<br />

Sinne der künstlerischen Konzeption. Parkwerk<br />

bietet neben dem Café auch weitere Dienstleistungen<br />

an. Dazu gehören der fahrende Kiosk-Kurier,<br />

die schwimmende Insel und Stadtteilführungen<br />

im Ortsteil Lohberg, die von versierten Bewohnern<br />

selbst durchgeführt werden.


124


PARKWERK ist ein Gesamtkunstwerk<br />

Design und Entwicklung: Abdulsamet Koyun, Büsra Sevinç,<br />

Laura Gluhiċ, Merve Koç, Marie Schrör, Sinan Demir, Yasin Erdi,<br />

Eda Demir, Süheda Hatir, Elif Ayaz, Mette Yildirim, Bartu Tekin,<br />

Mücahit Eren, Cesur Yildirim Stadtteilführungen: Ömür Hafizoglu,<br />

Jasmin Schneidewind, Gökhan Topcu, Manuela Held,<br />

Susanne Gülzau Design Academie Eindhoven: Henriette Waal,<br />

Henrique Nascimento, Deborah Janssens, Francois Bonnot Bau:<br />

Iskender Karaman, Sŭkrŭ Karaman, Mansur Özcan, Aslan Bejtula,<br />

Abidin Musliü, Cemal Demir, Emre Danyildiz, Selim Yigit,<br />

Alexander Geijzendorffer, Matthias Moser Unternehmen: Evertz<br />

GmbH & Co. KG Garten- und Landschaftsbau, Halfmann Architekten,<br />

Uhlir & Jansen Ingenieurbüro, André Mölder Bauunternehmen<br />

GmbH & Co. KG, Marcus Droste Rohstoffhandel, Shisha<br />

Vie, Flora Apotheke, Blumen Bücher, Kunst und Wein Grafik:<br />

Britta L.QL, Fleur Knops, Janneke Absil Konzept: Jeanne van<br />

Heeswijk, Britt Jürgensen, Marcel van der Meijs, Mariska Vogel,<br />

Lodewijk Thijssen, Anja Sommer Studio Jeanne van Heeswijk:<br />

Ramon Mosterd, Annet van Otterloo, Radjesh Roepnarain Organisation:<br />

Kinderschutzbund, Martin Luther Gemeindezentrum,<br />

Forum Lohberg, DiTiB Dinslaken Selimiye Moschee Projekte<br />

wie diese wären niemals möglich, ohne den besonderen Einsatz<br />

besonderer Menschen: Ruth Reuter, Bernd Lohse, Helge<br />

Uhlig, Alexander Selbach, Gerhard Seltmann, Nadine Schrader-<br />

Boelsche, Erich-W. Heinser, Thomas Termath, Stefan Hutmacher,<br />

Holger Mrosek, Volker Grans, Fatih Yildis, Irina Weischedel,<br />

Markus Ambach, Yasemin Köksur, Önay Duranoez, Peter Psiuk,<br />

Paul Jürgensen<br />

125


126


127


Jakob Kolding<br />

Ohne Titel<br />

Dunkle Materie<br />

In einem berühmten Essay über die nachmoderne Skulptur der<br />

1960er-Jahre bemerkte der amerikanische Kunsthistoriker Hal<br />

Foster: „Im Minimalismus ist die ‚Skulptur‘ nicht mehr abgehoben,<br />

auf einem Podest stehend oder reine Kunst, sondern wird<br />

zu den Objekten zurückgeführt und vom Ort her neu definiert.<br />

Durch diese Veränderung wird der Betrachter […] ins Hier und<br />

Jetzt zurückgeworfen. Anstatt die Oberfläche eines Werkes<br />

topographisch auf die Eigenschaften eines Mediums zu untersuchen,<br />

wird der Betrachter dazu gebracht, sich mit den Folgen<br />

eines bestimmten Eingriffs an einem gegebenen Ort auf die<br />

Wahrnehmung auseinanderzusetzen.“ 1 Diese Beobachtung lässt<br />

sich in weiten Teilen auf Jakob Koldings skulpturalen Beitrag im<br />

Bergpark auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Lohberg übertragen.<br />

Seine Bronzeplastik ist weder „abgehoben, auf einem<br />

Podest stehend oder reine Kunst“ noch nimmt sie innerhalb der<br />

Parklandschaft eine traditionelle zentrale Position ein. Vielmehr<br />

wird sie „zu den Objekten zurückgeführt und vom Ort her neu<br />

definiert“, und man kann annehmen, dass sich ihre Betrachterinnen<br />

und Betrachter „ins Hier und Jetzt zurückgeworfen“ fühlen.<br />

Oder, wie es Jakob Kolding selbst kürzlich in einem Interview<br />

formulierte: „[D]urch diese kleine Skulptur werden die gesamte<br />

Landschaft und die Menschen darin zu einem Teil der Arbeit.“ 2<br />

Tatsächlich hat sich Jakob Kolding in seinem Werk häufiger ausdrücklich<br />

mit den Konsequenzen der Minimal Art beschäftigt,<br />

und man kann die annähernd quadratische Form seiner Skulptur<br />

als einen Wink in diese Richtung verstehen. Eine andere Eigenschaft,<br />

die sie mit den Errungenschaften avancierter Kunst<br />

der 1960er-Jahre teilt, ist ihre vieldeutige Buchstäblichkeit, ihr<br />

humorvoller Illusionismus, ihre Verankerung in der Alltagswelt.<br />

Doch während Andy Warhol Skulpturen herstellte, die von<br />

Topfreiniger-Verpackungskartons nur schwer zu unterscheiden<br />

waren, und Jasper Johns ein paar Ballantine-Ale-Bierdosen in<br />

Bronze gießen ließ, diente Kolding kein Markenartikel als Vorlage.<br />

Sein antimonumentales, buchstäblich geerdetes Denkmal<br />

von etwa zehn Zentimetern Seitenlänge bildet vielmehr den<br />

Rohstoff nach, dem es letztlich seine Existenz verdankt: Kohle.<br />

Die Gestalt eines Steinkohlebrockens hat keine Autorschaft. In<br />

formaler Hinsicht ist der in Bronze gegossene und anschließend<br />

schwarz gefasste Kohlebrocken eine „anonyme Skulptur“ – ungefähr<br />

in dem anerkennenden Sinn, in dem Bernd und Hilla Becher<br />

die Industriearchitekturen, die sie seit Ende der 1950-Jahre<br />

fotografierten, als „anonyme Skulpturen“ bezeichneten. 3 Auch<br />

128


129


das Projekt der Bechers war bekanntlich motiviert vom Strukturwandel<br />

und entwickelte sich aus dem Versuch, einer vom<br />

Verschwinden bedrohten Industriearchitektur ein Denkmal<br />

zu setzen. Und es war selbstverständlich kein Zufall, dass die<br />

Wahrnehmung der Becher’schen Fotografien im Kunstkontext<br />

ganz entscheidend von einem Bildhauer der Minimal Art, Carl<br />

Andre, angeregt wurde. 4<br />

Kohle ist folglich kein so unwahrscheinlicher Gegenstand der<br />

bildenden Kunst, wie es zunächst scheinen mag. Von William<br />

Turners Gemälde Keelmen Heaving in Coals by Moonlight (1835),<br />

das das nächtliche Entladen eines Kohleschleppers am Themse-<br />

Ufer zeigt, über Duchamps von der Decke hängenden Kohlesäcken<br />

in der Pariser Exposition internationale du Surréalisme<br />

(1938) bis zu Jeremy Dellers Video The Battle of Orgreave (2001),<br />

das die blutige Auseinandersetzung zwischen streikenden britischen<br />

Bergarbeitern und Polizeitruppen 1984 reinszeniert – die<br />

Geschichte der Kohle und die Geschichte der Kunst sind bis heute<br />

auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. 5 Umso bemerkenswerter<br />

ist die Art und Weise, wie sich Koldings Beitrag innerhalb<br />

dieser Geschichte positioniert: kleinformatig, dezentral,<br />

am Rande der Sichtbarkeit. Koldings Kohlefragment ist – wenn<br />

man es einmal entdeckt hat – unverkennbar ein Überrest, genauso<br />

wie die im Bergpark noch erhaltene Industriearchitektur.<br />

Was dieses Kunstwerk jedoch von den eindrucksvollen Industriebauten<br />

unterscheidet, ist seine bewusst antispektakuläre Dimension.<br />

Kolding erklärte, „mit der beiläufigen Installation […]<br />

und dem kleinen Format“ wollte er „vermeiden, ein Denkmal für<br />

eine entweder romantische oder stigmatisierte Vergangenheit<br />

zu errichten“ 6 . Dabei reflektiert sein Antidenkmal durch seine<br />

naturalistische Gestaltung und beiläufige Verortung auch die<br />

heterogene Gestaltung des Bergparks selbst, in dem die Grenzen<br />

zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Elementen,<br />

anonymen und nichtanonymen Skulpturen mit dem bloßen<br />

Auge allein nicht immer zweifelsfrei erkennbar sind. Trotz ihres<br />

augenscheinlichen Naturalismus ist Koldings skulpturale Intervention<br />

offenkundig konzeptueller Natur, unmittelbar auf dem<br />

Boden und damit an der Schnittstelle zwischen dem verschwundenen<br />

versteinerten Wald – den früheren unterirdischen Kohlevorkommen<br />

– und den mittlerweile bewaldeten Schlackenhalden<br />

platziert. Dort behauptet sich die Skulptur als Erinnerung<br />

an das Kohlezeitalter in einem mittlerweile auf CO₂-Neutralität<br />

angelegten Gelände. Dem Prozess des Zechensterbens steht<br />

130


die nahezu unbegrenzte Dauerhaftigkeit der Bronze diametral<br />

gegenüber. Sie erscheint als der irreduzible Rest, der sich einer<br />

vollständigen Transformation des Standorts ebenso diskret wie<br />

beharrlich widersetzt. Während der britische Kunsthistoriker<br />

Peter Fuller meinte, dass die Qualitäten von Kohle allein durch<br />

ihre Verbrennung freigesetzt werden könnten, 7 ist Koldings Kohleabguss<br />

kein Verbrauchsmaterial, sondern ein Gegenstand der<br />

Kontemplation und gelegentlich vielleicht sogar des melancholischen<br />

Brütens – weniger ein Denkmal, eher eine Art Übergangsobjekt,<br />

das zur Gestaltung eines Ablösungsprozesses beiträgt.<br />

Dass die Betrachterinnen und Betrachter in das Werk einbezogen<br />

sind, macht jedenfalls auch dessen Installation unter einer<br />

Sitzbank, am Rand eines Gewässers sinnfällig. Während die<br />

Energiewirtschaft einen allmählichen Ausstieg aus der Kohleverstromung<br />

anstrebt, um die globale Erwärmung mit ihren verheerenden<br />

Konsequenzen für Menschen und Umwelt auf zwei<br />

Grad zu begrenzen, 8 erinnert Koldings Beitrag zum Bergpark an<br />

die Lücke, die die Kohle nicht nur physikalisch, sondern auch<br />

ökonomisch und gesellschaftlich hinterlassen hat, und kann zugleich<br />

eine Art Eckstein für die Neuerfindung von Lohberg nach<br />

der Kohle sein.<br />

Barbara Hess<br />

1 Foster, Hal: „Die Crux des Minimalismus“, in: Minimal Art. Eine kritische<br />

Retrospektive, hrsg. von Stemmrich, Gregor, Dresden/Basel 1995,<br />

S. 589–633, hier S. 590.<br />

2 Kolding, Jakob und Jacob Fabricius: Nothing is always absolutely so,<br />

Kopenhagen 2015, S. 13.<br />

3 Becher, Bernhard und Hilla: Anonyme Skulpturen. Eine Typologie technischer<br />

Bauten, Düsseldorf 1970.<br />

4 Dies vor allem durch seinen Beitrag in der amerikanischen Kunstzeitschrift<br />

Artforum; siehe Andre, Carl: „A Note on Bernhard and Hilla Becher“,<br />

in: Artforum International, Jg. 11, Nr. 5, 1972, S. 59–61.<br />

5 Für einen enzyklopädischen Überblick zu diesem Thema siehe: The<br />

Deep of the Modern. A Subcyclopedia, hrsg. von Cuauhtémoc, Medina und<br />

Christopher Michael Fraga, Ausst.-Kat. Manifesta 9. The European Biennial<br />

of Contemporary Art, Genk/Limburg 2012.<br />

6 Siehe Anm. 2, hier: S. 12.<br />

7 Fuller, Peter: „Black Art. Coal and Aesthetics“, Rezension der Ausstellung<br />

Coal. British Mining in Art 1680–1980, Ausst.-Kat. City Museum and<br />

Art Gallery, Stoke on Trent 1982 und weitere Stationen, zit. nach Danahay,<br />

Martin A.: „The Aesthetics of Coal. Representing Soot, Dust, and Smoke in<br />

Nineteenth-Century Britain“, in: Caverns of Night. Coal Mines in Art, Literature,<br />

and Film, hrsg. von Thesing, William B., Columbia/South Carolina, S. 3.<br />

8 Siehe: [11.09.2015].<br />

131


132


133


Folke Köbberling / Martin Kaltwasser<br />

Kraftwerk Lohberg<br />

Das Kraftwerk Lohberg stellt die Stromerzeugung mit menschlicher<br />

Muskelkraft in den Mittelpunkt einer künstlerischen, architektonischen,<br />

technischen und sozialen Auseinandersetzung.<br />

Es ist ein Kraftwerk-Prototyp, der Energieerzeugung nach der<br />

Ära der fossilen Energieträger grundlegend mit den Mitteln der<br />

Kunst auf eine praktische, lokale und nutzbare Ebene führt.<br />

Inmitten des Bergparks Lohberg auf der ehemaligen Zechenanlage<br />

Lohberg entstand unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung<br />

von Frühjahr bis Sommer 2015 ein großzügig verglaster,<br />

aufgeständerter Holzpavillon. Darin integriert sind selbst gebaute<br />

Fitnessgeräte aus recycelten Altfahrrädern, die mit speziellen<br />

Stromgeneratoren und Stromwandlern ausgestattet sind, aus denen<br />

bei entsprechender Betätigung Haushaltsstrom fließt. Mit<br />

diesem selbst erzeugten Strom, der in einer zentralen Schaltanlage<br />

zusammenfließt, lassen sich verschiedenste Anwendungen<br />

erproben, vorführen und experimentell weiterentwickeln wie<br />

Fahrradkino, Fitnessstudio, Holz-, Mechanik- und Elektrotechnikwerkstatt,<br />

Spiel-, Sport-, Do-it-Yourself-Raum, Galerie, Treffpunkt,<br />

Möglichkeitsraum. Der Parkbesuch kann nun dazu dienen,<br />

sein Smartphone vor Ort wieder aufzuladen, überflüssige<br />

Pfunde loszuwerden und sein Fitnesstraining mit etwas wirklich<br />

Nützlichem zu verbinden. An einem Ort, an dem noch vor zwanzig<br />

Jahren eine Alternative zur Steinkohle völlig undenkbar war.<br />

Wie kam es dazu? Im postfossilen Energiezeitalter gilt es, sich<br />

der Energieeffizienz und der umweltschonendsten Energieerzeugung<br />

zu widmen. Dafür ist Dinslaken-Lohbergs ehemaliges<br />

Zechenareal ein idealer Standort. Wir trafen im Jahr 2011 den<br />

britischen Künstler Colin Tonks, der sich der pedalbetriebenen<br />

Energieerzeugung verschrieben hat und seine bahnbrechend<br />

simplen und mobilen Fahrradantrieb-Kleinkraftwerke europa-<br />

134


weit den Menschen näherbringt. Er inspirierte uns, diese Idee<br />

als Kunstwerk für den Bergpark Lohberg auszutüfteln. Der<br />

Wettbewerbstitel Choreografie einer Landschaft motivierte uns<br />

ebenfalls als Fragestellung dazu, uns die sich aus dieser neuen<br />

Energieerzeugungsform ergebende Landschaft auszumalen und<br />

exemplarisch vorzuführen. Sie mündete in einem Bauwerk, das<br />

einer bis dato unbehausten und weltweit noch nie in Architektur<br />

überführten Energieerzeugungsform eine skulpturale, feste<br />

Form verleiht. Bislang tüfteln Technikfreaks, Künstlergruppen,<br />

ÖkoaktivistInnen, Ingenieure, Pädagogen und Studierende privat,<br />

in kleinen Gruppen oder im akademischen Kontext an pedalerzeugten<br />

Energieformen. Meist verwenden sie dafür ihre eigenen<br />

Fahrräder oder Ergometer, die sie mit der Generatortechnik<br />

verbinden. Sie verbreiten ihr Know-how übers Internet, organisieren<br />

Fahrradkinoabende und treten mit temporären Events in die<br />

Öffentlichkeit. Mit dem Kraftwerk Lohberg gibt es nun das wohl<br />

weltweit erste Gebäude, das ausschließlich für diese alternative<br />

Energieerzeugung konzipiert und entworfen worden ist. Die Pavillonform<br />

hebt das Bauwerk auch entscheidend von den althergebrachten<br />

Gebäude typologien der Kraftwerksarchitektur ab.<br />

Durch seine horizontale, lichtdurchlässige Form fügt es sich behutsam<br />

in die hügelige Bergparklandschaft und wird Teil von ihr.<br />

Zur Bergpark-Eröffnung im Oktober 2014 konnte die pedalbetriebene<br />

Stromerzeugung anhand eines Musterexemplars schon<br />

auf der Bergparkwiese neben Würstchenbuden und Hüpfburg<br />

erprobt werden. Gleichzeitig markierte es den zukünftigen<br />

Standort: die beste Lage überhaupt. Es ist weithin sichtbar, die<br />

BesucherInnen können ihre Blicke über die Weiten des Weihers,<br />

den Park und die Stadtsilhouette Lohbergs schweifen lassen und<br />

ungeahnte Energien spüren.<br />

135


Im Januar 2015 starteten wir mit dem Bau der Betonfundamente.<br />

Darauf errichtete die Zimmereiklasse des Berufskollegs<br />

Dinslaken an zwei Februartagen in Holzrahmenbauweise die<br />

gesamte Tragstruktur. Danach bauten wir zusammen mit den<br />

Jugendlichen von SOS-Lohberg und vielen weiteren Freiwilligen<br />

mit großzügiger materieller Unterstützung durch ortsansässige<br />

Firmen und Privatpersonen in einem viermonatigen<br />

Bauprozess den Kraftwerkspavillon mit umlaufender Terrasse<br />

in Holzrahmenbauweise, mit Holzstützen, aufgeständert<br />

1,20 Meter über dem Grund, einer Grundfläche von 150 Quadratmetern,<br />

einer Innenraumfläche von circa 85 Quadratmetern,<br />

breiter Erschließungsrampe und schwebenden Treppen.<br />

Wie bei unseren partizipatorischen Kunst- und Bauprozessen<br />

üblich, war das Kraftwerksgebäude nicht bis ins letzte Detail<br />

vorgeplant. Viele Gestaltungsfragen wurden erst im Entstehungsprozess<br />

auf der Baustelle entschieden. Die Gestaltung der<br />

Fassade und des Innenraums wurde zusammen mit den Freiwilligen<br />

vor Ort entwickelt. Sie wurden komplett aus geschenkten<br />

Fenstern industrieller Fehlproduktion, Recyclingtüren und Holz<br />

von XXXL-Transportkisten lokaler Großspeditionen hergestellt.<br />

Allein der erste Teil des Prozesses nach dem Motto „One Man’s<br />

Trash is Another Man’s Treasure“, Demontage und Entnageln<br />

136


der gigantischen Einweg-Speditionskisten, dauerte vier Wochen.<br />

Zeitgleich wanderte die so gewonnene, aufbereitete, gereinigte<br />

Materialflut in die vier Dimensionen von Kraftwerk und<br />

Terrasse.<br />

Länge: 15,00 Meter, Breite: 10,00 Meter, Höhe: 5,00 Meter, gewonnene<br />

Energie: unendlich. Innenraumgröße: Länge: 11,25 Meter,<br />

Breite: 7,50 Meter, lichte Raumhöhe: 4,50 Meter, Erkenntnisgewinn:<br />

Selbstbau + Spaß + Miteinander = Zukunft<br />

Wir setzten uns zum Ziel, alle geschenkten Fenster einzubauen.<br />

Die Holztragstruktur war die Matrix, in die sich die Fenster einfügen<br />

mussten. Nach dem Prinzip trial and error bauten wir die<br />

Fenster locker ein, begutachteten die Proportionen, schraubten<br />

los, tauschten aus, spielten quasi mit den Elementen 1 : 1 am Bauwerk<br />

so lange, bis sukzessive eine schlüssige Fassadenaufteilung<br />

entstand, ständig erprobt durch Innensicht und Außenbetrachtung.<br />

Die Treppen, die Rampe, ihre Lage und Ausrichtung skizzierten<br />

wir vorab 1 : 1 mit Latten und Schrottholz, untersuchten<br />

verschiedene Varianten, entschieden schließlich, ehe sie solide<br />

handwerklich durchgearbeitet wurden. So entstand ein Großteil<br />

der Kraftwerksarchitektur durch direktes Designen und Bauen,<br />

in situ, vor Ort, unplugged.<br />

137


138


139


Stromerzeugung: Strom = Fahrrad + Generator etc.<br />

Für die Herstellung der Kraftwerkstechnik engagierten wir die<br />

Leipziger Ein-Mann-Firma Ökotrainer, deren Geräte äußerst simpel,<br />

effizient und leicht verständlich sind: Das Hinterrad eines<br />

Fahrrads wird in ein Gestell eingespannt. Am Gestell ist eine<br />

Andruckwalze befestigt, die an das Hinterrad gepresst wird.<br />

Sie überträgt die Umdrehungsenergie mittels Reibung in einen<br />

Stromgenerator. Der Generator speist den Strom in einen Transformator,<br />

der den Strom auf 220 Volt hochlädt, in einen Wechselrichter<br />

leitet, und was dort herauskommt, ist Haushaltstrom.<br />

Dieser simple Haushaltsstrom, von zehn Fahrrädern und zehn<br />

Ökotrainern erzeugt, war der Star der Kraftwerkseröffnung am<br />

6. Juni 2015! Die gemeinschaftliche Freude über das Selbstgemachte,<br />

die zusammen lustvoll erstrampelte Energie, mit der<br />

alle einen Filmnachmittag, Musikvorführungen, Diskomusik<br />

und einen dynamisch physikalischen Vorgang erleben konnten:<br />

Es ist so simpel wie einfach.<br />

Mechanische Werkstatt: Energie = Fahrrad + Mechanik<br />

Das Kraftwerk wird in naher Zukunft auch Geräte beherbergen,<br />

die rein mechanische Werkzeuge, Maschinen und Handwerksgeräte<br />

antreiben. Über Zahnräder, Wellen, Riemen und Ketten<br />

wird die Energie, die mit Ergometern und aufgeständerten<br />

Fahrrädern erzeugt wird, auf Bandsäge, Ständerbohrmaschine,<br />

Nähmaschine, biegsame Welle und Schleifstein übertragen. Das<br />

Kraftwerksgebäude hat ohnehin eine eigene, gut ausgestattete<br />

und professionell betreute Schauwerkstatt, in der die Fahrräder<br />

und Kraftmaschinen hergestellt und gewartet, in der Neuentwicklungen<br />

konstruiert und erprobt werden. Sie ist auch Selbsthilfewerkstatt<br />

für die Bevölkerung, für (Rad-)Touristen, Jugendliche<br />

und Schulen, eine konkrete qualitative Erweiterung des<br />

Parks zur aktiven Mitgestaltung und Teilhabe: Park 3.0.<br />

Der Sinn des Ganzen besteht letztlich darin, in unserer heutigen<br />

Gesellschaft verkümmerte Fähigkeiten wieder emporzuhieven,<br />

zu entdecken, selbst zu erfahren: Wie entsteht eigentlich Energie?<br />

Können wir wirklich so etwas selbst machen? Was passiert,<br />

wenn wir auf einmal keinen Strom mehr haben, und was können<br />

wir machen, damit uns das nicht beeinträchtigt? Wie können wir<br />

unsere eigene Energie nutzbringend, kreativ und lustvoll weitergeben,<br />

steigern und sichtbar machen? Das Kraftwerk Lohberg<br />

lädt ein zu erfahren, wie etwas wieder sichtbar wird, das mittlerweile<br />

für uns fast völlig unsichtbar und unvorstellbar geworden<br />

ist. Aus unserem Bewusstsein und aus unseren Lebenswelten<br />

völlig verdrängte produktive Vorgänge, die nicht abstrakt und<br />

fremdbestimmt sind, die nicht konsumorientiert sind, sondern<br />

Anstrengung erfordern sowie Partizipation, Teilnahme und zunächst<br />

Energie, durch die wir aber am Ende wesentlich mehr<br />

Energie gewinnen können: mechanischer, elektrischer und<br />

menschlicher Art.<br />

Der Bauprozess spiegelte dieses Moment der Teilhabe und Mitwirkung<br />

wider. Ohne die Beteiligung der Bevölkerung wäre das<br />

Kraftwerk Lohberg niemals fertiggestellt worden. Maßgeblich<br />

beteiligt waren ein Dinslakener Architekt, der die notwendigen<br />

Baupläne einreichte und die Baugenehmigung erwirkte, die<br />

sehr kooperative Stadtverwaltung, zwei Bauhandwerker, Jugendliche<br />

des Kinderschutzbunds Dinslaken-Voerde, Schüler,<br />

ein Street worker, lokale Firmen, Familien, Rentner, Unternehmen<br />

und weitere Privatpersonen. Eine Fensterfirma überließ<br />

uns ihren gesamten Lagerplatzschrott: dutzende fabrikneue<br />

Plastikrahmen-Isolierglasfenster und -türen unterschiedlicher<br />

Größe. Geänderte Bauherrenwünsche, Fehlproduktionen. Die<br />

übliche Erkenntnis der Kunstproduktion aus Recyclingmaterial:<br />

Wir leben in der totalen Überflussgesellschaft. Leider ist das<br />

kongeniale Adäquat dazu gesamtgesellschaftlich viel zu unterentwickelt:<br />

Kreativität, Eigenenergie, Uneitelkeit, Neugier, Kommunikationsfähigkeit.<br />

Im Spätsommer 2015 gründete sich der<br />

Verein Kraftwerk Lohberg e. V. durch die Dinslakenerinnen und<br />

Dinslakener, die mitgebaut haben und sich seit der Eröffnung<br />

um das Gebäude und die Technik kümmern, das Kraftwerk allen<br />

Interessierten zugänglich machen, sich um die Pressearbeit<br />

kümmern und ihre Visionen mit dem Kraftwerk umsetzen. Denn<br />

diese künstlerische Idee hat sich seit dem Bauprozess von der<br />

zunächst recht klaren Zuschreibung zunehmend zum vieldimensionalen<br />

Möglichkeitsraum entwickelt, fast naturgegeben, wenn<br />

die Baubeteiligten Mitsprache und Mitgestaltung ausüben können<br />

und sich somit viel mehr mit dem Werk identifizieren – weil<br />

es ihres ist. Und da der Kraftwerk-Begriff mit diesem Kunstprojekt<br />

nun sehr weit gefasst wurde, ergeben sich daraus unendlich<br />

mehr Möglichkeiten, dieses Haus gemeinsam kreativ zu nutzen<br />

als: Kino, Töpferwerkstatt, Fitnesscenter, Indoor-Spielplatz, Forschungslabor,<br />

Fahrradwerkstatt, Bastelraum mit Reparierhilfe<br />

für Smartphones, Spielgeräte und Kleidungsstücke, Tanzstudio,<br />

Schneiderei, Näherei, Café und Lounge und Ruhepol, Informationsraum<br />

für Touristen, Aussichtsterrasse für den Bergpark oder<br />

zur Tierbeobachtung, Partyraum zum Anmieten, Vogelstation,<br />

Unterstand, Diskussions- und Vortragsraum, Internationales<br />

Zentrum für Pedalkraft.<br />

Martin Kaltwasser<br />

140


Mit freundlicher Unterstützung durch:<br />

Stadt Dinslaken | RAG Montan Immobilien GmbH | Berufskolleg<br />

Dinslaken | Kinderschutzbund Dinslaken-Voerde | Ledigenheim<br />

Lohberg | Erholungszentrum Grav-Insel, Wesel | Spedition<br />

Hövelmann, Hünxe | Brandies Bau- und Maschinentechnik,<br />

Dinslaken | Dieter Grunke Bau- und Umweltdienste, Dinslaken |<br />

SOS Lohberg | Holz Schröer, Hamminkeln | Heinrich Mehring<br />

GmbH & Co. KG, Dinslaken | Bauzentrum Stewes, Dinslaken.<br />

Dank an:<br />

Gesa Li Barthold, Ulrich Doppstadt, Martin Englisch, Angelika<br />

Globisch, Erich Globisch, Toni Gillmaier, Daniel Haubs, Heiko<br />

Hochfeld, Benjamin Jeschke, Uli Kemmerling, Roman Kranitzky,<br />

Hark Küntop, Pini Libra, Bernd Lohse, Gudrun Losereit,<br />

Henning Luckow, Dietmar Luckow, Anke Luckow, Yenai Marcos,<br />

HP Müller, Michael Nassl, Herr Neumann, Marvin Ostrowski,<br />

Daniela Plecker, Michael Radetzky, Ruth Reuter, Maik Ronz,<br />

Anja Sommer, Markus Sommer, Milan Sommer, Rana Robert,<br />

Rudi-Master of Sound, Daniel, Rob Vrijen, Vera Wieschermann,<br />

Michael Wunsch, Zisan Yener, Fatih Yildiz und viele weitere Helferinnen<br />

und Helfer.<br />

141


142


143


Thomas Schütte<br />

Hase<br />

144


Gelungener Artenschutz<br />

„Nimm dir etwas Wein!“, sagte der Märzhase einladend.<br />

Alice spähte über den Tisch, konnte aber nur Tee entdecken.<br />

„Ich sehe keinen Wein!“, sagte sie. „Ist auch keiner<br />

da!“, antwortete der Märzhase.<br />

– Lewis Carroll: Alice im Wunderland –<br />

In der Entscheidungsbegründung der Stadt Dinslaken zum Bebauungsplan<br />

Nr. 303.01 (Bereich „Bergpark“ Zeche Lohberg)<br />

wurde 2011 Folgendes schriftlich fixiert: „Derzeit versiegelte<br />

Brachflächen werden in Grünflächen umgewandelt. Dies führt<br />

zu einer Verbesserung des Kleinklimas und dient der Erholung<br />

der Bevölkerung. Die Nutzung als Grünfläche schafft deutlich<br />

verbesserte Bodenfunktionen und ermöglicht die Entstehung<br />

neuer Lebensräume für Tiere und Pflanzen.“<br />

Auch an die Kreuzkrötenpopulation wurde gedacht: „Für die<br />

Artenschutzprüfung (ASP) wird in Abstimmung mit der unteren<br />

Landschaftsbehörde Kreis Wesel (Stellungnahme vom<br />

19.05.2009) der Zustand nach Beendigung der Bergaufsicht<br />

angenommen. Eine artenschutzrechtliche Vorprüfung wurde<br />

im Rahmen des Abschlussbetriebsplans für die Schachtanlage<br />

Lohberg 1 / 2 durchgeführt. Vor Entlassung aus der Bergaufsicht<br />

wird eine Bodensanierung durchgeführt. D. h. Vermeidungsund<br />

Minderungsmaßnahmen sind bezogen auf die im ‚Bergpark‘<br />

vorkommende kleine Kreuzkröten-Population vor den Sanierungsmaßnahmen<br />

durchzuführen.“<br />

Das Projekt kann fürs Erste als geglückt gelten: Erholung, sogar<br />

sportliche Betätigung in unterschiedlicher Form ist möglich,<br />

und bereits von Weitem sieht man, dass ein neues Exemplar aus<br />

der Säugetierfamilie der Hasenartigen sich sinnstiftend im Areal<br />

des sogenannten Bergparks angesiedelt hat in einer künstlich<br />

angelegten Landschaft in unmittelbarer Nähe der Schachtanlage.<br />

Die Architekturen der ehemaligen Zeche prägen die Umgebung,<br />

vor allem die von Weitem sichtbare, riesige Kohlemischhalle,<br />

eine veritable Industriekathedrale von über 200 Metern<br />

Länge und 34 Metern Höhe.<br />

Ursprünglich sollte der Hase – durchaus erwartbar – auf den<br />

Rasenflächen der Hänge des Bergparks hocken, aber nach<br />

gründlichen Überlegungen sitzt er jetzt an einem ungleich<br />

prominenteren Ort, auf dem Mittelpodest des ehemaligen Kohlerundeindickers.<br />

Hier, über dem Becken, in dem früher das<br />

145


146


147


Waschwasser gereinigt wurde, hat er einen herausgehobenen<br />

Platz gefunden. Das Podest bildet ein Fundament, das integraler<br />

Bestandteil der Installation geworden ist. Die linke Hinterpfote<br />

ragt leicht über den Rand, aber zugleich bietet der Sockel dem<br />

Tier genügend Standfläche für eine andauernde Meditation –<br />

menschliche Eigenschaften schreibt man ihm, so viel steht fest,<br />

unmittelbar zu. Auf Abbildungen eher zerknautscht niedlich<br />

wirkend, entfaltet die vier Meter große Figur im Original eine<br />

beeindruckende Präsenz – zumindest die Ohren sind von fast<br />

jedem Platz im Park aus sichtbar – und setzt sich auch noch vor<br />

der monumentalen Kohlemischhalle souverän durch. Die Vielschichtigkeit<br />

und Vielansichtigkeit des Hasen, der mit seinem<br />

Bärtchen Ähnlichkeit mit einem Ziegenbock und mit seiner<br />

Mimik, Gestik und Physiognomie mit den aufgeworfenen Lippen<br />

etwas durchaus Humanoides hat – er ist zugleich energisch,<br />

furchterregend und nachdenklich –, lässt sich durch einen neu<br />

hinzugefügten und präzise konstruierten Umlauf am oberen<br />

Rand des Kohlerundeindickers im Gehen erkunden.<br />

Niedlich bleibt einzig die Assoziation der knallig roten Farbe des<br />

hochglanzlackierten Hasen mit dem klassischen Rot der Zipfelmützen<br />

von Gartenzwergen, deren Material heute zumeist Plastik<br />

ist. Ganz falsch ist die Assoziation hier im abgewickelten Bergbauareal<br />

aber auch aus einem anderen Grund nicht: Klassische<br />

Gartenzwerge sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts häufig Gärtnern,<br />

aber auch mittelalterlichen Bergleuten nachempfunden,<br />

ihre Zipfelmütze erinnert an die Kopfbedeckung des Weihnachtsmanns,<br />

in ihren Händen befinden sich Schaufel und Lampe. 1<br />

Schütte schreibt im Konzepttext zu seiner Arbeit: „Die Figur<br />

stellt dar: Osterhase, Weihnachtsmann, Nikolaus, Halloween,<br />

WM-Maskottchen etc.“ 2 Er verweist damit auf die Entstehungsgeschichte<br />

der Plastik, die seine Tochter aus Tonresten modelliert<br />

hat, um sie sowohl Ostern und Weihnachten als auch<br />

an allen möglichen anderen Feiertagen im Jahr einsatzfähig<br />

zu machen. Das ist ebenso praktisch gedacht wie die Figuren<br />

der Schokoladenindustrie, die nur durch ihre Verpackung<br />

als Osterhasen oder Weihnachtsmänner zu erkennen sind.<br />

Konnten schon Schüttes Große Geister, überdimensionale, zwischen<br />

Archaik und Trivialkultur schillernde Bronzefiguren, auf<br />

Betrachter und Rezensenten wie aus Science-Fiction-Comics entsprungene<br />

Gestalten wirken, ist der Hase eine gigantische und<br />

höchst ambivalente Kippfigur, die in einem Computerspiel vielfältige<br />

und durchaus martialische Aufgaben haben könnte und<br />

deren Betrachtung zu spontanen Gestalt- und Wahrnehmungswechseln<br />

führen kann. Ebenso figurativ wie befremdlich erinnert<br />

er an die verstörende Tim-Burton-Version des Märzhasen aus dem<br />

2010 in die Kinos gekommenen 3-D-Film Alice im Wunderland.<br />

Sonderlinge sind die Mitglieder der Teegesellschaft, zu der Alice<br />

eingeladen wird – der Hutmacher, die Haselmaus und der Märzhase<br />

– schon bei Lewis Carroll, bei Burton erhalten sie allerdings<br />

noch eine Umdrehung mehr. Der Märzhase, bereits in der Origi-<br />

148


149


nalillustration des Buchs von John Tenniel durch Stroh auf dem<br />

Kopf als wahnsinnig charakterisiert, 3 ist bei Burton aggressiv<br />

und völlig unberechenbar, er heißt hier Thackeray Earwicket 4<br />

und wicked, wie die wicked witches aus dem Zauberer von Oz,<br />

sieht auch der Hase von Thomas Schütte aus, wenn man über<br />

den Steg des Kohlerundeindickers an seiner rechten Seite vorbeigeht.<br />

Von hinten scheint er die Landschaft zu dirigieren und<br />

von vorn wirkt er ebenfalls, rechte Vorderpfote in die Hüfte gestützt,<br />

linke auf Oberschenkel ruhend, ziemlich energisch. Wenn<br />

man aber einmal die Runde gedreht hat, sieht man auch Tränen,<br />

die ihm die Wange herunterlaufen.<br />

Und tatsächlich ist er sehr isoliert und exponiert in dem Areal<br />

auf dem postindustriellen Gelände von einem Zaun und einem<br />

Graben umgeben. Das erinnert an die Wassergräben um Zoogehege,<br />

die die früheren Eisenstangen in der Regel ersetzt haben<br />

und in die viele Besucher Geldstücke werfen, weil das angeblich<br />

Glück bringt, den Tieren allerdings nicht gut bekommt. Sogar der<br />

Sockel, auf dem der Hase hockt, erinnert an den nackten Beton<br />

in vielen Zoogehegen, der allenfalls farbig gefasst wird, um dem<br />

Besucher Natur vorzugaukeln. Von der im nahe gelegenen alten<br />

Forst beheimateten „üppigen Flora und Fauna, die neben den üblichen<br />

Tieren Rot- und Rehwild, Wildschwein, Dachs und Fuchs,<br />

Marder und Nutrias, Enten, Gänse, Reiher und Kormorane“ 5 aufweist,<br />

ist der rote Hase in jeder Hinsicht weit entfernt. 6 Er befindet<br />

sich auf einem Terrain, das seine alte Nutzung für immer verloren<br />

hat, und zu den existenziellen Fragen, die er sich stellen mag,<br />

gehört vermutlich auch die, ob er hier je wieder herauskommt.<br />

Die Figur, die Schütte aus einer kleinen Tonfigur weiterentwickelt<br />

hat, 7 regt zum Nachdenken über die Funktion von Tieren<br />

und die Funktion von Kunst an. Wir sind umgeben von verniedlichten<br />

Tierfiguren, das rosa Schweinchen mit Kleeblatt im<br />

Schaufenster der Metzgerei, die Blumenampel in Form eines<br />

Widderkopfs oder der Dachs im japanischen Imbiss, der Sakeflaschen<br />

trägt und herzig unter seinem Strohhut hervorlugt. Es<br />

scheint angemessen, dass der Dinslakener Hase, anders als sein<br />

in Bronze gegossenes Pendant, das in der Fondation Beyeler<br />

150


auch als Wasserspeier fungiert, hier – außer im Hinblick auf seine<br />

Wirkung – funktionslos ist. Auch das Wasser im ehemaligen<br />

Kohlerundeindicker ist für immer abgelaufen.<br />

Die kulturelle Verdrängung der Tiere, ihre Verwandlung in anthropomorphe<br />

Puppen, wie John Berger sie in seinem Essay<br />

„Warum sehen wir Tiere an?“ kritisiert, wird durch die Präsenz<br />

dieses überdimensionierten Schauobjekts, des roten Hasen,<br />

konterkariert. „Das erste thematische Objekt für die Malerei war<br />

das Tier. Wahrscheinlich war die erste Farbe Tierblut. Und es ist<br />

nicht unsinnig anzunehmen, dass die erste Metapher das Tier<br />

war.“ 8 Schüttes hasenartiges Wesen kann als anschaulicher Beleg<br />

für die Möglichkeit verstanden werden, Wut, Trauer, Energie<br />

und Witz in etwas bei aller Vertrautheit radikal Neues zu verwandeln.<br />

Dieses Neue kann als Symbol eines Areals gelten, in dem<br />

sich noch viel verändern muss. Die Enttäuschung selbst hervorgerufener<br />

Erwartungen, wie sie im eingangs zitierten Gespräch<br />

seitens des Märzhasen zum Ausdruck kommt, wäre eine Möglichkeit,<br />

diese Veränderung zu bewirken. Kerstin Stremmel<br />

1 Im thüringischen Gräfenroda wurden die Urahnen der heutigen Gartenzwerge<br />

als Nachbildungen der dort arbeitenden Bergleute produziert, der<br />

Kieler Soziologe Hans-Werner Prahl hat allerdings herausgefunden, dass<br />

der türkische Volksstamm der Kappodokier bereits um 1300 Bergbausklaven<br />

aus Stein nachgebildet hat, um deren magische Kräfte zu konservieren.<br />

2 Siehe: <br />

[13.9.2015].<br />

3 Im Viktorianischen Zeitalter war das eine gebräuchliche Art, Wahnsinn<br />

zu symbolisieren.<br />

4 Der Name taucht allerdings im Film nicht auf.<br />

5 So der ortskundige Jäger, der sich um die Fauna kümmert, siehe: [13.9.2015].<br />

6 Sollte sich ein Tier zu ihm in das ihn umgebende Becken verirren, kann<br />

es allerdings über eine Reptilienrampe fliehen.<br />

7 Ebenso wie bei den Großen Geistern, Skulpturen, die sich aus Miniaturen<br />

aus bemalter Modelliermasse entwickelt haben, ist auch beim Hasen<br />

die Vorstellungskraft Schüttes zu bewundern, mit der er die Wirkung der<br />

Arbeiten in monumentaler Größe antizipiert.<br />

8 Berger, John: „Warum sehen wir Tiere an?“, in: Das Leben der Bilder<br />

oder die Kunst des Sehens, Berlin 1989, S. 16.<br />

151


152


153


VIEL ANFANG UND KEIN ENDE<br />

Projekte, die Kunst und öffentliche Räume miteinander verknüpfen,<br />

gibt es inzwischen zahlreiche. Das Thema hat sich in den<br />

letzten Jahrzehnten zu einer vielschichtigen Fachdisziplin im<br />

aktuellen Kunstdiskurs entwickelt. Dabei unterscheiden sich<br />

die jeweiligen Herangehensweisen stark voneinander. Während<br />

weiterhin auch klassische Formen der Erinnerungskultur<br />

und autonome künstlerische Positionen im öffentlichen Raum<br />

ihren Platz finden, sind neue progressive Formate entstanden,<br />

die auf einen Dialog zwischen Kunst, Stadt, Gesellschaft und<br />

Anliegern setzen und den aktuellen Diskurs bestimmen. Entscheidend<br />

scheint bei allen, inwiefern sie es vermögen, in ein<br />

reziprokes Verhältnis mit ihrem Kontext zu treten. Dazu ist eine<br />

kontextspezifische Projektentwicklung, die auch Arbeitsstrukturen<br />

mit einschließt, unumgänglich.<br />

Das Projekt Choreografie einer Landschaft hat von Anfang an<br />

versucht, neue Wege im Umgang mit einer schwierigen Situation<br />

zu gehen. Die Eingriffe in einen verbrauchten Raum, der über<br />

Dekaden industriell genutzt wurde, sind mit hohen Erwartungen<br />

und zugleich geringen Chancen verknüpft. Wo die Industrie<br />

massive Narben in Kultur und Landschaft hinterlassen hat, muss<br />

Kunst einen Auftrag zur Sanierung klar zurückweisen, kann die<br />

Einladung zu einer gemeinsamen Arbeit an der Zukunft des<br />

Orts aber annehmen. Die Initiative der Stadtplanung und Projektleitung,<br />

Kunst nicht nur frühzeitig in den Entwicklungsprozess<br />

mit einzubeziehen, sondern ihr eine maßgebliche Rolle bei<br />

der soziokulturellen Transformation des Orts zuzutrauen, war<br />

ambitioniert, sinnvoll und perspektivgebend. Dass trotzdem wesentliche<br />

Parameter der neuen Grundstücksentwicklung beim<br />

Arbeitsbeginn der Künstler bereits vorlagen, konnte vor diesem<br />

Hintergrund als Kontext des Projekts akzeptiert werden. 1<br />

Die Herausforderungen dieser Situation wurden in einer spezifischen<br />

Form der Projektorganisation sowie durch eine kontextbezogene<br />

inhaltliche Konzeption angegangen. Von MAP<br />

wurde eine neue Mischform aus Kuratierung und Wettbewerb<br />

im sogenannten Werkstattverfahren entwickelt, das angesichts<br />

der Probleme des Orts weniger auf Konkurrenz denn auf eine<br />

produktive Zusammenarbeit zwischen Künstlern, Beteiligten<br />

aus dem direkten Umfeld, Kurator und Fachbeirat setzte. So<br />

wandelte sich die übliche Ortsbesichtigung zum großen Arbeitstreffen<br />

mit Symposium, Stadtrundgängen, Gesprächen und<br />

gemeinsamen Essen, bei denen sich Künstler und Anwohner<br />

kennenlernten. Der Fachbeirat agierte nicht als Jury eines Ausschlussverfahrens,<br />

sondern als Gremium, das einen Anfang<br />

setzte: Bestimmt wurden aus zwölf Entwürfen zunächst fünf Arbeiten,<br />

die im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel als<br />

Einstieg in eine längerfristige Entwicklung umgesetzt wurden.<br />

Die übrigen Arbeiten bilden einen Projektfundus, auf den in Zukunft<br />

zugegriffen werden kann.<br />

154


Inhaltlich wurde nicht der neu entstehende Bergpark selbst,<br />

sondern sein heterogenes Umfeld zum Kontext der Arbeit. Wo<br />

der neue Park als geschichtsloser Ort noch seine Erzählungen<br />

sucht, bietet die ihn umgebende stark fragmentierte Landschaft<br />

ein vielschichtiges, historisch gewachsenes Umfeld, das<br />

die verschiedenen Epochen und Eingriffe in Kultur und Landschaft<br />

lebendig dokumentiert. Die Erzählungen dieser gebrochenen<br />

Landschaft, ihre Räume, Bewohner und Protagonisten<br />

bildeten das Bezugsfeld, das zur Choreografie einer Landschaft<br />

verbunden und in den Bergpark hineingespiegelt werden sollte.<br />

Die künstlerischen Arbeiten zielen also in eindringlicher<br />

Weise darauf ab, an diese Narrative anzuknüpfen und den<br />

Bergpark der Bevölkerung als Handlungsraum zurückzugeben.<br />

Choreografie einer Landschaft begreift sich so als offene Struktur,<br />

die entlang des Raums und der Handlungen seiner Protagonisten<br />

weitergedacht werden will. Denn wo manche Eröffnung<br />

eines Kunstprojekts sich als das Ende eines Entwicklungsprozesses<br />

erweist, auf den die Reflexion durch die Öffentlichkeit<br />

folgt, bildete die Eröffnung von Choreografie einer Landschaft<br />

im Juni 2015 den Anfang einer offenen Zukunft an<br />

diesem Ort, der nun durch seine Nutzer transformiert und zum<br />

großen Prospekt der eigenen Geschichte und Erzählung werden<br />

kann.<br />

155


156 Projektfundus Choreografie einer Landschaft


157


Eine faktische Fortsetzung findet nicht nur in den vier bereits<br />

realisierten Arbeiten statt, auch neue Arbeiten werden folgen.<br />

Das Projekt von Andreas Siekmann, das schon im Titel Woher<br />

die Kohle kommt und wer die Zeche zahlt auf ein zentrales wie<br />

unerlässliches Thema dieses Orts hinweist, konnte aus technischen<br />

Gründen 2 bis dato nicht umgesetzt werden. Die Arbeit,<br />

die die Abwanderung der Kohleproduktion aus dem Revier vor<br />

dem Hintergrund ökonomischer und politischer Faktoren unter<br />

anderem nach Kolumbien mit all ihren teils fatalen Nebenwirkungen<br />

erzählt, soll in Zukunft andernorts im Park realisiert werden.<br />

Denn die Thematik, die so eng mit der Geschichte der Arbeit<br />

im Ruhrgebiet und ihren ambivalenten Verläufen verknüpft<br />

ist, erzeugt weiterhin ein Spannungsfeld, in dem die eigene Vergangenheit<br />

erfahren wird. Siekmanns Projekt transportiert sie<br />

wieder in die Echtzeit, in der sie sich weiterhin ereignet und die<br />

eigene Geschichte in aktuelle, globale Zusammenhänge stellt.<br />

Auch die im Projektfundus verbleibenden Arbeiten von John<br />

Miller, Rita McBride, Olaf Nicolai, Christine und Irene Hohenbüchler,<br />

Philipp Rühr / Henning Fehr, Boris Sieverts und Martin<br />

Pfeifle können im diesen Sinn bei weiterer Mittelakquise im<br />

Bergpark realisiert werden.<br />

Choreografie einer Landschaft sieht sich so als Anfang eines<br />

neuen Narrativs, das von Bewohnern und Künstlern, Planern<br />

und Architekten, Anliegern und Gästen in die Zukunft fortge-<br />

158


schrieben wird. Dass die Kunstprojekte im Bergpark, aber auch<br />

der Besuch der Ruhrtriennale in Lohberg oder das Kreativ.Quartier<br />

neue Impulse in diesen Raum bringen können, zeichnet sich<br />

heute schon ab. Der begonnene Prozess, der viele heterogene<br />

Partner und Interessierte zusammenbrachte, macht Mut auf<br />

dem Weg, diese Landschaft wieder als Lebenshintergrund der<br />

Menschen zu denken. Sie kann so zu einer gelebten Landschaft<br />

avancieren, die sich selbst entwirft und durch die Handlungen<br />

ihrer Bewohner verändert. Sie wäre gemeinsam weiterzudenken<br />

und zu entwickeln, denn die Landschaft der Zukunft ist der offene<br />

Raum, der im Handeln entsteht, und nicht der, den wir uns<br />

am Reißbrett erdenken.<br />

1 Der beschriebene Umstand dokumentiert den nationalen aktuellen<br />

Stand der Debatte zwischen Kunst und Stadtplanung um eine weitgreifende<br />

Zusammenarbeit bei der Entwicklung urbaner Räume recht präzise. Während<br />

das Bestreben, Synergien und Kooperationen zwischen Kunst und Planung<br />

möglichst frühzeitig zu ermöglichen, auf beiden Seiten ambitioniert<br />

und ernsthaft ist, fällt die konkrete Koordination der Abläufe weiterhin<br />

schwer und führt noch immer zu Einbußen, die in Zukunft beseitigt werden<br />

sollten. Dabei spielen dauerhafte Kooperationen und frühzeitige Kommunikation<br />

eine wesentliche Rolle.<br />

2 Der ehemalige große Kohlerundeindicker sollte bei Projektbeginn noch<br />

begehbar gestaltet werden. Dies erwies sich aber nach längeren technischen<br />

Prüfungen als undurchführbar, wodurch eine Realisierung der Arbeit<br />

bis heute nicht möglich war.<br />

159


4<br />

2<br />

1<br />

3<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

van Heeswijk<br />

van der Meijs<br />

Jürgensen<br />

Parkwerk<br />

Folke Köbberling<br />

Martin Kaltwasser<br />

Kraftwerk<br />

Jakob Kolding<br />

Ohne Titel<br />

Thomas Schütte<br />

Hase


IMPRESSUM<br />

Diese Publikation erscheint anlässlich des<br />

Projekts Choreografie einer Landschaft<br />

2011–2015<br />

PROJEKT<br />

Choreografie einer Landschaft<br />

MAP Markus Ambach Projekte<br />

im Auftrag von Stadt Dinslaken und<br />

RAG Montan Immobilien GmbH<br />

Projektträger<br />

Stadt Dinslaken und<br />

RAG Montan Immobilien GmbH<br />

Kurator | Projektautor<br />

Markus Ambach, MAP<br />

Kuratorische Assistenz | Projektmanagement<br />

Irina Weischedel, MAP<br />

Presse<br />

Katrin Osbelt, KO2B<br />

KATALOG<br />

Herausgeber<br />

MAP Markus Ambach Projekte<br />

Texte<br />

Sämtliche Texte ohne Autorenkennzeichnung<br />

von Markus Ambach<br />

Redaktion<br />

Irina Weischedel, MAP<br />

Gestaltung<br />

Melanie Sauermann, MAP<br />

Lektorat<br />

Anne Dillmann<br />

Sybille Petrausch<br />

Irina Weischedel, MAP<br />

Projektmanagement Verlag<br />

Kerstin Schütte<br />

Druck und Bindung<br />

B.O.S.S Medien GmbH, Goch<br />

© 2015 Wienand Verlag, die Künstler, Autoren<br />

und Fotografen<br />

© 2015 VG Bild-Kunst für:<br />

Christine und Irene Hohenbüchler,<br />

Folke Köbberling und Martin Kaltwasser,<br />

Rita McBride, Martin Pfeifle,<br />

Thomas Schütte, Andreas Siekmann<br />

© courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin /<br />

VG Bild-Kunst, Bonn 2015 für die Werke von Olaf<br />

Nicolai<br />

Erschienen im<br />

Wienand Verlag<br />

www.wienand-verlag.de<br />

ISBN 978-3-86832-302-3<br />

www.choreografieeinerlandschaft.de<br />

www.markusambachprojekte.de<br />

www.kreativ.quartier-lohberg.de<br />

Abbildungen<br />

Markus Ambach: Titelbild, S. 2–19, 21–25, 26–44,<br />

46–49, 50–52, 54–59, 63–65, 83–85, 105, 109,<br />

115/116, 118, 120, 126, 128, 130/131, 134/135, 139,<br />

142–153, 156/157<br />

Christoph Böll: S. 110/111<br />

Manuel Graf: S. 70/71, 154<br />

Jeanne van Heeswijk: S. 118, 120, 123<br />

Christine und Irene Hohenbüchler: S. 88–91, 154<br />

Katja Illner: S. 19, 119–125, 128/129, 136/137, 139<br />

Britt Jürgensen: S. 113, 116, 120, 123<br />

Martin Kaltwasser: S. 100/101, 132–135, 139<br />

Folke Köbberling / Martin Kaltwasser: S. 98/99<br />

Jakob Kolding: S. 72–77<br />

Marcel van der Meijs: S. 66/67<br />

Sofia Mello: S. 25, 48/49, 52–55, 60/61, 127, 140/141<br />

John Miller: S. 68, 154<br />

Olaf Nicolai: S. 87, 154<br />

Martin Pfeifle: S. 102/103, 154<br />

Philipp Rühr / Henning Fehr: S. 93–95, 154<br />

Melanie Sauermann: S. 20, 44, 106/107, 123, 158<br />

Andreas Siekmann: S. 78–81, 154/155<br />

Boris Sieverts: S. 96/97, 154<br />

Stadt Dinslaken: S. 113, 158<br />

Irina Weischedel: S. 117, 134<br />

Dieses Projekt wurden durch das<br />

Ökologieprogramm Emscher Lippe gefördert.


VAN HEESWIJK / VAN DER MEIJS / JÜRGENSEN<br />

CHRISTINE UND IRENE HOHENBÜCHLER<br />

FOLKE KÖBBERLING / MARTIN KALTWASSER<br />

JAKOB KOLDING<br />

RITA MCBRIDE<br />

JOHN MILLER<br />

OLAF NICOLAI<br />

MARTIN PFEIFLE<br />

THOMAS SCHÜTTE<br />

ANDREAS SIEKMANN<br />

BORIS SIEVERTS<br />

PHILIPP RÜHR / HENNING FEHR

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!