CRESCENDO 5/20 September-Oktober 2020

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Lang Lang, Lisa Batiashvili, Chen Reiss, Joana Mallwitz, Regula Mühlemann und Arash Safaian. Mit Special zum 125. Geburtsag von Carl Orff. CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Lang Lang, Lisa Batiashvili, Chen Reiss, Joana Mallwitz, Regula Mühlemann und Arash Safaian. Mit Special zum 125. Geburtsag von Carl Orff.

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29.09.2020 Aufrufe

AUSGABE 05/2020 SEPTEMBER – OKTOBER 2020 WWW.CRESCENDO.DE 7,90 EURO (D/A) 125 JAHRE CARL ORFF LANG LANG IRIS BERBEN LISA BATIASHVILI CHEN REISS PREMIUM HÖREN! Exklusiv für Premium-Leser: 150.000 Alben direkt anhören B47837 Jahrgang 23 / 05_2020 Mit Beihefter CLASS: aktuell Joana Mallwitz Die perfekte Verbindung aus purer Leidenschaft und höchster Musikalität

AUSGABE 05/<strong>20</strong><strong>20</strong> SEPTEMBER – OKTOBER <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

WWW.<strong>CRESCENDO</strong>.DE<br />

7,90 EURO (D/A)<br />

125 JAHRE<br />

CARL ORFF<br />

LANG LANG<br />

IRIS BERBEN<br />

LISA BATIASHVILI<br />

CHEN REISS<br />

PREMIUM<br />

HÖREN!<br />

Exklusiv für<br />

Premium-Leser:<br />

150.000 Alben<br />

direkt anhören<br />

B47837 Jahrgang 23 / 05_<strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Mit Beihefter CLASS: aktuell<br />

Joana<br />

Mallwitz<br />

Die perfekte<br />

Verbindung aus<br />

purer Leidenschaft<br />

und<br />

höchster<br />

Musikalität


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mit der ZEIT<br />

© Zbynek Burival/Unsplash | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg<br />

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Erleben Sie mit uns einen stimmungsvollen Advent und<br />

einen einzigartigen Jahreswechsel mit musikalischen<br />

Höhepunkten. Auf unseren Gruppenreisen genießen Sie<br />

mit gleichgesinnten Musikfreunden hochkarätige Aufführungen<br />

und intensive Musikerlebnisse. Unsere Reiseleiter<br />

begleiten Sie mit ihrem Fachwissen und bereichern<br />

jede Vorstellung mit informativen Werkeinführungen. Sie<br />

reisen lieber individuell? Dann bieten wir Ihnen mit unseren<br />

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P R O L O G<br />

LIEBE LESER,<br />

ich hoffe, es geht Ihnen gut und Sie sind gesund. Wie haben Sie das letzte halbe Jahr verbracht?<br />

Wie haben Sie Ihr Kulturleben gestaltet? Vermissen Sie das gemeinsame Konzert-, Theater-,<br />

Ausstellungserlebnis genauso wie wir? Dabei bin ich aber auch sehr beeindruckt von der<br />

Kreativität und Wandlungsfähigkeit vieler Kulturschaffender. In teilweise atemberaubender<br />

Geschwindigkeit entstanden neue Konzertformate und Live-Übertragungen via Internet. Vor<br />

ein paar Jahren konnten so etwas nur Fernsehanstalten mit riesigen Ü-Wagen und Satelliten-<br />

Direktverbindung leisten. Das war ziemlich teuer und somit populären Events mit Quotengarantie<br />

vorbehalten. Plötzlich aber können wir einem mittelmäßigen Orchestergeiger – in<br />

schlechter Bild- und Tonqualität – beim Üben zusehen. Zu Beginn des Shutdowns noch ganz<br />

lustig, hatten wir aber irgendwann genug von Memory-Collagen. Die reine Fülle des Angebots<br />

macht’s eben noch nicht …<br />

WINFRIED HANUSCHIK<br />

Herausgeber<br />

Gleichzeitig können wir uns wohl darauf einstellen, dass das Kulturerlebnis in den eigenen vier<br />

Wänden genauso normal wird wie die Fußballbundesliga im Wohnzimmer. Denn tatsächlich<br />

sieht nur ein kleiner Prozentsatz der Fußballfans das Spiel tatsächlich im Stadion, die überwältigende<br />

Mehrheit sitzt „live daheim“ – und findet das ganz normal!<br />

Darin sehe ich eine riesige Chance für die Kultur: Sprengt die Enge der Säle! Reißt die Mauern<br />

ein und öffnet Kultur und Hochkultur den digitalen Raum! Zugänglich für alle.<br />

Mit Steuergeldern subventionierte Häuser und Orchester hätten das schon längst tun müssen:<br />

Gemeinschaftlich finanzierte Kunst muss auch der Gemeinschaft zur Verfügung stehen!<br />

War das nicht großartig, dass wir die aufregend neue Così mit und von der wunderbaren<br />

JOANA MALLWITZ (Interview ab Seite 14) bei den Salzburger Festspielen auch sehen<br />

konnten? Es saßen zwar nur wenige Zuschauer im Saal, aber noch nie waren so viele<br />

Menschen live in Salzburg dabei wie in diesem Jahr!<br />

Und damit wollen wir Sie ein bisschen neugierig machen. Denn natürlich waren auch wir<br />

nicht untätig während des Shutdowns, haben die Zeit genutzt und uns Gedanken zur digitalen<br />

Entwicklung gemacht. Wir stecken noch im Perfektionsprozess, weil wir uns etwas wirklich<br />

Großes vorgenommen haben. Aber versprochen: Schon im nächsten Heft wird es heißen<br />

„We proudly present …“.<br />

FOTO TITEL: NIKOLAJ LUND<br />

Exklusiv für Premium-Käufer<br />

und Abonnenten:<br />

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erhalten Sie für die Laufzeit dieser Ausgabe<br />

Vollzugriff auf die „Naxos Music Library“ in<br />

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So können Sie PREMIUM HÖREN:<br />

Öffnen Sie die Seite crescendo.de/<br />

premiumhören auf Ihrem Smartphone und<br />

installieren Sie die App „NML“.<br />

Starten Sie die App und geben Sie die<br />

Zugangsdaten ein:<br />

Benutzername/Username: crescendo<br />

Passwort: 08-09-<strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Sie können natürlich auch über Ihren PC<br />

zugreifen unter www.naxosmusiclibrary.de<br />

Mit der Verwendung dieser Zugangsdaten akzeptieren<br />

Sie die Nutzungsbedingungen<br />

(nml3.naxosmusiclibrary.com/termsofuse).<br />

Die Zugangsdaten dürfen nicht an Dritte<br />

weitergegeben werden!<br />

Doch auch mit dieser Ausgabe fahren wir die ganz große Parade: Wie oben angedeutet haben<br />

wir – kurz nach der Premiere – die derzeit gefeiertste Musikerin, Joana Mallwitz, getroffen und<br />

waren mit IRIS BERBEN, der Grande Dame des deutschen Films, anlässlich ihres (unglaublichen)<br />

70. Geburtstags einen Kaffee trinken. Unsere neue Autorin Margarete Zander saß quasi<br />

hinter LANG LANG, als er in der Leipziger Thomaskirche direkt neben dem Grab von Bach<br />

die Goldberg-Variationen spielte. Und schließlich haben wir – neben vielen anderen tollen<br />

Musikern, die derzeit spannend sind – mit KONSTANTIN WECKER einen Spaziergang<br />

durch München gemacht. Und weil wir hier klar im Heimvorteil sind, haben wir den für Sie<br />

genutzt, und so finden Sie neben einer echten Insider-Tour auch entsprechende Tipps für<br />

Kultur, Hotels und Restaurants.<br />

Last but not least gibt es noch jemanden, dem wir gratulieren wollen: CARL ORFF wäre in<br />

diesem Jahr 125 Jahre alt geworden. Und deshalb widmen wir ihm und seiner großen Arbeit<br />

und Musik unseren Schwerpunkt. Auch einen kleinen Blick hinter die Kulissen haben wir<br />

nehmen dürfen. Der Münchner Komponist WILFRIED HILLER, Schüler und Freund Orffs,<br />

hat uns ein paar Anekdoten erzählt, die er mit Orff erlebt hat.<br />

Sie sehen: genug Stoff also, um die Zeit bis zum nächsten Heft zu überbrücken. Einstweilen<br />

wünsche ich Ihnen einen schönen Spätsommer und freue mich, wenn wir uns vielleicht schon<br />

bald in unseren Redaktionsräumen zu einer neuen Vernissage (siehe Seite 73) sehen. Melden<br />

Sie sich doch auf alle Fälle an – wir geben Ihnen Bescheid, wann ein Termin stattfinden kann.<br />

Ihr Winfried Hanuschik<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> 3


P R O G R A M M<br />

NEUHEITEN<br />

BEI<br />

OEHMS<br />

CLASSICS<br />

WO R L D P R E M I E R E R E C O R D I N G !<br />

Mieczysław Weinberg (1919–1996)<br />

Wir gratulieren!<br />

Kammerakademie Potsdam<br />

Vladimir Stoupel<br />

OC990<br />

09<br />

ALEXANDRE<br />

THARAUD<br />

Der Pianist verrät, was er auf<br />

seiner Playlist hat.<br />

Ganz schön cooler Mix!<br />

14<br />

JOANA MALLWITZ<br />

Die Dirigentin lässt die Musikwelt<br />

kopfstehen. In Salzburg<br />

hat sie erneut und souverän<br />

wie eh und je den Nagel auf<br />

den Takt getroffen<br />

41<br />

ROLANDO VILLAZÓN<br />

Und schreiben kann er auch<br />

noch! Das neue Buch des<br />

Tausendsassas war kurz nach<br />

Erscheinen schon ein Bestseller<br />

S. Prokofiev & A. Chatschaturjan<br />

Suiten für Orchester<br />

Zagreb Philharmonic<br />

Dmitrij Kitajenko<br />

Erhältlich unter www.oehmsclassics.de<br />

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OehmsClassics Musikproduktion GmbH<br />

info@oehmsclassics.de +49-8121-2500755<br />

OC471<br />

STANDARDS<br />

03 PROLOG<br />

Der Herausgeber stellt<br />

die Ausgabe vor<br />

06 BLICKFANG<br />

Spektakuläre Architektur:<br />

Die Dolomiten-Hommage<br />

der Kellerei Kurtatsch<br />

08 OUVERTÜRE<br />

Klassik in Zahlen<br />

Was hört ...<br />

Alexandre Tharaud?<br />

Mein Beethoven-Moment<br />

Die Lieblingseinspielungen<br />

unserer Autoren<br />

Ein Anruf bei ...<br />

Ursula Maier von den<br />

Kultur-Netzwerkern<br />

48 RÄTSEL UND<br />

DANKESCHÖN<br />

IMPRESSUM<br />

82 PHILIPP HONTSCHIK<br />

Drummer-Drama:<br />

Von den Tücken des<br />

Orff ’schen Schulwerks<br />

KÜNSTLER<br />

12 EIN KAFFEE MIT ...<br />

Iris Berben<br />

14 JOANA MALLWITZ<br />

Jetzt mal tief Luft holen:<br />

Diese Dirigentin ist ein<br />

musikalisches Erdbeben<br />

<strong>20</strong> REGULA<br />

MÜHLEMANN<br />

Von schwachen Momenten<br />

und starken Rollen<br />

23 SIGI SCHWAB<br />

Zum 80. Geburtstag des<br />

legendären Gitarristen<br />

24 CHEN REISS<br />

Beethoven konnte auch<br />

Arien? Und wie!<br />

27 ARASH SAFAIAN<br />

Noch ein Beethoven? Nein!<br />

This is (not) Beethoven!<br />

Oder doch?<br />

28 LISA BATIASHVILI<br />

Reisefrust und Städtelust:<br />

City Lights – Hommage an<br />

musikalische Heimaten<br />

31 STEFAN SELL<br />

Schätze heben: Der<br />

Gitarrist hat alte Melodien<br />

neu interpretiert<br />

32 LANG LANG<br />

Goldberg-Variationen: Das<br />

schönste Fass ohne Boden<br />

HÖREN & SEHEN<br />

35 DIE WICHTIGSTEN<br />

EMPFEHLUNGEN<br />

DER REDAKTION<br />

36 CALMUS ENSEMBLE<br />

Cohen by Calmus?<br />

Warum nicht? Auch Kreisler<br />

und Poulenc sind dabei.<br />

Sehr spannend!<br />

38 WUNDERBARER<br />

WUNDERLICH<br />

Der legendäre „Don<br />

Pasquale“ von 1962 –<br />

frisch restauriert!<br />

40 DER SUPER-SOUND<br />

Dolby Atmos lässt alles<br />

andere alt anhören: Das<br />

3D-Verfahren revolutioniert<br />

den Akustik-Markt<br />

41 ROLANDO VILLAZÓN<br />

„Amadeus auf dem Fahrrad“<br />

– die kurzweilige Verneigung<br />

eines Seelenverwandten<br />

47 UNERHÖRTES &<br />

NEU ENTDECKTES<br />

Ein Blick auf neue<br />

Einspielungen im<br />

Beethoven-Jahr<br />

4 www.crescendo.de — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

FOTOS: JEAN BAPTISTE MILLOT; NIKOLAJ LUND; DARIO ACOSTA/DG


NEUE KLANGKÜNSTLER<br />

UND ALTE BEKANNTE<br />

53<br />

GHOST LIGHT<br />

Choreograf John Neumeier<br />

geht auf Abstand: Schuberts<br />

Solo-Klaviermusik untermalt<br />

ein Ballett mit der Compagnie<br />

Hamburg zur Pandemie<br />

59<br />

125 JAHRE CARL ORFF<br />

Er war immer der etwas<br />

andere Komponist. Ein Blick<br />

auf sein vielfältiges und bis<br />

heute lebendiges Werk<br />

74<br />

MÜNCHEN<br />

Mein-München-Geschichten<br />

gibt es viele. Aber wer könnte<br />

eine Stadt in schönere Worte<br />

fassen als Liedermacher und<br />

Poet Konstantin Wecker?<br />

ERLEBEN<br />

SCHWERPUNKT<br />

LEBENSART<br />

FOTOS: KIRAN WEST; ORFF-STIFTUNG; HEINZ HUMMEL AUF PIXABAY<br />

49 DIE WICHTIGSTEN<br />

TERMINE UND<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

50 INTERNATIONALES<br />

ORGELFESTIVAL<br />

Peter Kofler, Organist in der<br />

Münchner Sankt-Michael-<br />

Kirche, über das Programm<br />

53 GHOST LIGHT<br />

Getanztes Bühnenlicht:<br />

John Neumeier besänftigt<br />

die Theatergeister<br />

54 IOAN HOLENDER<br />

Das Possible in<br />

unsicheren Zeiten<br />

55 „ÜBERALL MUSIK“<br />

Eine Ausstellung im<br />

Domquartier lädt an<br />

historischen Schauplätzen<br />

ein, das höfische musikalische<br />

Leben kennenzulernen<br />

56 KOMMENTAR<br />

Axel Brüggemann über<br />

Visionen aus der Krise<br />

58 100 JAHRE<br />

SALZBURGER<br />

FESTSPIELE<br />

Geschenke für das kleine<br />

gallische Dorf, das sich<br />

traute, Festspiele abzuhalten<br />

59 TABELLE<br />

Orff, Orff<br />

und noch mal Orff<br />

60 LEBENSLINIEN<br />

Das Genie mit ach<br />

so menschlichen<br />

Ecken und Kanten<br />

64 FILM AB!<br />

Slapstick oder Soap,<br />

Drama oder Doku: Die<br />

Musik von Orff ist<br />

buchstäblich filmreif!<br />

67 ELEMENTAR-<br />

TEILCHEN<br />

Die Verschmelzung<br />

von Musik, Bewegung<br />

und Sprache in der<br />

Pädagogik Carl Orffs<br />

68 DIE INTUITION<br />

DES KLANGS<br />

Bewegung und Musik:<br />

Das Herz tanzt mit!<br />

70 SO WAR ER!<br />

Ein Blick ins Private<br />

72 TANZ DER WORTE<br />

Übermut tut gut: Der<br />

rhetorische Revoluzzer<br />

73 KUNST FÜR<br />

<strong>CRESCENDO</strong><br />

Kreatives aus der Krise von<br />

Matthias Schilling<br />

74 MÜNCHEN<br />

Philosophie und<br />

Philantropie:<br />

(Zeit-)Reise mit<br />

Konstantin Wecker<br />

78 LIEBLINGSESSEN<br />

Schönes Schicksal:<br />

Rindertatar mit Blitz-Mayo<br />

von Beethoven-Fan<br />

Alexander Herrmann<br />

80 PAULA BOSCHS<br />

WEINKOLUMNE<br />

Süßweine – die exklusiven<br />

Perlen der Winzer<br />

Iveta Apkalna:<br />

Widor & Vierne<br />

Nach Iveta Apkalnas Ersteinspielung der Orgel<br />

der Elbphilharmonie führten sie ihre Wege<br />

unlängst ins taiwanische Kaohsiung, wo sie mit<br />

kraftvollen Werken von Widor und Vierne die<br />

größte Konzertorgel Asiens inaugurierte und<br />

aufnahm.<br />

Sebastian Manz:<br />

Clarinet Concertos – Nielsen & Lindberg<br />

Sebastian Manz kombiniert auf seinem neuen<br />

Album die skandinavischen Komponisten Nielsen<br />

und Lindberg, die beide überwältigende<br />

Landschaften in Klang übersetzen.<br />

Concerto Köln:<br />

Concertos 4 Violins<br />

Concerto Köln und vier renommierte Solisten<br />

widmen sich virtuosen Repertoire-Raritäten von<br />

Vivaldi bis Bonporti. Die Live-Einspielung barocker<br />

Klangdialoge erscheint auf CD und LP.<br />

www.berlin-classics-music.com<br />

5


O U V E R T Ü R E<br />

6 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Wo der gute Wein wohnt<br />

Die imposanten Dolomitsteinwände des Neubaus der<br />

Kellerei Kurtatsch schmiegen sich in die Landschaft der<br />

Südtiroler Weinstraße. Seit 1900 wird im kleinstrukturierten<br />

Familienbetrieb an atemberaubend steilen<br />

Weinbergen zwischen 2<strong>20</strong> und 900 Metern ü. d. M. Wein<br />

produziert. Da fühlt sich jede Rebsorte wohl: Während<br />

Rotweintrauben die im Sommer bis zu 40 Grad warmen<br />

Tallagen lieben, schätzen die Weißweintrauben steile<br />

kalkhaltige Böden in luftigen Höhen.<br />

7<br />

FOTO: KELLEREI KURTATSCH


O U V E R T Ü R E<br />

KLASSIK<br />

IN ZAHLEN<br />

wurde Mozarts Die Zauberflöte in der<br />

vergangenen Spielzeit in Deutschland, Österreich<br />

und der Schweiz aufgeführt*. Damit ist sie die<br />

meistgespielte Oper im deutschsprachigen Raum.<br />

309Mal<br />

80<br />

Prozent beträgt die Höhe der<br />

coronabedingten Sitzplatzkürzung<br />

im Festspielhaus Baden-Baden,<br />

dem größten Konzertsaal<br />

Deutschlands. Nur 500 von<br />

2.500 Plätzen werden in der<br />

Saison <strong>20</strong><strong>20</strong>/21 besetzt.<br />

1<strong>20</strong>.000<br />

Euro investiert das Bayerische Staatsministerium für<br />

Wissenschaft und Kunst in eine Studie zur Aerosolverbreitung<br />

durch Gesang und Blasinstrumente.<br />

Durchgeführt wird die Studie vom LMU Klinikum<br />

München und dem Universitätsklinikum Erlangen<br />

zusammen mit Chor und Symphonieorchester des<br />

Bayerischen Rundfunks.<br />

3.527.730<br />

Dollar verdient Riccardo Muti als<br />

Chefdirigent der Chicago Symphony<br />

jährlich ** . Damit dürfte er derzeit<br />

der bestbezahlte Dirigent<br />

der Welt sein.<br />

QUELLEN: *WERKSTATISTIK DES DEUTSCHEN BÜHNENVEREINS<br />

**KULTURWEBSITE SLIPPED DISC<br />

5.500<br />

Pfeifen und 74 Register hatte die Hauptorgel<br />

der Kathedrale von Nantes. Sie<br />

wurde im Juli <strong>20</strong><strong>20</strong> von den Flammen eines<br />

Feuers zerstört, das vermutlich durch<br />

einen Brandstifter gelegt wurde. In Teilen<br />

bereits 1621 gebaut, war sie eine der<br />

ältesten Orgeln Frankreichs und trotzte<br />

sogar der Französischen Revolution.<br />

FOTOS: FRANK VINCENTZ, NONO VLF, WIKIMEDIA<br />

8 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


O U V E R T Ü R E<br />

Was hört …?<br />

Alexandre<br />

Tharaud<br />

Der französische Pianist verrät uns seine<br />

Lieblingsmusik.<br />

Sein neues Album zeichnet ein umfangreiches Selbstporträt<br />

„Le poète du piano“, Alexandre Tharaud (Erato)<br />

1<br />

J. S. Bach: Goldberg Variations, Zhu Xiao Mei<br />

Wenn Xiao-Mei spielt, weint das Publikum. Bei keiner anderen<br />

Pianistin habe ich jemals einen solchen Effekt auf das Publikum erlebt.<br />

Ihr ganzes schmerzerfülltes Leben steckt in ihren Fingern.<br />

2Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2, Swjatoslaw Richter<br />

Richter interpretiert das Konzert gewichtig, ohne Effekthascherei, in<br />

eher getragenem Tempo. Wie immer hat er ein Gespür für die Linie,<br />

spannt einen gewaltigen Bogen von der ersten Note bis zum letzten<br />

Akkord. Mir ist das viel lieber als jede künstlich theatrale Interpretation.<br />

3<br />

Jean-Philippe<br />

Rameau: Nouvelles Suites de Pièces<br />

de clavecin, Marcelle Meyer<br />

Das Spiel von Marcelle Meyer, meiner Meinung nach der größten<br />

Pianistin aller Zeiten, ist einzigartig. Diese Aufnahme hat meine Lust, französische<br />

Barockmusik zu spielen, geweckt und inspiriert mich bis heute.<br />

4<br />

Richard<br />

Wagner, Vorspiel zu Parsifal, BBC Symphony<br />

Orchestra, Arturo Toscanini<br />

Diese Platte würde ich auf eine einsame Insel mitnehmen. Jede<br />

einzelne Note ist Musik! Man spürt den Atem jedes Musikers, hört die<br />

Stimme Toscaninis. Die Musik wird regelrecht greifbar.<br />

5<br />

J. S. Bach: Cellosuite Nr. 1, Jean-Guihen Queyras<br />

Eine Referenzaufnahme. Bach, wie ich ihn liebe – mit Jean-Guihens<br />

großer Menschlichkeit, seiner Natürlichkeit und seiner Strahlkraft.<br />

6<br />

Barbara:<br />

Göttingen<br />

In diesem Lied spricht die unglaubliche französische Sängerin Barbara<br />

über ihre Deutschlandliebe. Sie kann eigentlich kein Wort Deutsch<br />

und singt in dieser Aufnahme ziemlich drollig von Lautschrift ab. Aber wenn<br />

man die Worte mit der Musik zusammen hört, ist es überwältigend.<br />

7<br />

Schumann:<br />

Kanonische Etüden, Piotr Anderszewski<br />

Meine Lieblingsscheibe von Piotr, einem unglaublichen Pianisten. Er hat<br />

die eigentlich für zwei Klaviere vierhändig geschriebenen Schumann-<br />

Etüden für Soloklavier transkribiert. Das Ergebnis begeistert durch seine<br />

Authentizität und Tiefe.<br />

8<br />

Chopinata (nach Chopin), Clément Doucet<br />

Hören Sie sich das an, wenn Sie traurig sind, und Sie werden Ihr<br />

Lachen wiederfinden! Doucet war ein 100 Kilo schwerer belgischer<br />

Pianist, der nur mit ein paar Bier intus gut spielen konnte. Ein Phänomen!<br />

MEIN BEETHOVEN-MOMENT<br />

Im Laufe des Jubiläumsjahres verraten unsere Autoren ihre Lieblingseinspielungen.<br />

Barbara Schulz<br />

Rituale aus der Kinderzeit prägen fürs Leben. Wie sehr bzw. wie intensiv,<br />

wird mir immer bewusst, wenn ich irgendwo Beethovens Violinkonzert höre.<br />

Dann riecht die Luft selbst im Hochsommer nach Weihnachten, im Kopfkino<br />

heißt es „Film ab!“, und ich schmücke mit meinen Schwestern den Christbaum.<br />

Ich glaube bis heute, dass dieses Konzert mir neben Debussys<br />

Arabesken das Tor zur klassischen Musik war. Übrigens rührt mich dabei<br />

keine Aufnahme – und meine Mutter bestand auf Perlman – so sehr wie die<br />

mit Perlman/Barenboim. So tief brennt sich Musik in die Seele.<br />

Ute Hamm<br />

Wer hätte gedacht, dass Beethoven noch für Überraschungen<br />

gut ist? Sein Oratorium Christus am Ölberge war für mich<br />

jedenfalls eine. So eigen- wie einzigartig ist es nicht einfach<br />

nur Passionsmusik, sondern wahre Oper. Auf der Suche nach<br />

der „perfekten“ Aufnahme – denn viele gibt es nicht – hat<br />

mich damals nur eine sofort überzeugt: die Einspielung unter<br />

Kent Nagano aus dem Jahr <strong>20</strong>03 mit ihrer tiefen Spiritualität<br />

und handfesten Dramatik.<br />

9


O U V E R T Ü R E<br />

Schluss mit der Schwellenangst!<br />

Ein Anruf bei Ursula Maier von den Kultur-Netzwerkern, die kulturerfahrene Menschen mit<br />

Kultureinsteigern zusammenbringen und so Schlüssel zu ersten Kunsterfahrungen schmieden.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Frau Maier, wobei störe ich Sie gerade?<br />

Ursula Maier: Ich korrigiere die Texte für das Forum Modernes<br />

Theater. Im Brotberuf bin ich Hilfskraft am Institut für Theaterwissenschaft<br />

der LMU München.<br />

Was tun die Kultur-Netzwerker?<br />

Bei den Kultur-Netzwerkern geht es um niedrigschwellige Kulturvermittlung<br />

in Kleinstgruppen von zwei bis drei Teilnehmern pro<br />

Scout. Ein Kulturerfahrener nimmt – wie ein bester Freund – jemanden,<br />

der noch keine Kulturerfahrung hat, auf<br />

Augenhöhe an die Hand. Er nimmt ihm die Schwellenangst<br />

und vermittelt ihm geeignete Einstiegsformate<br />

– sei es in Musik, Theater oder bildender Kunst.<br />

Wie kam es dazu?<br />

Wir sind ein gemeinnütziger Verein, hervorgegangen<br />

aus der Dissertation einer der drei Gründerinnen,<br />

Julia Kirn. Sie hat <strong>20</strong>12 die Erfahrung gemacht,<br />

dass das Interesse junger Menschen an Kultur sehr<br />

hoch ist, aber auch die Angst: „Ich weiß gar nicht,<br />

wie ich da reinkomme?“ „Wo bekomme ich Karten?“<br />

„Wie benehme ich mich in der Oper?“<br />

Volks hochschule ist keine Lösug, weil man<br />

davon ausgeht, dass das eine andere Altersklasse<br />

ist. Die Schule hat in der Regel auch nichts erledigt. Hat man<br />

also von zu Hause nichts mitbekommen, steht man allein da, weil<br />

man dann auch meist einen Freundeskreis hat, der da nicht hingeht.<br />

Wie läuft die „Verbandelung“ konkret?<br />

Zunächst war Facebook die Plattform, auf der sich die Zielgruppengeneration<br />

bewegt hat, das ändert sich inzwischen, da werden wir<br />

uns auch noch erweitern. Die Veranstaltungen werden einfach über<br />

Facebook gepostet, dann kann man sich mit einem Klick anmelden,<br />

bekommt vergünstigte Karten, geht mit und lernt es kennen.<br />

Wie schwer ist Ihnen denn der Aufbau der Kooperationen mit den<br />

Kulturinstitutionen gefallen?<br />

Das war sehr unterschiedlich! Über gute persönliche Kontakte war es<br />

leicht, manchmal brauchte man einen Türöffner. Generell wurde es<br />

mit jedem Kontakt leichter, da man ja bereits überzeugende Partner<br />

vorweisen konnte. Bei den kleinen und freischaffenden Künstlern<br />

war es übrigens einfacher als bei den großen Institutionen. Obwohl<br />

Mit den Kultur-Netzwerkern macht Ursula<br />

Maier Neulingen Lust auf Kunst und Musik<br />

sie jeden Euro brauchen und gerne jede Karte verkaufen würden, waren<br />

sie schnell bereit, uns vergünstigte Karten zur Verfügung zu stellen.<br />

Eine tolle Erfahrung! Inzwischen haben wir aber auch bei den<br />

großen Münchner Kulturinstitutionen überall Kontakte und eine<br />

tolle Zusammenarbeit. Wir sehen nicht etwa schlecht verkaufte Produktionen,<br />

sondern auch welche, die der Renner sind. Inzwischen<br />

bieten uns die Institutionen sogar aktiv Karten an.<br />

Bisher sind die Kultur-Netzwerker noch stark auf den Raum<br />

München beschränkt.<br />

Es gibt bereits Überlegungen, das Konzept nach<br />

Berlin, Karlsruhe und Dortmund zu erweitern.<br />

Deshalb hatten wir uns auch für ein Coaching<br />

bei startsocial [bundesweit agierender Verein zur<br />

Förderung sozialer, ehrenamtlich getragener Organisationen,<br />

Anm. d. Red.] beworben, um hierfür noch<br />

Impulse zu bekommen.<br />

Wie beeinflusst Sie die aktuelle Situation?<br />

Aus dem startsocial Coaching hatten wir einen unglaublichen<br />

Energiefluss mitgenommen – wir waren<br />

hoch motiviert. Eine Woche später kam der<br />

Lockdown – eine Vollbremsung. Aber dann<br />

sind ja sehr schnell digitale Kultur formate<br />

aufgepoppt, und wir haben überlegt, wie wir das umsetzen können.<br />

Unseren ersten Versuch haben wir beim digitalen Internationalen<br />

Dokumentarfilmfestival München gemacht. Wir haben freie<br />

Streams bekommen. Es war allerdings mit viel Organisationsaufwand<br />

verbunden, da man sich eben nicht vor Ort trifft, sondern<br />

zusätzliche Daten für die Streams und für den Austausch über<br />

Skype und Zoom benötigt. Es ist machbar, gibt aber mehr Vorbehalte,<br />

gerade weil wir ja möglichst niedrigschwellig agieren wollen.<br />

Eine Ergänzung, aber kein Ersatz fürs Live-Erlebnis!<br />

Ihr persönliches Highlight der letzten Jahre?<br />

Der allererste Newcomer, den ich selbst zu Peter Grimes im Prinzregententheater<br />

mitgenommen habe und der dann begeistert viele<br />

verschiedene Formate, auch Ausstellungen, mit uns besuchte, ist<br />

inzwischen selbst bei uns Scout, obwohl er inzwischen in Passau<br />

wohnt. Nun will er etwas zurückgeben!<br />

Weitere Infos unter www.kultur-netzwerker.de <br />

Maria Goeth<br />

RAUSSCHMISS<br />

Ich mag Beethoven,<br />

besonders die Gedichte!<br />

Ringo Starr<br />

Die Videoplattform YouTube will alle Inhalte mit dänischer<br />

Musik aus ihrem Angebot verbannen. Natürlich geht es dabei<br />

ums liebe Geld: Der<br />

Vertrag der musikalischen<br />

Verwertungsgesellschaft<br />

KODA – sozusagen der<br />

dänischen Version der<br />

GEMA – mit YouTube war<br />

im Mai ausgelaufen. Nun<br />

fordert der Video-Gigant<br />

mit seiner aggressiven Maßnahme, dass KODA im neuen<br />

Vertrag seine Zahlungen an Komponisten und Songwriter<br />

um beinahe 70 Prozent reduziert. Noch weigert sich KODA<br />

standhaft!<br />

FOTOS: DEARMOON; FA BARBOZA / UNSPLASH<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Herausragende<br />

NEUHEITEN<br />

bei Sony Music<br />

Jonas Kaufmann<br />

Selige Stunde<br />

Jonas Kaufmann hat mit seinem<br />

Klavierbegleiter Helmut Deutsch<br />

ein sehr persönliches Lied-Album<br />

aufgenommen. Mit romantischen<br />

Liedern von Beethoven, Schumann,<br />

Brahms u.a.<br />

Igor Levit<br />

Encounter<br />

Encounter bedeutet „Begegnung“<br />

und entstand während des<br />

Corona-Lockdowns aus den<br />

„Hauskonzerten“ von Igor Levit.<br />

Mit berührenden Chorälen von<br />

Bach und Brahms in der<br />

Klavierfassung von Busoni.<br />

jonaskaufmann.com<br />

igor-levit.de<br />

Khatia Buniatishvili<br />

Labyrinth<br />

Das faszinierende neue<br />

Album spannt einen Bogen<br />

von Bach bis Brahms,<br />

von Satie bis Glass,<br />

von Ligeti bis Morricone.<br />

Erhältlich ab 9.10.<br />

Regula Mühlemann<br />

Mozart Arias II<br />

Das neue Mozart-Album mit neun<br />

Opern- und Konzertarien mit dem<br />

Kammerorchester Basel unter<br />

Umberto Benedetti Michelangeli.<br />

Darunter virtuose wie berührende<br />

Arien aus Die Zauberflöte, Lucio<br />

Silla, Zaide, Idomeneo u.a.<br />

khatiabuniatishvili.com<br />

regulamuehlemann.com<br />

Dorothee Oberlinger<br />

Bononcini: Polifemo<br />

Bononcinis Polifemo ist<br />

ein barockes Opern-Juwel.<br />

Die Aufnahme entstand bei<br />

den Musikfestspielen Potsdam<br />

Sanssouci mit dem Ensemble 1700<br />

unter Dorothee Oberlinger mit<br />

hervorragenden Solisten.<br />

Lavinia Meijer<br />

Peaceful Choir<br />

New Sound of Choral Music<br />

15 Welt-Ersteinspielungen<br />

meditativ-atmosphärischer<br />

Chormusik von Hans Zimmer,<br />

Arvo Pärt, Eric Whitacre, Karl<br />

Jenkins, Hauschka u.v.m. Mit<br />

Gaststars aus Pop und Klassik wie<br />

Ellis-Ludwig Leone, Maarja Nuut,<br />

Esther Abrami oder Tim Allhoff.<br />

dorotheeoberlinger.de<br />

laviniameijer.com<br />

Glenn Gould<br />

The Bach Box<br />

Sämtliche Bach-Aufnahmen des Pianisten<br />

in perfektem Remastering auf 30 CDs im<br />

Original Design der legendären Vinyls.<br />

Limitierte Edition mit umfangreichem Booklet.<br />

SONYCLASSICAL.DE


K Ü N S T L E R<br />

Auf einen Kaffee mit …<br />

IRIS BERBEN<br />

VON RÜDIGER STURM<br />

FOTO: BOB COAT<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Wer Iris Berben begegnet, begreift, dass Lebensdaten nur relativ sind.<br />

So feierte die Grande Dame des deutschen Films und Fernsehens am 12. August <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

ihren 70. Geburtstag. Parallel präsentierte sie zwei Fernsehfilme,<br />

deren Figuren von unbändiger Energie getrieben werden. Was ihr privat nicht fremd ist<br />

– und unter anderem von der Musik Verdis befeuert wird.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: In Ihrem Fernsehfilm Nicht tot zu kriegen<br />

durften wir Sie als singende Diva erleben. Haben Sie jemals<br />

eine musikalische Karriere ins Auge gefasst?<br />

Iris Berben: Ich hätte immer gerne gesungen. In Filmen musste<br />

ich es zwei-, dreimal machen, da gab es Anfragen, ob ich das nicht<br />

professionell tun möchte. Ich verspürte dann jedoch nicht die<br />

nötige Initialzündung. Deshalb habe ich das nicht weiterverfolgt.<br />

Vielleicht hätten die Anfragen früher kommen sollen. Viele<br />

Musiker finden ja schon in ihrer Kindheit zu ihrer Passion.<br />

Ich habe als Kind Klavier gespielt. Aber ich musste aufhören, da<br />

meine beiden kleinen Finger zu schwach waren, um Oktaven<br />

greifen zu können. Damals war ich glücklich, dass es vorbei war.<br />

Später habe ich mir oft gedacht: wie schade!<br />

Was bedeutet Ihnen Musik als Zuhörerin?<br />

Sie ist sehr wichtig für mich. Ich lasse mich<br />

durch die Kraft der Musik in Stimmungen<br />

leiten oder aus Stimmungen wegbringen.<br />

Welche Komponisten besitzen für Sie<br />

besondere Kraft?<br />

In der Klassik ist es immer Verdi. Er ist jemand, der für mich<br />

Bilder im Kopf entstehen lässt. Und damit gelingt es ihm, große<br />

Gefühle zu erzeugen, was eine der herausragenden Qualitäten der<br />

italienischen Musik überhaupt ist. Vielleicht ist das auch ein<br />

Grund, weshalb seine Musik viel in Filmen eingebunden wird.<br />

Und er ist der Einzige?<br />

Nein. Seit jeher liebe ich Beethoven. Schon als junges Mädchen<br />

fand ich seine Konzerte berauschend. In meinen Lesungen der<br />

Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger gibt es eine musikalische<br />

Begleitung – mit Kompositionen von Bach, Schumann und<br />

Schubert. Aber mein Geschmack geht quer durch. Ich höre auch<br />

gerne Jimi Hendrix oder Janis Joplin. Beim Kochen finde ich die<br />

italienischen Schnulzen ungeheuer inspirierend. Oder – wenn ich<br />

einen Ruhepunkt finden will, höre ich mit Vorliebe Jazz.<br />

Die Protagonistin im Film blickt gern in ihre Vergangenheit<br />

zurück. Sehen Sie sich auch Ihre alten Filme oder TV-Sendungen<br />

an, von denen Ausschnitte in dem Film eingeklinkt sind?<br />

Gar nicht. Erst in der Vorbereitung für dieses Projekt habe ich<br />

wieder geguckt, um meine Regisseurin mit Material zu versorgen.<br />

Was haben Sie bei dieser Reise durch Ihr Schaffen empfunden?<br />

Bei einigen Filmen zuckte ich ein wenig zusammen. Bei anderen<br />

dachte ich: Ah, ist doch gelungen. Man braucht Zeit und Abstand,<br />

um mit sich selbst ein bisschen weniger hart ins Gericht zu gehen.<br />

Die Hauptfigur Ihres zweiten Fernsehprojekts Mein Altweibersommer<br />

zieht indes ein hartes Resümee ihres Lebens und macht<br />

einen drastischen Schnitt. Können Sie das nachvollziehen?<br />

Ja, wobei ich aktuell nicht an den Punkt stoße, an dem ich etwas<br />

drastisch anders machen möchte. Manchmal werde ich auch<br />

gefragt, ob ich eine To-do-Liste von den Dingen habe, die ich<br />

noch tun möchte – nein, gar nicht.<br />

Woran liegt es, dass Sie so mit sich im Reinen sind?<br />

Ich befinde mich ständig im Austausch mit mir und denke über<br />

mein Leben nach. Dabei haben mir auch meine Rollen geholfen.<br />

Ich habe versucht zu begreifen, was ich verändern möchte, und<br />

wenn ich etwas gefunden habe, dann habe ich das auch getan.<br />

„ES GIBT VIELE MOSAIKSTEINE,<br />

DIE EINEN PRÄGEN“<br />

Man kann ein spannendes Leben führen, wenn man sich nicht in<br />

ein Korsett eigener oder fremder Erwartungen zwingen lässt,<br />

sondern bereit ist, neue Wege einzuschlagen. Die Frau in Mein<br />

Altweibersommer hat eine Affäre, aber sie verändert sich nicht,<br />

weil sie in den Armen eines anderen Mannes gelegen hat, sondern<br />

weil sie grundsätzlich bereit war, etwas Neues zu entdecken. Und<br />

diese Abenteuerlust kenne ich sehr wohl.<br />

Es gibt ja in Film und Fernsehen zunehmend Geschichten über<br />

die Selbstfindung von Frauen jenseits der 50, 60, 70 …<br />

Das nehme ich auch so wahr und freue mich sehr darüber.<br />

Plötzlich gibt es Rollen für Frauen, denen man früher wegen ihres<br />

Alters Wege versperrt hat. Und mich interessieren natürlich<br />

Frauen, die ähnlich alt sind wie ich. Ich<br />

liebe es, von deren Träumen, Bedürfnissen,<br />

Wut oder Hoffnungen zu erzählen.<br />

Entscheidend ist, dass man es mit Leichtigkeit<br />

tut, so ernsthaft Themen wie Älterwerden<br />

und Tod auch sind.<br />

Die Alterswahrnehmung hat sich verschoben. Erleichtert?<br />

Und wie. Früher war die 40 in der Film- und Fernsehwelt eine<br />

Wegmarke. Man war noch dabei, aber nicht mehr vorne. Die<br />

Geschichten wurden auf extreme Weise verjüngt. Heute muss das<br />

nicht mehr sein. Allerdings ist diese Offenheit in unserem Beruf<br />

noch nicht die Norm. Denn sonst würde es nicht auffallen. Aber<br />

wir sind auf einem guten Weg, der auch eingefordert wird. Das<br />

hat natürlich mit unserer Gesellschaft zu tun. Überdies haben<br />

sich Frauen mit 60 oder 70 Jahren selbst so zurückgezogen. Sie<br />

sind gewissermaßen in ihrem eigenen Beige versunken.<br />

Gibt es spezielle Herausforderungen in der modernen Medienwelt,<br />

mit denen Sie noch zu kämpfen haben?<br />

Es gibt viele Mosaiksteine, mit denen man sich auseinandersetzen<br />

muss und die einen prägen. Zum Beispiel die neue Form der<br />

Öffentlichkeit über die sozialen Medien. Selbst wenn man darin<br />

nicht aktiv ist, geben Menschen ihre Kommentare ab, und das<br />

bekommt man mit. Da muss man lernen, souverän zu sein, weil so<br />

viele Kränkungen oder Verunsicherungen dabei sind. Und man<br />

muss versuchen zu unterscheiden: Ist das etwas, was ich annehme,<br />

weil ich korrekturfähig sein möchte, oder will mir jemand aus<br />

niedrigen Beweggründen etwas um die Ohren knallen?<br />

Eine Herausforderung dürfte auch die aktuelle Krise sein. Mit<br />

welchen positiven Erwartungen gehen Sie in die nahe Zukunft?<br />

Ich habe große, große Lust weiterzudrehen, nachdem geplante<br />

Filme unterbrochen oder verschoben wurden. Allgemein freue ich<br />

mich, wenn wir in unseren jeweiligen Berufen wieder eine neue<br />

Perspektive bekommen. Natürlich spreche ich besonders von dem<br />

meinen, wobei mir klar ist, dass viele Menschen unendliche<br />

existenzielle Ängste haben. In der Krise war die Kreativität in der<br />

Kunst ungeheuer gefordert. Das hat neue Fenster geöffnet, und<br />

man hat gemerkt, wie sehr die Menschen das auch angenommen<br />

haben. Sie haben manche Hemmschwellen überwunden und ihr<br />

Interesse für Klassik, Literatur oder Konzerte entdeckt. Es wäre<br />

schön, wenn diese wunderbare Stimmung bliebe.<br />

„Nicht tot zu kriegen“, bis 2.11.<strong>20</strong><strong>20</strong> in der ZDF-Mediathek, www.zdf.de<br />

„Mein Altweibersommer“, bis 12.11.<strong>20</strong><strong>20</strong> in der ARD-Mediathek, www.ard.de<br />

n<br />

13


K Ü N S T L E R


DIE<br />

GROSSE<br />

IDEE EINES<br />

WERKS<br />

JOANA MALLWITZ<br />

15<br />

FOTO: NIKOLAJ LUND


K Ü N S T L E R<br />

FOTO: NIKOLAJ LUND<br />

J<br />

Joana Mallwitz ist derzeit die Sensation in der Musikwelt.<br />

Die Generalmusikdirektorin der Staatsphilharmonie<br />

Nürnberg war eingeladen, bei den Salzburger Festspielen<br />

eine Oper zu dirigieren. Dass sie die erste Frau war, wurde<br />

oft zum Thema gemacht. Sie selbst interessiert das nicht.<br />

Ihr geht es um nichts anderes als die Musik.<br />

oana Mallwitz ist eine so begnadete wie ernsthafte Musikerin.<br />

Als Gastdirigentin wirkt sie an zahlreichen Häusern,<br />

seit der Spielzeit <strong>20</strong>18/<strong>20</strong>19 wird sie als Generalmusikdirektorin<br />

der Staatsphilharmonie Nürnberg gefeiert, nun stand sie im August<br />

bei den Salzburger Festspielen in Christof Loys Inszenierung von<br />

Mozarts Così fan tutte am Pult der Wiener Philharmoniker.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Maestra Mallwitz, zunächst einmal: Die Corona-<br />

Pandemie hat den Kontakt zwischen Künstlern und Publikum<br />

stark eingeschränkt oder sogar unterbunden. Konzerte werden<br />

im Stream gezeigt oder vor wenigen Zuschauern gespielt. Wie<br />

wichtig ist es für Sie, die Reaktionen des Publikums zu spüren?<br />

Joana Mallwitz: Darüber habe ich in letzter Zeit viel nachgedacht.<br />

Was lässt ein Konzert so magisch werden? Was unterscheidet es<br />

von einer Generalprobe, bei der man auch alles geben muss?<br />

Wahrscheinlich empfindet das jeder Musiker anders. Für Sänger,<br />

die das Publikum direkt anschauen, ist es anders als für eine<br />

Dirigentin wie mich. Mir geht es gar nicht um die Reaktionen des<br />

Publikums. Sicher ist es merkwürdig, wenn nach dem letzten Ton<br />

Stille herrscht. Aber das Entscheidende liegt im Beginn.<br />

Ich erlebe einen starken Moment, wenn ich auf die Bühne komme<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

und Orchester und Publikum begrüße. Da spüre ich die enorme<br />

Energie von den vielen Menschen. Ich lasse das Orchester<br />

aufstehen, verbeuge mich, und indem ich mich zu den Musikern<br />

umdrehe, um mich auf die Musik zu konzentrieren, nehme ich<br />

diese Energie mit. Es ist, als würde ich das Publikum zu mir<br />

hereinziehen, damit ich alle bei mir habe, sobald ich den ersten<br />

Ton dirigiere. Dieser Moment fehlt, wenn das Publikum nicht<br />

anwesend ist. Und ich habe überlegt, wie man das kompensieren<br />

könnte. Denken wir an einen lieben Menschen, der zu Hause vor<br />

dem Computer sitzt? Oder spielen wir für die Kameraleute im<br />

Saal? Das Gefühl, für jemanden zu spielen, brauchen wir.<br />

Ihre Kollegin Marin Alsop begründete einmal das große<br />

Interesse an Alter Musik mit deren Klarheit und Einfachheit. In<br />

einer Zeit, da das Leben immer komplizierter werde, hätten die<br />

Menschen ein Bedürfnis nach durchschaubaren Strukturen.<br />

Kann Musik Hilfe sein in Krisenzeiten?<br />

Als all die Absagen einsetzten und Konzerte nicht mehr stattfinden<br />

konnten, merkte man, wie durstig die Menschen nach Musik sind.<br />

Von vielen unserer Konzertbesucher bekam ich die Reaktion, wie<br />

sehr sie sich auf das Konzert gefreut hatten und wie dankbar sie<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


sind, wenn Konzerte im Stream gezeigt werden oder Musiker Hauskonzerte<br />

geben. Im normalen Leben hält man eine Woche ohne<br />

Konzert aus. Aber in Zeiten von Krisen und Isolation brauchen die<br />

Menschen Kunst und Musik. Das ist die schöne Seite an der<br />

derzeitigen Situation – dass deutlich wird, wie essenziell Musik und<br />

das Erleben von Emotion und Gemeinsamkeit sind. Es ist nicht so,<br />

dass die Musik die Branche ist, die um das Publikum buhlt und<br />

mehr Geld verlangt. Nein! Die Menschen brauchen die Musik.<br />

Gibt es Werke, die sich<br />

besonders für Krisenzeiten<br />

„AM ENDE SOLL ES SICH<br />

SO ANFÜHLEN, ALS HABE<br />

ICH DIE RICHTIGE<br />

WAHRHEIT GEFUNDEN“<br />

eignen?<br />

Im ersten meiner wegen der<br />

Pandemie abgesagten<br />

Konzerte hätte ich Schuberts<br />

Unvollendete an der Bayerischen<br />

Staatsoper dirigieren<br />

sollen. Das Gefühl dieses<br />

Werks und das Gefühl, das<br />

mich in der Realität beschlich, wirkten damals surreal. Man<br />

konnte gar nicht fassen, was geschieht, wo es hingeht. Es war zu<br />

spüren, dass da etwas größer ist als wir alle. Genau das empfinde<br />

ich in Schuberts Sinfonie. Nichts passt besser zu dieser Situation<br />

als diese tänzerische Musik in den Geigen und Celli, bei der man<br />

irgendwann merkt, dass man schon keinen Boden mehr unter<br />

den Füßen hat. Nach der Generalpause kommt das Fortissimo, da<br />

brechen Abgründe schlagartig über einen herein. Aber man ist<br />

wie in einem Traum, tanzt weiter und spürt, dass das gar nicht<br />

mehr real ist.<br />

Klassisch-romantische Werke dominieren die Programme, und<br />

zunehmend wird eine Verengung beklagt auf einige große<br />

Namen und Werke. Werden unsere Konzertsäle zum Museum?<br />

Es ist doch so: Niemand beschwert sich, dass sich die Menschen<br />

auf den Weg machen, um den Petersdom zu bewundern, die<br />

barocke Pracht von Salzburg oder die Mona Lisa, weil jede<br />

Generation das Recht hat, diese Meilensteine<br />

der menschlichen Kunst und Zivilisation zu<br />

bewundern und für sich zu bewerten. Die<br />

klassische Musik kann man aber nicht ins<br />

Museum hängen, im Gegenteil: Das Wunderbare<br />

ist, dass diese Kunstform nur durch<br />

das immer wieder erneute Zum-Klingen-<br />

Bringen am Leben und erlebbar bleibt. Wie<br />

viele Möglichkeiten werde ich in meinem<br />

Leben bekommen, den Tristan zu dirigieren? Wenn ich Glück<br />

habe, 30-mal, 50-mal? Ich weiß es nicht, aber eigentlich immer<br />

noch zu wenig. Wie viel weniger ist es erst bei einem Zuhörer? Das<br />

heißt, wir sollten uns nicht über den riesigen Schatz des klassischen<br />

Repertoires beschweren, sondern dieses Geschenk hüten,<br />

pflegen, bewahren. Zu dieser Verantwortung gehört aber gleichzeitig<br />

das Erforschen und Möglichmachen von neuen Wegen,<br />

Werken, Denkweisen usw. Für mich ist das nicht zu trennen.<br />

Sir Roger Norrington setzt sich längst dafür ein, das Ritual von<br />

Konzerten aufzubrechen, um mit den Musikern und dem<br />

Publikum ein Gemeinschaftserlebnis zu schaffen. So animiert<br />

er das Publikum, seine Begeisterung zu zeigen und auch<br />

zwischen den Sätzen zu applaudieren. Teilen Sie seine Sicht?<br />

Wir sollten alles versuchen, was uns dem Publikum näherbringt<br />

und diese Musik erfahrbar werden lässt, auch wenn man damit<br />

Formen aufbricht. Tatsächlich ist nämlich die gegenwärtig als so<br />

traditionell wahrgenommene Form eines Orchesterkonzerts – also<br />

Ouvertüre, Solokonzert, Sinfonie – in der Geschichte gar nicht<br />

begründet. Zu Beethovens Zeit etwa sahen Konzerte völlig anders<br />

aus. Da wurden an einem Abend mehrere Sinfonien gespielt. Erst<br />

die großen schweren Werke, dann wurde es immer kleinteiliger,<br />

am Ende Ouvertüren und einige Arien. Ein solches Konzert würde<br />

heute niemand mehr aufs Programm setzen. Man würde es als zu<br />

„SO EIN THEATER IST<br />

EIN ORT DER<br />

ÜBERWÄLTIGUNG“<br />

lang und falsch in der Zusammenstellung empfinden. So ist das<br />

Konzert, das man heute als Tradition empfindet, eine in ihrer<br />

Zeit begründete Form, und es gibt keinen Grund, sie nicht mit<br />

anderen Ideen zu füllen. Man muss auf sein Gespür vertrauen.<br />

Und den Kontakt zum Publikum sollte man immer suchen. Wir<br />

haben in Nürnberg die sogenannten Expeditionskonzerte. Das<br />

sind moderierte Konzerte, die ich sehr liebe, weil ich auch beim<br />

Publikum das Bedürfnis danach spüre.<br />

Der verstorbene Musikwissenschaftler Joachim Kaiser erzählte,<br />

Zuhörer hätten ihm gesagt, sie würden ein Stück lieber von ihm<br />

erzählt bekommen, als es sich anzuhören …<br />

Ich möchte nicht in jedem Sinfoniekonzert etwas sagen oder<br />

erklären. Man kann eine Beethoven-Sinfonie auch genießen, ohne<br />

sie erklärt zu bekommen. Die Expeditionskonzerte sind einfach<br />

ein anderes Format, und ich finde es toll, wie begeistert sie in<br />

Nürnberg angenommen werden. Diese Nachfrage zeigt mir, dass<br />

es nicht stimmt, dass es keine Neugier auf klassische Konzerte<br />

gibt. Aber viele Menschen wissen gar nicht, was sie verpassen.<br />

Jemand, der noch nie in einem klassischen Konzert war und<br />

keinen Bezug dazu hat, traut sich vielleicht nicht. Er weiß nicht,<br />

was er damit anfangen soll oder ob er vorher etwas wissen muss.<br />

Diese Hemmschwellen versuchen die Expeditionskonzerte<br />

aufzubrechen. Ich halte keine musikwissenschaftlichen Vorträge.<br />

Vielmehr möchte ich die Freude am Hören wecken, vorführen,<br />

wie etwas klingt und wie es wirkt. Ich möchte das Publikum zu<br />

uns ins Staatstheater locken. So ein Theater ist ein Ort der<br />

Überwältigung. Man sieht die beleuchtete Bühne und das<br />

Orchester, man spürt, wie der Boden vibriert, wenn die Kontrabässe<br />

spielen. Das gehört alles dazu.<br />

Herbert Blomstedt hat das Interpretieren musikalischer Werke<br />

mit der Auslegung von Bibeltexten verglichen. Hier wie dort<br />

gebe es keine letztgültigen Lösungen, der heilige Text sei jedoch<br />

definitiv. Sehr rigoros. Was aber bedeutet dann Interpretation?<br />

Jeder von uns Musikern muss die Noten von allen Seiten befragen.<br />

Interpretation bedeutet für mich nicht,<br />

einem Stück meinen Stempel aufzudrücken.<br />

Man muss sich bei jeder Note fragen, warum<br />

sie steht, wo sie steht, warum sie wiederkehrt<br />

und warum sie anders wiederkehrt, um von<br />

all diesen kleinen Informationen vorzustoßen<br />

zur großen Idee des Werks. Wenn man<br />

ein Werk analysiert und studiert, lernt man<br />

es kennen, wie man einen Menschen<br />

kennenlernt. Man erfährt auch seine Geheimnisse, und es stellt<br />

sich eine Beziehung ein. Am Ende soll es sich so anfühlen, als<br />

habe ich die richtige Wahrheit gefunden. Das ist natürlich meine<br />

Wahrheit. Ein Dirigentenkollege kommt zu einer anderen<br />

einzigen Wahrheit. Jeder hat einen anderen Atem und anderen<br />

Herzschlag. Aber das ist für mich die Interpretation.<br />

Alles kann auch die Partitur nicht festlegen. Es bleibt Raum zur<br />

Auslegung. Wie gehen Sie mit diesem Raum um?<br />

Es ist tatsächlich sehr unterschiedlich. Mahler etwa war ein<br />

begnadeter Dirigent. Er testete dirigentisch auch seine eigenen<br />

Kompositionen und wusste genau, wie er etwas hinschreiben<br />

musste, damit ein anderer Dirigent es versteht. Ganz anders eine<br />

Schubert-Sinfonie. Schubert, der so vieles für die Schublade<br />

schrieb und wahrscheinlich nicht erwartete, dass wir seine<br />

Sinfonien heute in den großen Konzertsälen spielen, empfand es<br />

nicht für nötig, so genau zu sein. Da wird dann schwer diskutiert,<br />

was wie gemeint ist, ob eine anders wiederkehrende Phrase<br />

bewusst anders sein soll oder ob es einfach ungenau ist. Sicher<br />

werden wir das nie wissen. Je weiter man zurückgeht, desto<br />

weniger sagen die Noten. In der Barockmusik, aber auch noch in<br />

der frühen Klassik wurde vieles gar nicht notiert. Es ergab sich<br />

aus dem Konsens, wie bestimmte Stellen gespielt werden.<br />

Der Beruf des Komponisten hat sich ja erst mit der Zeit entwickelt:<br />

17


K Ü N S T L E R<br />

„ICH KANN NICHT DIE GROSSE KRAFT<br />

DES AUSDRUCKS ENTWICKELN,<br />

WENN ICH NICHT ICH SELBST BIN“<br />

Zunächst musste ein begnadeter Virtuose auch ein talentierter<br />

Improvisator sein – die Musik wurde spontan erfunden und war<br />

nicht dazu gedacht, auf Notenpapier verewigt zu werden.<br />

Dirigenten können vom charismatischen Orchesterbeschwörer bis<br />

zum nüchternen Sachverwalter alles sein. Haben Sie Vorbilder?<br />

Ich habe viele Vorbilder, nicht nur Dirigenten. Von jedem kann<br />

man sich etwas abschauen und für sich nutzen. Beim Dirigieren<br />

geht es um Authentizität. Ich kann nicht die große Kraft des<br />

Ausdrucks entwickeln, wenn ich nicht ich selbst bin. Da muss<br />

jeder herausfinden, was in ihm steckt, wo seine Stärken liegen –<br />

Charmeur, Philosoph oder Analytiker und Didaktiker. Einen<br />

tollen Dirigenten nachzuahmen, bringt einen nicht weiter.<br />

Es gibt einige wenige Ensembles, die demokratisch organisiert<br />

sind. Orchester sind es nicht. Wie meistern Sie diese Gratwanderung<br />

zwischen Diskussion und Durchsetzung?<br />

Es gibt auch Orchester, die in ihrer Organisationsstruktur demokratisch<br />

organisiert sind; nehmen Sie das berühmte Beispiel der<br />

Wiener Philharmoniker. Dennoch braucht ein Orchester eine<br />

gewisse Ordnung, und unhierarchisch wird es nie sein. In der<br />

Probe trifft am Ende der Dirigent die Entscheidung. Dafür besitzt<br />

er das Dirigentenhandwerk und die Technik. Das bedeutet aber<br />

nicht, dass ich vorschreibe, wie es gehen soll. Das Entscheidende<br />

geschieht im Moment des Musizierens. Als Dirigentin muss<br />

ich durchlässig sein. Ich nehme auf, was mir entgegenkommt,<br />

welche Phrase mir die Solo-Oboe anbietet, wie die Streicher mir<br />

die Akzente entgegenfeuern, wie der Atem der Blechbläser das<br />

unterstützt, und ich versuche, all diese Impulse zu bündeln und in<br />

eine Bahn zu lenken. Dieser Austausch von Impulsen während des<br />

Musizierens ist das Magische, und der erfolgt nicht hierarchisch.<br />

Ich zitiere noch einmal Marin Alsop, weil sie als amerikanische<br />

Dirigentin den Blick von außen hat. Sie erklärte, es gebe in<br />

Europa deutliche Unterschiede zwischen den Orchestern. Sie<br />

haben viele Orchester dirigiert. Teilen Sie diese Beobachtung?<br />

So allgemein würde ich es nicht sagen. Natürlich gibt es technisch<br />

bedingte Unterschiede. Auch die Ausbildung unterscheidet sich.<br />

Jedes Orchester besitzt ein lebendiges Gedächtnis, und bei den<br />

Orchestern in Europa reicht dieses oft weit zurück. Wenn man<br />

den Rosenkavalier hört, wird man immer erkennen, ob ihn die<br />

Wiener Philharmoniker spielen. Brahms hat zum Beispiel mit<br />

dem Dirigenten des Orchesters von Meiningen zusammengearbeitet.<br />

Damals war Meiningen das Brahms-Orchester. Musiker<br />

und Dirigent wussten, wie er etwas gespielt haben wollte, und<br />

waren geschult in seinem Stil. Findet in der Geschichte eines<br />

Orchesters so etwas statt, wirkt das noch über Generationen nach.<br />

Welche Bedeutung hat es für Sie, mit Ihren Orchestern eine<br />

eigene Klangkultur zu schaffen?<br />

Das ist wichtig. Darum verpflichte ich mich auch gerne für eine<br />

längere Zeit. Eine Klangkultur kann man nur erreichen, wenn<br />

man über längere Zeit mit einem Orchester arbeitet. Aber es ist<br />

ein großes Ziel. Der Klang ist das Ergebnis von vielem, angefangen<br />

bei der Technik über die Artikulation, die Bereitschaft der<br />

Musiker sich hinzugeben bis hin zu gegenseitigem Vertrauen.<br />

Zwischen Orchester und mir und innerhalb des Orchesters. Das<br />

kann man nur über einen langen Zeitraum erreichen, und das<br />

spiegelt sich am Ende im Klang wider.<br />

Die Wiener Philharmoniker, die Sie jetzt dirigiert haben, sind<br />

bekannt für melodische Streicherwärme …<br />

Dieses lebendige Gedächtnis ist wahrscheinlich bei den Wiener<br />

Philharmonikern so stark wie bei wenigen Orchestern auf der<br />

Welt. Für mich als Dirigentin heißt das, dass ich dem Orchester<br />

bestimmt nicht meine Idee von Mozart überstülpen werde. Damit<br />

würde ich nur alles zerstören. Man muss immer darauf achten,<br />

wo man hinkommt und was einem angeboten wird. Und von den<br />

Wiener Philharmonikern wird einem etwas Riesiges geboten.<br />

Trotzdem muss ich klar sein in meiner Idee von Mozart und dem<br />

Werk. Dieser Balanceakt macht es aus.<br />

Dirigenten beklagen mitunter, sie würden zu spät oder zu<br />

wenig in die Probenarbeit einbezogen. Wie gestalten Sie die<br />

Zusammenarbeit mit dem Regisseur?<br />

Jedem Dirigenten ist es freigestellt, sich ein Jahr vorher mit dem<br />

Regisseur zusammenzusetzen und bei den Proben dabei zu sein.<br />

Mir ist es immer wichtig, mich frühzeitig mit dem Regisseur zu<br />

verständigen und während der szenischen Proben anwesend zu<br />

sein. Gerade der Austausch zwischen Ausdruck und Musik,<br />

zwischen Bühne und Graben wird in szenischen Proben erarbeitet.<br />

Also muss ich wissen, was der Regisseur ausdrücken will. Ich<br />

muss erkennen, ob der Subtext für den Sänger klar genug ist, ob<br />

ich ihn unterstützen kann oder ob ich ihm durch die Musik noch<br />

eine andere Ebene hinzufügen muss. Und vor allem ist es mir<br />

wichtig, die Sänger kennenzulernen. Das Tempo einer Arie hängt<br />

auch davon ab, welche Art von Stimme sie singt.<br />

Zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele haben Sie mit<br />

Christof Loy eine Neuinszenierung von Mozarts Così fan<br />

tutte erarbeitet. Publikum und Kritiker waren begeistert, Sie<br />

sprachen von „Idealbedingungen“ und einem „Glückspaket“.<br />

Worauf kommt es bei einer Operninszenierung an?<br />

Im besten Fall kommen alle Beteiligten – Regisseur, Dirigent und<br />

Sänger – sehr gut vorbereitet und mit klaren Vorstellungen zur<br />

ersten Probe. Durch diese Reibung potenziert sich dann in der<br />

gemeinsamen Arbeit die Ausdruckskraft. Im Fall der Così ist es<br />

genau so gewesen. Alles wurde vom Text und von der Musik her<br />

gedacht. Meist saßen wir alle zusammen ums Klavier und haben<br />

jede neue Nummer, jedes Rezitativ geprobt: Text, Subtext, Farbe,<br />

Impuls, Übergang, Timing. Regie und musikalische Idee gehen<br />

dann Hand in Hand: Idealbedingungen, um Mozart zu proben.<br />

„Theater ist in einem positiven und in einem negativen Aspekt<br />

Mode und darauf angewiesen, immer wieder neue Variationen<br />

zu zeigen, damit es nicht erstarrt“, sagte Dieter Dorn einst. Das<br />

gilt vermutlich auch für musikalische Deutungen. Wie empfinden<br />

Sie das, wenn Sie eine Oper wie die Così vor sich haben?<br />

Così ist vielleicht die zeitloseste Oper von Mozart. Es geht darum,<br />

was mit Menschen passiert, mit Menschen in Beziehungen, mit<br />

Menschen im Verlauf eines gesamten Lebens. Um dies an einem<br />

Opernabend erzählen können, ist das Ganze in diese etwas<br />

merkwürdige Verwechslungsgeschichte eingefasst. Aber die Emotionen<br />

sind heute so aktuell wie zu Mozarts Zeit oder in der Zukunft.<br />

Jede neue Produktion muss dem nachspüren, was uns als<br />

Zuschauer berührt und uns identifizieren lässt. Am Ende hängt die<br />

Qualität einer Produktion nur damit zusammen. Die Menschlichkeit<br />

muss sich übertragen, und da kann eine historische Operninszenierung<br />

manchmal aktueller sein als eine moderne.<br />

Für Igor Levit sind Sie eine Jahrhundertdirigentin. Und doch<br />

möchte ich Sie nach Ihren weiteren Plänen und Zielen fragen.<br />

Wenn man als Dirigentin in die Position kommt, auswählen zu<br />

dürfen, welche Anfragen und Engagements man annimmt und<br />

welche nicht, dann ist das ein großes Privileg. Mein Ziel ist es, die<br />

Orte und Orchester zu finden, bei denen ich das Gefühl habe, wir<br />

gehören zusammen, und es kann etwas Großes entstehen, wenn<br />

wir gemeinsam musizieren. In Nürnberg befinde ich mich an<br />

einem solchen Ort. Vor meinem Vordirigat wusste ich noch nicht,<br />

was werden kann. Aber bei der ersten Probe mit dem Orchester<br />

hatte ich das Gefühl, unbedingt mit diesen Menschen musizieren<br />

zu wollen. Hier kann ich sein, wie ich bin, und es kann etwas<br />

Tolles entstehen.<br />

n<br />

18 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


19


ENDLICH<br />

PAMINA!<br />

Auch eine Stimme will erwachsen werden. Und ihre Facetten entwickeln.<br />

Die Sopranistin Regula Mühlemann hat gewartet – und fühlt sich jetzt reif<br />

genug für Rollen wie Ilia, Susanna und ja, eben Pamina. Eine kluge<br />

Entscheidung, wie ihr zweites Mozart-Arien-Album beweist.<br />

VON KLAUS KALCHSCHMID<br />

<strong>20</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


21<br />

FOTO: GUIDO WERNER


R<br />

egula Mühlemann hätte dieses Jahr bei den Salzburger<br />

Festspielen die Pamina in der Zauberflöte<br />

singen sollen – sie wurde virusbedingt ins nächste Jahr verschoben.<br />

Aber die junge Schweizerin verkörpert sie im Herbst in Basel in<br />

einer Neuproduktion und im Frühjahr nächsten Jahres an der Wiener<br />

Staatsoper, wo sie im <strong>September</strong> schon Blonde in der Entführung<br />

aus dem Serail darstellt. Anfang <strong>September</strong> erscheint ihr zweites<br />

Mozart-Album – mit Paminas berühmter Arie im Zentrum.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Frau Mühlemann, wie kommt man mit gerade<br />

mal 22 zu einem Engagement als Ännchen neben Juliane Banse<br />

als Agathe in einer Verfilmung des Freischütz?<br />

Regula Mühlemann: Erst einmal habe ich nur für eine der Braut -<br />

jungfern vorgesungen. Dann fragte man mich, ob ich auch Ännchen<br />

singen könnte. Leider hatte ich nur eine der beiden Arien drauf.<br />

Mist, dachte ich, da hast du jetzt vielleicht eine große Chance<br />

verpasst. Aber ein paar Tage später bekam ich einen Anruf mit der<br />

Bitte, ich möge doch die ganze Partie lernen und noch mal vor -<br />

singen. Dann ging alles sehr schnell und schon eine Woche später<br />

fanden die Aufnahmen unter Daniel Harding in London statt.<br />

Die Einspielung vor dem eigentlichen Dreh in der Sächsischen<br />

Schweiz waren für eine Sängerin am Beginn ihrer Karriere<br />

sicher doppelt ungewöhnlich. Wie ist es Ihnen da ergangen?<br />

Das war schon sehr speziell.<br />

EGAL WIE KLEIN EINE<br />

ROLLE IST: MOZART<br />

LÄSST IMMER EINEN<br />

CHARAKTER<br />

DURCHSCHEINEN<br />

Jeder saß in einer eigenen<br />

Tonkabine, sah den Dirigenten<br />

nur auf einem Monitor oder<br />

durch ein großes Fenster weit<br />

weg in einem anderen Raum.<br />

Aber man war eben nicht mit<br />

dem Orchester zusammen. So<br />

konnte ich mich nicht über die<br />

Umgebung wahrnehmen. Die<br />

anderen hörte ich nur über<br />

Kopfhörer, die ich mir nur halb aufsetzte, um meinen Gesang<br />

kontrollieren zu können. Auch bei den Filmaufnahmen, wo der<br />

Ton eigentlich keine Rolle mehr spielt, haben wir ausgesungen,<br />

damit Ausdruck und Intensität des Singens sichtbar waren.<br />

Bei einem anderen Filmprojekt – als Amor in Glucks Orfeo mit<br />

Bejun Mehta war das aber anders?<br />

Ja, in diesem schönen kleinen Barocktheater in Krumau haben<br />

wir alles live gesungen. Das ist schon sehr anstrengend, weil<br />

immer irgendwas nicht passt.<br />

Es gibt noch einen dritten Film mit Ihnen: Der Klang der<br />

Stimme, in dem es um die verschiedensten Phänomene des<br />

Singens geht. Sie waren das Beispiel für den klassischen Gesang<br />

und man erlebt Sie an der Seite von Ramón Vargas. Aber es ist<br />

auch dokumentiert, dass es mal nicht so rund laufen könnte.<br />

Oh, ich dachte lange, will ich diese Szene im Film drinhaben, wo<br />

ich bei der Einspielung meiner ersten CD, also dem ersten<br />

Mozart-Album vor fünf Jahren, in einem Moment so angespannt<br />

war, dass gar nix mehr ging? Ich habe mich dann bewusst dafür<br />

entschieden, diese Szene nicht rausschneiden zu lassen. Das<br />

Erleben dieser Situation und vor allem zu dieser vermeintlichen<br />

Schwäche zu stehen, hat mich stark gemacht und dazu gebracht,<br />

bei Aufnahmen oder auch auf der Bühne weniger Druck aufzubauen<br />

– oder ihn besser auszuhalten. (lacht) Dass diese Umstände<br />

im Film nicht erklärt werden, sondern man einfach meine<br />

Ohnmacht in dieser Situation spürt, fand ich irgendwie gut.<br />

Heute habe ich da natürlich mehr Erfahrung, und so etwas<br />

passiert mir sicher so nicht mehr.<br />

Kommen wir zu Ihren beiden Mozart-Platten. Nach welchen<br />

Kriterien haben Sie das Repertoire ausgesucht?<br />

Für die erste CD habe ich die gesamte Sopran-Literatur von<br />

Mozart durchgehört und meine Lieblingsarien ausgewählt. Ich<br />

K Ü N S T L E R<br />

wählte bewusst fröhliche, heitere, also „positive“ Arien. Das war<br />

gar nicht so einfach, weil es viel mehr Ernstes, Schwermütiges<br />

und Tiefsinniges gibt.<br />

Deshalb auch Exsultate, jubilate am Ende!<br />

Ja, genau! An einige dieser Lieblingsarien habe ich mich damals<br />

noch nicht herangetraut. Ich wollte mit einer Ilia, Susanna und<br />

Pamina warten, bis sich meine Stimme ändert und weitere Farben<br />

dazugewinnt. Nun war die Zeit dafür reif, zumal ich viele dieser<br />

Mozart-Partien jetzt auf der Bühne singe oder bald singen werde.<br />

Was war Ihre erste Mozart-Partie?<br />

Barbarina im Januar <strong>20</strong>10 in meiner ersten Spielzeit am Luzerner<br />

Theater, als ich noch studierte. Figaro war auch meine erste Oper,<br />

die ich in Zürich als Zuschauerin erlebte. Damals war ich als<br />

junges Mädchen nicht so sehr fasziniert von Susanna, sondern<br />

eben von Barbarina. Ich sehe die Sängerin immer noch vor mir,<br />

wie sie da allein in einem Spot auf der Bühne mit einem Picknickkorb<br />

steht und das kleine Rezitativ singt, das so oft gestrichen<br />

wird. Und dann diese wunderbare Cavatina! Egal wie groß oder<br />

klein eine Rolle ist: Mozart lässt immer einen Charakter durchscheinen,<br />

gibt selbst einer Nebenfigur ein reiches Persönlichkeitsprofil<br />

– das eröffnet immer eine Welt. Die Barbarina war also<br />

mein Initiationserlebnis – und dann meine erste Rolle auf einer<br />

großen Bühne!<br />

Was ist dran an dem Gerücht, Sie wären eigentlich gerne<br />

Popsängerin geworden?<br />

Na ja, ich wollte nicht professionelle Popsängerin werden,<br />

sondern habe einfach viel Popmusik gesungen. Es war ein großes<br />

Hobby. Ich hab mich dazu am Klavier begleitet, was mir später<br />

beim klassischen Gesangsstudium durchaus zugutekam. Ich<br />

tourte auch mit Kinder-Musicals. Meine Mutter hat mich mit<br />

jeder Art von Musik aufwachsen lassen, die es in ihrer Plattensammlung<br />

gab – von Bach bis zu den Beatles! Auch das Singen<br />

von Kirchenmusik in einer Kantorei war für mich ganz selbstverständlich.<br />

Viele Singer-Songwriter haben schöne Stimmen,<br />

können aber eben ihre Songs auch selber schreiben; da hat’s bei<br />

mir dann schon gehapert! Bei dem, was ich geschrieben habe,<br />

dachte ich mir immer: Na, ein Hit wird das nicht! (lacht) Außerdem<br />

hatte und habe ich diese hohe, helle und klare Stimme – die<br />

ist im Pop nicht ideal. Ich merkte außerdem, dass für mich das<br />

klassische Singen viel angenehmer ist und weniger müde macht.<br />

Wann haben Sie entschieden, das Singen zum Beruf zu machen?<br />

Lange Zeit war das ein schönes Hobby, aber ich habe eher daran<br />

gedacht, Biologie zu studieren. Kurz vor dem Abi fragte mich<br />

mein Gesangslehrer, was ich mal werden will. Ich zuckte nur mit<br />

den Schultern, und da sagte er: „Na, mach doch das, was du am<br />

besten kannst!“ Und da ist es mir wie Schuppen von den Augen<br />

gefallen. Er kannte die Professoren hier in Luzern und hat mich<br />

zu Barbara Locher geschickt. Das war die perfekte Gesangslehrerin<br />

für mich, und noch heute gehe ich gerne zu ihr.<br />

Wie erlebten Sie die letzten Monate ohne Live-Auftritte?<br />

Ich bin ein wenig erschrocken, als ich merkte, dass ich vieles<br />

machen konnte, wozu ich sonst keine Zeit habe, mir aber das<br />

Singen überhaupt nicht fehlte. Und damit verbringe ich ja sonst so<br />

viel Zeit! Das machte mir ein wenig Sorgen. Aber als ich für eine<br />

Sendung des Schweizer Fernsehens darüber reflektieren musste,<br />

kam mir: Das Üben zu Hause fehlt mir nicht, das mache ich auch<br />

nicht besonders gerne, das ist Arbeit, wenn auch manchmal<br />

schöne Arbeit. Aber was mir sehr wohl<br />

abgeht, ist das Musizieren mit anderen. Und<br />

ich habe neue Hobbys entdeckt: Sauerteigbrot<br />

backen und Tennis spielen!<br />

n<br />

Wolfgang Amadeus Mozart: „Mozart Arias“, Regula Mühlemann<br />

(Sony)<br />

22 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


HAPPY<br />

BIRTHDAY,<br />

MISTER<br />

GUITAR!<br />

Sigi Schwab ist einer der vielseitigsten<br />

und umtriebigsten Musiker und als Meister<br />

der Gitarre eine Legende. Am 5. August<br />

feierte er seinen 80. Geburtstag.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Sigi Schwabs musikalisches Spektrum erstreckt sich vom<br />

Barock bis zur Gegenwart. Er brennt leidenschaftlich für<br />

sein Instrument, ist seit Jahrzehnten unterwegs, arbeitet an<br />

mehreren Projekten gleichzeitig und spielt in unterschiedlichen<br />

Formationen. Seine Schallplatten wurden längst zu<br />

Sammlerstücken und zahllos sind die Musiker, mit denen er auf der<br />

Bühne und im Studio stand.<br />

Begonnen hat Sigi Schwab seine Laufbahn rockig und jazzig.<br />

Geboren als Siegfried Schwab in Ludwigshafen am Rhein, wirkte er<br />

bereits während seines Studiums an der Musikhochschule Mannheim<br />

in der lokalen Musikszene, rockte mit dem <strong>20</strong>16 verstorbenen<br />

Gitarristen Hans Reffert und widmete sich im Quartett mit dem<br />

<strong>20</strong>11 verstorbenen Pianisten Wolfgang Lauth, dem Bassisten Wolfgang<br />

Wagner und dem Drummer Horst Seidelmann dem Cool Jazz.<br />

Bereits damals erwachte aber auch seine Begeisterung für Barockmusik.<br />

Denn das Wolfgang-Lauth-Quartett befasste sich intensiv<br />

mit dieser Epoche. 1967 brachte Sigi Schwab das Album „The Fabulous<br />

Guitar. From Bach to Almeida“ heraus, dem zwei Jahre später<br />

„Bacharach Baroque“ mit dem 18th Century Ensemble folgte.<br />

Noch im selben Jahr erschloss er sich mit dem jüngst verstorbenen<br />

Pianisten Wolfgang Dauner und dem Bassisten Eberhard<br />

Weber mit indischen Klängen ein weiteres musikalisches Feld. Auf<br />

dem Album „The Oimels“ spielte er die indische gezupfte Langhalslaute<br />

Sitar. Unter der Bezeichnung „Psychodelic-Jazz-Pop“ wurde<br />

das Album <strong>20</strong>07 wiederaufgelegt. Mit der ebenfalls 1969 von dem<br />

Multiinstrumentalisten Christian Burchard gegründeten Jazzrockund<br />

Weltmusik-Band Embryo nahm Sigi Schwab 1972 das Album<br />

„Father, Son and Holy Ghost“ auf und spielte neben verschiedenen<br />

Gitarren das altindische Zupfinstrument Vina.<br />

Die 60er-Jahre waren aber auch die große Zeit der Rundfunk-<br />

Big-Bands, und Sigi Schwab befand sich mit seiner Gitarre mitten im<br />

swingenden Geschehen. 1965 folgte er einem Engagement der RIAS<br />

Big Band Berlin. Auch im Südfunk-Tanzorchester, das Erwin Lehn<br />

beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart gegründet hatte und zu<br />

einer Big Band formte, wirkte er mit. Keine Tanzverpflichtungen hatte<br />

die von Kurt Edelhagen beim WDR in Köln ins Leben gerufene Big<br />

Band. Die Musiker konnten sich ausschließlich auf den Jazz konzentrieren.<br />

Sigi Schwab war als Gast dabei. Und auch die Rhythm Combination&Brass<br />

des Posaunisten Peter Herbolzheimer sowie das<br />

Quartett des Saxofonisten Klaus Doldinger schätzten Sigi Schwabs<br />

Gastauftritte. Auf den Alben „My Kind of Sunshine“ und „Waitaminute“<br />

ist die Zusammenarbeit mit Herbolzheimers Band verewigt.<br />

Bereits 1965 begann Sigi Schwab, als Studiomusiker zu arbeiten,<br />

und spielte im Verlauf von <strong>20</strong> Jahren 15.000 Titel ein. Ende der 80er-<br />

Jahre konnte er sich ein eigenes Tonstudio einrichten. Er hatte in den<br />

70er-Jahren begonnen, Filmmusiken zu schreiben, unter anderem<br />

für den Kinofilm Ein Wintermärchen und die Fernsehverfilmung von<br />

E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi sowie die Fernsehserien<br />

Anna, Laura und Luis und Clara. Der von dem 1994 früh<br />

verstorbenen Sänger Guillermo Marchena vorgetragene Titel My Love<br />

is a Tango aus der Fernsehserie Anna wurde ein solcher Erfolg, dass<br />

die Tantiemen Sigi Schwab Unabhängigkeit schenkten.<br />

Der klassischen Musik wandte sich Sigi Schwab mit dem Diabelli<br />

Trio zu, das 1979 sein Debüt bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen<br />

gab. Es folgten eine rege Konzerttätigkeit, Aufnahmen<br />

für den Rundfunk und Schallplatteneinspielungen wie die Alben<br />

„Wiener Serenade“ und „Kostbarkeiten des Biedermeiers“. Im Jahr<br />

<strong>20</strong>00 brachte das Trio das Album „Walzer“ heraus.<br />

Doch auch seiner Liebe zur Barockmusik ist er mit dem Trio<br />

Barocco Vivente treu geblieben, in der er mit seiner Gitarre den Part<br />

des Continuoinstruments übernimmt.<br />

<strong>20</strong>15 schließlich fand Sigi Schwab sich mit dem Klarinettisten<br />

Klaus Hampl, dem Perkussionisten Ramesh Shotham und dem<br />

Bassisten Reza Askari-Motlagh zur Camerata Bavarese zusammen.<br />

Gemeinsam wollen sie eine Renaissance der Camerata Fiorentina<br />

aus der Taufe heben, zu der sich vor 400 Jahren hochkarätige Künstler<br />

zusammengeschlossen haben. Und „A Due“ heißt es, wenn Sigi<br />

Schwab mit dem Klarinettisten Klaus Hampl ein virtuoses musikalisches<br />

Zwiegespräch führt. Ein weiterer Dialog im Duo Mandala<br />

mit dem Perkussionisten Ramesh Shotham macht seine Leidenschaft<br />

für indische Klänge möglich.<br />

Zu guter Letzt noch ein weiteres legendäres Album: „Guitarissimo“.<br />

Der Titel stammt aus einer Fernsehsendung, in der Sigi Schwab<br />

und der Gitarrist Peter Horton spontan miteinander musizierten<br />

und einen Sturm der Begeisterung auslösten. 1978 brachten sie das<br />

Album heraus, zwei Jahre später folgte „Guitarissimo – Confiança“,<br />

<strong>20</strong>12 entschloss sich Solo Musica zu einer Neuauflage, die die besten<br />

Stücke beider Alben vereinte. Und schon <strong>20</strong>14 erneuerten Sigi Schwab<br />

und Peter Horton ihr Kult-Duo und erweiterten<br />

es um den Schlagzeuger Andreas Keller<br />

und den Bassisten Tommi Müller. Das Ergebnis:<br />

„Guitarissimo XL“. Danke dafür, Sigi! n<br />

„Guitarissimo XL“, Sigi Schwab, Peter Horton, Andreas Keller<br />

und Tommi Müller (Solo Musica)<br />

FOTO: ALFRED MICHEL<br />

23


K Ü N S T L E R<br />

„IN BEETHOVENS MUSIK SPÜRT MAN DEN ZAUBER EINER<br />

ANDEREN DIMENSION SEHR DEUTLICH. MANCHE NENNEN ES GOTT …“<br />

DIE LIEBE<br />

FÜR DIE LIEBE<br />

Ob sie vor Papst Franziskus singt oder im Film Das Parfüm – die<br />

Sopranistin Chen Reiss ist eine außergewöhnliche Frau. Man spürt, dass es<br />

ihr leichtfällt, vieles gleichzeitig und quer zu denken. Wissensdurstig ist sie,<br />

energisch und kämpferisch, voller Ideen und Eigensinn, dabei gewitzt und<br />

humorvoll. All das ist zu spüren auf ihrem neuen Album, das sich<br />

ausschließlich Beethoven-Arien widmet.<br />

VON STEFAN SELL<br />

Beethoven hätte sie geliebt – er verehrte starke<br />

Frauen. Chen Reiss entscheidet, was sie singt und<br />

wie. Die israelische Sopranistin ist schon früh ihrem Herzensruf<br />

gefolgt: Mit sechs hat sie die erste Klavier-, mit 14 die erste Gesangsstunde,<br />

mit 16 weiß sie: Sie wird Sängerin. Selbst ihren zweijährigen<br />

Militärdienst in Israel absolviert sie als Gesangssolistin im Orchester<br />

der Streitkräfte. Ihren Durchbruch hat sie mit 21 an der Bayerischen<br />

Staatsoper. Zubin Mehta hatte sie in New York gehört und sofort<br />

engagiert. Seither ist sie auf den Bühnen der Welt zu Hause.<br />

Im Gespräch mit Chen Reiss führt zunächst kein Weg daran<br />

vorbei: Es geht um Corona, die vielen Auftritte, die ausfallen, das<br />

eingeengte Arbeiten von zu Hause aus, über all die vergeblichen<br />

Versuche, mit auf Pixel und mp3 reduzierten Internetauftritten über<br />

die Ausfälle hinwegtrösten zu wollen. „Musik über das Internet<br />

kann kein Ersatz sein. Es ist, als würde ich jemandem erklären, wie<br />

Schokolade schmeckt.“ Schnell wird klar, dass für sie nur der spürbare<br />

Kontakt zu den Mitmusizierenden, die Unmittelbarkeit zum<br />

Publikum das wahre Konzertieren ausmachen.<br />

Dennoch sieht sie in der Krise eine Chance, neue Wege zu<br />

gehen. Gerade Künstler könnten Perspektiven schaffen und wären<br />

damit systemrelevanter, als die meisten vermuten. Das nicht Materielle,<br />

das flüchtige Element der Musik beweist: Es gibt mehr zwischen<br />

Himmel und Erde, als jede Schulweisheit sich träumen lässt.<br />

Reiss’ neues Album, „Immortal Beloved“, präsentiert einen<br />

Beethoven, den wir so nicht kennen. Virtuos jongliert sie mit den<br />

Gefühlslagen der Szenen, Arien und Lieder. Klug hat sie mit dem<br />

Repertoire Akzente gesetzt und gibt den Hörern die Gewissheit, im<br />

Leben zählt nur eines: die Liebe.<br />

„Für mich ist das bei Beethoven sehr klar: Die Liebe ist immer<br />

da, die Liebe für die Musik, die Liebe für die Stimme. Neu war mir<br />

zu hören, er habe die Stimme ignoriert. Aber nein! Er hat am Theater<br />

an der Wien gewohnt und sich mit den Sängern ausgetauscht. Vielleicht<br />

fehlte ihm als Pianist das Selbstvertrauen, für Gesang zu<br />

schreiben, aber alles, was er geschrieben hat, sind Meisterwerke.“<br />

Wie aber ist sie wohl dazu gekommen, aus all diesen selten<br />

gesungenen Partien bis hin zur heiteren Buffo-Arie Soll ein Schuh<br />

nicht drücken ein Album zu machen?<br />

„Ich hatte einen Vertrag mit der Wiener Staatsoper, die Urfassung<br />

der Leonore von 1805 zu singen. Darin ist ein Duett für Leonore<br />

und Marceline. Das war für mich neu, wunderschön und meiner<br />

Meinung nach das Beste in dieser Oper für die Gesangsstimme. Ein<br />

Part, der leider in der späteren Fassung des Fidelio gestrichen wurde.<br />

Beethoven hat bei Sängern den Ruf, dass er sehr unbequem<br />

sein kann. Ich weiß. Man übt und denkt, warum hat er das so<br />

geschrieben? So instrumental – als würde er für eine Geige schreiben.<br />

Aber dann dieses Duett! Da dachte ich mir, vielleicht gibt es ja<br />

ja mehr so interessante Stücke aus seiner Jugend.“<br />

Allen zu erwartenden Hürden zum Trotz hat Reiss sich zwei<br />

Jahre intensiv damit beschäftigt. „Bei meiner Recherche habe ich<br />

dann so wunderbare Arien entdeckt wie Primo amore, eine 15-minütige<br />

Szene, die er in Bonn verfasst hat. Man dachte, sie wäre in Wien<br />

entstanden, aber es hatte zuvor schon einen deutschen Text gegeben.<br />

Vermutlich hat er diese Arie für die Sopranistin Magdalena Willmann<br />

geschrieben, die Tochter einer musikalischen Nachbarsfamilie.<br />

Vielleicht war sie sogar seine erste Liebe.“<br />

Ganz mit ihrem neuen Programm verwoben, fällt ihr gleich<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Beethoven muss man mit<br />

Schlichtheit singen: Chen Reiss<br />

FOTO: PAUL MARC MITCHELL<br />

25


K Ü N S T L E R<br />

Chen Reiss, so selbstbewusst<br />

wie emotional,<br />

weiß: Musik hat Macht!<br />

FOTO: PAUL MARC MITCHELL<br />

die Romanze aus Leonore Prohaska ein, der Musik zu einem Drama<br />

um die kampfesmutige Trommlerin der Freiheitskriege von 1813<br />

bis 1815. Reiss identifiziert sich mit den Frauen, die Beethoven in<br />

seinen Werken anspricht. Sie wird zur Stimme von Selbstbestimmheit,<br />

aufrechtem Gang, Freiheit und Courage. „Beethovens Es blüht<br />

ein Blume im Garten mein aus Leonore Prohaska ist eine Perle, so<br />

schlicht, so rein und perfekt – das ist für mich Beethoven.“<br />

Dem kann man nur zustimmen. Ihr Album ist ein einziger<br />

Perlenkranz geworden und offenbart einen Beethoven der Stimme,<br />

schwierig auszuführen, unbequem in der Lage, doch romantisch,<br />

klassisch, wunderschön, in jedem Ton meisterhaft. Es scheint, als<br />

hätte Chen Reiss ihren Interpretationen so<br />

etwas wie einen Subtext, eine zweite Schicht<br />

unterlegt, die etwas verrät, was wir so von<br />

Beethoven nicht wussten. Die Szene und<br />

Arie Ah, perfido! bestreitet sie mit frischem<br />

Tempo, mutig, belebend – wie ein Sprung<br />

ins kalte Wasser. Dann hält sie inne, überrascht<br />

wie das unerwartete Aufleuchten<br />

eines Meteors, dessen Spur für einen Moment am Himmel weilt.<br />

„Mit diesem Album wollte ich zeigen: Beethoven kommt aus<br />

der Klassik, er kommt aus der Welt Haydns. Das muss man mit<br />

Schlichtheit singen, so schlicht wie man Haydn und Mozart singt –<br />

nicht dramatisch. Wie zum Beispiel Fliesse, Wonnezähre, fliesse! – ein<br />

ganz frühes Werk. So wunderschön …“<br />

Diese Arie eröffnet ihre CD „Immortal Beloved“. Wer oder<br />

was aber, glaubt sie, ist diese unsterbliche Geliebte? „Für mich ist<br />

die unsterbliche Geliebte ein Vorbild für das, was Liebe bedeutet,<br />

ein Ideal. Er hatte eine ideale Frau in seinem Kopf. Keine Frau<br />

kann so perfekt sein! Eine Frau wie Leonore ist sehr mutig, sehr<br />

selbstbewusst und sehr unabhängig – was zu der Zeit etwas Besonderes<br />

war. Und dennoch hat sie Verpflichtungen. Sie ist vollkommen<br />

bei ihrem Mann, sie ist bereit, für ihren Mann ihr Leben zu<br />

riskieren, ihm aus Liebe zu dienen – das hat Beethoven in seinem<br />

Leben nie gefunden. Am Ende war mir klar: Einzig die Musik hat<br />

ihn nicht enttäuscht, das war seine Liebe, das war sein Ideal. Die<br />

Liebe für die Frauen, die Liebe für die Musik – das ist die Liebe<br />

für die Liebe, die Sehnsucht nach unbedingter Liebe. Das habe ich<br />

in jedem Stück gefunden.“<br />

Heißt das, die Liebe ist hier etwas Transzendentes? „Musiker<br />

spüren das, besonders so empfindliche Musiker wie Beethoven. Wir<br />

„EINZIG DIE MUSIK<br />

HAT BEETHOVEN NIE<br />

ENTTÄUSCHT“<br />

spüren diese Extradimension in der Welt, von all dem, was wir nicht<br />

sehen können, nicht berühren können, von dem wir aber wissen, es<br />

ist da. Manche nennen es Gott oder Inspiration, für andere ist es<br />

das Universum, wie oder was auch immer. Wir wissen, dass es diese<br />

Dimension gibt. Gerade in Beethovens Musik spürt man diesen<br />

Zauber ganz deutlich. Musik hat Macht. Über die Ohren sind die<br />

Menschen sehr tief zu erreichen.“<br />

Und wieder betont sie, dass für sie Musik nur im Miteinander<br />

entstehen kann. Skype oder Zoom können keine Alternative sein.<br />

„Zusammen Musik zu machen, bedeutet unglaubliche Energie. Wenn<br />

ich morgens schlecht gelaunt bin, alles viel zu früh beginnt und lästig<br />

ist, ich zur Probe ins Theater gehe und plötzlich<br />

das Orchester zu spielen beginnt, dann<br />

geht für mich die Sonne auf und ich bin<br />

voller Energie.“ Ein passendes Bild. Denn<br />

wenn Chen Reiss Beethovens Tremate, empi,<br />

tremate singt, gleich nach dem dunklen Bass,<br />

der das Terzett einleitet, dann wird es hell,<br />

dann beginnt ihr Leuchten, ihr Strahlen – so<br />

sehr, dass man wirklich glaubt, die Sonne ginge auf.<br />

„Ist das nicht wunderbar? Das war eine Entdeckung, dieses<br />

Terzett, und es wird nie gespielt. Ich bin verantwortlich, dass diese<br />

Musik öffentlich gespielt wird. Kein Veranstalter hat es im Programm.<br />

Ich hoffe, dass sich bald mehr trauen, das zu präsentieren.<br />

Und ich bin sicher, das Publikum wird es genießen. Die Konzerte,<br />

die ich damit noch geben konnte, stießen bei allen auf Begeisterung.<br />

Der arme Beethoven! Er hat durch Corona seinen Geburtstag verpasst.<br />

Egal wie schwierig diese Zeit ist – wichtig ist zu wissen: Alles<br />

wird gut. Und auch morgen wird die Sonne wieder scheinen, ob wir<br />

wollen oder nicht. Die Welt geht weiter, und ich glaube, das gilt auch<br />

für die Musikwelt. Ich bin ein optimistischer Mensch. Auch wenn<br />

manche denken, wir Künstler seien irrelevant – nicht nur die Musik<br />

von Beethoven hat 250 Jahre überlebt. Es gibt so viele Menschen die<br />

dafür brennen. Wer das irrelevant findet, ist schon verloren.“ n<br />

Ludwig van Beethoven: „Immortal<br />

Beloved“, Chen Reiss (Onyx)<br />

Mahler: Symphonie No. 2 „Resurrection“,<br />

Chen Reiss, Tamara Mumford, Gustavo<br />

Dudamel (unitel)<br />

26 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


ÜBER DIE OHREN<br />

IN DEN KÖRPER<br />

Beethoven ist für Arash Safaian kein Halbgott auf einem unerreichbaren Sockel.<br />

Mit ungewöhnlichen Variationen seiner Stücke will er den berühmten Komponisten<br />

nicht nur dem klassischen Publikum näherbringen.<br />

VON CORINA KOLBE<br />

E<br />

in Plattenladen in Teheran,<br />

nach Beethoven benannt, weckte<br />

Arash Safaians Neugier auf Musik. Auf<br />

allen Hüllen fiel dem Kind der charakteristische<br />

Kopf des Komponisten auf.<br />

„Mein Vater spielte mir eine Aufnahme<br />

des Dritten Klavierkonzerts mit Sviatoslav<br />

Richter vor. Das ist meine erste bewusste<br />

Erinnerung an Musik“, sagt Safaian, der<br />

schon früh Kompositionsunterricht nahm.<br />

Mit seinen eigenen Stücken, darunter<br />

Opern und Filmmusiken, versucht er<br />

heute in vieler Hinsicht, Grenzen zu überschreiten.<br />

Wobei der Umzug aus dem Iran<br />

nach Bayern für die Familie keinen allzu<br />

großen Kulturschock bedeutete. „Intellektuellen<br />

in Teheran sind Goethe, Heidegger<br />

oder Grass ebenso geläufig wie die Dichter<br />

Rumi, Saadi und Tagore“, sagt er. „Verschiedene<br />

Ursprünge vermischen sich zu<br />

einer globalen Kultur. Die mystische Weltsicht<br />

des Orients finde ich auch in der<br />

europäischen Kunstmusik wieder. Sie ist<br />

für mich Ausdruck einer Einheit von<br />

Mensch und Natur.“<br />

Komponist<br />

Arash Safaian<br />

will Offenheit<br />

in alle<br />

Richtungen<br />

Sein Vater, der Maler und Bildhauer Ali Akbar Safaian, führte<br />

ihn an die Musik wie an die Kunst gleichermaßen heran. Zunächst<br />

ging er an die Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, danach<br />

an die Hochschule für Musik und Theater in München. „Das Kompositionsstudium<br />

hat mich in künstlerischer Hinsicht noch mehr<br />

provoziert. Die Freiräume für Experimente sind größer als in der<br />

Instrumentalausbildung“, erklärt er. „Letztlich geht es doch darum,<br />

was ein junger Komponist selbst mit seiner Musik ausdrücken<br />

will. Es sollte eine Offenheit in alle Richtungen geben, nicht<br />

nur für rein akademische Diskurse, sondern auch für narratives<br />

Formulieren.“<br />

Zu Philip Glass’ legendärem Musiktheaterwerk Einstein on the<br />

Beach schrieb Safaian die Kurzoper On the Beach. <strong>20</strong>12 wurde sie<br />

in der Regie von Robert Wilson in New York uraufgeführt. Die Oper<br />

Der Schuss 2–6‐1967 kam zum 50. Todestag von Benno Ohnesorg<br />

in Berlin auf die Bühne. Für Jan-Ole Gersters Film Lara schrieb er<br />

die Filmmusik und eigens ein Klavierkonzert, von dem eine Aufnahme<br />

mit der Pianistin Alice Sara Ott erschien. „Als Komponist<br />

will ich Geschichten erzählen und Emotionen zum Ausdruck bringen.<br />

Ich möchte nicht verstören, sondern berühren“, sagt er. „Meine<br />

FOTO: GREGOR HOHENBERG:<br />

Musik soll über die Ohren in den Körper<br />

eines anderen Menschen eindringen.<br />

Zuhörer sollen sich in ihr verlieren<br />

können.“<br />

Safaian spricht lieber von „Kunstmusik“<br />

als von „klassischer“ Musik. Letzteres<br />

sei ein begriffliches Konstrukt, das<br />

die Musik in eine Schublade verbanne.<br />

„Man verbindet damit einen Ernst, der<br />

viele Leute abschreckt. Die große Kraft<br />

der Kunstmusik liegt doch im empathischen<br />

Moment. Da fließen auch Elemente<br />

der Popkultur ein. Wenn man keine<br />

künstlichen Grenzen absteckt, entstehen<br />

immer neue Kombinationen. Nur so kann<br />

sich Kunst weiterentwickeln.“<br />

Mit dem Pianisten Sebastian Knauer,<br />

der norwegischen Geigerin Eldbjørg<br />

Hemsing und dem Zürcher Kammerorchester<br />

hat er jetzt ein Album mit Variationen<br />

über Werke von Beethoven realisiert.<br />

Knauer hatte die Komposition in<br />

Auftrag gegeben. Vorher hatten sie gemein<br />

sam den ebenfalls auf CD erschienenen<br />

Konzertzyklus ÜberBach konzipiert. Ausgangspunkt der Beethoven-<br />

Variationen sind etwa das Allegretto der Siebten Sinfonie oder die<br />

Mondscheinsonate. „Ich habe an so etwas wie Bilder einer Ausstellung<br />

über Beethoven gedacht“, erklärt Arash Safaian. Modest Mussorgski<br />

hatte sich zu seinem Klavierzyklus durch Gemälde und Zeichnungen<br />

anregen lassen. Safaian bezieht sich auf den antiken Torso vom<br />

Belvedere, dessen fragmentarische Gestalt er als besonders modern<br />

begreift. Eigenwillig ist auch seine Verbindung zwischen der Formensprache<br />

Beethovens und dem Barcelona-Pavillon des Architekten<br />

Mies van der Rohe auf der Weltausstellung 1929.<br />

Der CD-Titel This is (not) Beethoven wirkt doppeldeutig wie ein<br />

Bild von René Magritte. „Man muss die Dinge genau betrachten, um<br />

sie verstehen zu können“, meint Safaian. „Wenn man Beethoven feiert,<br />

sollte man ihn vor allem als Erneuerer sehen, der das Menschliche der<br />

Musik ins Zentrum gerückt hat. Er hätte es<br />

gewollt, dass heute mehr Stücke lebender Komponisten<br />

gespielt werden. Denn sie sprechen<br />

unmittelbar zu den Menschen ihrer Zeit.“ n<br />

Arash Safaian: „This is (not) Beethoven“, Sebastian Knauer<br />

(Modern Recordings)<br />

27


K Ü N S T L E R<br />

„MEINE MISSION:<br />

DEN HORIZONT<br />

ERWEITERN“<br />

Lisa Batiashvili widmet sich auf ihrem neuen Album „City Lights“ elf Städten,<br />

die einen künstlerisch prägenden Einfluss auf ihre Entwicklung nahmen.<br />

VON RÜDIGER STURM<br />

Sibelius, Bach, Beethoven – das sind die Komponisten,<br />

die sich in der Diskografie der Geigerin<br />

Lisa Batiashvili finden. Mit „City Lights“ erweitert sie ihr Repertoire<br />

um verblüffende neue Arrangements – von alten deutschen Schlagern<br />

bis zu Filmmusiken von Chaplin und Morricone. Für sie ist<br />

dieser Schritt nur konsequent. Und so streicht sie auf ihrer Geige<br />

von Paris nach München und Berlin. Weitere Stationen: Helsinki,<br />

Wien, Rom, Buenos Aires, New York, London und Bukarest.<br />

Schließlich Tiflis, die Geburtsstadt von Lisa Batiashvili. Elf Städten<br />

also widmet sie dieses Album. Zufällig aber ist die Auswahl nicht<br />

– es sind all jene Orte, die einen künstlerisch prägenden Einfluss<br />

auf ihre Entwicklung nahmen. Zu den Musikern, die ihr dabei<br />

Jede Stadt hat ihren eigenen Sound,<br />

findet Geigerin Lisa Batashvili<br />

begegneten, gehören die Sängerin Katie Melua, der Trompeter Till<br />

Brönner, die Gitarristen Miloš Karadaglić und Zurab Melua, der<br />

Cellist Maximilian Hornung und der Komponist, Pianist und Chefdirigent<br />

der Georgischen Philharmoniker, Nikoloz Rachveli. Und<br />

obwohl die zweifache ECHO-Preisträgerin hier die Städte ihres<br />

Lebens feiert – Reisen ist ist definitiv nicht ihre Passion.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Als viel gefragte Klassikkünstlerin sind Sie es<br />

gewohnt, auf Tour zu sein. Dieses Jahr aber mussten Sie lange<br />

Zeit darauf verzichten. War das schlimm?<br />

Lisa Batiashvili: Nein, ich bin kein großer Fan des Reisens. Wenn<br />

man ständig unterwegs ist, fehlt einem die Zeit für so viele Dinge.<br />

Andererseits feiern Sie in Ihrem Album „City Lights“ Städte<br />

FOTO: ANDRÉ JOSSELIN<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


auf der ganzen Welt, die in Ihrem Leben eine wichtige Rolle<br />

spielten. Wie passt das zu Ihrer Reiseunlust?<br />

Es geht hier um ihre Einflüsse auf mich und meine künstlerischen<br />

Erfahrungen. Ja, diese Städte waren und sind alle sehr wichtig.<br />

Aber es gibt eben auch den gewöhnlichen Alltag einer Musikerin.<br />

Wenn man jede Woche seinen Koffer ein- und auspacken muss,<br />

verändert sich das Leben permanent. Das gilt für mich wie für<br />

meinen Ehemann, der Oboist ist. Dabei reise ich weniger als viele<br />

meiner Kollegen. Meine zwei Kinder brauchen die tägliche<br />

Routine, die ein Gefühl von Zuhause schafft. Das kann man nicht<br />

vorspielen. Dafür muss man physisch anwesend sein.<br />

Also bleibt es vorerst bei Ihrer musikalischen Weltreise auf<br />

„City Lights“. Sie leben in München. Aber wo ist eigentlich Ihr<br />

emotionales Zuhause?<br />

Ich habe mehrere Orte, an denen ich mich daheim fühle. Das<br />

fängt natürlich an mit meiner georgischen Heimatstadt Tiflis, die<br />

ich mit meiner Kindheit verbinde. Meine musikalische Ausbildung<br />

erhielt ich vor allem in Deutschland. Letztlich aber bin ich<br />

dort daheim, wo meine Familie lebt. Und da ich mit einem<br />

Franzosen verheiratet bin und meine Kinder folglich halb<br />

französisch sind, fühle ich mich<br />

sehr zu Hause, wenn ich mit<br />

„ROM GIBT MIR EIN<br />

EINZIGARTIGES<br />

GEFÜHL, DIESE STADT<br />

NÄHRT MEINE SEELE“<br />

Franzosen zusammen bin. Kurz<br />

gesagt: Europa ist mein Zuhause.<br />

Welche der Städte, denen Sie<br />

die einzelnen Kompositionen<br />

widmen, besitzen einen<br />

besonderen persönlichen<br />

Stellenwert für Sie?<br />

Mein früherer Wohnort Berlin.<br />

Und natürlich Tiflis als die erste<br />

Stadt meines Lebens. Schließlich<br />

Rom. Das ist der einzige Ort, an dem ich gerne Zeit als Tourist<br />

verbringe. Normalerweise bin ich ein ziemlich schlechter Tourist,<br />

weil ich immer schnell wieder nach Hause will. Aber in Rom<br />

genieße ich die Zeit. Diese Stadt gibt mir ein einzigartiges Gefühl,<br />

sie nährt meine Seele, obwohl ich nie dort gelebt habe. Aus<br />

meiner Sicht ist sie das Heim aller Europäer. Denn sie verkörpert<br />

so etwas wie die Essenz des menschlichen Daseins.<br />

Und welche Stadt ist für Sie in musikalischer Hinsicht besonders<br />

wichtig?<br />

New York. Ich habe hier zum ersten Mal mit 23 Jahren gespielt,<br />

seither kehre ich regelmäßig dorthin zurück, mitunter mehrmals<br />

im Jahr. Es hat mich so glücklich gemacht, meine Musik mit dem<br />

Publikum dort zu teilen. Das war und ist etwas Besonderes.<br />

Auf Ihrem Album interpretieren Sie unter anderem Michel<br />

Legrand, den großen französischen Filmkomponisten und<br />

Songschreiber. Doch sein Werk liegt fern Ihrer musikalischen<br />

Heimat, der Klassik.<br />

In der Tat habe ich bislang nie etwas von ihm gespielt. Aber jede<br />

große Musik besitzt eine große Kraft, mit der sie die Menschen<br />

erreicht, egal ob Klassik oder Pop. Das ist die Gabe wunderbarer<br />

Melodien. Ja, ich konzentriere mich mehr auf das klassische<br />

Repertoire, aber ich sehe meine Mission darin, meinen Horizont<br />

zu erweitern und etwas Neues auszuprobieren. Selbst in der<br />

Klassik bin ich auf der Suche, ob ich mir nun Barockmusik oder<br />

moderne Musik erschließe.<br />

Sehen Sie nicht eine gewisse Ironie darin, dass Sie auf Ihrem<br />

Album zwischen Bach, Legrand oder deutschen Schlagerkomponisten<br />

wie Ralph Maria Siegel wechseln?<br />

Welche Ironie? Für mich ist das ein harmonischer Übergang<br />

zwischen verschiedenen Stilrichtungen insbesondere innerhalb<br />

der europäischen Musik. Ausgangspunkt war für mich die Musik<br />

zu den Filmen Charlie Chaplins. Nur wenige wissen, dass er den<br />

Großteil seiner Soundtracks selbst komponiert hat. Ich habe seine<br />

Filme und seine Musik immer geliebt, aber ich habe nie Arrangements<br />

gefunden, die ich hätte spielen wollen. Bis dann mein<br />

langjähriger Freund, der Komponist und Pianist Nikoloz<br />

Rachveli, ein erstes Arrangement schuf, von dem ich fasziniert<br />

war. Er änderte die Rhythmen, aber das Thema konnte man noch<br />

heraushören. Als wir das mit dem Orchester spielten, bereitete<br />

mir das so großes Vergnügen, dass wir beschlossen, uns einzelnen<br />

Städten musikalisch zu widmen.<br />

Auf dem Album interpretieren Sie auch noch eine andere, neu<br />

arrangierte Filmmusik – eine Komposition Ennio Morricones<br />

zu Cinema Paradiso. Wie stark hat Sie das Kino geprägt?<br />

Man darf nicht vergessen, dass ich meine ersten zwölf Lebensjahre<br />

auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion verbrachte. Das heißt,<br />

dort gab es nicht alles zu sehen. Aber als Kind schaute ich mir viele<br />

französische Filme an, darunter auch Komödien mit Louis de<br />

Funès und Pierre Richard. Im Fernsehen lief immer Chaplin. Das<br />

waren Monumente für uns. Jeder schaute sich das an und sprach<br />

darüber. Die Emotionen, die ich damals empfand, bewegen mich<br />

noch heute – auch als ich zum ersten Mal Cinema Paradiso sah.<br />

Nicht zuletzt, weil sie stark mit Musik verbunden waren.<br />

Mit den Interpretationen dieser Musik bewegen Sie sich auf<br />

Neuland. Glauben Sie, dass Ihr Stammpublikum Ihnen dahin<br />

folgen wird?<br />

Das Publikum heutzutage ist viel aufgeschlossener als vielleicht<br />

vor 15 Jahren. Ich bin ja bei Weitem nicht die erste und einzige<br />

Klassikkünstlerin, die hier Neues versucht und Grenzen überschreitet.<br />

Die Herausforderung besteht doch darin, das auf<br />

höchstem Geschmacksniveau und mit innovativer Herangehensweise<br />

zu tun. Ansonsten wird nur wiederholt, was andere schon<br />

gemacht haben. Die Herausforderung bei diesem Projekt bestand<br />

darin, dass wir etwas Neues mit eigenem Stil schaffen mussten.<br />

Dafür brauchte es auch gute Arrangeure und Gastinterpreten, die<br />

es mit ihren Persönlichkeiten inspirieren. Hätte ich sie nicht<br />

gehabt, wäre das Resultat ganz anders ausgefallen und ich hätte<br />

mich nicht so sehr damit identifizieren können.<br />

War Ihre Plattenfirma sofort von diesem innovativen Konzept<br />

angetan? Oder brauchte es da Überzeugungsarbeit?<br />

Zum Glück hat mir die Deutsche Grammophon vertraut, dafür<br />

bin ich sehr dankbar. Man gab das ganze Projekt komplett in<br />

meine Hände, was für mich einerseits zwar sehr viel Arbeit<br />

bedeutet hat, andererseits aber konnte ich auf diese Weise genau<br />

meine Vision umsetzen. Der Weg zu diesem Album war eben<br />

sehr persönlich, ich ging im kreativen Prozess ganz und gar auf.<br />

Es ist aber auch nicht das erste Mal, dass sich mein Label über das<br />

Klassikrepertoire hinauswagt.<br />

Man hofft also auf einen Crossover-Erfolg?<br />

Dieses Album hat die Chance, ein neues Publikum zu erreichen<br />

und die Menschen zu überraschen, weil sie das nicht von mir<br />

erwarten. Abgesehen davon gibt es ja so viele Einspielungen.<br />

Wenn man als Interpret etwas präsentiert, dann sollte es mit<br />

einem persönlich zu tun haben. Aus dem Grund nehme ich auch<br />

nicht so viele Alben auf. Ich warte lieber bis zu dem Moment, an<br />

dem ich etwas Besonderes für mich entdecke. Das ist wie bei<br />

einem großen Popkünstler. Der macht nicht einfach nur ein<br />

Album, sondern verbringt mehrere Monate im Studio. Als<br />

Klassikkünstler denkt man sich: „Was macht der nur die ganze<br />

Zeit? Ich habe da nur ein paar Tage für<br />

meine Aufnahme.“ Der Grund ist: Es geht<br />

hier eben um viel mehr, als nur bekanntes<br />

Repertoire neu einzuspielen.<br />

n<br />

„City Lights“, Lisa Batiashvili, Georgian Philharmonic<br />

Orchestra, Nikoloz Rachveli (DG)<br />

29


RATWURST STATT BAYREUTH! ES IST BALLA-BALLA-SAI-<br />

ON DER SALZBURGER H ÖSONDERWEG R E N & S E H E N UND DIE FRAGE:<br />

BEN ODER FAULENZEN? LAGERKOLLER UND CHANCE<br />

ÜR DIE ZUKUNFT KULTUR STATT KLOPAPIER! VOLLE IM IN-<br />

ERVIEW SIEGFRIED, ICH GLAUB’ MEIN STUHL QUIETSCHT!<br />

IKOLAUS ALLEIN ZU HAUS UND ANDERE ABSURDITÄTEN<br />

ETREBKO WIRD TEURER GEHÖRT GELESEN HALLE<br />

ANDELT UND PINKELN MIT LISZT SEX-VIRUS, HYSTERIE-<br />

RIPPE UND KOSTEN-INFLUENZA VON VIREN, WAHN-<br />

INN UND VILLAZÓNS ZAUBERFLÖTE VON TYRANNEN<br />

IE KLASSIKWOCHE<br />

ND KLASSIK-KATZEN WER NERVT? WER IST DIESER BAREN-<br />

OIM? UND WER MUSS MAL? PARASITEN, PANDEMIE UND<br />

ARADEBEISPIELE DOMINGO SPRINGT IN‘S LEBEN, THIE-<br />

EMANN HÜPFT JETZT KOSTENLOS ABONNIEREN<br />

ACH RECHTS – UND LEVIT GIBT DEN SCHMERZENSMANN<br />

ETREBKO IN DER URHEBERFALLE, UND ONANIEREN<br />

IT LEVINE RELEVANZ STATT ARROGANZ! EINE UNTER<br />

WW.<strong>CRESCENDO</strong>.DE HOMMAGE AN EUCH ALLE!<br />

ON IRRUNGEN UND WIRRUNGEN ALTER MÄNNER<br />

AYREUTH-WUT, SALZBURG-EUPHORIE UND LONDONER<br />

ROMS-FREUDE WAHNSINN UND WÜRSTCHEN PAVA-<br />

OTTIS GEHEIMNISSE FESTIVAL-THEORIE: KLEIN SCHLÄGT<br />

ROSS? ABER „GRUNDSÄTZLICH VERSTEHEN WIR SIE!“ EINE<br />

OMMAGE AN EUCH ALLE! ES GEHT WIEDER LOS, ABER<br />

S IST NOCH NICHT VORBEI MEHR VIBRATOR, BITTE! DER<br />

ALZBURGER SONDERWEG UND DIE FRAGE: ÜBEN ODER<br />

AULENZEN? HOFFNUNG, UNTERHALTUNG – ABER AUCH<br />

BSAGEN UND STILFRAGEN VON SCHIFF, LEVIT SOWIE<br />

URRENTZIS IHRE HILFE, DOMINGO IM KRANKENHAUS<br />

ND DAS BESTE IM NETZ IN SALZBURG MÄDCHEN MIT<br />

NABEN UND BACHLER OHNE THIELEMANN UND HAN-<br />

ELN, SOWIE HELFEN, NEUDENKEN OSTER-SCHLAMM-<br />

CHLACHT THEATER-ANGRIFF DER AFD WER NERVT? WER<br />

ST DIESER BARENBOIM? ALLES ÜBER DIE AKTUELLE<br />

ELT DER KLASSIK JEDEN MONTAG PER MAIL<br />

ND WER MUSS MAL? ALLERLEI AUS ZÜRICH UND SCHWEI-<br />

EREI VON MOZART HEINOS KLASSIK-DROHUNG, NE-<br />

REBKOS SCALA-FEST UND GRIGOLOS ABGESANG VON<br />

AGNERIANERN UND MOZART-IGNORIEREN FAX AN<br />

UTTER 30 UND SOLIDARITÄT FÜR FISCHER w w w . c r eWAGNERS s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> WAG-<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong><br />

ER UND HINTERHÄUSERS SALZBURG DIE GROSSE CA-


K Ü N S T L E R<br />

„SCHÄTZE AUS DEM BERGWERK“<br />

Stefan Sell hat bekannte Werke neu für die Gitarre komponiert.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Stefan Sell wendet sich auf seinem<br />

Album „BestSELLers“<br />

bekannten Werken vom<br />

Barock bis zur Klassik zu. Er<br />

ist dem Bestreben der jeweiligen<br />

Komponisten einfühlsam gefolgt,<br />

hat sich in ihre Musik vertieft und<br />

sie behutsam und ausdrucksstark<br />

neu für die Gitarre komponiert.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Alexander Kluge<br />

schreibt vom Baustellencharakter<br />

des Poetischen. Die Literatur der<br />

Vergangenheit betrachtet er als<br />

Material für die Gegenwart. Teilen<br />

Sie diese Sicht?<br />

Stefan Sell: Ich liebe die Vorstellung<br />

des Schöpfens. Die Romantik kennt das Bild des Bergwerks. Der<br />

Poet begibt sich in ein Bergwerk und holt die Schätze hervor. Das<br />

impliziert, dass die Dichter keine Skrupel hatten, sich am Vorhandenen<br />

zu bedienen. Bereits bei Shakespeare findet man das. Alle<br />

seine Stücke beruhen auf Vorlagen anderer. Man kann sich nicht<br />

etwas völlig Neues ausdenken. Schöpferische Tätigkeit besteht darin,<br />

aus dem Vorhandenen zu schöpfen. Auf diesem Weg aber entsteht<br />

tatsächlich etwas Neues und Individuelles.<br />

Auf Ihrem Album „BestSELLers“ spielen Sie bekannte Werke aus<br />

verschiedenen Epochen, die man – abgesehen von Bachs Bourrée<br />

– nicht mit der Gitarre in Verbindung bringt. Worin bestand für<br />

Sie die Herausforderung bei dem Projekt?<br />

Wir klassischen Gitarristen haben dieses Repertoire nicht. Was ihre<br />

Qualität angeht, ist die klassische Gitarre ein ausgereiftes Instrument.<br />

Was dagegen die Quantität der Werke betrifft, kann man sie<br />

vernachlässigen. Diese Diskrepanz hat mich immer beschäftigt, und<br />

ich habe mich gefragt, warum wir diese Stücke nicht auch spielen<br />

sollten. Es gibt sie alle für Gitarre. Doch haben mir diese Transkriptionen<br />

nie gereicht. So lag die Herausforderung darin, diese Stücke<br />

so zu spielen, wie es nur auf der Gitarre möglich ist. Und mit dieser<br />

Vorstellung, auf der Gitarre etwas Neues und Eigenes zu schaffen,<br />

nahm ich das Projekt in Angriff.<br />

Wie nahe versuchen Sie, an den Originalen zu bleiben?<br />

Sehr nahe. Ich habe zehn Jahre an diesem Projekt gearbeitet, weil<br />

ich nicht nur die jeweilige Melodie herausholen wollte, sondern in<br />

die Tiefe gegangen bin, um alles abzubilden, was im Original zu<br />

finden ist. Wie bei einer Übersetzung in eine andere Sprache übernahm<br />

ich die Klangbilder des Originals nicht Ton für Ton – ich<br />

schuf ein neues Klangbild. Die Lücken, die unvermeidlich entstanden,<br />

wenn man für nur sechs Saiten schreibt, schloss ich, indem ich<br />

mich in den jeweiligen Komponisten versenkte. So entlehnte ich<br />

etwa für Schuberts Ave Maria eine perlende Sequenz aus der Forelle.<br />

Wie relevant ist die Improvisation dabei?<br />

Ich habe mir diese Stücke regelrecht erspielt. Wie ein Bildhauer legte<br />

ich etwas frei und korrigierte es immer wieder. Improvisation spielte<br />

eine wichtige Rolle. Aus der ständigen Wiederholung tauchten immer<br />

wieder neue Ideen auf. Dann aber setzte ich mich ans Notenpapier<br />

und legte alles fest. So gibt es von all diesen Stücken auch einen<br />

Notentext. Und man kann sie auf keinem anderen Instrument spielen,<br />

FOTO: MANFRED POLLERT<br />

weil ich bewusst typische Techniken<br />

der Gitarre verwendet habe.<br />

Hans Werner Henze meint, um die<br />

Gitarre zu verstehen, müsse man<br />

in die Stille zurückzukehren. Was<br />

fasziniert Sie am Gitarrenklang?<br />

Ich stimme Henze aus vollem Herzen<br />

zu. Man muss in die Stille zurückgehen,<br />

um die Gitarre zu hören, und<br />

als Künstler muss man in die Stille<br />

gehen, um in sich hineinzuhören.<br />

Als ich diese Stücke komponierte,<br />

lauschte ich intensiv in mich hinein,<br />

was ich während meines Spiels noch<br />

hören kann. So kommt es, dass die<br />

Stücke so unterschiedliche Stilmittel<br />

enthalten wie etwa den Flamenco. An einer Stelle lasse ich sogar die<br />

Beatles aufleuchten. Diese Verwandtschaft zu anderen Stücken hatte<br />

ich plötzlich während des Spielens gehört. Wenn ich solche Elemente<br />

dann aber einbringe, möchte ich laut werden können. So hört man<br />

auf dem Album neben den feinen, leisen auch extrem laute Stellen.<br />

Dieses Laut-werden-Können reizte mich. Denn damit kann ich die<br />

gesamte Bandbreite bespielen.<br />

Trotz des „leisen Klangs“ der Gitarre findet sich in Ihrer Auswahl<br />

auch ein so gewaltiges Werk wie Beethovens Neunte Sinfonie ...<br />

Dieses Stück ist von allen tatsächlich am weitesten vom Original<br />

entfernt. Da sind nur noch die Melodie und die Grundharmonieführung<br />

geblieben. Ich habe es sogar so angelegt, als wäre es ein<br />

Lied, das ich auf der Gitarre begleite. Im Unterschied zu einer<br />

Klavierbegleitung, für die man sich viele Umkehrungen und Variationen<br />

einfallen lassen muss, geht es bei der Gitarrenbegleitung<br />

nur darum, möglichst lange konstant einen Akkord zu halten.<br />

Diesen typischen Effekt, der die Gitarre auch so populär werden<br />

ließ, habe ich verwendet. Ich habe die Beethoven-Melodie zu einem<br />

Song in der Art eines Jazz-Songs oder einer Bossa Nova<br />

umgestaltet.<br />

Für das Album haben Sie eine spezielle Aufnahmetechnik angewandt.<br />

Was wollten Sie damit erreichen?<br />

Unmittelbarkeit. Die klassische Aufnahme erfolgt in einem Raum<br />

mit großer Resonanz und einem Kondensator-Mikrofon, das den<br />

Gesamtklang des Raumes gezielt auf die Gitarre wahrnimmt.<br />

Dadurch klingt eine klassische Gitarrenaufnahme immer ein wenig<br />

wie von fern. Mir war es wichtig, nicht zu kaschieren, also auch<br />

meinen Atem und alle Klopf- und Kratzgeräusche mit aufzunehmen.<br />

Musik ist ein flüchtiges Element. Sie klingt immer anders. Und diese<br />

Flüchtigkeit wollte ich einfangen. Darum verwenden wir diese vier<br />

Manger-Spalt-Mikrofone, die den Klang 360 Grad um die Gitarre<br />

herum aufnehmen, sodass beim Hörer der Eindruck entsteht, als<br />

würde er selbst an der Gitarre sitzen. n<br />

Stefan Sell: „BestSELLers refreshed for guitar“<br />

(Ears Love Music)<br />

Abonnieren Sie jetzt <strong>CRESCENDO</strong> und wir<br />

schenken Ihnen als exklusive Prämie dieses<br />

außergewöhnliche Album von Stefan Sell.<br />

31


K Ü N S T L E R<br />

„ALS ICH DIE ARIA GESPIELT HABE, WAR DAS,<br />

ALS HÄTTE ICH IM HIMMEL GESPIELT“<br />

TIEF IN DER WELT UND<br />

HOCH IM HIMMEL<br />

Der Pianist Lang Lang hat sich intensiv mit Bach und den<br />

Goldberg-Variationen auseinandergesetzt, um sie geschichtsträchtig in<br />

der Leipziger Thomaskirche zu präsentieren. Und war auf seiner Reise<br />

in die Barockzeit sowohl emotional als auch intellektuell gefordert.<br />

VON MARGARETE ZANDER<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in<br />

der Thomaskirche die Stufen zum Flügel hochgegangen<br />

sind, um die Goldberg-Variationen auf der Altarempore,<br />

direkt vor dem Grab von Johann Sebastian Bach zu spielen?<br />

Haben Sie das Publikum wahrgenommen?<br />

Lang Lang: Ich habe das Publikum gesehen, ja, aber ich war sehr<br />

konzentriert und hatte das Gefühl, Bach ist direkt neben mir, weil<br />

sein Grab genau dort ist. Das war sehr emotional.<br />

Sie haben die Goldberg-Variationen auswendig gespielt. Die<br />

Atmosphäre im Konzert wurde immer dichter. Die Magie war<br />

im Publikum irgendwann geradezu greifbar.<br />

Das Stück dauert ja mit allen Wiederholungen eine Stunde und<br />

30 Minuten, und dabei führt es einen ganz langsam immer tiefer<br />

in die Welt von Bach. Ich spüre, wie das Publikum beim Hören<br />

tiefer und tiefer einsteigt, vor allem, wenn die Kadenz wiederkehrt.<br />

Bei der Variation Nummer 13 – sie ist in gewisser Weise der erste<br />

Höhepunkt der Variationen – taucht das Publikum wirklich in<br />

eine ganz andere Welt ein. Noch intensiver wird die Reise in der<br />

Variation 25. Das ist der absolut wichtigste Augenblick des<br />

Stücks. Danach entwickelt sich immer stärker eine Art Feuerwerk.<br />

Nach der Variation 30 folgt der Teil, den wir „Familiensong“<br />

nennen – ein Familientreffen innerhalb der Variationen.<br />

Da habe ich während des Konzerts zum ersten Mal nach links<br />

geschaut, auf das Grab von Bach. Mir kamen die Tränen, weil das<br />

so echt war, so emotional. Als ich am Ende schließlich die Aria<br />

gespielt habe, war das, als hätte ich im Himmel gespielt.<br />

Familientreffen heißt, hier ist die Zeit um Bach präsent, seine<br />

Söhne, seine Schüler? Sind die Goldberg-Variationen für Sie<br />

also eine Art Zeitreise in die Epoche des Barock?<br />

Ja, eine echte Zeitreise. Ich war in Arnstadt, habe außerdem einen<br />

ganzen Tag in Leipzig mit dem wunderbaren Michael Maul<br />

verbracht, einem Bach-Archivar (Prof. Dr. Maul ist Intendant des<br />

Leipziger Musikfestes und wissenschaftlicher Mitarbeiter des<br />

Bach-Archivs, Anm. der Red.). Sowohl in Arnstadt als auch in<br />

Leipzig in der Thomaskirche habe ich Bachs Orgeln kennengelernt.<br />

In beiden Städten konnte ich Bachs Fußstapfen geradezu spüren<br />

und bin auf meiner Tour durch die Museen ihm und seinen<br />

persönlichen Geschichten begegnet. Sein Manuskript zu sehen,<br />

sein Wohnzimmer – all das war wirklich eine Reise in seine Zeit.<br />

Wann haben Sie die Goldberg-Variationen erstmals gespielt?<br />

Als ich zehn Jahre alt war. Damals habe ich die Aufnahme von<br />

Glenn Gould aus dem Jahr 1982 gehört. Ich habe als Kind viel<br />

Bach gespielt und damals schon festgestellt, dass die Goldberg-<br />

Variationen etwas ganz anderes sind. Dass man, um wirklich in<br />

dieses Stück einzudringen, viel mehr Hürden nehmen muss. Bach<br />

zeigt darin einfach alles, was ein Pianist auf seinem Instrument<br />

machen kann. Er hat all sein Wissen hineingelegt und viele<br />

zukunftweisende Techniken der Musiktheorie ausprobiert.<br />

Aber ich war ja noch ein Kind und konnte mir absolut nicht<br />

vorstellen, wie die Stadt ausgesehen hat und wie Bachs Leben<br />

wohl gewesen ist – die vielen Kinder, die große Familie, ständig<br />

Musik … So wusste ich auch nicht, dass er als Teenager einen<br />

Degen bei sich trug und auf dem Markt in Arnstadt eine lebensgefährliche<br />

Auseinandersetzung hatte. Ich hatte keine Ahnung,<br />

wie er war. Das hat sich mit meinen Reisen nach Leipzig geändert!<br />

<strong>20</strong>03 war ich bei meinem ersten Besuch in Leipzig in seinem<br />

Museum. Und natürlich war ich schon damals sehr ergriffen, als<br />

ich auf seinem Cembalo mit dem Original-Manuskript einige<br />

Goldberg-Variationen gespielt habe. Das hat mich tief bewegt.<br />

Seither ist viel passiert. Zu Ihren wichtigsten musikalischen<br />

Momenten gehört wohl die Aufnahme der Klavierkonzerte von<br />

Mozart mit Nikolaus Harnoncourt. Danach haben Sie<br />

geschwärmt, der Maestro habe Ihr Weltbild in Bezug auf die<br />

Aufführungspraxis der klassischen Musik stark verändert. Er<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Lang Lang – vertieft in die<br />

Goldberg-Variationen<br />

FOTO: OLAF HEINE<br />

33


lud Sie dann zu sich ins Attergau<br />

ein. Haben Sie mit ihm<br />

nur über Mozart gesprochen<br />

oder auch über Bach?<br />

Natürlich! Ich habe Bach<br />

damals nicht auf dem<br />

Cembalo gespielt, sondern auf<br />

dem Hammerklavier, weil<br />

Harnoncourt die historischen<br />

Instrumente für Mozart hatte.<br />

Er hat mich eingeladen, für<br />

ihn Goldberg-Variationen zu<br />

spielen. Ich spielte die Aria,<br />

die Variationen 13, 25 und 15.<br />

Und er meinte: „Kannst du<br />

daraus echte Kunst auf dem<br />

Hammerklavier für mich<br />

machen statt nur einer Übung<br />

von einem sehr trockenen,<br />

farblosen Bach?“ Diese Frage machte mir klar: Was ich in Bach<br />

gefunden hatte, war zu akademisch. Maestro Harnoncourt wollte<br />

mich ermutigen, mit den Charakteren zu spielen: die Einsamkeit<br />

in seiner Aria zu fühlen, den unglaublich expressiven Gefühlen<br />

im Adagio und in der Variation 13 Raum zu geben, damit die<br />

Musik herausströmt und nicht in meinem Herzen verborgen<br />

bleibt. So macht es mir wahnsinnig Freude, Bach zu spielen.<br />

Vorher habe ich, wenn ich an Bach gedacht habe, meinem Herzen<br />

und meinem Verstand immer einen engen Rahmen gesetzt,<br />

immer versucht, weniger Pedal zu nehmen, weniger Rubato,<br />

weniger Farbe – alles weniger. Mit seinem Blick hat Harnoncourt<br />

meine Gedanken darüber, was barocke Gestaltung ist, befreit.<br />

Nikolaus Harnoncourt ist <strong>20</strong>16 gestorben. Als Sie sich entschlossen,<br />

die Goldberg-Variationen wieder ins Programm zu<br />

nehmen, sind Sie immer wieder zu Andreas Staier gegangen.<br />

Der Spezialist für verschiedene Tasteninstrumente hat die<br />

Goldberg-Variationen selbst in einer fantastischen Interpretation<br />

auf dem Cembalo veröffentlicht und hat in seinem Studio<br />

neben einem modernen Flügel eine Sammlung von Cembali<br />

und Hammerklavieren. Was wollten Sie von ihm lernen?<br />

Schlicht und einfach den barocken Stil von Grund auf. Ich arbeite<br />

ohnehin gern mit großartigen Musikern an Bach, aber hier habe<br />

ich einige sehr spezielle Lektionen gebraucht. Barockmusik ist ja<br />

ganz anders als die Musik der Klassik oder der Romantik. Und mir<br />

gehen viele Fragen im Kopf herum. Die Antworten darauf habe ich<br />

nie ganz genau gekannt. Andreas aber spielt nicht nur gut, er kann<br />

auch sehr gut erklären, warum etwas so oder so ist: Das gehört zur<br />

französischen Verzierungstechnik, das zur italienischen. Was<br />

bedeutet diese Septime im Barock, und wie ist diese Passage zu<br />

verstehen? Dann die Frage der Phrasierungen. Mehr Pedal oder<br />

weniger? Und wie kann man die Antworten auf dem modernen<br />

Flügel geben?<br />

Zum Glück ist Andreas ein sehr guter Pianist und Cembalist.<br />

Für das Cembalo braucht man eine vollkommen andere Technik,<br />

die vielleicht für einen Pianisten gar nicht funktioniert. Insofern<br />

war das sehr aufschlussreich. Er war es auch, der mir die verschiedenen<br />

Notenausgaben gezeigt hat, die er gut findet, der mir seine<br />

persönliche Strategie erklärt hat, wie er seinen Geschmack im<br />

Umgang mit der Barockmusik entwickelt hat, dazu diese ganz<br />

spezielle Art singender Linien in der Barockmusik. Ich sammle<br />

das alles wie einen Schatz, denn dieses Wissen kann ich von<br />

keinem gewöhnlichen Pianisten lernen.<br />

Sie haben die Goldberg-Variationen im Studio aufgenommen<br />

und haben sich gewünscht, dass auch die Aufnahme aus der<br />

Thomaskirche veröffentlicht wird. Ist die Live-Aufnahme, die<br />

in erster Linie auf das Publikum hin ausgerichtet ist, vielleicht<br />

„HARNONCOURT HAT MEINEN BLICK BEFREIT“<br />

FOTO: OLAF HEINE<br />

unterhaltsamer, während die<br />

Studioaufnahme eher ein<br />

intellektuelles Spiel mit den<br />

Möglichkeiten ist?<br />

Tatsächlich würde ich sagen,<br />

dass die Studioaufnahme ein<br />

bisschen intellektueller ist.<br />

Nach meinem Konzert in<br />

Leipzig habe ich die Goldberg-<br />

Variationen weiterstudiert,<br />

einige historische Aufnahmen<br />

großer Pianisten gehört und<br />

dann im Studio einiges<br />

ausprobiert. Dass die Live-<br />

Aufnahme unterhaltsamer ist,<br />

würde ich dennoch nicht<br />

sagen – das Live-Konzert ist<br />

einfach spontaner interpretiert.<br />

Was ich daran besonders<br />

gern mag, ist die Geschlossenheit des ganzen Stückes.<br />

Im Studio konnte ich aber differenzierter gestalten: den Klang<br />

dunkler färben oder trockener, auch das Tempo leicht variieren<br />

und die Kontrastwirkung im Raum verstärken. Ich hatte vier Tage<br />

Zeit im Studio – und die habe ich mir auch genommen. Letztlich<br />

würde ich sagen, auch die Studioaufnahme hat etwas sehr<br />

Interessantes zu erzählen.<br />

Auf dem Cover der neuen CD sieht man Sie noch in der<br />

Partitur der Goldberg-Variationen blättern. Was wollen Sie uns<br />

damit sagen?<br />

Dass man niemals aufhört, die Goldberg-Variationen zu studieren!<br />

Auch wenn die Aufnahme jetzt fertig ist – dieses Stück öffnet<br />

mir jedes Mal so viele Türen, dass ich einfach immer noch mehr<br />

wissen möchte!<br />

Gibt es ein bestimmtes Ritual oder einen Talisman, etwas,<br />

das Sie an die Situation in der Thomaskirche in Leipzig<br />

erinnert, wenn Sie die Goldberg-Variationen in anderen<br />

Konzertsälen aufführen?<br />

Nein, aber ich kann eine Erfahrung weitergeben: vorher nicht zu<br />

viel Wasser trinken. Denn es gibt keine Pause – und so ein<br />

Problem will man nicht bekommen! (lacht)<br />

Als Kind habe ich immer versucht, Fotos oder irgendetwas von<br />

großen Komponisten mitzunehmen, doch jetzt, wo ich so viel<br />

unterwegs bin, ist das viel weniger geworden. Aber an meinem<br />

letzten Geburtstag habe ich die Kopie des Manuskripts der<br />

gesamten Goldberg-Variationen bekommen.<br />

Hören Sie die Aufnahme von Glenn Gould von 1982 heute auch<br />

noch?<br />

Ja, ich habe sie mir häufig angehört, in ganz verschiedenen<br />

Phasen. Grundsätzlich höre ich sie etwa einmal im Jahr, und ich<br />

finde immer etwas Interessantes. Immer.<br />

Würden Sie Glenn Gould gern einmal treffen, um mit ihm über<br />

seine Interpretation zu sprechen, vor allem über die Tempi?<br />

Ich hatte mir häufiger seine Radiosendungen angehört. Er hat ja<br />

eine richtige Dokumentation über das Stück produziert. Und<br />

wenn ich das Stück heute sorgfältig anschaue, dann kenne ich<br />

seine Antworten schon. Aber ganz klar, natürlich würde ich das<br />

gern. Hätte ich aber die Wahl, dann würde ich noch lieber Johann<br />

Sebastian Bach treffen!<br />

n<br />

Johann Sebastian Bach: „Goldberg Variations“, Lang Lang<br />

(Deutsche Grammophon)<br />

Die Sendung „Unterwegs mit Lang Lang und den Goldberg-<br />

Variationen“ von Margarete Zander lief am 4. <strong>September</strong> auf<br />

NDR. Dort ist sie auch online nachzuhören.<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


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Alban Berg Ensemble Wien<br />

Gelungenes Debüt<br />

Das Alban Berg Ensemble Wien besteht aus einem Kern von sieben Musikern, je nach<br />

Bedarf mit kammermusikalischen Freunden aufgestockt. Vorschusslorbeeren gab es von<br />

der Alban Berg Gesellschaft, die dem Ensemble ihren Segen für die Namensverwendung<br />

gab. In Wien zählt das schon mal was. Das Ensemble präsentiert auf seinem Debüt-Album<br />

Kammermusikbearbeitungen von Jahrhundertwendekomponisten, denen die Musiker<br />

besonders geneigt sind – Hyperromantiker an der Schwelle zur Moderne: Gustav Mahler,<br />

Arnold Schönberg und Richard Strauss. Eine schlanke, sehnige Version des Adagio aus der<br />

Zehnten Sinfonie, eine entschlackte Rosenkavalier-Suite und schließlich Arnold Schönbergs<br />

Kammersinfonie Nr. 1 in der populären, feinfühligen Bearbeitung für Flöte, Klarinette,<br />

Geige, Cello und Klavier von seinem Schüler Anton Webern. Darin muss<br />

sich das „ABEW“ in keinster Weise vor der erstaunlich großen Konkurrenz<br />

verstecken. Höhepunkt aber bleibt der raffinierte Mahler. JFL<br />

„ABEW“, Alban Berg Ensemble Wien (Deutsche Grammophon)<br />

FOTO: ANDREJ GRILC<br />

35


H Ö R E N & S E H E N<br />

Leonard Cohen, Francis Poulenc, Mordechaj Gebirtig<br />

u. a.: „Landmarks“, Calmus Ensemble (Carus)<br />

FOTO: WWW.ANNEHORNEMANN.DE<br />

Calmus Ensemble<br />

Meilensteine aus 100 Jahren Vokalmusik<br />

Das Calmus Ensemble ist längst eine Institution in<br />

der Landschaft der Vokalmusik. Zu Recht, wie auch<br />

das neue Album des Gesangsquintetts zeigt. Unter<br />

dem Motto „Landmarks“ finden sich darauf Stücke<br />

der letzten 100 Jahre aus zehn verschiedenen<br />

Ländern, die in ihren unterschiedlichen Stilen und<br />

Tonsprachen ein kurzweiliges und reizvolles<br />

Programm ergeben. Da leitet Leonard Cohen über<br />

zu Chansons von Poulenc, stehen launige Arrangements<br />

von Kreisler-Liedern neben estnischen<br />

Volksliedern und folgen auf Madrigale von Jaakko<br />

Mäntyjärvi zwei Songs von Sting. Durch die fein<br />

konzipierte Durchmischung der Genres treten die<br />

formalen Unterschiede in den Hintergrund, und<br />

es wirkt allein die Musik, die mal wehmütig, mal<br />

humorvoll, mal kontrastreich, mal mitreißend in<br />

den Bann zieht. Seinen Ruf als Spitzenensemble<br />

unterstreicht das Quintett dabei souverän: mit<br />

satter Homogenität im Klang, strahlender Wärme<br />

und luftiger Leichtigkeit zugleich. DW<br />

Igor Levit<br />

Der Musik hingegeben<br />

Eine Begegnung verspricht der Titel von Igor Levits neuem Doppelalbum.<br />

Eine Begegnung mit der Musik? Mit dem Interpreten? Sich selbst?<br />

Oder sogar mit Gott? Immerhin widmet Levit sich einem geistlichen<br />

Repertoire: Choralvorspiele von Bach und Brahms in den virtuosen<br />

Transkriptionen Busonis, Brahms’ Vier ernste Gesänge in der Bearbeitung<br />

von Max Reger sowie Regers Nachtlied in einem Arrangement des<br />

erst <strong>20</strong>05 geborenen Julian Becker. Das Programm endet mit Morton<br />

Feldmans letztem Klavierstück Palais de Mari. Wie ein „gestrecktes<br />

Diminuendo“ wird die Dramaturgie im Booklet der CD beschrieben.<br />

Dieses Leiserwerden ist eine kontemplative Reise. Levits klares Spiel<br />

trägt den Hörer davon, versetzt ihn in einen beinahe meditativen<br />

Zustand und nimmt ihn schließlich mit in die Stille. Levit hat alles, was<br />

ein Künstler braucht, um sich der Musik hinzugeben, das Ego in den<br />

Hintergrund zu rücken und die Stücke einfach für sich sprechen zu<br />

lassen. Dies gelingt ihm mit einer Selbstverständlichkeit und Brillanz,<br />

die ehrfurchtsvoll werden lässt. Es glückt ihm, den Raum zwischen den<br />

Noten auszufüllen und zwischen den Zeilen zu spielen. Dabei ist sein<br />

Spiel in Schlichtheit genauso beeindruckend wie in polyfoner Komplexität.<br />

Obwohl zwischen den Werken teilweise<br />

Jahrhunderte liegen, greifen sie natürlich<br />

ineinander. Levit schafft es, das Klavier zum<br />

Singen und Sprechen zu bringen – und deshalb<br />

ist diese Begegnung für jeden Hörer eine<br />

persönliche. SK<br />

„Encounter“, Igor Levit (Sony)<br />

Jauna Muzika<br />

Spirituelle Klarheit<br />

Gerade erst hat ein Chorwerk Arvo Pärts die Top fünf der Billboard-<br />

Charts für klassische Musik erobert. Bei so viel Aufmerksamkeit folgt<br />

die Aufnahme des vielfach preisgekrönten Städtischen Chores von<br />

Vilnius, Jauna Muzika, unter seinem Leiter Vaclovas Augustinas mit<br />

„Works For Choir“ zur rechten Zeit. Zeit und Zeitlosigkeit miteinander<br />

zu verbinden, hat Pärt einmal als Ziel formuliert. Das Ringen in<br />

uns von Augenblick und Ewigkeit sei die Ursache all unserer Widersprüche.<br />

Herausragend die Sieben Magnificat-Antiphonen, beginnend mit<br />

O Weisheit (Das Label schreibt skurrilerweise „O Weisibett“). Es sind<br />

die O-Antiphonen des Hohen Advents. Seit dem 8. Jahrhundert werden<br />

sie während der letzten Tage vor Heiligabend in der Vesper gesungen.<br />

Ursprünglich besaß jedes O-Antiphon ein und dieselbe Melodie. Pärt<br />

schuf daraus, seiner Handschrift entsprechend, ein zusammenhängendes<br />

Vokalwerk von spiritueller Klarheit, worin jetzt jedes einen<br />

eigenen, Pärt-typischen Charakter hat. Einziger Wermutstropfen:<br />

Die CD ist ein Remaster einer Aufnahme aus dem Jahr <strong>20</strong>01, die mit<br />

grenzwertigen, manches Mal verzerrenden Lautstärkenspitzen<br />

arbeitete. Da stand Mike Grinser, verantwortlich für das Remaster, vor<br />

der schwierigen Aufgabe, die aufnahmetechnisch<br />

heikle Vorlage dieser wunderschönen Interpretation<br />

wieder zugänglich zu machen. Am besten<br />

gelungen ist dies für die Vinylausgabe. SELL<br />

Arvo Pärt: „Works For Choir“, Jauna Muzika, Vaclovas<br />

Augustinas (CD und LP, Cugate Classics)<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Adolphe Adam<br />

Farbenprächtige<br />

Wiederentdeckung<br />

Überbordende,<br />

fantasievolle<br />

Bühnenbilder in allen<br />

Farben und voll<br />

verspielter Schnörkel<br />

und anderer<br />

Verzierungen, dazu<br />

grellbunte, mit<br />

allerlei Zierrat überreich geschmückte<br />

Kostüme und eine komödiantische<br />

Darstellung – der Komiker und Regisseur<br />

Michel Fau setzte Adolphe Adams<br />

Opéra-comique Le Postillon de Lonjumeaux<br />

an der Opéra-Comique in Paris, jenem<br />

Haus, in dem 1836 die Uraufführung<br />

stattfand, als schwungvolles Spektakel in<br />

Szene. In der Rolle der Kammerfrau Rose<br />

wirft er sich selbst in das Geschehen.<br />

Wenn etwas die optischen Reize dieser<br />

Inszenierung übertreffen kann, dann sind<br />

es die Stimmen. Nicht nur die beiden<br />

Hauptrollen – Michael Spyres als<br />

Postillon Chapelou und Florie Valiquette<br />

als Madeleine –, auch die anderen Figuren<br />

sind großartig besetzt. Am Pult des<br />

Opernorchesters steht Sébastien<br />

Rouland. Und am Ende allen Klamauks<br />

bleibt die tröstliche Botschaft, dass die<br />

Kraft, die über alle gesellschaftlichen<br />

Um- und Aufbrüche Bestand hat, die<br />

Liebe ist. RRR<br />

Adolphe Adam: „Le Postillon de Lonjumeau“, Michel<br />

Fau, Michael Spyres, Florie Valiquette, Franck<br />

Leguérinel u. a., Accentus, Orchestre de l’Opéra de<br />

Rouen Normandie, Sébastien Rouland (Naxos)<br />

Marin Alsop<br />

Begeisterung und<br />

Schwung<br />

Eine erfolgreiche Zusammenarbeit von rund<br />

18 Jahren und fast ebenso vielen CD-Produktionen<br />

prägt die gemeinsame Geschichte des<br />

Bournemouth Symphony Orchestras mit Marin<br />

Alsop. Als <strong>20</strong>07 das „Carmina Burana“-Album<br />

erschien, war sich die Kritikerwelt nicht recht<br />

einig: Ist da nun wenig oder (genau richtig) viel<br />

Wumms in den O Fortuna-Chören? Gelingt<br />

Tenor Tom Randle das Falsett in der Schwanen-<br />

Arie superb oder eher mittelprächtig? Ist das<br />

Klangbild der CD fantastisch oder völlig<br />

uneinheitlich? Gerade bei so einem bekannten<br />

Werk hängt das Urteil wohl hauptsächlich von<br />

persönlichen Hörgewohnheiten ab. Über eines<br />

lässt sich jedoch bei dieser Einspielung nicht<br />

streiten: Die Textverständlichkeit ist hervorragend.<br />

Darüber hinaus vermitteln alle<br />

Mitwirkenden Begeisterung, Schwung und<br />

Lebendigkeit. Ein ausgesprochenes Highlight ist<br />

die Sopranistin Claire Rutter, die ihre reine<br />

und weiche Stimme im Dulcissime besonders<br />

gut zur Geltung bringen kann. JH<br />

Carl Orff: „Carmina Burana“,<br />

Claire Rutter, Tom Randle,<br />

Markus Eiche u. a.,<br />

Bournemouth Symphony<br />

Orchestra and Chorus, Marin<br />

Alsop (Naxos)<br />

Emmanuel Pahud<br />

Flötentöne aus<br />

Hollywood<br />

Den Fantasy-Film Shape of<br />

Water und die Komödie<br />

Grand Budapest Hotel kennt<br />

wohl jeder. Beim Namen<br />

Alexandre Desplat dürfte<br />

dagegen manch einer<br />

stutzen. Dabei gewann der<br />

französisch-griechische<br />

Komponist jeweils einen Oscar für die beste<br />

Filmmusik. Der international renommierte Flötist<br />

Emmanuel Pahud hat mit dem Orchestre National<br />

de France neu arrangierte Hollywood-Soundtracks<br />

und Konzertstücke von Desplat aufgenommen. Am<br />

Dirigentenpult stand kein Geringerer als der<br />

Komponist selbst. Pahud ist hier längst nicht nur<br />

mit Blockbuster-Musiken zu erleben. Mit eindrücklicher<br />

Intensität interpretiert er auch eine konzertante<br />

Sinfonie für Flöte und Orchester, frei nach<br />

Maurice Maeterlincks tragischem Liebesdrama<br />

Pelléas et Mélisande. Beim Komponieren habe er sich<br />

Filmszenen vorgestellt, erzählt er. Erklingt die mit<br />

kristallinen Celesta-Klängen verzierte Musik zum<br />

Film Das Mädchen mit dem Perlenohrring, hat man<br />

gleich Jan Vermeers Gemälde vor Augen. Pahud<br />

setzt mit seinem solistischen Spiel viele Akzente,<br />

die der Fantasie immer neue Fenster öffnen. CK<br />

Alexandre Desplat: „Airlines“, Emmanuel Pahud, Orchestre National<br />

de France (Warner Classics)<br />

Jonas Kaufmann<br />

Noble Gestaltung<br />

27 Lieder von Liebe, Sehnsucht und Traum vereinigt Jonas Kaufmann<br />

auf seinem deutschen Album „Selige Stunde“, dessen Titel<br />

sich auf das einzige Zemlinsky-Lied bezieht. Kaufmanns Stimme ist<br />

nach wie vor zu feinster Nuancierung fähig, niemals der Beherrschung<br />

entgleitend und stets mit erlesenem Geschmack, auch was<br />

Aussprache und Rubato betrifft. Weniger angetan bin ich von<br />

seinem altgedienten Begleiter Helmut Deutsch, dessen routiniert<br />

kleinteilige Agogik in Dvořáks Als die alte Mutter so verzerrt, dass<br />

man den durchgehenden Zwei-zu-drei-Gegensatz nicht hörend<br />

mitvollziehen kann. Jonas Kaufmanns Gabe und Wille, alles nobel<br />

und edel zu gestalten, fasziniert vor allem bei den meist in Sentimentalität<br />

ertrinkenden Hits von Friedrich Silcher, Carl Bohm und<br />

der von Alois Melichar geradezu chansonhaft arrangierten Etüde op.<br />

10 Nr. 3 von Chopin (In mir klingt ein Lied).<br />

Besonders schön: Beethovens Adelaïde,<br />

Tschaikowskys Nur wer die Sehnsucht kennt<br />

und Schuberts Wanderers Nachtlied. CS<br />

„Selige Stunde“, Jonas Kaufmann, Helmut Deutsch (Sony)<br />

10. <strong>September</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Livestream aus dem Stadtcasino Basel<br />

auf ARTE Concert mit dem Sinfonieorchester<br />

Basel und Ivor Bolton.<br />

www.basel.ch CityBasel www.sinfonieorchesterbasel.ch<br />

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37


H Ö R E N & S E H E N<br />

Christian Berger<br />

Geheimnisvolle<br />

Energie<br />

Die Neunte Sinfonie ist die Krönung und das<br />

Ende von Beethovens sinfonischem Schaffen.<br />

Christian Berger folgt ihr in seinem Film um<br />

die Welt. Verschränkt mit Berichten und<br />

Zeitdokumenten zu Beethovens Leben zeigt<br />

er, wie eine Cellistin vom Orchestre Symphonique<br />

Kimbanguiste in Kinshasa sie wahrnimmt,<br />

was sie einer jungen Bratschistin in<br />

einer Favela von São Paulo bedeutet, die sie<br />

mit dem Dirigenten Isaac Karabtchevsky<br />

probt, und wie der gehörlose Musiker Paul<br />

Whittaker sie in Barcelona mit gehörlosen<br />

Kindern erfühlt. Unberührt lässt sie keinen.<br />

Aber die Wirkung, die sie entfaltet, wird von<br />

jedem anders wahrgenommen. Mit Begeisterung<br />

studiert der Dirigent Yutaka Sado in<br />

Osaka mit einem 1.000-stimmigen Chor die<br />

Ode an die Freude ein und sucht dabei vor<br />

allem die emotionale Botschaft zu vermitteln.<br />

Der Komponist Gabriel Prokofiev verweist<br />

auf die türkischen Einflüsse in der Musik. Die<br />

Janitscharenkapellen, die damals durch Wien<br />

marschierten, hinterließen ihre Spuren auch<br />

im Werk Beethovens. Faszinierend ist der<br />

Komponist Tan Dun, der Beethovens Neunte<br />

im Herzschlag Shanghais vernimmt. Am Ende<br />

beklatscht ein junges gehörloses Paar<br />

begeistert die Aufführung der Neunten und<br />

lässt etwas von der<br />

geheimnisvollen Energie<br />

ahnen, die Beethovens<br />

Musik innewohnt. RRR<br />

Christian Berger: „Beethoven’s<br />

Ninth. Symphony for the<br />

World“, Teodor Currentzis, Tan<br />

Dun u. a. (CMajor)<br />

Pablo Heras-Casado<br />

Tradition, Revolution<br />

und Humanismus<br />

Einem beliebten Bonmot unter Musikern<br />

zufolge sind die ersten drei Sätze der Neunten<br />

Sinfonie das unbekannteste Werk Beethovens.<br />

Kann man so sehen, schließlich ist es der<br />

monumentale vierte Satz mit Schillers Ode an<br />

die Freude, auf den die meisten Hörer warten<br />

und der, losgelöst vom Rest der Partitur, als<br />

Soundtrack für Staatsakte und pompöse<br />

nationale Manifestationen aller Art „Karriere“<br />

gemacht hat. Ein historisch angehäufter<br />

Bombast, den glücklicherweise immer mehr<br />

Dirigenten konsequent abräumen und dafür<br />

Beethovens Musik in ihrem Spannungsfeld<br />

zwischen Klassik und Romantik, zwischen<br />

Tradition, Revolution und Humanismus wieder<br />

neu entdecken und erlebbar werden lassen. In<br />

diese Phalanx reiht sich auch Pablo Heras-<br />

Casado mit dem Freiburger Barockorchester<br />

ein und bietet eine unsentimentale, zuweilen<br />

vielleicht sogar etwas neutrale Lesart der<br />

Partitur. Der Orchesterklang ist herb und<br />

präzise, die Tempi zügig und die motivischen<br />

Linien zwischen den Sätzen genau herausgearbeitet,<br />

gerade im Übergang zwischen dem<br />

dritten und vierten Satz. Auch die Zürcher<br />

Sing-Akademie und das Solistenquartett<br />

setzen die Interpretation überzeugend um.<br />

Zusätzlich gibt es auf der zweiten CD noch<br />

das Klavierspiel von Kristian Bezuidenhout in<br />

der Chorfantasie zu genießen. FS<br />

Ludwig van Beethoven:<br />

„Symphony No. 9“ u. a.,<br />

Christiane Karg u. a., Zürcher<br />

Sing-Akademie, Freiburger<br />

Barockorchester, Pablo<br />

Heras-Casado (HM)<br />

Dorothee Oberlinger<br />

Monster und andere<br />

Metamorphosen<br />

Mit Ausbruch des Spanischen Erbfolgekriegs<br />

und den damit notwendig gewordenen<br />

Sparmaßnahmen am Wiener Kaiserhof musste<br />

sich auch Giovanni Battista Bononcini<br />

kurzfristig eine neue Wirkungsstätte suchen.<br />

Fündig wurde er bei der kunstliebenden<br />

Königin Sophie Charlotte, Ehefrau von<br />

Friedrich I. in Preußen. Im Sommer 1702 fand<br />

auf Schloss Lietzenburg (heute Schloss<br />

Charlottenburg) die Uraufführung von<br />

Bononcinis einaktiger Serenata Polifemo mit<br />

einem Libretto von Attilio Ariosti nach zwei<br />

Episoden aus Ovids Metamorphosen statt.<br />

Ebenfalls dabei: Telemann. Und möglicherweise<br />

auch der 17-jährige Händel. Diese<br />

Rarität wählte die neue Intendantin der<br />

Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, Dorothee<br />

Oberlinger, als Einstand für ihre erste<br />

Produktion. Der Mitschnitt kann sich hören<br />

lassen: João Fernandes als Zyklop Polifemo,<br />

der junge brasilianische Sopranist Bruno de Sá<br />

mit einem enormen Stimmambitus als Schäfer<br />

Aci, Helena Rasker als Fischer Glauco, Liliya<br />

Gaysina als eifersüchtige Zauberin Circe,<br />

Roberta Mameli und Roberta Invernizzi als die<br />

Nymphen Galatea und Silla sowie Maria<br />

Ladurner als Liebesgöttin Venus garantieren<br />

ein hohes Niveau, während das Ensemble<br />

1700 unter der Leitung von Oberlinger mit<br />

einem eher puristisch angelegten Klang galant<br />

musiziert. FA<br />

Giovanni Battista Bononcini:<br />

„Polifemo“, Dorothee<br />

Oberlinger, Ensemble 1700<br />

(deutsche harmonia mundi)<br />

Franz Welser-Möst<br />

Erfahrung existenzieller Stille<br />

Dass ein Dirigent über Stille schreibt, wirkt erstaunlich. Doch<br />

für Franz Welser-Möst ist sie ein wichtiger Wegbegleiter. Sein<br />

Schlüsselerlebnis war ein schwerer Unfall, bei dem er mit 18<br />

Jahren die erste Erfahrung existenzieller Stille machte. Danach<br />

suchte er sie bewusst, als Trost, Gegenpol zur Schnelllebigkeit<br />

und „Dezibilisierung“ der Welt – in der Natur, beim Yoga,<br />

Wandern oder in seiner Bibliothek. Auf 191 Seiten unternimmt<br />

Welser-Möst in seinem Buch Als ich die Stille fand eine „Reise<br />

durch 60 Jahre Lernen“. Gleichzeitig gibt er Einblicke in sein<br />

intensives Erarbeiten von Interpretationen und übt Kritik an<br />

einer „Erregungsgesellschaft“, in der Eventisierung und schrille<br />

Vermarktung die Klassikbranche verändern und musikalische<br />

Bildung keinen Stellenwert hat. Alle diese Erinnerungen und<br />

Ansichten hat Axel Brüggemann nach zahlreichen Treffen mit<br />

Welser-Möst notiert. Im Nachwort<br />

honoriert der Musikjournalist, dass der<br />

Dirigent dabei so offen mit ihm über „große<br />

Momente“, aber auch „lehrreiche Niederlagen“<br />

gesprochen hat. ASK<br />

Franz Welser-Möst: „Als ich die Stille fand. Ein Plädoyer<br />

gegen den Lärm der Welt“ (Brandstätter)<br />

Fritz Wunderlich<br />

Kostbarer Klang<br />

Neben den Mitschnitten aus den Jahren 1958 bis 1965 als Mozarts Belmonte<br />

und Tamino, Almaviva, Alfredo, Lenski und in zwei Strauss-Partien gibt es als<br />

Live-Aufnahme mit Fritz Wunderlich nun erstmals, klanglich restauriert,<br />

seinen bislang unveröffentlichten Ernesto in Donizettis letzter Oper Don<br />

Pasquale. Der 32-Jährige verkörperte ihn am 18. Januar 1962, vier Jahre vor<br />

seinem frühen Tod, im Münchner Prinzregententheater mit dem spannungsvoll<br />

musizierenden Bayerischen Staatsorchester unter Meinhard von Zallinger.<br />

Wunderlich verzaubert bereits mit den ersten Tönen: Trotz der damals<br />

üblichen deutschen Übersetzung verströmt er feinsten italienischen Belcanto,<br />

der keine Patina angesetzt hat. Jeder Ton und jede Phrase wird von seinem so<br />

unverkennbar kostbar klingenden, ungemein ausdrucksvollen Timbre und<br />

einer subtilen Musikalität geprägt. Hervorragend besetzt sind auch die<br />

tieferen Männerstimmen: Doktor Malatesta mit dem erst 27-jährigen, sehr<br />

natürlich agierenden Bariton Raimund Grumbach; der reife, knorrige Pasquale<br />

mit dem berühmten Bassisten Kurt Böhme. Der helle, schnell vibrierende,<br />

dabei gleichwohl bewunderswert agile hohe Sopran von Erika Köth als<br />

Norina wirkt in Gesangsstil und Ausdruck zwar heute<br />

etwas antiquiert, doch das mindert Wert und<br />

Qualität dieser raren Entdeckung keineswegs. KLK<br />

Gaetano Donizetti: „Don Pasquale“, Fritz Wunderlich, Erika Köth,<br />

Kurt Böhme u. a., Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper<br />

München, Meinhard von Zallinger (Hänssler Classic)<br />

38 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Wayne Marshall<br />

Orchestrale Grooves<br />

„Born to play“ – dieser Titel trifft es. Wer<br />

jemals den Organisten, Pianisten und<br />

Dirigenten Wayne Marshall Gershwin spielen<br />

hörte, weiß: Hier ist das Energiebündel in<br />

seinem Element, hier fetzt er los, was das<br />

Zeug hält, ist mitunter kaum zu bremsen. Das<br />

Gleiche exerziert er mit dem WDR Funkhausorchester<br />

durch. Gershwins Zweite Rhapsodie,<br />

drei Ouvertüren und die Rhapsody in Blue, in<br />

der Marshall auch als Solist in die Tasten<br />

greift, sind durch und durch mitreißend:<br />

Gershwin-Grooves vom Feinsten. Lange<br />

spielte das Funkhausorchester nur die zweite<br />

Geige beim WDR. Doch hat es sich mit<br />

spannenden Programmen und einem<br />

orchestralen Sound, der ebenso vielseitig wie<br />

erstklassig ist, in den letzten Jahren zu einem<br />

gar nicht mehr so geheimen Geheimtipp<br />

gemausert. Drei Sätze aus der Brazilian<br />

Fantasy und The Elephant and the Clown des<br />

kubanischen Jazz-Saxofonisten und Klarinettisten<br />

Paquito D’Rivera gibt es auch zu hören.<br />

Ebenfalls absolut erstklassig und als schöne<br />

Quintessenz von<br />

Marshalls Chefdirigentenzeit<br />

beim Funkhausorchester.<br />

GKP<br />

George Gershwin: „Born To<br />

Play“, Wayne Marshall, WDR<br />

causales_Anzeigen_<strong>20</strong><strong>20</strong>.qxp_crescendo_2<strong>20</strong>x144+5mm Funkhausorchester (CAvi) 06.08.<strong>20</strong> 11:16 Seite 1<br />

Benjamin Appl & Reinhard Goebel<br />

Absolutes<br />

Schönheitsideal<br />

Reinhard Goebel hüllt zwei geistliche und eine<br />

weltliche Kantate sowie zwei Orchesterstücke<br />

in milde und berückende Klänge von himmlischen<br />

Längen. Aus der höchst wirkungsvoll<br />

gesteigerten musikalischen Verzückung<br />

vernimmt man Todessehnsucht und lebensbejahende<br />

Freude als inneren Jubel. Die<br />

Einspielung dieser fünf Werke – inklusive der<br />

von Peter Wollny im Archiv der Johanneskirche<br />

in Mügeln entdeckten Kantate Ich bin<br />

vergnügt mit meinem Stande von Carl Philipp<br />

Emanuel Bach – sucht die Gemeinsamkeiten<br />

zwischen dem Thomaskantor und seinen<br />

Söhnen. Goebel fordert alle Erkenntnisse des<br />

historisch informierten Musizierens für ein<br />

Spiel auf neuen Instrumenten, aber er<br />

vermeidet Archaismen. Damit nivellieren sich<br />

auch die Unterschiede zwischen den<br />

Komponistengenerationen, allerdings zur<br />

großen Freude der Hörer. Goebel, Benjamin<br />

Appl und die Berliner Barock Solisten feiern<br />

ein fast absolutes Schönheitsideal. DIP<br />

„Cantatas of the Bach<br />

Family“, Benjamin Appl,<br />

Berliner Barock Solisten,<br />

Reinhard Goebel<br />

(Hänssler Classic)<br />

Christopher Park<br />

Brillanz und<br />

Lebendigkeit<br />

Taufrisch klingt diese Einspielung von<br />

Schuberts Wandererfantasie in der Bearbeitung<br />

für Klavier und Orchester von Franz Liszt. Als<br />

Schumann die Klavierkomposition hörte, hielt<br />

er 1828 fest: „Schubert wollte hier ein ganzes<br />

Orchester in zwei Händen vereinen.“<br />

Schubert „wanderte“ mit diesem Werk vom<br />

Klavier zum Orchester, Liszt hat die Fantasie<br />

ausgeführt. Zu hören, mit welcher Brillanz<br />

und Lebendigkeit der junge deutsch-koreanische<br />

Pianist Christopher Park mit dem NDR<br />

Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung<br />

von Christoph Eschenbach spielt, entspricht<br />

dem, was man von einem Dream-Team<br />

erwartet: Die Symbiose zwischen Schubert<br />

und Liszt erweitert sich zur kongenialen<br />

Symbiose von Komposition und Interpretation.<br />

Die Präsenz, mit der Christopher Park<br />

jeden Ton spürbar werden lässt, behält ihr<br />

hohes Niveau, auch wenn er ohne Orchesterbegleitung<br />

spielt. SELL<br />

Liszt: „Wandererfantasie“,<br />

Schubert: „Klaviersonate<br />

Nr. 12“, Brahms: „Händel-<br />

Variationen“, Christopher<br />

Park, NDR Elbphilharmonie<br />

Orchester, Christoph<br />

Eschenbach (Capriccio)<br />

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39


H Ö R E N & S E H E N<br />

MITTENDRIN IN DER MUSIK<br />

Das 3D-Surroundverfahren Dolby Atmos soll den Zuhörer so nahe an das musikalische<br />

Geschehen bringen, wie nur die Musiker selbst es erleben. VON HOLGER BIERMANN<br />

Ein Ortstermin mit Glamour in den MSM Studios in München.<br />

Prominenz ist da: Unter anderem die Geigerin Anne-Sophie<br />

Mutter, Clemens Trautmann, der Präsident der Deutschen<br />

Grammophon-Gesellschaft und Andreas Ehret, Geschäftsführer<br />

von Dolby Deutschland. Grund für das illustre Treffen<br />

ist die Präsentation der beiden Konzerte der Wiener Philharmoniker<br />

unter der Leitung des Komponisten John Williams Mitte Januar <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

im Wiener Musikverein, die – und das ist der Clou – auch im 3D-Surroundverfahren<br />

Dolby Atmos aufgenommen und in den MSM Studios<br />

abgemischt wurden. Übrigens war es das erste Konzert, das Williams<br />

je außerhalb der Staaten gegeben hat.<br />

Dolby Atmos kennen die<br />

meisten aus den Kinos – dafür<br />

wurde es auch erdacht. Anders<br />

als sein Vorgänger, Dolby Digital<br />

(DD), arbeitet Dolby Atmos<br />

(DA) mit wenigen fixen und<br />

vielen virtuellen Kanälen.<br />

Da durch wird der Raumeindruck<br />

deutlich präziser, einzelne<br />

Klangereignisse können<br />

plastisch im Raum dargestellt<br />

werden. Im Vergleich zum Vorgänger-Format<br />

DD ist das ein<br />

riesiger Schritt nach vorn. Und<br />

noch einen Vorteil gibt es:<br />

Dolby Atmos passt sich dem<br />

Wiedergabegerät an. Verfügt<br />

eine Anlage über viele Lautsprecher,<br />

werden die genutzt, hat<br />

eine Anlage wenige Lautsprecher<br />

– etwa kleine Soundbars –,<br />

wird der Klang auf diese Möglichkeiten<br />

zurechtgerechnet.<br />

Seit einigen Jahren hat die<br />

Musikindustrie die Vorzüge<br />

von 3D-Sound und im speziellen von Dolby Atmos entdeckt. Anne-<br />

Sophie Mutter meint dazu: „Dolby Atmos bringt mich als Zuhörer<br />

so nah wie möglich an das Geschehen, was ich sonst nur in einer<br />

Gruppe von Musikern erlebe.“ Sie ist mit diesem Eindruck nicht<br />

allein. Dutzende Musiker waren schon in den MSM Studios und<br />

sind von den neuen Möglichkeiten begeistert. Kürzlich erst hatte<br />

Herbert Grönemeyer sein „Mensch“-Album in München in 3D-<br />

Sound mastern lassen und war schier aus dem Häuschen.<br />

Auch die <strong>CRESCENDO</strong> Redaktion konnte sich bei der Präsentation<br />

im kleinen MSM-Kino der Intention und dem hohen<br />

Erlebnisgefühl der beiden John-Williams-Einspielungen nicht entziehen.<br />

Ist das die Art und Weise, wie man künftig Musik noch<br />

packender, noch schöner erlebt? Ja, bestätigt Clemens Trautmann.<br />

Man setze auf Dolby Atmos und habe schon über 50 Titel – neue<br />

Produktionen und einige aus dem Back-Katalog – abgemischt. Aberhunderte<br />

sollen folgen. Die Hürde liegt anderswo – nämlich in den<br />

Wohnzimmern der Musikhörer. Während in modernen Autos<br />

immer mehr Dolby-Atmos-Anlagen verbaut werden und sogar schon<br />

Smartphones über Kopfhörer zumindest eingeschränkt Dolby-<br />

Atmos-fähig sind, ist eine hochwertige Wiedergabe zu Hause immer<br />

noch mit enormem Aufwand verbunden und deshalb derzeit nur<br />

begrenzt erlebbar. Doch Andreas Ehret ist optimistisch.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Ehret, die meisten Menschen kennen Dolby<br />

Die Deutsche Grammophon nahm das Konzert von Anne-Sophie<br />

Mutter und John Williams mit den Wiener Philharmonikern im Wiener<br />

Musikverein im 3D-Surroundverfahren Dolby Atmos auf.<br />

Atmos aus dem Kino oder vom Abspann der Filme, die sie zu<br />

Hause im Fernsehen anschauen. Nun aber finden wir mehr und<br />

mehr das Dolby-Atmos-Logo auch auf reinen Musik-Produktionen.<br />

Was ist geschehen?<br />

Andreas Ehret: Dolby Atmos kommt aus dem Kino. Doch wir<br />

haben gemerkt, dass es sich auch für die Wiedergabe von Musik<br />

hervorragend eignet. Vor drei Jahren hat Dolby deshalb die<br />

Entscheidung getroffen, die Musik stärker in den Atmos-Fokus zu<br />

rücken. Daraus ergab sich unter anderem die strategische<br />

Partnerschaft mit der Deutschen Grammophon und Warner.<br />

Hat Dolby dabei spezielle Musikrichtungen im Blick? Die<br />

Präsentationen fanden meist<br />

mit Künstlern aus der<br />

klassischen Musik statt.<br />

Nein. Unser Interesse gilt allen<br />

Arten von Musik. Da wird<br />

teilweise der Back-Katalog<br />

ausgewertet, aber auch neue<br />

Musik aufgenommen.<br />

Nun gibt es das Format<br />

Dolby Atmos schon seit <strong>20</strong>12.<br />

Drei Jahre ist dagegen eine<br />

vergleichsweise kurze<br />

Zeitspanne. Sind Sie mit den<br />

Fortschritten zufrieden?<br />

Die Einführung neuer<br />

Formate dauert immer eine<br />

Weile, weil alle Teile des<br />

Puzzles zusammenpassen<br />

müssen. Aber bei Dolby<br />

FOTO: THERRY LINKE<br />

Atmos sind wir schon weiter<br />

als damals bei der Einführung<br />

von Dolby Surround, bei dem<br />

wir von den Anwendern ein<br />

aufwendiges 5.1‐Lautsprecher-<br />

Set gefordert haben. Dolby<br />

Atmos funktioniert dagegen auch mit Smart Speakers (Lautsprecher,<br />

die mit dem Internet verbunden sind, Anm. d. Red.), ja<br />

sogar mit modernen Smartphones. Die Endgeräte sind schon da;<br />

das Henne-Ei-Problem löst sich schneller auf.<br />

Dennoch hat man noch nicht den Eindruck, dass die Idee von<br />

Dolby-Atmos-Musikaufnahmen bislang in der Breite angenommen<br />

wurde. Wie wollen Sie die Anwendung vorantreiben?<br />

Wie gesagt, auf dem deutschen Markt haben wir Partnerschaften<br />

wie etwa mit der Deutschen Grammophon. Die haben eine feste<br />

Anzahl von Dolby-Atmos-Titeln zugesagt. Nach und nach werden<br />

die Studios ausgebaut und die Grundlagen für die Technik<br />

geschaffen. Auch das Thema „Medium“ hat weniger Hürden als<br />

früher. Die Aufnahmen sind entweder auf Blu-Ray-Discs oder –<br />

immer wichtiger – auf Streamingdiensten. Bislang streamen Tidal<br />

und Amazon Music HD unser Dolby Atmos.<br />

„John Williams in Vienna“, Anne-Sophie Mutter, Wiener<br />

Philharmoniker, John Williams (Deutsche Grammophon)<br />

Mitmachen und gewinnen:<br />

Auf www.crescendo.de verlosen wir<br />

zwei „John Williams in Vienna“-Boxen –<br />

ultimatives Hörvergnügen<br />

40 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Rolando Villazón<br />

Eine Interpretation unserer Welt<br />

Rolando Villazóns heiterer Roman Amadeus auf dem Fahrrad über einen<br />

jungen Mexikaner, der davon träumt, Opernsänger zu werden und in<br />

Don Giovanni als Teufel auftreten darf, ist eine Hommage an seinen<br />

Lieblingskomponisten.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Der Titel Ihres Romans lautet Amadeus auf dem<br />

Fahrrad. Warum ausgerechnet Mozart?<br />

Rolando Villazón: Das Buch entstand aus Anekdoten und Notizen, als<br />

ich <strong>20</strong>15 bei Proben in Salzburg war. Schon deshalb gab es den Bezug zu<br />

Mozart. Er ist einer meiner besten Freunde. Ich fühle mich ihm nah.<br />

Das ist nicht so bei Verdi, Wagner oder Brahms. Wir bewundern diese<br />

Komponisten und können zu ihnen eine starke, inspirierende Beziehung<br />

haben. Aber zu Mozart gibt es darüber hinaus eine große Liebe.<br />

Warum liebt man Mozart mehr als andere Komponisten?<br />

Wenn man seine Welt betritt, fühlt man sich frei. Mozart hat selbst<br />

gegen viele Konventionen um seine Freiheit und Unabhängigkeit<br />

gekämpft. Er war wie jemand, der von einem anderen Planeten auf die<br />

Erde gekommen ist. Außerdem war er ein sehr ernster und spiritueller<br />

Mann – eine Seite, die Sie in Miloš Formans Amadeus leider nicht finden.<br />

Der Film zeigt den Clown voller Lust und Spielfreude. Aber es gibt<br />

Momente in Mozarts Musik, die können nur von einem kompletten<br />

Genie stammen.<br />

Ist Kunst eine höhere Macht?<br />

Vielleicht hat Schopenhauer recht, der meinte, wenn es keine Religion<br />

gibt, dann gibt es Kunst. Dabei geht es nicht nur darum, eine herrliche<br />

Sinfonie oder Sonate von Mozart zu hören. Die bringt Ruhe und Licht<br />

in meine Seele. Aber es gibt auch schwierige Werke, die auf ihre Weise<br />

Wirkung haben. Kunst ist ein Weg, um unsere Gedanken und Gefühle<br />

zu reflektieren. Manchmal fühlt man sich wie in einer schwarzen Wolke.<br />

Kunst hilft uns, Orientierung zu finden. RÜDIGER STURM<br />

Rolando Villazón: „Amadeus auf dem Fahrrad“ (Rowohlt)<br />

41<br />

41


H Ö R E N & S E H E N<br />

Anakronos<br />

Ungewöhnlich und<br />

reizvoll<br />

Manche Werke muss man gedanklich von<br />

ihrem Urheber trennen. So ist in der irischen<br />

Handschrift The Red Book of Ossory aus dem<br />

14. Jahrhundert eine Reihe kunstvoller<br />

geistlicher Gedichte überliefert. Ihr Verfasser:<br />

Bischof Richard de Ledrede, der 1324 in<br />

Kilkenny die erste historisch belegte<br />

Hexenverbrennung anordnete. Auf ihrer<br />

Debüt-CD verbindet die Gruppe Anakronos<br />

de Ledredes Texte mit mittelalterlicher Musik<br />

von Jacopo da Bologna, Jacob de Senleches,<br />

aus der Liederhandschrift Chansonnier du Roi<br />

und anderen Quellen. Die so erschaffenen<br />

Lieder werden mit Elementen aus Jazz und<br />

zeitgenössischer Klassik kombiniert und<br />

mittels moderner Instrumente wie Klarinetten,<br />

Saxofon, Perkussion und Synthesizer<br />

interpretiert. Das Ergebnis ist ebenso<br />

ungewöhnlich wie reizvoll. Besonders fesselnd:<br />

die wunderbar reine Stimme von Ensemble-<br />

Gründerin und Sängerin Caitríona O’Leary.<br />

Gewidmet ist das Album Petronilla de Meath<br />

– der Frau, die als<br />

erste angebliche Hexe<br />

auf den Scheiterhaufen<br />

kam. JH<br />

Anakronos: „The Red Book<br />

of Ossory“ (Heresy)<br />

Kristjan Järvi<br />

Klang gewordene<br />

Seelenräume<br />

Der in minimalistisches Schwarz gekleidete<br />

Dirigent posiert mit blanken Tierschädeln<br />

inmitten eines magischen Zirkels, dazu Fotos<br />

nordischer Landschaften von rauer und<br />

irrealer Schönheit, geheimnisvoller Schauplatz<br />

von Sagen und Mythen – stilvoller lässt sich<br />

ein CD-Booklet kaum gestalten. Nun möchte<br />

Kristjan Järvi, jüngster Spross der estnischen<br />

Dirigenten-Dynastie, seine Musik nicht einfach<br />

als Natur, die man hören kann, verstanden<br />

wissen, sondern als Klang gewordene<br />

Seelenräume, als eine Reise ins Innere, die von<br />

Polarlichtern und kurzen Sommern und von<br />

einem „Nebula“ genannten Schleier des<br />

Bewusstseins erzählt; zugleich der Titel des<br />

zentralen Satzes von „Nordic Escapes“. Die<br />

Musik entfaltet eine sinnliche Kraft und<br />

Vitalität. Järvi entwirft suggestive Klangräume,<br />

verbindet das klassische Orchester gekonnt<br />

mit elektronischen Klängen und setzt mit den<br />

Soli von Geige und Posaune, Glocken und<br />

Vokalisen reizvolle Akzente. FS<br />

„Nordic Escapes“,<br />

Nordic Pulse Ensemble,<br />

Baltic Sea Philharmonic,<br />

London Symphony Orchestra,<br />

Kristjan Järvi<br />

(Modern Recordings)<br />

Dai Miyata<br />

Innige Hingabe<br />

Dieses Album ist eine Liebeserklärung an das<br />

Cello und seinen unvergleichlichen Klang:<br />

sinnlich und samtig, sonor schwingend und mit<br />

kraftvoller Wucht in den tieferen Lagen.<br />

Zugleich birgt das Album einen Geheimtipp:<br />

Noch ist der preisgekrönte japanische Solist<br />

Dai Miyata wenig bekannt – doch dies könnte<br />

sich bald ändern. Mit dem BBC Scottish<br />

Symphony Orchestra unter der Leitung von<br />

Thomas Dausgaard widmet er sich mit dem<br />

Cellokonzert von Edward Elgar einem<br />

Schlüsselstück der Cello-Literatur und lotet<br />

dieses melodienreiche Werk mit inniger<br />

Hingabe aus. Dabei zeigt sich Miyata als<br />

ebenso virtuoser wie feinsinniger Interpret,<br />

der sein Instrument singen und seufzen lässt,<br />

jubilieren und sehnsuchtsvoll schwelgen.<br />

Überzeugend gelingt zudem der Dialog mit<br />

dem Orchester. Dieser prägt auch das<br />

stimmungsvolle zweite Stück Dark Pastoral,<br />

eine elegische Komposition für Cello solo und<br />

Orchester, die David Matthews aus unvollendeten<br />

Entwürfen von Ralph Vaughan Williams<br />

geschaffen hat. DW<br />

Edward Elgar, Ralph Vaughan<br />

Williams: „Dark Pastoral“,<br />

Dai Miyata, BBC Scottish<br />

Symphony Orchestra, Thomas<br />

Dausgaard (Denon/mdg)<br />

EIN GANZES<br />

HÖR-UNIVERSUM<br />

Als <strong>CRESCENDO</strong> Abonnent oder Leser unser Premium-<br />

Ausgabe haben Sie exklusiven Vollzugriff auf 150.000<br />

Klassik-Alben in Premium-Soundqualität. Für die<br />

Laufzeit einer Ausgabe bzw. Ihres Abonnements<br />

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Library (NML), der weltweit größten Online-Datenbank<br />

für klassische Musik. Ob legendäre historische Einspielungen<br />

von Karajan bis Keilberth oder brandneue Alben von<br />

Anna Netrebko bis Jonas Kaufmann.<br />

Dabei ist die Nutzung kinderleicht: Über die Seite<br />

www.naxosmusiclibrary.de einwählen oder auf Ihrem Handy die<br />

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42<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Lucia Popp<br />

Ein historisches<br />

Kleinod<br />

„Hab ich Lieb’, so hab ich Not, meid ich Lieb’,<br />

so bin ich tot“, singt die Baderstochter Agnes<br />

Bernauer im „bairischen Stück“ Die Bernauerin<br />

von Carl Orff, als sie ahnt, dass sie ob ihrer<br />

Liebe zu Herzog Albrecht (Gerhart Lippert)<br />

bald sterben muss. Weil die wunderbare<br />

Schauspielerin Christine Ostermayer vor<br />

40 Jahren dafür eine todtraurige gebrochene<br />

Stimme besaß, ist dies der Höhepunkt der<br />

einzigen Gesamtaufnahme auf Tonträgern, sieht<br />

man vom Live-Mitschnitt aus dem Jahr <strong>20</strong>09 im<br />

Florian-Stadl von Kloster Andechs ab. Noch<br />

sparsamer als in anderen Werken für das<br />

Musiktheater setzt Orff, der selbst den Text<br />

geschrieben hat, hier Klänge und Gesungenes<br />

ein. Das Münchner Rundfunkorchester und der<br />

Chor des Bayerischen Rundfunks (als laszive<br />

Badgäste, geifernde Hexen oder klagendes Volk)<br />

sowie Horst Laubenthal und Lucia Popp spielen,<br />

singen und sprechen unter Kurt Eichhorn mit<br />

praller Theatralität und präziser Schärfe. KLK<br />

Carl Orff: „Die Bernauerin“,<br />

Ostermayer, Lippert, Popp<br />

u. a., Chor des Bayerischen<br />

Rundfunks, Münchner<br />

Rundfunkorchester,<br />

Kurt Eichhorn (Orfeo)<br />

Marco Longhini<br />

Atemberaubend<br />

Was erlauben sich Monteverdi? Der in<br />

abgewandelter Form zum geflügelten Wort<br />

avancierte Spruch eines italienischen<br />

Fußballgelehrten lag vielleicht auch<br />

manchen Zeitgenossen Monteverdis auf<br />

der Zunge. Denn atemberaubend und im<br />

besten Sinne unerhört war diese Musik<br />

damals schon – und sie ist es auch heute<br />

noch. Mit dieser Box liegt die Frucht einer<br />

jahrzehntelangen Beschäftigung des<br />

Musikgelehrten und Musikers Marco<br />

Longhini mit den Madrigalen Monteverdis in<br />

gesammelter Form vor. Entstanden ist eine<br />

Gesamtschau der Monteverdi’schen<br />

Madrigalkunst, virtuose Vokalkünsteleien,<br />

von Longhinis Solistenensemble Delitiæ<br />

Musicæ auf einem durchweg brillanten<br />

Niveau zum Besten gegeben. Die Box hat<br />

es in sich: gut 16 Stunden Madrigale, knapp<br />

680 g schwer, insgesamt 15 CDs samt<br />

Booklets mit kurzen Einführungen und<br />

allen italienischen Texten mit deren<br />

englischer Übersetzung. Ein gewichtiges<br />

Opus, im wahrsten<br />

Sinne des Wortes.<br />

GKV<br />

Claudio Monteverdi:<br />

„Complete Madrigals“,<br />

Delitiæ Musicæ, Marco<br />

Longhini (Naxos)<br />

Martin Schläpfer<br />

Tanzen statt Kühe<br />

melken<br />

Ursprünglich plante Martin Schläpfer ein<br />

Leben als Biobauer. Doch es kam anders:<br />

Über das Geigenspiel und den Eiskunstlauf<br />

fand der Schweizer zum Tanz. <strong>20</strong>09 wurde er<br />

Ballettdirektor an der Deutschen Oper am<br />

Rhein. Dort brachte er das Ensemble bald zu<br />

ungeahnten Höhen. Schläpfer verpasste dem<br />

angestaubten Schwanensee eine choreografische<br />

Frischzellenkur und schuf Ballette zur<br />

Musik der Komponistin Adriana Hölszky. Im<br />

<strong>September</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> übernimmt er die Leitung<br />

des Wiener Staatsballetts. Davor führte er<br />

zwischen Juni <strong>20</strong>19 und April <strong>20</strong><strong>20</strong> intensive<br />

Gespräche mit der Tanzjournalistin Bettina<br />

Trouwborst, die in dem durch aufwendige<br />

Fotostrecken ergänzten Interview-Buch<br />

Mein Tanz, mein Leben resultierten. Schläpfer<br />

spricht darin ausführlich über Kunst im<br />

Allgemeinen und Tanz im Speziellen sowie<br />

über Politik, seine Ängste und privates Glück.<br />

Die Schilderungen seines abwechslungsreichen<br />

Lebens sind gewürzt mit<br />

klugen Reflexionen und<br />

bieten eine spannende<br />

Lektüre. MV<br />

Martin Schläpfer: „Mein Tanz, mein<br />

Leben. Gespräche mit Bettina<br />

Trouwborst“ (Henschel Verlag)<br />

Marc Minkowski<br />

Große Messe, kleine Besetzung<br />

Die c‐Moll-Messe ist neben dem Requiem das größte und wichtigste<br />

Fragment in Mozarts Schaffen. Doch während im Falle der Totenmesse<br />

die lange Zeit legendenhaft verdunkelten Entstehungsumstände längst<br />

durchleuchtet werden konnten, wissen wir bis heute nicht zweifelsfrei,<br />

warum Mozart in seiner Wiener Zeit nochmals eine Messe für Salzburg<br />

in Angriff nahm (vermutlich eine Votivgabe für die Genesung Constanzes)<br />

– und dann trotzdem unvollendet liegen ließ. Da nicht einmal die<br />

komponierten Teile vollständig und in Originalgestalt überliefert sind,<br />

ist der Torso bis heute Forschungsgegenstand und hat zahlreiche<br />

Komplettierungen und Rekonstruktionen provoziert.<br />

In dieser Neuaufnahme mit Les Musiciens du Louvre wendet Marc<br />

Minkowski einen Gedanken auf Mozart an, der aus der authentischen<br />

Bach-Interpretation kommt: Sein Chor umfasst nur neun Stimmen (drei<br />

Soprane, sonst zwei Sänger pro Stimmlage). Da heißt es umdenken, weg<br />

von der „Great Mass“, wie das Stück im englischen Sprachraum genannt<br />

wird, hin zu einer gewiss feinen, aber doch gleichsam kleinen Darstellung.<br />

An den intimen Stellen bringt das Vorteile, geht an den monumentalexpressiven,<br />

auf dramatische Wirkung hin angelegten Doppelchor-<br />

Passagen (Qui tollis) jedoch auch mit einem etwas forcierten Klang einher.<br />

Was den Notentext betrifft, lässt Minkowski neuere Vorschläge links<br />

liegen und greift zurück auf Helmut Eders vergleichsweise zurückhaltende<br />

Edition der Neuen Mozartausgabe aus den 1980er-Jahren – vermutlich,<br />

weil sie seiner Deutung entgegenkommt. Die Sopranistinnen Ana Maria<br />

Labin und Ambrosine Bré lassen freilich keineswegs<br />

vibratolose, dünne Barockstimmen hören,<br />

sondern haben neben Saft und Kraft auch<br />

individuellen Charakter im Ton. WW<br />

Wolfgang Amadeus Mozart: „Mass in c Minor“, Solisten, Les<br />

Musiciens du Louvre, Marc Minkowski (Pentatone)<br />

Quadro Nuevo<br />

Der Klang des Meeres<br />

Das Ensemble Quadro Nuevo fängt auf seinem Album „Mare“ die<br />

inspirierende Kraft des Meeres ein. In seinen Kompositionen und<br />

Improvisationen spiegeln sich das sanfte Rauschen der Brandung, das<br />

Flimmern des Sonnenlichts und die Weite, die Herz und Geist beflügelt.<br />

Wie stets bei dem Ensemble, das seine Anregungen auf ausgedehnten<br />

Reisen durch die Welt findet, hat jeder Titel eine Geschichte und ist<br />

getragen vom Erleben und den Begegnungen der Musiker. So befindet<br />

sich auf dem Album etwa eine Hommage an das legendäre Kairoer Café<br />

Groppi, in dem einst auch der Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz<br />

seine Zeitungen las. Beigetragen hat sie der Ud-Spieler Basem<br />

Darwisch, mit dem Quadro Nuevo quer durch Ägypten zog. Eine<br />

Vielfalt an Harmonien, Rhythmen und Klangfarben breiten die Musiker<br />

aus. Mulo Francel ist nicht nur auf seinem Saxofon und der Klarinette<br />

zu hören, sondern greift für Titel wie Plage à trois oder die alte<br />

neapolitanische Canzone Torna a Surriento, die den Pianisten Chris Gall<br />

zu träumerischen Improvisationen anregt, zur Mandoline. Andreas<br />

Hinterseher spielt neben seinem Akkordeon und dem Bandoneon die<br />

Trompete. Und D. D. Lowka verleiht den Stücken mit seinem Bass die<br />

Tiefe und mit Perkussion den Rhythmus. Für das Ensemble schließt sich<br />

ein Kreis. Denn mit der italienischen Canzone brachte es 1998 sein<br />

Debüt-Album heraus. Auch die Erinnerungen an die Zeit, da die<br />

Musiker die mediterranen Städte als Straßenmusiker durchstreiften, um<br />

verschollene Melodien aufzustöbern und zu neuem Leben zu erwecken,<br />

klingen auf dem Album nach. Die „mediterrane<br />

Leichtigkeit des Seins“ durchzieht diese Musik<br />

ebenso wie jene Melancholie und Sehnsucht,<br />

von der die alten, von Einflüssen vieler Kulturen<br />

geprägten Melodien zu erzählen wissen. RRR<br />

Quadro Nuevo: „Mare“ (GLM)<br />

43


H Ö R E N & S E H E N<br />

Sarah Willis<br />

Energie und<br />

Leidenschaft<br />

Sarah Willis ist nicht nur Hornistin bei den Berliner Philharmonikern.<br />

Die Britin tanzt zudem auch gerne Salsa. Auf ihrem<br />

Album „Mozart y Mambo“ kombiniert sie deshalb westliche<br />

Klassik und kubanische Volksmusik. Aufgenommen wurde die<br />

Crossover-CD Anfang <strong>20</strong><strong>20</strong> in Havanna mit dem Havana<br />

Lyceum Orchestra. Dessen Energie und Leidenschaft inspirierten<br />

Sarah Willis spürbar – egal, ob sie gemeinsam mit den<br />

jungen Musikern Mozart-Konzerte und traditionelle Lieder wie<br />

Dos Gardenias und El Manisero interpretiert oder ob sie beides<br />

in neuen, tanzbaren Arrangements zu einer transkontinentalen<br />

Leistung verbindet. Als „Musikerin mit Mission“, die sich für<br />

unterhaltsame Vermittlung von Musik engagiert, möchte Sarah<br />

Willis talentierte Nachwuchsmusiker<br />

nachhaltig fördern: Ein Euro vom Erlös<br />

jeder CD geht an den Fonds „Instruments<br />

for Cuba“. ASK<br />

„Mozart y Mambo“, Sarah Willis (Alpha)<br />

Schola Heidelberg & Ensemble Aisthesis<br />

Das Abenteuer der<br />

Rekonstruktion<br />

Es ist nicht bekannt, warum der Dirigent Hermann Scherchen Luigi<br />

Nonos Polifonica – Monodia – Ritmica für die Uraufführung bei den<br />

Darmstädter Ferienkursen 1951 auf ein Drittel zusammengestrichen hat.<br />

Die im Sendesaal des Hessischen Rundfunks Frankfurt aufgenommene<br />

Rekonstruktion von Ensemble Aisthesis ist dagegen getragen von<br />

behutsamer und intensiver Achtsamkeit für alle Mikrowerte der<br />

Tonerzeugung. Noch immer faszinieren Nonos Kompositionsverfahren,<br />

welche die Brücken zum traditionellen Hörverständnis einreißen, seine<br />

auch in der langen Urfassung tragfähige Rhythmisierung und die Vielzahl<br />

erforderlicher Spieltechniken. Ein Bogen Nonos zu Salvatore Sciarrinos<br />

L’alibi della parola – Des Wortes Alibi besteht darin, dass beide um die<br />

Beziehung zwischen schriftlich fixiertem Material<br />

und der Tonproduktion ringen. Gesungene und<br />

gespielte Phoneme lassen zwischen Erzeugung und<br />

Erklingen eine Vielzahl von Assoziationen zu. DIP<br />

Luigi Nono, Salvatore Sciarrino: „Parole e Testi“,<br />

Schola Heidelberg, Ensemble Aesthesis, Walter Nußbaum (Divox)<br />

Anouchka & Katharina Hack<br />

Abschiedsgesang<br />

Noch ruhige Zeiten sind es, als Dimitri Schostakowitsch 1934 die<br />

Cellosonate op. 40 schreibt. Bald wird man in der Prawda drohen:<br />

„Dieses Spiel kann böse enden.“ Denn Stalin hat nach einer Aufführung<br />

von Lady Macbeth von Mzensk das Theater schweigend verlassen.<br />

Über Monate wird der Komponist aus Angst vor der Verhaftung in<br />

Straßenkleidung schlafen. Über 40 Jahre später, hochdekoriert und<br />

augenscheinlich arrangiert mit dem System, schreibt er verbittert: „Ich<br />

denke viel über das Leben, den Tod und die Karriere nach. (…) Ich bin<br />

enttäuscht von mir selbst.“ Todkrank rafft er sich zu der Violasonate<br />

op. 147 auf, die posthum uraufgeführt wird. Die Schwestern Anouchka<br />

und Katharina Hack und Gautier Capuçon ziehen alle Register, werden<br />

dem spätromantischen „cantabilen Ausdrucksgehalt“ von op. 40<br />

ebenso gerecht wie dem Abschiedsgesang von<br />

op. 147, einer wehmütigen Fantasie über den<br />

Beginn von Beethovens Mondscheinsonate. TPR<br />

Schostakowitsch: „Sonatas op. 40 & op. 147, Prélude op. 97“,<br />

Duo Anouchka & Katharina Hack, Gautier Capuçon (Genuin)<br />

Marc Albrecht<br />

Leidenschaft und Melancholie<br />

Alexander von Zemlinskys 1905 uraufgeführte Orchesterkomposition<br />

Die Seejungfrau mit ihrem schwelgerisch spätromantischen Kolorit scheint<br />

ohne seine Begegnung mit Alma Schindler, spätere Mahler, kaum<br />

verständlich. Die gut dokumentierte Enttäuschung über seine zurückgewiesenen<br />

Liebesbekundungen traf den Komponisten tief und inspirierte<br />

ihn nicht nur zu seinen Opern Der Zwerg und Der Traumgörge, sondern<br />

auch zu seiner sinfonischen Dichtung Die Seejungfrau nach dem gleichnamigen<br />

Märchen von Hans-Christian Andersen. Marc Albrecht legt mit<br />

dem Netherlands Philharmonic Orchestra seine Interpretation des<br />

Werkes ganz in der Tradition von Wagner und Strauss an und zeigt nicht<br />

nur ein musikalisches Kaleidoskop voller Leidenschaft und Melancholie,<br />

sondern nimmt auch die von Zemlinsky gestrichene, <strong>20</strong>13 im Rahmen der<br />

kritischen Edition erstmals publizierte Meerhexenmusik<br />

für den zweiten Satz mit auf. FA<br />

Zemlinsky: „Die Seejungfrau“,<br />

Netherlands Philharmonic Orchestra, Marc Albrecht (Pentatone)<br />

FOTO: JP RETEL ACT<br />

Vincent Peirani & Émile Parisien<br />

Tango goes Jazz<br />

<strong>20</strong>12 lernten der Akkordeonist Vincent Peirani und der Sopransaxofonist<br />

Émile Parisien einander im Quartett des langjährigen Joachim-<br />

Kühn-Schlagzeugers Daniel Humair kennen. Mittlerweile haben sie<br />

durch gemeinsame Auftritte in über 600 Konzerten eine phänomenale<br />

Qualität des Zusammenspiels erreicht. Ihre CD „Abrazo“ vereint Jazz-<br />

Elemente mit der rhythmischen Energie und der Melodik des Tangos.<br />

Neben Stücken von südamerikanisch inspirierten Meistern wie Astor<br />

Piazzolla oder Xavier Cugat und der Nummer Crave von Jelly Roll<br />

Morton finden sich darauf auch mehrere Eigenkompositionen sowie ein<br />

originelles Arrangement des Kate-Bush-Songs Army Dreamers. Mühelos<br />

bewegen sich die beiden Franzosen zwischen Jazz, Tango und französischer<br />

Folklore. Dabei beeindruckt die animalische Energie<br />

von Peirani am Akkordeon ebenso wie seine Unabhängigkeit<br />

der Hände und der samtige Ton von Émile Parisiens<br />

Saxofonspiel. MV<br />

Émile Parisien, Vincent Peirani: „Abrazo“ (ACT, auch als LP erhältlich)<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Trio Machiavelli<br />

Geheimnisvolle<br />

Leichtigkeit<br />

Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />

schrieb Maurice Ravel sein Klaviertrio in a-Moll.<br />

Die heitere Grundstimmung lässt vergessen,<br />

dass zur selben Zeit auf den Schlachtfeldern<br />

die Kanonen donnerten. Zart hingetupft<br />

erklingt das Klavierthema am Anfang des<br />

ersten Satzes, „Modéré“. In ihrer betörenden<br />

Schwerelosigkeit verströmt diese Musik etwas<br />

zutiefst Rätselhaftes. Das Trio Machiavelli<br />

versteht es, die komplex geschichteten<br />

Rhythmen mit einem subtilen poetischen<br />

Zauber zu verbinden. Die aufstrebende<br />

Pianistin Claire Huangci musiziert in ihrem<br />

Ensemble mit der Geigerin Solenne Païdassi<br />

und dem Cellisten Tristan Cornut. Mit dem<br />

Bratscher Adrien Boisseau nehmen sie sich<br />

Ernest Chaussons Klavierquartett in A-Dur vor.<br />

Es ist das letzte große Kammermusikwerk<br />

Chaussons, der 1899 im Alter von nur 44<br />

Jahren tödlich mit dem Fahrrad verunglückte<br />

und heute im Schatten von César Franck,<br />

Claude Debussy und Gabriel Fauré steht. Sein<br />

Trio bezeichnete er als leicht und fast<br />

übermütig. Das Trio Machiavelli verleiht ihm<br />

durch sein Spiel auch<br />

einen Hauch französischer<br />

Eleganz. CK<br />

„Ravel & Chausson“, Trio<br />

Machiavelli (Berlin Classics)<br />

Kevin John Edusei<br />

Faszinierendes<br />

Missing Link<br />

Dass Franz Schubert neben der Unvollendeten<br />

und der Großen in C-Dur nicht nur sechs<br />

Jugendsinfonien geschrieben hat, sondern dass<br />

man ihn als Sinfoniker ohne die Kenntnis der<br />

wichtigen Fragmente dieser Gattung gar nicht<br />

erfassen kann, hat sich in der jüngeren<br />

Generation herumgesprochen. Kevin John<br />

Edusei bereichert seine entstehende Gesamteinspielung<br />

des Zyklus mit den Münchner<br />

Symphonikern durch diese teils fantastischen<br />

Einblicke in die Komponistenwerkstatt. Dabei<br />

kann im Falle der Sinfonie E-Dur D 729 des<br />

24-Jährigen von einem Fragment gar nicht die<br />

Rede sein: Jeder Takt ist im Entwurf vorhanden.<br />

Edusei deutet sie, wie auch die Dritte, als<br />

Werke des Aufbruchs in neue Gefilde. Die<br />

Dritte wird dabei weder verharmlost noch<br />

aufgeblasen: Die Münchner erfreuen mit<br />

Spielwitz und einer Prise Frechheit. Und die<br />

E-Dur-Sinfonie mit ihren reichen Farb- und<br />

Stimmungsschattierungen entpuppt sich als<br />

faszinierendes Missing Link zur Großen in C-Dur<br />

– und das mit der größten Bläserbesetzung<br />

aller Schubert-Sinfonien: vier Hörner nebst<br />

Posaunen. WW<br />

Schubert: „Symphonie<br />

Nr. 3 & Nr. 7“,<br />

Münchner Symphoniker,<br />

Kevin John Edusei<br />

(Münchner Symphoniker)<br />

Barrie Kosky<br />

Ein Riesenspaß<br />

Freche, lustvolle Parodie: Barrie Koskys<br />

Inszenierung von Jacques Offenbachs Orphée<br />

aux enfers bei den Salzburger Festspielen <strong>20</strong>19<br />

treibt den Spaß, den schon der Komponist mit<br />

dem Mythos vom thrakischen Sänger trieb, auf<br />

die Spitze. Eurydice in Gestalt von Kathryn<br />

Lewek hat in Spiel und Vollblutkostüm den<br />

Mut zu lebenspraller Selbstironie und ist eine<br />

Parodie auf Anna Netrebko. Dabei feuert sie<br />

immer wieder Spitzentöne ab. Joel Prieto als<br />

eitler Orpheus ist noch schöner als David<br />

Garrett und quält seine Gattin nicht nur als<br />

unermüdlicher Geiger, sondern auch mit<br />

smartem Tenor. Alle anderen Partien sind<br />

ebenfalls mit brillant singenden, immer an der<br />

Grenze zum satten Klamauk balancierenden<br />

Vollblutkomödianten besetzt. Die Wiener<br />

Philharmoniker unter Enrique Mazzola sind in<br />

bester Neujahrskonzert-Laune, zwölf Tänzerinnen<br />

und Tänzer wurden nicht nur für den<br />

berühmten Cancan perfekt choreografiert, und<br />

das Vocalconsort Berlin als feierwütige Pariser<br />

Hautevolee lässt das Ganze zu einem Riesenspaß<br />

werden. KLK<br />

Offenbach: „Orphée aux<br />

enfers“, Barrie Kosky,<br />

Joel Prieto, u. a. Wiener<br />

Philharmoniker,<br />

Enrique Mazzola (CMajor)<br />

Eckart Runge<br />

Ein musikalisches Multiversum<br />

Am 2. Juli ist Nikolai Kapustin in Moskau gestorben. In einem Interview sagte<br />

er vor <strong>20</strong> Jahren, er wolle nicht berühmt werden. Dieser Wunsch wird sich<br />

nicht erfüllen. Das Interesse an seinem Gesamtwerk ist enorm gewachsen.<br />

Diese traumhafte Ersteinspielung von Kapustins erstem Cellokonzert ist das<br />

Solodebüt von Eckart Runge. Runge war bis <strong>20</strong>19 Cellist des Artemis<br />

Quartetts. Kein anderer scheint so prädestiniert für dieses Werk wie er. Nicht<br />

nur, dass er die Noten des Werkes aus den Händen des Komponisten bekommen<br />

hat und mehrfach Gelegenheit hatte, mit ihm die Interpretationsmöglichkeiten<br />

durchzusprechen – was hier zu hören ist, haut einen schier um. Die überwältigende<br />

Energie und Tiefe des Zusammenspiels, die Runge mit dem Rundfunk-<br />

Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel gelungen ist, setzt<br />

für alle zukünftigen Aufnahmen Maßstäbe. Neben dieser Tiefe blitzt immer<br />

wieder eine eigenwillig augenzwinkernde Gewitztheit auf. Die Spezialität des<br />

ukrainischen Komponisten, Klassik und Jazz wie eine Kreuzung in der<br />

Pflanzenwelt in eine Hybridgattung übergehen zu lassen, ist in dieser Form<br />

einzigartig und unvergleichlich – Kapustin eben. „Übergänge“ („Transitions“) –<br />

kein anderer Titel hätte treffender sein können. Weder das Vorher noch das<br />

Nachher spielt eine Rolle, alles Statische wird belanglos, die Phase des Übergangs,<br />

das Fließende selbst wird zum Fokus. Das entspricht auch dem Übergang zum<br />

Cellokonzert Nr. 1 von Alfred Schnittke. Was sich bei Kapustin horizontal<br />

ausbreitet, schichtet sich bei Schnittke in vielfacher Stilistik vertikal. In beiden<br />

Werken ist es nicht Eklektik, sondern universelle Weisheit, die Musik als Ganzheit<br />

erfahrbar werden lässt. Sind es bei Kapustin die Spektralfarben,<br />

die ein musikalisches Multiversum erleuchten, klingt in Schnittkes<br />

Cellokonzert ein dunkles Strömen ferner Galaxien an. SELL<br />

Kapustin, Schnittke: „Transitions“, Eckart Runge,<br />

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frank Strobel (Capriccio)<br />

45


H Ö R EHN Ö& RS E N H & E SN E| HA EN NZ E I G E<br />

WELTSTARS, NEWCOMER UND DER<br />

GROSSE MUT ZU IMMER NEUEM<br />

Das Label ORFEO feiert seinen 40. Geburtstag.<br />

Zum 40. Geburtstag<br />

von ORFEO erscheinen<br />

große Boxen mit<br />

historischen Aufnahmen<br />

ebenso wie neue Alben<br />

der Exklusivkünstler<br />

Vor 40 Jahren fing alles an. Damals wurde der Klassikmarkt<br />

von großen Label-Giganten beherrscht, die über die Auswahl<br />

der zu veröffentlichenden Musik entschieden. Kleinere<br />

Labels gab es zwar, doch sie kamen und gingen oft<br />

mit kurzen Halbwertszeiten – Nischen-Phänomene im<br />

Reich der Musik-Goliaths. Dann kam ORPHEUS – kurz später dann<br />

ORFEO Classic Schallplatten und Musikfilm GmbH benannt –, ein<br />

„Independant Label“, bevor der Begriff überhaupt erfunden war.<br />

Im November 1980 nahm das Label Die Bernauerin von Carl<br />

Orff auf – dem großen deutschen Komponisten, Musikpädagogen<br />

und Weltbürger, der dieses Jahr seinen 125. Geburtstag feiert.<br />

Gleichzeitig wurde über das erste große Opernprojekt verhandelt:<br />

eine Aufnahme von Richard Strauss’ Oper Arabella mit July Varady<br />

und Dietrich Fischer-Dieskau in den Hauptrollen, das dann im<br />

Januar im Salvatorkeller in München realisiert werden konnte.<br />

Und damit nahm die Erfolgsgeschichte von ORFEO ihren Lauf:<br />

Zunächst stand die Vokalmusik mit Opernraritäten und selten<br />

gesungenen Liederzyklen im Fokus. Mitschnitte vom Symphonieorchester<br />

des Bayerischen Rundfunks fanden ebenso ihren Platz<br />

wie historische Aufnahmen der Festspiele in Bayreuth und Salzburg<br />

sowie legendäre Konzerte an der Wiener oder der Bayerischen<br />

Staatsoper.<br />

Damit waren schnell auch die ganz großen Namen vertreten:<br />

Ob Agnes Baltsa, Grace Bumbry, Edita Guberová oder Jessye Norman,<br />

ob Friedrich Gulda, Emil Gilels, Claudio Arrau oder Rudolf<br />

Serkin – das Solisten-Who’s-Who fand ebenso seinen Platz wie die<br />

Dirigenten Karl Böhm, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan<br />

oder Carlos Kleiber. Eigenproduktionen wurden von Anfang an<br />

digital eingespielt: seinerzeit noch ein großes technisches Novum.<br />

Später wurde mit Einspielungen von Komponisten des <strong>20</strong>.<br />

Jahrhunderts Pioniergeist bewiesen, sei es mit Einspielungen von<br />

Ernst Krenek, Erwin Schulhoff oder Viktor Ullmann. Doch auch<br />

junge Talente sollten durch ORFEO entdeckt und gefördert werden.<br />

Einige davon sind heute längst zu Weltstars avanciert, seien es Daniel<br />

Müller-Schott, der bis heute Exklusivkünstler bei ORFEO ist, Arabella<br />

Steinbacher, Diana Damrau, Andris Nelsons, Baiba Skride<br />

oder Pavol Breslik. Bis heute sind diese Förderungen ein wichtiger<br />

Bestandteil der Arbeit des Labels – man darf gespannt sein, welche<br />

Entdeckungen es in den kommenden Jahren geben wird.<br />

Doch ORFEO hatte auch schwierige Zeiten. 1984 geriet das<br />

Label in finanzielle Turbulenzen, die durch das persönliche – auch<br />

finanzielle – Engagement einiger Künstler schließlich zur erfolgreichen<br />

Neugründung als ORFEO International Music GmbH<br />

führten.<br />

Aktuell zählt das ORFEO-Archiv mehr als 1.000 Aufnahmen,<br />

darunter etliche Weltersteinspielungen. Auch das digitale Geschäft<br />

wird mit hochwertigen Downloads und Streamings konsequent<br />

ausgeweitet. Zum Geburtstag werden außerdem insgesamt vier<br />

Jubiläumsboxen à zehn CDs mit besonders legendären Aufnahmen<br />

erscheinen, die den Themenschwerpunkten Dirigenten, Stimmen,<br />

Pianisten und Opernraritäten gewidmet sind. Da bleibt nur, ein<br />

herzliches „Happy Birthday“ zu wünschen!<br />

n<br />

46 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

ZEIT FÜR EINE NEUAUSRICHTUNG<br />

Ein Blick auf die Beethoven-Aufnahmen der jüngsten Zeit.<br />

Wenn das große Beethoven-Jahr <strong>20</strong><strong>20</strong> zu Ende<br />

geht, werden die Orchester so wenig Beethoven<br />

gespielt haben wie seit mehr als <strong>20</strong>0 Jahren<br />

nicht. Die Covid-Zwangspause hat viel zur Spaltung<br />

unserer Gesellschaft beigetragen, aber sie<br />

kann auch zur Reflexion und Neuausrichtung genutzt werden. Welche<br />

Kräfte werden sich durchsetzen?<br />

Mit Blick auf Beethoven heißt das auch: Wie ist er künftig zu<br />

spielen, wenn man ihn wieder spielen darf? Derzeit befindet er sich<br />

ja im doppelten ideologischen Würgegriff einerseits der Metronomwächter,<br />

die jede „Untertretung“ der vorgeschriebenen Geschwindigkeit<br />

unwohlwollend verbuchen, andererseits der längst zur grotesken<br />

Formelhaftigkeit erstarrten Dogmen der selbsternannten „historischen<br />

Aufführungspraxis“. Sicher, erstere Bewegung hat dafür gesorgt,<br />

dass sich keine falsche Behäbigkeit einstellt, und letztere ging aus dem<br />

Protest gegen die pauschale philharmonische Routine hervor und<br />

versorgte uns mit einer neuen Sensibilität für ausgestorben geglaubte<br />

Klangfarben. Doch heute sind diese einst so revolutionär und authentisch<br />

empfundenen Bewegungen längst zum autoritären Akademismus<br />

degeneriert, der ein betriebsblindes Regelwerk predigt,<br />

damit die Qualitätsunterschiede nivelliert und die individuellen<br />

Stimmen der großen Komponisten<br />

komplett dem Alltagsbewusstsein eines vermeintlichen<br />

Zeitstils unterwirft.<br />

Warum hat Beethoven so irrsinnig<br />

schnelle, teils unausführbare und mit den Resonanzgesetzen<br />

im realen Raum unvereinbare<br />

Metronomzahlen unterzeichnet? Wie wäre es,<br />

wenn dies die psychologische Folge seiner<br />

zunehmenden Taubheit gewesen ist? Wenn ich nichts<br />

mehr höre, vor allem keine Feinheiten mehr, ist Langsamkeit<br />

doch unerträglich langweilig. Und wieso sollten<br />

fast alle Töne, egal wie lang sie notiert sind, kurz<br />

gespielt, warum immer primitiv die Eins des Takts<br />

betont werden? Warum darf sich ein Orchester<br />

nicht jene Freiheiten in der Tempogestaltung<br />

nehmen, die bei einem Pianisten als Elemente<br />

der Interpretation goutiert werden?<br />

An schlechten Beispielen ist kein Mangel,<br />

es seien nur stellvertretend die neue dänische<br />

Gesamtaufnahme der Sinfonien genannt: kurz,<br />

schnell, ruppig und ohne jede Poesie. Auch Thomas<br />

Adès als Dirigent fällt in dieses Muster. Da<br />

ist dann Teodor Currentzis in seiner singulären Mischung aus Hochbegabung<br />

und Größenwahn doch interessanter, auch wenn er mit<br />

seiner Einschätzung der Neunten Sinfonie eher zur fantastischen<br />

Mythenbildung beiträgt als zu künstlerischer Aufklärung. Dann<br />

wohl doch besser Robert Trevino, der junge Chef in Malmö, der<br />

zwar auch wenig Zeit hat, diese jedoch mit unmissverständlicher<br />

Ernsthaftigkeit und obsessiver Intensität erfüllt. Während „Beethoven<br />

Re-Imagined“ unter Yaniv Segal gutwillig als interessantes<br />

Experiment bezeichnet werden kann, hat Rémy Ballot mit seinem<br />

Klangkollektiv Wien in kleiner Besetzung eine wunderbar natürlich<br />

beschwingte, drahtig geformte und wach ausgehörte Eroica vorgelegt<br />

(Gramola). Damit erinnert er an große Meister vergangener Tage,<br />

unter welchen Hermann Scherchen (Deutsche Grammophon) grandios<br />

sperrig und Leonard Bernstein (Sony) musikalisch effektsicher<br />

wirkte, Hans Rosbaud (SWR Classic) hingegen als ganz großer<br />

Gestalter, dessen Beethoven zum Gelungensten gehört, was auf<br />

Tonträger dokumentiert wurde.<br />

Mit sämtlichen Streichquartetten tritt das phänomenale Quatuor<br />

Ébène (Warner) dem Juilliard Quartet der 1960er-<br />

Jahre (Sony) farbenreich zur Seite. Das Herrlichste<br />

kommt von Pianisten: die charaktervolle Gesamtaufnahme<br />

der Sonaten durch Konstantin Lifschitz (Alpha),<br />

die späten Miniaturen mit dem feinzeichnenden Paul<br />

Lewis (harmonia mundi), die Klavierkonzerte mit<br />

dem ideal balancierten Martin Helmchen (Alpha),<br />

und die große Überraschung: die feinsinnige Mari<br />

Kodama mit Bearbeitungen durch spätere Meister<br />

sowie der Ersteinspielung von Beethovens Variationen<br />

über das Thema des vierten Satzes von<br />

Mozarts Klarinettenquintett (Pentatone), wo<br />

die Bezüge zwischen Beethoven und Mozart<br />

deutlicher denn je zutage treten.<br />

„Beethoven Around the World. The Complete String Quartets“,<br />

Quatuor Ébène (Warner Classics);<br />

„Beethoven String Quartets“, Juilliard String Quartet (Sony);<br />

„32 Sonaten“, Konstantin Lifschitz (Alpha);<br />

„Für Elise“, Bagatelles, Paul Lewis (harmonia mundi);<br />

„Piano Concertos 1 & 4“, Martin Helmchen, Deutsches Symphonie-Orchester<br />

Berlin, Andrew Manze (Alpha);<br />

„Piano Concertos 2 & 5“, Martin Helmchen, Deutsches Symphonie-Orchester<br />

Berlin, Andrew Manze (Alpha);<br />

„Kaleidoscope. Beethoven Transcriptions“, Mari Kodama (Pentatone)<br />

47


R Ä T S E L<br />

& D A N K<br />

GEWINNSPIEL<br />

Was verbirgt sich hinter diesem Text?<br />

Ohne mich kommt eigentlich keine Musik<br />

aus! Außer bei so Fantasten, die völlig frei<br />

vor sich hindüdeln. Ansonsten schaff ich erst<br />

mal klare Verhältnisse. Dabei präsentiere ich<br />

mich in meinem Aussehen als wahrer Verwandlungskünstler:<br />

Ob elegant geschwungen,<br />

behäbig bauchig oder schlicht geometrisch.<br />

Wehe dem, der mich im Eifer des<br />

Gefechts übersieht! Da kommt schnell eine<br />

ganz schöne Miss-Stimmung auf!<br />

Erfunden hat mich der clevere Benediktinermönch<br />

und musiktheoretische Tüftler<br />

Guido von Arezzo. Das war immerhin<br />

schon um das Jahr 1025, ich blicke also auf eine Menge Lebensjährchen<br />

zurück, und ich hab mich in den letzten 1.000 Jahren gehörig<br />

verändert. Aber es ist ja auch einiges Wasser den Tiber runtergeflossen,<br />

seit mich Guido in seiner Schrift Antiphonarium in Rom Papst<br />

Johannes XIX. überreichte. Lustigerweise werde ich bis heute meist<br />

nach Singstimmen benannt, selbst wenn ich in reiner Instrumentalmusik<br />

genauso omnipräsent bin wie in geträllerter. Denn mich gibt’s<br />

pro Werk ja bei Weitem nicht nur einmal!<br />

VIELEN<br />

DANK!<br />

RÄTSEL LÖSEN UND EINE<br />

CD-BOX GEWINNEN!<br />

Wer oder was ist hier gesucht? Wenn Sie die<br />

Antwort kennen, dann nehmen Sie unter<br />

www.crescendo.de/mitmachen an der Verlosung<br />

teil. Diese CD-Box gibt es zu gewinnen: „The Cleveland Orchestra.<br />

A New Century“, Franz Welser-Möst (The Cleveland Orchestra).<br />

Einsendeschluss ist der 10.10.<strong>20</strong><strong>20</strong>. Gewinnerin unseres letzten Gewinnspiels<br />

ist Genoveva Schmidt aus Paderborn. Die Lösung war Triangel.<br />

Wir danken allen Unterstützern der <strong>CRESCENDO</strong> Nothilfe ganz<br />

herzlich! Nach dem Ausbruch von COVID-19 wollten wir schnelle,<br />

unbürokratische Hilfe für in Not geratene Musiker anbieten, bis<br />

staatliche Hilfen greifen. Wir konnten <strong>20</strong>.000 Euro sammeln und<br />

damit also 40 Musikern mit je 500 EUR unter die Arme greifen.<br />

Berührt und erschüttert hat uns die Resonanz unserer Aktion.<br />

700 Anträge in Not geratener Musiker erreichten uns. Menschen,<br />

die von einer Sekunde auf die andere nicht wussten, wovon sie ihre<br />

Miete bezahlen oder ihre Kinder ernähren sollten.<br />

Das Kuratorium aus Art But Fair e. V., Deutschem Musikrat,<br />

Münchener Konzertverein und GEMA sah sich mit <strong>CRESCENDO</strong><br />

Herausgeber Winfried Hanuschik und <strong>CRESCENDO</strong> Kolumnist<br />

Axel Brüggemann also mit der Aufgabe konfrontiert, Kriterien für<br />

die Spendenvergabe zu erarbeiten. Ergebnis: Familiensituation und<br />

Einkommen. Unser Dank gilt allen Spendern, aber auch allen Künstlern<br />

für das bewegende Feedback und die Solidarität untereinander.<br />

<strong>CRESCENDO</strong> führt die Nothilfe fort. Wir lassen Sie nicht allein!<br />

FOTOS: WIKIMEDIA<br />

IMPRESSUM<br />

VERLAG<br />

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München<br />

Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11, info@crescendo.de, www.crescendo.de<br />

Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger<br />

und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring<br />

HERAUSGEBER<br />

Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de<br />

VERLAGSLEITUNG<br />

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

ART DIRECTOR<br />

Stefan Steitz | steitz@crescendo.de<br />

CHEFREDAKTEURIN<br />

Barbara Schulz | schulz@crescendo.de<br />

LEITENDE REDAKTEURIN<br />

Dr. Maria Goeth (MG) | goeth@crescendo.de<br />

RESSORTS „HÖREN & SEHEN“ UND „ERLEBEN“<br />

Dr. Ruth Renée Reif (RRR) | reif@crescendo.de<br />

RESSORTS „KÜNSTLER“ UND „LEBENSART“<br />

Barbara Schulz (BS) | schulz@crescendo.de<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Maike Zürcher<br />

KOLUMNISTEN<br />

Axel Brüggemann, Paula Bosch, Ioan Holender,<br />

Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL), Philipp Hontschik<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Florian Amort (FA), Roland H. Dippel (DIP), Ute Elena Hamm (UH), Julia Hartel (JH),<br />

Klaus Kalchschmid (KLK), Sina Kleinedler (SK), Corina Kolbe (CK), Guido Krawinkel (GK),<br />

Jens F. Laurson (JFL), Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Antoinette Schmelter-Kaiser<br />

(ASK), Stefan Sell (SELL), Fabian Stallknecht (FS), Rüdiger Sturm, Mario Felix Vogt,<br />

Dorothea Walchshäusl (DW), Walter Weidringer (WW), Margarete Zander<br />

VERLAGSREPRÄSENTANTEN<br />

Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

Kulturbetriebe & Touristik: Dr. Cornelia Engelhard | engelhard@crescendo.de<br />

Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de<br />

AUFTRAGSMANAGEMENT<br />

Stefanie Greißinger | greissinger@portmedia.de<br />

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE<br />

Nr. 23 vom 01.09.<strong>20</strong>19<br />

DRUCK<br />

Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig<br />

VERTRIEB<br />

PressUp GmbH, Wandsbeker Allee 1, 2<strong>20</strong>41 Hamburg, www.pressup.de<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

<strong>CRESCENDO</strong> ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert häusern, im<br />

Kartenvorkauf und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge<br />

bei Port Media GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des<br />

Verfassers, nicht unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung,<br />

auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.<br />

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01.01.<strong>20</strong><strong>20</strong>). Kündigung: Das Abo läuft zunächst für ein Jahr und kann dann jederzeit zum<br />

Ablauf des Bezugsjahres gekündigt werden. Abo-Service <strong>CRESCENDO</strong>, Postfach 13 63,<br />

8<strong>20</strong>34 Deisenhofen Telefon: +49-89-85 85-35 48, Fax: -36 24 52, abo@crescendo.de,<br />

Online: crescendo.de/abo<br />

Verbreitete Auflage:<br />

74.590 (lt. IVW-Meldung 1V/<strong>20</strong>19)<br />

ISSN: 1436-5529<br />

(TEIL-)BEILAGEN / BEIHEFTER:<br />

CLASS: aktuell, Münchner Orgelherbst, Festspiele Schloss Amerang<br />

DAS NÄCHSTE <strong>CRESCENDO</strong><br />

ERSCHEINT AM 16. OKTOBER <strong>20</strong><strong>20</strong>.<br />

<strong>CRESCENDO</strong><br />

unterstützt<br />

48 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


ERLEBEN<br />

Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen von <strong>September</strong> bis <strong>Oktober</strong> im Überblick (ab Seite 50)<br />

Tanz auf Abstand in Zeiten der Pandemie: Ghost Light an der Staatsoper Hamburg (Seite 53)<br />

100 Jahre Salzburger Festspiele – und es geht weiter: Fabelhaftes zum Hören, Schauen und Lesen (Seite 58)<br />

16. <strong>Oktober</strong> bis 17. Januar <strong>20</strong>21, Dresden<br />

Sinnliche Erotik oder religiöse Hingabe<br />

Michelangelo Caravaggios Schaffen war revolutionär und<br />

zog Künstler aller Länder in seinen Bann. Der manieristischen<br />

Tradition stellte Caravaggio das direkte Studium<br />

der Natur entgegen. Die Idealgestalten der Mythologie<br />

und der Bibel wurden in seinen Bildern zu Menschen aus<br />

Fleisch und Blut. 1602 schuf er für die private Bildergalerie<br />

des römischen Adeligen Ciriaco Mattei das<br />

Gemälde Johannes der Täufer. Unter Kunsthistorikern<br />

findet ein intensiver Diskurs über dieses Bild statt. Denn<br />

der Zuordnung des Sujets zum Religiösen steht einiges<br />

entgegen. Zwar weisen Attribute wie das rote Tuch, das<br />

Fell und die angedeutete Wildnis der Umgebung das Bild<br />

dem sakralen Bereich zu. Doch die Abbildung eines<br />

Widders statt eines Lamms und vor allem die zur Schau<br />

gestellte Nacktheit und die erotische Ausstrahlung des<br />

Knaben wecken Zweifel. Manche deuten den erotischen<br />

Aspekt als Symbol göttlicher Liebe und den Widder als<br />

Kreuzeshieroglyphe. Andere bezeichnen das Bild nur als<br />

Vorwand für den eigentlichen Bildinhalt, nämlich die<br />

Homosexualität Caravaggios. Dagegen versuchen<br />

Kunsthistoriker, die die tiefgründige, sich oberflächlicher<br />

Deutung entziehende Beschaffenheit großer Kunstwerke<br />

betonen, beide Sichtweisen zu vereinen. Die Staatliche<br />

Kunstsammlung Dresden holt das Gemälde im Rahmen<br />

ihrer Ausstellungsreihe „Begegnungen“ aus den Kapitolinischen<br />

Museen Roms nach Dresden und zeigt es neben<br />

anderen Gemälden.<br />

Dresden, Zwinger, gemaeldegalerie.skd.museum<br />

FOTO: MICHELANGELO CARAVAGGIO: JOHANNES DER TÄUFER FOTO: MUSEI CAPITOLINI, ROM<br />

49


E R L E B E N<br />

<strong>September</strong> / <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

DIE WICHTIGSTEN<br />

VERANSTALTUNGEN AUF<br />

EINEN BLICK<br />

4. bis 18. <strong>Oktober</strong>, München<br />

Enorme Klangvielfalt<br />

Auch in diesem schwierigen Jahr findet in der Münchner Jesuitenkirche St. Michael das 12. Internationale Orgelfestival statt.<br />

Peter Kofler, Organist in St. Michael und Leiter des Festivals, gibt Einblicke in das Programm.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr<br />

Kofler, das Festival<br />

erfreut sich bei<br />

Organisten und<br />

Publikum großer<br />

Beliebtheit. Wie<br />

entstand die Idee<br />

dazu?<br />

Peter Kofler: Als ich<br />

<strong>20</strong>08 nach St. Michael<br />

kam, lag es mir am<br />

Herzen, eine Orgelkonzertreihe<br />

ins Leben<br />

zu rufen. So entstanden<br />

die monatlichen<br />

Michaelskonzerte und<br />

das Orgelfestival.<br />

Innerhalb des Festivals<br />

sollte es jedoch auch<br />

Kammermusik geben<br />

und jeweils ein großes Konzert in der Mitte. Die Kreuzkapelle<br />

bietet den intimen Rahmen für Kammermusik, und mit dem<br />

wunderbaren Hochchor der Kirche besteht die Möglichkeit, auch<br />

Bach-Kantaten und Orgelkonzerte von Händel aufzuführen.<br />

Zum Einsatz kommt beim Festival die Rieger-Orgel.<br />

Was zeichnet sie aus?<br />

Mit ihren 75 Registern bietet sie eine enorme Klangvielfalt. Von<br />

den leisen, zarten Tönen bis zum großen, majestätischen Tutti-<br />

Klang füllt sie den Raum wunderbar aus. Man kann auf ihr Literatur<br />

quer durch die Jahrhunderte adäquat darstellen.<br />

Ein Komponist, der das Festival seit seinem Bestehen<br />

dominiert, ist Johann Sebastian Bach. Ihre Gast-Organisten<br />

spielen ihn, und Sie bringen sein Orgelwerk seit <strong>20</strong>17<br />

auch in Einspielungen heraus. Worin besteht das Besondere<br />

an Bachs Orgelmusik?<br />

Seine Musik weist in ihren verschiedenen kontrapunktischen<br />

Möglichkeiten zum einen so viel Genialität auf. Zum anderen geht<br />

sie unmittelbar ins Herz. Man kann sie immer wieder hören.<br />

Vermutlich weil sie nicht vorhersehbar ist. Im Gegenteil, je öfter<br />

man sie hört und je intensiver man sich mit ihr befasst, desto<br />

tiefgründiger erscheint sie einem.<br />

Gestalten die Organisten ihre Programme selbst?<br />

Organist und Festivalleiter<br />

Peter Kofler<br />

Ich gebe bewusst kein<br />

Thema vor. Mit geht es<br />

vor allem um Vielfalt.<br />

Jeder Organist hat seine<br />

Schwerpunkte, und<br />

dadurch entsteht wie<br />

von selbst ein farbenprächtiges<br />

Programm.<br />

Das diesjährige<br />

Festival eröffnet der<br />

Dom-Organist von<br />

Essen …<br />

Ursprünglich war das<br />

Programm mit internationalen<br />

Organisten<br />

geplant. Aber infolge der<br />

Corona-Pandemie<br />

erschien mir das Risiko<br />

zu hoch. Es dürfen statt<br />

700 auch nur 150<br />

Zuhörer kommen. Deshalb habe ich das Programm kurzfristig mit<br />

deutschen Kollegen gestaltet. Wichtig war mir dabei, ein Signal für<br />

die Kultur zu setzen. Sebastian Küchler-Blessing aus Essen ist ein<br />

junger, talentierter Organist und bereits zum zweiten Mal bei uns<br />

zu Gast. Er kann großartig improvisieren, was er im Konzert auch<br />

zeigt. Wolfgang Zerer hat in Hamburg eine Professur, ist ein<br />

Spezialist für Alte Musik und stellt in seinem Konzert Alte und<br />

neuere Musik einander gegenüber. Und Matthias Maierhofer, der in<br />

Freiburg Professor ist und dort die Dom-Organistenstelle innehat,<br />

bringt ein Programm mit Wiener Komponisten.<br />

Sie spielen ebenfalls ein Konzert …<br />

Ich bringe eine Reihe an Klavierkompositionen von Schumann und<br />

Mendelssohn. Die kann man wunderbar spielen, weil die Orgel über<br />

diese Farbigkeit und Dynamik verfügt, stufenlos und ohne Bruch<br />

von leise bis laut zu gleiten.<br />

Im Orgelfestival kann man den Organisten beim Spielen<br />

sehen.<br />

Ja, wir übertragen die Konzerte auf Video-Leinwand. Dabei<br />

blenden wir jedoch auch Bilder der Kirche ein, um den Raum<br />

abzubilden, das Publikum den Klang im Raum wahrnehmen zu<br />

lassen und ein bewusstes Zuhören zu ermöglichen.<br />

München, Jesuitenkirche St. Michael, www.muenchner-orgelherbst.de<br />

FOTO: WALTER GLUECK<br />

50 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


<strong>20</strong>. BIS 27. SEPTEMBER<br />

KAMMERMUSIKFESTIVAL REGENSBURG<br />

FOTOS: CLARS SVANKJAER; CLEMENS HEIDRICH; MARCO BORGGREVE; FALKO SIEWERT; BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK, BILDARCHIV; HENRIK JORDAN; KIRAN WEST; JÜRGEN R. WEBER; MATILDE FASSÒ; JAN WINDSZUS; JEANETTE BARK; GERHARD RICHTER;<br />

ASTRID ACKERMANN; BAYERISCHE PHILHARMONIE<br />

Mit einer Uraufführung beginnt das Kammermusikfestival<br />

Regensburg seine erste Ausgabe.<br />

Marshall McDaniel hat mit seinem Cellokonzert<br />

Metamorphosis für 23 Solostreicher<br />

eine Replik auf Richard Strauss’ melancholischen<br />

Zyklus Metamorphosen komponiert. Das<br />

Festivalorchester Camerata Goltz bringt unter<br />

der Leitung von Stephan Zilias beide Werke zur Aufführung. Cellist ist<br />

Emmanuel Graf. Der Geiger Benedikt Wiedmann und der Pianist<br />

Lorenz Kellhuber haben das Festival ins Leben gerufen. Eine Woche<br />

lang gibt es Konzerte an verschiedenen Spielstätten Regensburgs. Die<br />

Sopranistin Sibylla Rubens und der Tenor Bernhard Berchtold singen<br />

aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch. Das Fauré Quartett widmet<br />

sich den Klavierwerken seines Namensgebers. Und mit Michael<br />

Heuberger als Sprecher kommt Igor Strawinskys Geschichte vom<br />

Soldaten, die den Schmerz des Ersten Weltkriegs nachklingen lässt, zur<br />

Aufführung. Den Abschluss bildet Schuberts sinfonisches Oktett 803 mit<br />

Liza Ferschtman (Foto) an der Geige.<br />

Regensburg, verschiedene Spielorte, www.kammermusikfestival-regensburg.de<br />

10. SEPTEMBER<br />

BERLIN WALK TO WALK<br />

Das Phänomen des Gehens als theatralisches<br />

und musikalisches Element zu dekonstruieren,<br />

ist das Ziel von Walk to Walk. Der Komponist<br />

und Aktionskünstler Simon Steen-Andersen<br />

(Foto) ließ sich dazu von den Arbeiten<br />

Étienne-Jules Mareys anregen. Der französische<br />

Physiologe war ein Pionier der Fotografie<br />

und befasste sich intensiv mit der Chronofotografie, also dem<br />

fotografischen Festhalten von Bewegungsabläufen. Seine Arbeiten, in<br />

denen er die Bewegungen von Tieren, den Vogelflug, aber auch die<br />

menschlichen Körperbewegungen zeigte, begeisterten bereits die<br />

Künstler seiner Zeit. Mit dem Schlagzeug-Quartett Ensemble This |<br />

Ensemble That schafft Steen-Andersen eine multimediale Performance<br />

über Tempo und Bewegung.<br />

Berlin, Staatsoper, 10. (Premiere), 13. und 15.9. sowie <strong>20</strong>., 22., 24. und<br />

26.6.<strong>20</strong>21, www.staatsoper-berlin.de<br />

2. BIS 4. OKTOBER<br />

BAMBERG, MÜNCHEN, FÜSSEN<br />

11. ORFF-TAGE<br />

Die menschliche Stimme ist ein einmaliges<br />

Phänomen. Sie erlaubt es nicht nur, eine<br />

Sprache zu formen, sondern ermöglicht auch<br />

die Bildung und das Nachahmen von Geräuschen.<br />

Carl Orff brachte dies in seinen<br />

Vertonungen altgriechischer Vorlagen zum<br />

Einsatz. Von der „Magie des Unverständlichen“<br />

sprach er und verlangte von seinen Sängern ein Stampfen und Rattern<br />

mit Zunge und Zähnen. Die Bayerische Philharmonie feiert den<br />

125. Geburtstag von Carl Orff, und sie hat einen Stimmkünstler und<br />

Mundakrobaten eingeladen, der diese Kunst, der Stimme Töne, Klänge<br />

und Geräusche zu entlocken, auf beeindruckende Weise weiterentwickelt<br />

hat: Robert Wolf. Unter dem Künstlernamen Robeat führt er<br />

als „Human Beatbox“ bei den Orff-Tagen vor, welche Vielfalt an<br />

Schlagzeugrhythmen und anderen elektronisch erzeugten Kratz- und<br />

Schlaggeräuschen er mit Mund und Stimme nachahmen kann. Unter der<br />

Leitung von Mark Mast, der auch die Moderation übernimmt, begibt<br />

sich die Philharmonie mit ihm und einem effektvollen Programm in<br />

verschiedenen Formationen – als Klavierduo, Percussion-Ensemble und<br />

solistisch – auf Gastspielreise<br />

Bamberg, Konzerthalle, 2.10., München, Gasteig, 3.10.,<br />

Füssen, Festspielhaus, 4.10., www.bayerische-philharmonie.de<br />

TICKETS AUF<br />

Witterungen<br />

2.– 9.10. <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

40. Festspiel-Jubiläum Herbstliche Musiktage Bad Urach<br />

Telefon 07125 156571, www.herbstliche-musiktage.de<br />

14.10.<strong>20</strong><strong>20</strong> MÜNCHEN // PHILHARMONIE<br />

VERLEGT AUF DEN 04.07.<strong>20</strong>21<br />

16.10.<strong>20</strong><strong>20</strong> STUTTGART // LIEDERHALLE<br />

VERLEGT AUF DEN 30.06.<strong>20</strong>21<br />

18.10.<strong>20</strong><strong>20</strong> FREIBURG // KONZERTHAUS<br />

NEUER TERMIN FOLGT IN KÜRZE<br />

· 01806 - 777 111 * SOWIE AN DEN BEKANNTEN VORVERKAUFSSTELLEN<br />

*(0,<strong>20</strong> EUR/VERBINDUNG AUS DT. FESTNETZ / MAX. 0,60 EUR/VERBINDUNG AUS DT. MOBILFUNKNETZ)<br />

ÖRTL. VERANSTALTER: WWW.GLOBALCONCERTS.DE<br />

© Dario Acosta/DG / Gregor Hohenberg<br />

51


E R L E B E N<br />

7. OKTOBER<br />

STUTTGART MARCO GOECKE<br />

„Lieben Sie Gershwin?“, fragt der Choreograf<br />

Marco Goecke in Anlehnung an Françoise<br />

Sagans Brahms-Romantitel. Goecke gehört zu<br />

den herausragenden Choreografen der<br />

Gegenwart, die sich durch ein eigenes<br />

Körperbild und einen individuellen Tanzstil<br />

auszeichnen. Die ausdrucksstarken, raumgreifenden<br />

Bewegungen, mit denen seine Tänzer ihre Arme um Kopf und<br />

Oberkörper schwingen, kreisen, strecken und die schnellen trippelnden<br />

Schrittfolgen geben seinen Arbeiten etwas Unverwechselbares. Für<br />

seine neue Choreografie habe er etwas Leichtes gesucht, erläutert er in<br />

einem Interview. „Musik, die wir alle kennen, Evergreens, die uns nahe<br />

sind.“ So kam er auf George Gershwin, der Revuen und Schlager schrieb<br />

und mit seiner Rhapsody in Blue den Jazz in den Konzertsaal holte. Nach<br />

der Uraufführung begibt sich Goecke mit der Produktion auf Tournee.<br />

Stuttgart, Theaterhaus, 7. (Premiere), 8., 9., 10. und 11.10.,<br />

www.theaterhaus.com<br />

13. SEPTEMBER<br />

BONN STAATSTHEATER<br />

70 verschiedene Handlungen in knapp <strong>20</strong><br />

Minuten – Mauricio Kagel analysiert in seiner<br />

szenischen Komposition Staatstheater die Oper,<br />

das Repertoire, die Sänger auf der Bühne und<br />

ihre Bewegungen. Diese werden bei Kagel zum<br />

Zweck der Handlung selbst. Wie Kagel betont,<br />

werden sie nicht ihres Inhalts entleert oder<br />

parodiert, sondern sie werden zu einem Inhalt an sich. Kagel zeigt damit,<br />

dass auch im klassischen Repertoire viele Handlungen sinnlos sind. „Die<br />

Fahndung nach dem Effekt lastete immer so sehr auf den Komponisten,<br />

dass sie die grotesken Situationen in Kauf nahmen, wenn damit eine<br />

bestimmte harmonische Modulation sichtbar gemacht werden konnte“,<br />

erklärt er. Die Uraufführung 1971 war spektakulär, und die Hamburger<br />

Staatsoper musste unter Polizeischutz gestellt werden. Jetzt bringt die<br />

Oper Bonn das kritische Werk auf die Bühne. Jürgen R. Weber (Foto)<br />

besorgt die Inszenierung und Daniel Johannes Mayr steht am Pult.<br />

Bonn, Oper, 13. (Premiere), <strong>20</strong>. und 27.9. sowie 1.10., www.theater-bonn.de<br />

19. <strong>September</strong> bis 10. <strong>Oktober</strong>, Usedom<br />

Ein Schatz an Volksliedern<br />

aus dem Norden<br />

Auf einer alten Hardangerfiedel spielt Benedicte Maurseth norwegische<br />

Volkslieder. Vertraut mit den Liedern, Tänzen und Spielweisen<br />

der Vergangenheit, lässt sie diese Tradition in ihren Stücken<br />

fortleben. Norwegen ist das Gastland des 27. Usedomer Musikfestivals.<br />

Das Gjermund Larsen Trio lädt mit Fiedel, Truhenorgel<br />

und Kontrabass zum Fest der Spielmannskunst. Und zum Sängerfest<br />

kommt der Norwegische Solistenchor (Foto). Im Festkonzert<br />

zum Tag der Deutschen Einheit mit dem Norwegischen Kammerorchester<br />

1B1 steht Edvard Griegs Suite Aus Holbergs Zeit auf dem<br />

Programm. Der romantische Künstler schöpfte aus dem reichen<br />

Schatz der Volkslieder seines Landes, um „Wohnstätten für Menschen“<br />

zu bauen, „in denen sie sich heimisch und glücklich fühlen“.<br />

Seine Norwegischen Volksweisen lässt der Pianist Jan Brachmann<br />

erklingen, während Frank Arnold aus Bjørnstjerne Bjørnsons<br />

Erzählung Der Brautmarsch über eine Liebe auf dem Lande liest.<br />

Und mit der Peer-Gynt-Suite, die Grieg zum Drama seines Landsmanns<br />

Ibsen komponierte, begleitet das GrauSchumacher Piano<br />

Duo die von Ulrich Noethen gelesenen Mythen und Märchen des<br />

Nordens. Zum Abschluss des Festivals erinnert das NDR Elbphilharmonie<br />

Orchester unter Alan Gilbert mit Harald Sæveruds<br />

Ballade vom Aufstand an den vor 75 Jahren zu Ende gegangenen<br />

Zweiten Weltkrieg. Sæverud schrieb die Ballade während des<br />

Krieges, und bis heute stellt sie ein norwegisches Symbol des<br />

Widerstands gegen die deutsche Besatzung dar.<br />

Usedom, verschiedene Spielorte, www.usedomer-musikfestival.de<br />

FOTO: BÅRD GUNDERSEN<br />

31. OKTOBER<br />

MÜNCHEN DIE VÖGEL<br />

Walter Braunfels war kein Glück beschieden.<br />

Der Musikwissenschaftler Kurt Pahlen nennt<br />

ihn einen „Nachromantiker von hohem<br />

Können, edlen Einfällen und nobler Haltung“.<br />

Doch Braunfels’ Opern fanden nur verhaltene<br />

Aufnahme, und der Nationalsozialismus trieb<br />

ihn in ein langes Exil. Seine bekannteste Oper<br />

waren Die Vögel. Braunfels selbst schrieb den Text nach Aristophanes’<br />

gleichnamiger Komödie über die Suche nach einer besseren Welt<br />

außerhalb der Welt in einer abgeschiedenen Vogelstadt. Er gestaltete<br />

daraus ein „lyrisch-fantastisches Spiel mit einem Vorspiel und zwei<br />

Aufzügen“. Frank Castorf setzt das Werk unter der musikalischen<br />

Leitung von Ingo Metzmacher in Szene. Als Prometheus steht Wolfgang<br />

Koch auf der Bühne. Hoffegut ist Charles Workman (Foto), die<br />

weiteren Partien der Vögel übernehmen u. a. Günter Papendell, Emily<br />

Pogorelc, Caroline Wettergreen und noch mal Charles Workman.<br />

München, Nationaltheater, 31.10. (Premiere), 5., 8., 12., und 15.11. sowie<br />

22.7.<strong>20</strong>21, www.staatsoper.de<br />

18. OKTOBER<br />

HALLE RELIKT EINER VERLORENEN<br />

VERGANGENHEIT<br />

Rimski-Korsakow bringt in seiner Oper Die<br />

Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh zwei<br />

Legenden zusammen. Die christlich-eschatologische<br />

von der unsichtbaren Stadt Kitesh<br />

verbindet er mit jener von Pjotr und Fewronija<br />

aus Murom, die von der starken und den Tod<br />

überdauernden Liebe zwischen dem Muromer<br />

Fürsten Pjotr und der Bauerntochter Fewronija erzählt. So wird in<br />

seiner Oper Fewronija, die im Wald die Tiere füttert und mit ihnen<br />

spricht, vom Fürstensohn Wsewolod zur Braut genommen. Als die<br />

Horde der Tataren einfällt, alle Bewohner tötet und Fewronija gefangen<br />

nimmt, stirbt auch Wsewolod. Doch nach seinem Tod erscheint er<br />

Fewronija, und sie geht mit ihm in das paradiesische Kitesh ein. Die<br />

Idee des Werks wird vor dem Hintergrund pantheistischer Weltanschauung<br />

deutlich. Das Musiktheaterkollektiv HAUEN UND STECHEN<br />

wählt Rimski-Korsakows Oper als Ausgangspunkt seiner Performance.<br />

<strong>20</strong>12 von den Opernregisseurinnen Franziska Kronfoth und Julia<br />

Lwowski sowie dem Galeristen Thilo Mössner ins Leben gerufen,<br />

arbeitet das Kollektiv an einer ästhetisch engagierten, expressiven<br />

Musiktheatersprache. Mit Musik des zeitgenössischen Komponisten<br />

Alexander Chernyshkov sucht es in Kitesh zu ergründen, was Geheimnis<br />

und Glauben als Relikt einer verlorenen Vergangenheit noch<br />

bewirken können. Das Publikum wird dabei einbezogen. Es ist einge-<br />

52 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


FOTOS: CLARS SVANKJAER; CLEMENS HEIDRICH; MARCO BORGGREVE; FALKO SIEWERT; BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK, BILDARCHIV; HENRIK JORDAN; KIRAN WEST; JÜRGEN R. WEBER; MATILDE FASSÒ; JAN WINDSZUS; JEANETTE BARK; GERHARD RICHTER;<br />

ASTRID ACKERMANN; BAYERISCHE PHILHARMONIE; FALK WENZEL<br />

laden, sich mit den Darstellern und Musikern auf die Reise zum<br />

sagenhaften Kitesh und damit auch zu einer besseren Version der<br />

eigenen Stadt zu bewegen. Regie führt Franziska Kronfoth. Die Rolle<br />

der Fewronija übernimmt Anke Berndt (Foto), und die musikalische<br />

Leitung liegt in den Händen von Peter Schedding.<br />

Halle, Oper, 18. (Premiere), 24. und 30.10., www.buehnen-halle.de/<br />

operspielplan<br />

27. SEPTEMBER<br />

BERLIN MODERN ART ENSEMBLE<br />

Jolyon Brettingham-Smith nahm kurz vor<br />

seinem plötzlichen Tod eine ironische und<br />

stellenweise auch sarkastische Bearbeitung der<br />

Goldberg-Variationen vor. Was ihm dabei vor<br />

Augen stand, war die kuriose Entstehungslegende<br />

des Werks. Nach einer vermutlich von<br />

dem Musikhistoriker Johann Nikolaus Forkel<br />

überlieferten Anekdote hat Bach seine „Aria mit verschiedenen<br />

Veränderungen vors Clavicimbal“ für Hermann Carl Graf von Keyserlingk<br />

komponiert. Der war damals russischer Gesandter am Dresdner<br />

Hof und wollte, dass sein Cembalist Johann Gottlieb Goldberg, ihm des<br />

Nachts daraus vorspiele. Die Stücke sollten „sanften und etwas<br />

muntern Charakters“ sein, um ihn in seinen schlaflosen Nächten ein<br />

wenig aufzuheitern. Diese skurrile Situation brachte Brettingham-Smith<br />

im Vor- und Nachspiel sowie in den Zwischenspielen seiner Bearbeitung<br />

zum Ausdruck: Da bestellt ein russischer Graf einen 13-jährigen Klavier<br />

spielenden Knaben, um sich in den Schlaf klimpern zu lassen – und das<br />

mit einer der kunstvollsten und komplexesten Kompositionen der<br />

abendländischen Musik. An der Uraufführung in Baden-Baden <strong>20</strong>08<br />

konnte Brettingham-Smith nicht mehr mitwirken. Er starb während der<br />

Probenphase. Das Modern Art Ensemble, das die Aufführung damals<br />

allein bestritt, widmet sich dem Werk nun erneut.<br />

Berlin, Konzerthaus, www.konzerthaus.de<br />

6. <strong>September</strong><br />

Hamburg Ghost Light<br />

Die Corona-Pandemie fordert Abstand. Der Choreograf John Neumeier greift das Abstandsgebot auf und nimmt es als Grundlage einer<br />

Struktur für einen Ballettabend. Ghost Light, das alle 60 Tänzer der Compagnie Hamburg Ballett einbezieht, ist ein Ensemble-Ballett in<br />

Fragmenten. Der Titel knüpft an das Bühnenlicht an, das nach Proben oder Aufführungen die Nacht über brennt, um die in den Theatern<br />

wohnenden Geister zu besänftigen. Das musikalische Gerüst liefert Schuberts Solo-Klaviermusik.<br />

Hamburg, Staatsoper, 6. (Premiere), 9., 14., 17., 18. und 19.9., www.hamburgballett.de<br />

25. UND 27. SEPTEMBER<br />

HANNOVER TEUFELS KÜCHE<br />

Mit Teufels Küche hat Moritz Eggert eine<br />

Küchenoper geschrieben. Ein Teufel, ausdrucksstark<br />

verkörpert von dem Schauspieler<br />

Tiago Alexandre Fonseca, und drei Musiker<br />

kochen gemeinsam. Natürlich müssen die<br />

Kochgeräte ebenfalls als Instrumente herhalten.<br />

Da gibt es die Topforgel und anderes singendes<br />

und klingendes Geschirr. „Das Ganze ist vom Charakter her sicherlich<br />

eher fröhlich und skurril“, erläutert Eggert sein Werk, „also geeignet<br />

für die ganze Familie.“ Musikalisch geleitet wird die Aufführung, die<br />

völlig ohne Text auskommt, von Maxim Böckelmann. In Szene setzt den<br />

Klamauk Julia Huebner.<br />

Hannover, Staatsoper, www.staatstheater-hannover.de<br />

ORFF MEETS BEATBOX<br />

»125 JAHRE CARL ORFF«<br />

11. Orff-Tage der Bayerischen Philharmonie<br />

2. <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> Bamberg 19.00 Uhr<br />

3. <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> München <strong>20</strong>.00 Uhr<br />

4. <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong> Füssen 17.00 Uhr<br />

Robeat Beatbox-Europameister<br />

Solisten & Musiker der Bayerischen Philharmonie<br />

Mark Mast Leitung und Moderation<br />

www.bayerische-philharmonie.de<br />

Tickets: info@bayerische-philharmonie.de | Bamberg: www.bvd-ticket.de, www.reservix.de<br />

München: www.muenchenticket.de | Füssen: www.eventim.de<br />

FOTO: KIRAN WEST<br />

53


Ioan-Holender-Kolumne<br />

ZURÜCK – WOHIN<br />

UND WANN?<br />

Niemand auf unserer kleiner gewordenen Welt will,<br />

dass es so bleibt, wie es ist, und keiner möchte, dass<br />

es noch schlechter wird, als es ist. Die Lage verschlimmert<br />

sich weltweit von einem Tag auf den anderen.<br />

Wir haben alle verstanden, dass wir nicht mehr tun können,<br />

als die Maske zu tragen, Abstand zu halten und regelmäßig<br />

die Hände zu waschen.<br />

Wir leben in einer Art Fatalismus und erwarten die<br />

Erlösung. Wir – das sind jene, die durch Kunst und Kultur im<br />

umfangreichsten Sinn dieses Begriffes tätig sind – haben<br />

verstanden, dass für die bestimmende politische Macht<br />

Kunst- und Kulturausübende auf der untersten Treppenstufe<br />

der wirtschaftlichen Einrichtungen stehen und dementsprechend<br />

auch behandelt werden.<br />

Theater im weitesten Sinne ist gegenseitige Kommunikation<br />

zwischen wenigen – den Künstlern – und vielen – dem<br />

Publikum. So wurde Theater in der attischen Demokratie<br />

geboren, und so ist es bis in unsere Tage geblieben. Theatergebäude<br />

und Konzertsäle sind für ein möglichst volles<br />

Auditorium gebaut.<br />

Wenn der Zuschauerraum nur spärlich besetzt ist, schadet<br />

dies der Akustik beziehungsweise der Hörbarkeit von<br />

beiden Seiten, die Wiedergabe von Dargebotenem wird<br />

verschlechtert. Wenn das Agieren auf der Bühne und das<br />

gemeinsame Musizieren durch Abstandsregeln geleitet<br />

werden, wird das ganze Spektakel unglaubwürdig und<br />

eher kurios als künstlerisch überzeugend. Das Mögliche<br />

ermöglichen.<br />

Vieles wird anders sein, wenn es möglich wird, dass alles<br />

wieder ist, wie es war, respektive wie wir es gewohnt waren.<br />

Doch ganz so wird es auf nahezu allen Lebensgebieten nicht<br />

mehr werden, und das ist zum Großteil auch gut so. Doch<br />

die Grundform des Theaters, die Wiedergabeform des kostbarst<br />

erworbenen Gutes – Musik genannt – kann, soll und<br />

wird sich nicht ändern.<br />

Wir versuchen in diesen unsicheren und global noch nie<br />

dagewesenen Zeiten vieles, um die Existenz von Kunst und<br />

Kultur und deren Vertreter vernehmbar werden zu lassen.<br />

Aber ersetzen können wir damit nicht das, was Theater,<br />

Oper und Konzert war und hoffentlich wieder sein wird. Ich<br />

bin kein Optimist und auch kein Pessimist. Doch bin ich<br />

Possibilist, und das Possible soll doch immer möglich sein.<br />

„kulTOUR mit Holender“ auf<br />

ServusTV Deutschland:<br />

11.9., 23 Uhr: Kairo – Musik und Kultur am Nil<br />

18.9., 23 Uhr: Das Operetten-Genie Franz Lehár<br />

9. SEPTEMBER<br />

BERLIN MUSIKFEST<br />

Der Kontrabass mit seinen tiefen pulsierenden<br />

Klängen, seinen perkussiven Möglichkeiten,<br />

seiner Körperlichkeit und seiner Zerbrechlichkeit<br />

im zarten, expressiven Oberbereich,<br />

zu dem er die Antithese seiner Schattenwelt<br />

bietet, inspirierte Rebecca Saunders (Foto) zu<br />

ihrer Komposition Fury II für Kontrabass solo<br />

und Ensemble. Damit stellt Saunders ihr originales Solostück Fury in<br />

einen neuen Rahmen. Die Klangfarben von Akkordeon, Klavier, Bassklarinette,<br />

Cello und Perkussion vermengen sich mit der Solostimme<br />

und schaffen eine einzige Klangpalette. Das Ensemble Musikfa brik, mit<br />

dem Saunders, die <strong>20</strong>19 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis<br />

ausgezeichnet wurde, eine lange Zusammenarbeit verbindet, widmet<br />

sich im Rahmen des Musikfests Berlin ihrem Werk.<br />

Berlin, Philharmonie, www.berlinerfestspiele.de<br />

26. UND 27. SEPTEMBER<br />

MÜNCHEN MUSICA VIVA<br />

„Die Bedeutung der ‚musica viva‘ im kulturellen<br />

Leben der 800 Jahre alten Stadt München ist in<br />

der ganzen Welt bekannt“, schrieb Igor<br />

Strawinsky 1958. Bereits im Herbst begann der<br />

Komponist Karl Amadeus Hartmann inmitten<br />

von Ruinen mit jener Konzertreihe, die ab 1947<br />

in Anlehnung an die von Hermann Scherchen<br />

herausgegebene Zeitschrift den Namen „musica viva“ tragen sollte. Mit<br />

ungeheurer Begeisterung versuchte Hartmann, dem Publikum die Musik<br />

nahezubringen, die es zwölf Jahre lang nicht hatte hören können. Und<br />

die Besucher dankten es ihm. Zu Fuß kamen sie in die Konzerte und<br />

brachten Briketts als Eintritt mit. Hartmann entwarf ein Programmkonzept,<br />

das die „musica viva“ zur erfolgreichsten Reihe für Neue<br />

Musik werden ließ. In dieser Saison jährt sich die Gründung der Reihe<br />

zum 75. Mal. Zum Saisonauftakt steht Wolfgang Rihm auf dem<br />

Programm. Die Bratschistin Tabea Zimmermann und der Bariton<br />

Christian Gerhaher sind die Solisten in seinem Stabat Mater, und Franck<br />

Ollu leitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei der<br />

Aufführung des Orchesterstücks Jagden und Formen.<br />

München, Prinzregententheater, www.br-musica-viva.de<br />

24. SEPTEMBER<br />

HELLERAU SCHLACHTHOF 5<br />

„Hört: Billy Pilgrim hat sich von der Zeit<br />

losgelöst.“ Kurt Vonneguts 1969 erschienener<br />

Roman Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug,<br />

dessen Hauptfigur ständig kreuz und quer von<br />

einer Situation in die andere springt, ist<br />

Ausdruck eines traumatischen Erlebens, ein<br />

Bericht über die Zerstörung Dresdens und eine<br />

Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg sowie eine Parodie auf den<br />

„American Way of Life“. Vor allem aber ist er ein Antikriegsbuch.<br />

Vonnegut, der die Bombardierung Dresdens als Kriegsgefangener,<br />

versteckt im Keller von Schlachthof 5, überlebte, entwirft darin ein<br />

barockes und tief pessimistisches Panorama vom Lauf der Welt. Der<br />

Regisseur Maxim Didenko erarbeitet mit dem Textdichter Johannes<br />

Kirsten eine neue Bühnenfassung des Kultbuchs und sucht damit nach<br />

Möglichkeiten eines gegenwärtigen Blicks auf den Text, die hiesige<br />

Gedenkkultur und den „Mythos Dresden“. Konzipiert als multimediales<br />

Musiktheaterprojekt an der Schnittstelle von Theater, Tanz, Musik und<br />

Performance, arbeitet Didenko für seine Umsetzung mit dem Choreografen<br />

Vladimir Varnava zusammen. Die Musik komponiert Vladimir<br />

Rannev, und das Ensemble AuditivVokal Dresden (Foto) bringt sie unter<br />

der Leitung von Olaf Kratzer szenisch zur Aufführung. Für die räumliche<br />

Realisierung des Projekts greift der Lichtkünstler AJ Weissbard auf das<br />

Naturlichtkonzept aus den Gründerjahren des Festspielhauses zurück.<br />

Hellerau, Europäisches Zentrum der Künste, 24. (Premiere), 25., 26. und<br />

27.9., www.hellerau.org<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


FOTOS: CLARS SVANKJAER; CLEMENS HEIDRICH; MARCO BORGGREVE; FALKO SIEWERT; BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK, BILDARCHIV; HENRIK JORDAN; KIRAN WEST; JÜRGEN R. WEBER; MATILDE FASSÒ; JAN WINDSZUS; JEANETTE BARK; GERHARD RICHTER;<br />

ASTRID ACKERMANN; BAYERISCHE PHILHARMONIE<br />

11. UND 12. SEPTEMBER<br />

WEIMAR NOVOFLOT<br />

Bis 7. März <strong>20</strong>21, Salzburg<br />

Musikalische Blütezeit am Salzburger Fürstenhof<br />

Blick in die<br />

Ausstellung im<br />

DomQuartier<br />

Salzburg<br />

Mit der Gegenreformation brach für das Erzbistum Salzburg eine<br />

glanzvolle Epoche an. Wolf Dietrich von Raitenau, der 1587 als Erzbischof<br />

sein Amt antrat, hatte große Pläne mit der Stadt. Eine Brandkatastrophe,<br />

die 1589 einen großen Teil der Altstadt und den romanischen<br />

Dom vernichtete, ebnete seinem gigantischen Bauvorhaben<br />

den Weg und schuf Raum für die neue „geistliche Stadt“, die er schaffen<br />

wollte. Ähnlich wie St. Peter in Rom, nur größer, sollte ein strahlend<br />

heller Dom entstehen. Darüber hinaus plante er einen Neubau der<br />

Residenz sowie Erweiterungsbauten des Bischofshofes und die Errichtung<br />

des Hofstallgebäudes, das heute als Festspielhaus dient. Prachtvoll<br />

wie die Bauwerke, so entfaltete sich auch das Leben am Hof. Mit<br />

seiner Neugestaltung der „hochfürstlichen Musica“ legte Wolf Dietrich<br />

die Weichen für eine lang anhaltende musikalische Blütezeit.<br />

Bedeutende Musiker wie Stefano Bernardi, Heinrich Ignaz Franz Biber<br />

Was die Oper heute auszeichne, widerspreche<br />

dem Ziel ihres Erfinders, lautet die These der<br />

Opernkompanie Novoflot. Dieser habe nämlich<br />

eine Wiederbelebung antiker Ideale im Blick<br />

gehabt. Vor dem Hintergrund dieser These<br />

blickt Novoflot in einer auf drei Jahre angelegten<br />

Trilogie „Die Oper #1 – #3“ zurück auf die<br />

Geburtsstunde der Oper und ruft einen Neustart des Genres Oper<br />

aus. Ausgehend vom Werk des Gründervaters der Oper, Claudio<br />

Monteverdi, setzt die Kompanie sich mit der Frage auseinander, welche<br />

anderen Entwicklungen die Gattung hätte nehmen können, wenn nicht<br />

nur die drei bekannten, sondern noch weitere von Monteverdis<br />

Werken aufgetaucht wären. Orfeo war der erste Teil der Trilogie<br />

gewidmet. Der Krönung der Poppea gilt der zweite Teil. Novoflot<br />

erforscht das Werk in einem Rundgang durch das Deutsche Nationaltheater<br />

und folgt Hinweisen auf Fragmente bisher unentdeckter<br />

Monteverdi-Opern.<br />

Weimar, Nationaltheater, www.nationaltheater-weimar.de<br />

und Georg Muffat wirkten am Hof. Im 18. Jahrhundert folgten Michael<br />

Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart. Alle musikalischen Gattungen<br />

wurden gepflegt, geistliche Werke waren ebenso verlangt wie weltliche.<br />

Die Musikausstellung „Überall Musik! Der Salzburger Fürstenhof<br />

– ein Zentrum europäischer Musiktradition“ in den Prunkräumen der<br />

Residenz widmet sich dieser musikalischen Tradition. Sie lädt an den<br />

historischen Schauplätzen wie dem Carabinierisaal, dem Thronsaal,<br />

dem Rittersaal oder dem Weißen Saal zu einer sinnlichen Erkundungsreise<br />

in die Zeit der Fürstbischöfe und ihrer Hofkomponisten und<br />

lässt die prunkvollen Feste und Musikdarbietungen noch einmal aufleuchten.<br />

In einem musikalischen Rahmenprogramm, das auf die Themen<br />

der Ausstellung abgestimmt ist, erklingen Werke von Biber,<br />

Monteverdi, Muffat und Mozart.<br />

Salzburg, DomQuartier, www.domquartier.at<br />

30. SEPTEMBER<br />

BERLIN PIERROT LUNAIRE<br />

Samuel Beckett und Arnold Schönberg –<br />

Barrie Kosky (Foto) bringt die beiden zusammen.<br />

Die unterschiedlich breit ausgesponnenen,<br />

manchmal auch nur flüchtig vorbeihuschenden<br />

Melodramen, die Schönberg nach<br />

dem Gedichtzyklus Pierrot Lunaire von Albert<br />

Giraud komponierte, verbindet er mit den<br />

minimalistischen Monologen Becketts. Gefangen in den Trümmern ihrer<br />

gebrochenen Sprache, artikulieren Becketts Figuren gerissene Bilder<br />

der Erinnerung. Nicht Ich und Rockaby sind Ausdruck verzweifelter<br />

Lebensgeschichten. Rockaby, dessen Titel auf ein Kinderlied anspielt,<br />

zeigt das Sterben einer Frau im Schaukelstuhl ihrer verstorbenen<br />

Mutter. Mit monotoner Stimme, die losgelöst ist von ihr, erzählt diese<br />

in rhythmischen Satzfragmenten und Wiederholungen aus ihrer<br />

Vergangenheit. Christoph Breidler übernimmt die musikalische Leitung<br />

des Abends. Die Solistin ist Dagmar Manzel.<br />

Berlin, Komische Oper, 30.9. (Premiere), 5., 11., 13. und 30.10. sowie 6.11.,<br />

www.komische-oper.de<br />

FOTO: WIDRICH<br />

55


K O M M E N T A R<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

ALLES WIRD ANDERS?<br />

IST DOCH NICHT SCHLIMM!<br />

Unser Kolumnist Axel Brüggemann sammelt erste Beobachtungen<br />

aus der Corona-Krise und ordnet sie für neue Visionen.<br />

Nichts wird sein, wie es einmal war? Diesen Satz haben wir oft gehört<br />

in den letzten Wochen und Monaten. Sicher ist: Corona verändert die<br />

Welt, und damit auch die Kultur: Vieles, was bereits krank war, wird<br />

jetzt als solches sichtbar. Wir sammeln Erfahrungen, die uns helfen<br />

könnten, wenn die öffentlichen Haushalte noch enger geschnürt werden<br />

müssen als heute. Aber wer sagt, dass alles schlechter werden muss?<br />

Die vielleicht größte Erkenntnis in Corona-Zeiten ist, dass wir<br />

uns etwas vorgemacht haben, als wir glaubten, die Systemrelevanz<br />

der Musik sei offensichtlich. Dass<br />

Musik für jeden als Säule der westlich-zivilisierten<br />

Gesellschaft gilt,<br />

als geistiges Zentrum im Land der<br />

Dichter und Denker, von Bach,<br />

Beethoven und Brahms. Von<br />

wegen! Die Kultur, besonders die<br />

Musik, rangierten in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung am Ende der<br />

Aufmerksamkeitsspirale. Diese<br />

schonungslose Wahrheit muss Grundlage einer Bestandsaufnahme<br />

sein: Das hochsubventionierte System der Klassik hat sich in den<br />

letzten Jahren oft selbst überschätzt und seine Relevanz und Bedeutung<br />

für Publikum und Gesellschaft falsch eingeschätzt.<br />

Trotz aller Verweise auf den erheblichen Wirtschaftsfaktor der<br />

Kultur und ihre moralische Bedeutung für eine Gemeinschaft werden<br />

Künstler, Häuser und Ensembles in der Krise weitgehend allein gelassen,<br />

und in einschlägigen Kommentaren unter Feuilletonartikeln<br />

verstört uns die öffentliche Wut auf Kultur: „Die Schmarotzer leben<br />

eh nur auf unsere Kosten!“ Aber diese Wut scheint ein neues gesellschaftliches<br />

Grundrauschen zu sein. Der Tenor: „Die Kultur-Fuzzis<br />

da oben, was wissen die schon von unseren Problemen – die sollen<br />

erst einmal richtig arbeiten!“<br />

Laut einer Umfrage der Tageszeitung Die Welt von <strong>20</strong>14 haben<br />

<strong>20</strong> Prozent der Befragten noch nie eine Klassikveranstaltung besucht.<br />

EIN HAUS, DAS KRAMPFHAFT VERSUCHT,<br />

MIT MUSICALPRODUKTIONEN UMSÄTZE ZU<br />

GENERIEREN, IST EIN AFFRONT GEGEN DIE<br />

SUBVENTIONSKULTUR<br />

In Der Kulturinfarkt aber, einer Polemik über den Kulturbetrieb, heißt<br />

es, 80 Prozent hielten es für richtig, Orchester und Opernhäuser<br />

staatlich zu subventionieren. Ich bin sicher, wir sind in diesen Tagen<br />

weit entfernt von solchen Zahlen. Anders gesagt: Wir müssen Musik<br />

wieder in die Mitte unserer Gesellschaft stellen, als identifikatorische<br />

Selbstverständlichkeit und als eine ihrer prägenden Kunstformen.<br />

Wie dreht ein Sopran eine Glühbirne ein? – Sie hält die Glühbirne<br />

in die Halterung und wartet, bis sich die Welt um sie dreht.<br />

Zugegeben, das ist ein abgedroschener<br />

Witz, der auch für Dirigenten,<br />

Tenöre, Baritone, Chorsänger<br />

oder Musikjournalisten<br />

gelten könnte. Musik ist eine Kunst<br />

der Leidenschaft. Vielleicht<br />

braucht sie Menschen, die kompromisslos<br />

und bedingungslos –<br />

ohne Rücksicht auf alles andere –<br />

für die Musik leben. Das Problem<br />

ist, dass ein breiter Teil der Bevölkerung an diesen Eitelkeiten nicht<br />

mehr teilnimmt, sie nicht mehr versteht – und sie auch nicht will!<br />

Der Streit zwischen Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern,<br />

der Lebenswandel von Maria Callas – das waren Themen,<br />

die mitten in der Gesellschaft standen, warum auch immer.<br />

Heute ist das anders: Ich bin sicher, dass Namen wie Christian Thielemann,<br />

Franz Welser-Möst, Piotr Beczała und selbst Anna Netrebko<br />

in der Fußgängerzone keine Rolle mehr spielen. Das liegt auch daran,<br />

dass sie keine Rolle in gesellschaftlich relevanten Debatten spielen,<br />

dass sie kaum sichtbar werden, wenn es um die Planung einer Stadt,<br />

um die Rolle von Musik, um Orte der Begegnung geht.<br />

Stattdessen findet in der Klassik oft ein inzestuöser Streit um<br />

Kleinigkeiten statt! Statt ästhetische Debatten zu führen oder über ihre<br />

Rolle in der Gesellschaft zu streiten, ficht die Klassikszene Zickenkriege<br />

und Eitelkeiten oder verbitterte Verteilungskämpfe aus. Das interessiert<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

56 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


da draußen niemanden. Aber das „da draußen“ muss zurückgewonnen<br />

werden.<br />

Nach außen hat die Welt der Klassik in den letzten Jahren hauptsächlich<br />

für Negativschlagzeilen gesorgt. Ausgerechnet die Kunst, die<br />

sich dem Humanismus verschrieben hat, ist eines der inhumansten<br />

Systeme überhaupt geworden. Wie kann es sein, dass tyrannisches<br />

Verhalten, verbale Erniedrigung von Musikern durch Dirigenten,<br />

Übergriffe von Regisseuren und diktatorische Machausübung von<br />

Intendanten in der Klassik geduldet werden? Dass vor lauter Starkult<br />

kein Wort über derartige Missstände verloren wird? Wie kann es sein,<br />

dass ausgerechnet in der Klassik #MeToo zu einem so großen Thema<br />

geworden ist? James Levine, Gustav Kuhn, Siegfried Mauser, selbst<br />

Plácido Domingo. Die lange Liste von Übergriffen<br />

ist auch Zeichen für die Abgehobenheit<br />

und Weltfremdheit des musikalischen<br />

Betriebs. Und das System bestätigt sich in<br />

seiner Falschheit dauernd selbst. Junge<br />

Musiker akzeptieren aus Angst die alten<br />

Regeln, und die Klassikfreaks verbuchen<br />

Fehlverhalten als Kavaliersdelikt.<br />

Erst wenn auch in der Musik selbstverständlich<br />

ist, was in jedem Unternehmen<br />

selbstverständlich sein sollte, kann sie wieder<br />

auf ihre Position in der Öffentlichkeit<br />

pochen: Sicherheit vor sexuellen Übergriffen, garantierte Diversität<br />

und Warnsysteme gegen despotische Chefs. Nur so ist Musik als<br />

moralischer Ort glaubhaft.<br />

Natürlich muss die Musikszene darauf hoffen, dass der Staat sie<br />

durch Subventionen am Leben erhält. Dafür muss sie sich aber auch<br />

unangenehme Fragen gefallen lassen. Die wichtigste ist, warum ein<br />

staatlich subventioniertes System weitgehend unkontrolliert erscheint<br />

und die oben beschriebenen Exzesse erlaubt. Wie kann man einer<br />

Öffentlichkeit, die nicht in die Oper oder ins Konzert geht, erklären,<br />

dass mit den Subventionen viel zu hohe Mega-Gagen und Hungerlöhne<br />

gleichermaßen finanziert werden? Konkret: dass ein Dirigent<br />

<strong>20</strong>.000 Euro Abendgage kassiert, gleichzeitig die Soubrette am Stadttheater<br />

aber nicht einmal 2.000 Euro pro Monat verdient? Niemand<br />

versteht, warum ein derartiges System staatlich subventioniert wird.<br />

In Zeiten von Corona haben wir gelernt, dass Verträge an staatlichen<br />

Häusern vollkommen unberechenbar sind: Warum bekamen festangestellte<br />

Musiker 70 Prozent Kurzarbeitergeld, einige Freie aber<br />

null Prozent ihrer Vertragssumme? Ist Vertrag nicht Vertrag? Wenn<br />

in der Post-Corona-Zeit die Staatsfinanzen knapp werden, wird die<br />

Kultur ein wesentlicher Sparfaktor sein. Da wäre es gut, eine Legitimation<br />

des eigenen Schaffens zu haben, aber auch ein Gehaltssystem,<br />

das nachvollziehbar ist.<br />

Was das deutsche Stadttheater-System einmalig gemacht hat,<br />

waren nicht nur großartige Aufführungen, sondern die Struktur der<br />

Künstlerförderung und das Bekenntnis von Städten, sich mit dem<br />

Theater ein „intellektuelles Atomkraftwerk“ zu leisten, das frei denken,<br />

ausufernd inszenieren, jegliche Grenze einreißen durfte, um die Stimmung<br />

innerhalb einer Stadt zu beflügeln. Das geht nur mit kreativen<br />

Künstlern, die der Stadt verbunden sind, mit Ensembles, die Musik<br />

als Soundtrack einer Stadt verankern. Ich kenne das aus meiner<br />

Jugend in Bremen: Werder-Trainer Otto Rehagel war auf einem Plakat<br />

im Smoking, Intendant Klaus Pierwoß im Werder-Trikot zu sehen.<br />

Botschaft: Fußball und Theater sind gleich wichtig für die Region!<br />

Subventionen für ein Theater sollten riskante Experimente unterstützen,<br />

ohne auf Auslastungszahlen zu schielen. Ein Haus, das versucht,<br />

mit Musicalproduktionen politisch vorgegebene Umsätze zu<br />

generieren, ist nicht nur eine unfaire Konkurrenz zu privaten Musicaltheatern,<br />

sondern auch ein Affront gegen die Subventionskultur.<br />

So schön es ist, dass Orchester in Schulen gehen sollen – man<br />

darf ihnen nicht den kompletten musikalischen Bildungsauftrag überschreiben.<br />

Wenn die Politik es nicht schafft, diesen zu erfüllen,<br />

DIE KULTUR-FUZZIS<br />

DA OBEN<br />

SOLLEN ERST EINMAL<br />

RICHTIG ARBEITEN!<br />

braucht sie gar nicht daran zu denken, staatliche Theater zu subventionieren<br />

– denn deren Publikum wird in der Regel in der Schulzeit<br />

begeistert. Intendanten und Künstler müssen ihre Rolle in der Region<br />

wieder neu entdecken: Sie sind die subventionierten Freigeister einer<br />

Stadt! In Corona-Zeiten hat sich die Spreu vom Weizen getrennt.<br />

Während manche Theater sofort in Kurzarbeit gegangen und die<br />

Saison beendet haben, spielten andere leidenschaftlich an den Grenzen<br />

dessen, was möglich war, und haben Standards für das Verhalten<br />

in Zeiten der Pandemie definiert. Die Botschaft der Kultur: Die Musik<br />

spielt, selbst wenn die Titanic sinkt!<br />

In der Corona-Krise wurde deutlich, dass überregionale Tageszeitungen<br />

und die Hauptprogramme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />

dem kulturellen Überlebenskampf<br />

weitgehend macht- und energielos zuschauten.<br />

Arte hat immerhin Daniel Hope täglich<br />

als Musiker in die Wohnzimmer gebracht,<br />

der ORF die Festspiele begleitet und großen<br />

Künstlern Auftrittsmöglichkeiten gegeben.<br />

Ansonsten: weitgehend Funkstille. Derweil<br />

haben Musiker sich selbst als Medium entdeckt<br />

und begonnen, aus ihren Wohnzimmern<br />

zu streamen. Niemand war so erfolgreich<br />

wie Pianist Igor Levit, der – ob man<br />

ihn mag oder nicht – inzwischen mit seinen<br />

Social-Media-Profilen als ernsthaftes Medium, wirkmächtiger als das<br />

alte Fernsehen, verstanden werden muss. Die wichtige neue Debatte<br />

wurde noch nicht zu Ende geführt: Leisten kostenlose Streams der<br />

Entwertung der Musik Vorschub? Wer soll die Musik bezahlen? Die<br />

neue Rolle von Künstlerseiten, Blogs und alternativen Anbietern ist<br />

spannend: Streams mit ernster Musik (Die Walküre) aus dem Planschbeckengarten<br />

des Sängerehepaars Vinke erreichten weit über 100.000<br />

Zuschauer – mehr als mancher Nischensender. Offen auch, wie Streamingdienste<br />

sich in Zukunft sortieren: Werden sie neue Geschäftsmodelle<br />

finden, wird es einen großen Player geben, oder werden alle<br />

Orchester und Theater egoistisch weiterwursteln?<br />

Sicher ist, dass Medien schon lange nicht mehr auf Kunstkritik<br />

reduziert werden können – sie müssen als Plattform der Musik fungieren,<br />

die Debatten bündelt, Geschichten entwickelt, Konzepte<br />

erarbeitet, die Musik wieder in den öffentlichen Diskurs stellt, egal,<br />

ob in Zeitungen und Zeitschriften, in sozialen Medien oder in Streams.<br />

Dabei müssen sie kritisch werden, nicht nur was die Qualität der<br />

Aufführungen betrifft, sondern auch gegenüber den Problemen des<br />

Systems.<br />

Schockiert sind viele Künstler besonders über die Politik. Da<br />

waren die sich sonst im Scheinwerferlicht der Musik sonnenden<br />

Politiker, die nun heillos überfordert schienen. Viele Künstler und<br />

Kulturinstitutionen fühlen sich im Stich gelassen. Tatsächlich ist es<br />

erschütternd, wie Monika Grütters durch die Krise taumelt. Meist:<br />

in Deckung! Kulturpolitik scheint tatsächlich an Relevanz verloren<br />

zu haben. Dabei ist ein System, das auf Subventionen angewiesen ist<br />

– und das ist die Klassik –, auch auf kluge Kulturpolitik im Bund und<br />

in den Ländern angewiesen. Aber auch ohne Corona schien die<br />

Kulturpolitik schon länger über ihre eigene Unwissenheit und ihre<br />

Angst zu stolpern. Berlins Kultursenator Klaus Lederer hat in Sachen<br />

Staatsoper viel zu zögerlich reagiert, in Karlsruhe schaut man derweil<br />

zu, wie ein ganzes Theater gegen den Intendanten aufbegehrt. Und<br />

außerhalb der Kulturszene scheint dieser Seitenstrang der Politik<br />

niemanden zu interessieren.<br />

Es ist wesentlich, dass Politiker allgemeingültig Formen von<br />

Benehmen und Anstand auch im Raum der Kultur durchsetzen. Gleichzeitig<br />

muss Kulturpolitik auch Lobby für die Kultur sein und die Bedeutung<br />

von Orchestern und Theatern nicht nur in Sonntagsreden formulieren,<br />

sondern sie sichtbar machen: durch kluge Personalpolitik,<br />

ausreichende Ausstattung der Häuser und in anstehenden Zeiten<br />

dramatischer Kürzungen auch durch den Kampf um jeden Euro. ■<br />

57


E R L E B E N<br />

Bilder legendärer<br />

Theater- und<br />

Musikmomente sind<br />

Teil der Ausstellung<br />

„Großes<br />

Welttheater“. Hier<br />

Anna Netrebko als<br />

Violetta in<br />

La Traviata, <strong>20</strong>05<br />

FOTO: SALZBURGER FESTSPIELE<br />

100 JAHRE<br />

SALZBURGER FESTSPIELE<br />

Was für eine Ansage! Und der erfreulichste Grund, sich den Kopf zu zerbrechen, worüber<br />

sich der Jubilar freuen würde. Und nicht nur der! Hier ein paar der schönsten Ideen ...<br />

VON BARBARA SCHULZ<br />

Eine signalrote Würfel-Box „100 Jahre Salzburger Festspiele“ ist<br />

schon mal ein spetakulärer Hingucker auf dem Geburtstagstisch.<br />

Und schon beim Überfliegen dieser Retrospektive auf 58 CDs<br />

kommt man begrifflich kaum am Klischee vorbei: Juwelen sind es,<br />

Sternstunden, und allesamt legen sie Zeugnis ab von Momenten,<br />

die legendär waren, einzigartig und vollendet. Manche von ihnen<br />

fast schon unwirklich und entrückt.<br />

Außerdem sei erwähnt, dass das beiliegende Booklet interessant<br />

und auch ausgesprochen amüsant zu lesen ist. Was den Würfel<br />

aber so magisch macht, das sind Preziosen wie ein Don Giovanni<br />

unter Karl Böhm aus dem Jahr 1977, Mahlers Achte unter Bernstein,<br />

Karajans Tristan und Isolde, Barenboims Onegin … Nicht weniger<br />

hochkarätig die Sänger: La Traviata unter Rizzi mit Netrebko, Villazón<br />

und Hampson, Christa Ludwig im Rosenkavalier, Brigitte<br />

Fassbaender in Così fan tutte … Sprichwörtlich die große Oper<br />

außerdem mit Peter Schreier, Hermann Prey, Jessye Norman, Fritz<br />

Wunderlich, Sena Jurinac, Leontyne Price und vielen Großen mehr.<br />

Konzerte unter Solti, Bernstein, Boulez, Abbado, Muti, Levine, am<br />

Flügel Brendel, Argerich, Sokolov – und immer und überall die<br />

Wiener Philharmoniker.<br />

Natürlich war ein kulturelles Spektakel wie die Salzburger<br />

Festspiele eine spannende Aufforderung zur geistigen Auseinandersetzung,<br />

vor allem in deren Reibung moderner Visionen und traditioneller<br />

Werte. Und so warf sich der <strong>20</strong>14<br />

verstorbene Salzburger Universitätsprofessor<br />

Michael Fischer geradezu lustvoll in die Herausforderung,<br />

die jeweiligen Neuinszenierungen<br />

werkübergreifend zu analysieren und<br />

sich ihnen mit der ihm eigenen Dialektik<br />

anzunähern. Daraus geboren wurde 1993 –<br />

CD-BOX/BÜCHER/AUSSTELLUNG<br />

100 Jahre Salzburger Festspiele<br />

„100 Jahre Salzburger Festspiele“ (DG),<br />

„Festspiel-Dialoge“ (Verlag Anton Pustet),<br />

Landesausstellung im Salzburg Museum,<br />

„Großes Welttheater“ (Residenz Verlag)<br />

gemeinsam mit dem damaligen Festspiel-Intendanten Gerard Mortier<br />

– die Idee der Festspiel-Dialoge.<br />

Seit 1994 waren diese Beiträge zahlreicher Persönlichkeiten<br />

aus Kunst, Philosophie, Literatur und Wissenschaft nicht nur vom<br />

Publikum begeistert geschätzte Diskussionsgrundlagen, sondern<br />

sie wurden „auf bestimmte Weise das Gewissen der Festspiele“<br />

(Gerard Mortier) und sind damit der schönste Beweis, dass die<br />

Festspiel besucher mehr wollen als Glamour, große Namen und<br />

spannende Aufführungen. Ein 550 Seiten starker Dokumentationsband<br />

versammelt Beiträge aus 21 Jahren Festspiel-Dialogen.<br />

Das Salzburg Museum in der Neuen Residenz in Salzburg<br />

zeigt noch bis 31. <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong>21 die so informative wie lebendige<br />

und ausgesprochen unterhaltsame Landesausstellung „Großes<br />

Welttheater – 100 Jahre Salzburger Festspiele“. Ganz im Sinne des<br />

Gründers Max Reinhardt wurde das Mammutprojekt auf engen<br />

Austausch mit dem Publikum konzipiert. Als Hommage an den<br />

Regisseur hat der ORF eine spannende Dokumentation über 100<br />

Jahre Festspielgeschichte produziert. Schließlich wird auch die<br />

Kunsthalle zur Bühne: Neben einem abwechslungsreichen Live-<br />

Programm kommen spektakuläre Festspielproduktionen in einer<br />

filmischen Installation zur Vorführung. Noch ein Gustostückerl,<br />

wie der Österreicher sagt: In der prächtigen Max-Gandolph-Bibliothek<br />

werden bedeutende Dokumente, Klänge, Bilder, Geschichten<br />

gezeigt und gelesen – so fügt sich wie ein<br />

Puzzle zusammen, was die Salzburger Festspiele<br />

zum bedeutendsten Festival für klassische<br />

Musik und darstellende Kunst werden<br />

ließ. Und mehr als nebenbei gesagt: Der<br />

Katalog zur Ausstellung ist für jeden Festspiel-Liebhaber<br />

ein hinreißendes Muss! n<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


SCHWERPUNKT<br />

HAPPY BIRTHDAY, CARL ORFF!<br />

125 Jahre und kein bisschen greise: Lebenslinien eines so umtriebigen wie vielseitigen Urmusikers (Seite 60)<br />

... und kein bisschen leise: Bis heute findet Orffs Musik in Comics, Filmen und Dokus statt (Seite 64)<br />

... und ja, auch ziemlich weise: Der Komponist war ganz nebenbei auch ganzheitlicher Musiker (Seite 68)<br />

Let’s Carl the Whole Thing Orff ...<br />

VON STEFAN SELL<br />

Orff, Orff, überall Orff!<br />

Gefeilt<br />

„Ich fand eine Musik, die mir<br />

so vertraut war, als hätte ich sie<br />

längst gekannt, als hätte ich sie<br />

nur wiedergefunden. Es war eine<br />

innere Übereinstimmung.“ So<br />

machte Orff aus Monteverdis<br />

Orfeo einen Orffeo. Dreimal überarbeitete<br />

er Monteverdis<br />

erste Oper und führte sie so in<br />

ein neues Orffsches Klangbild.<br />

Der Gitarrist und Lautenist Heinz<br />

Bischoff machte Orff mit dem<br />

Lautenspiel vertraut. So entdeckte<br />

Orff die Musik des mittelalterlichen<br />

Lautenspielers Hans Neusidler aus<br />

Neusiedl am See, machte aus dessen<br />

Stück Gassenhauer einen Gassenhauer<br />

(siehe Seite 65, „Badlands“)<br />

für Kastagnetten,<br />

kleine Trommel,<br />

Xylofon, Schellentrommel<br />

und Pauken.<br />

William Byrd ließ im Bass seines<br />

Virginalstücks The Bells zwei<br />

Glocken pendeln, als zeitgleich<br />

im Markusdom von Venedig vier<br />

Chöre sangen. Orff verknüpfte<br />

beides und schuf aus den Bells<br />

das fünfchörige Orchesterwerk<br />

Entrata, 1930 mittels Großlautsprecher<br />

uraufgeführt auf dem<br />

Königsberger Messegelände.<br />

Gewitzt<br />

Die staccatohafte Artikulation des<br />

lateinischen Fortuna-Textes lädt<br />

zu „misheard lyrics“ ein. In einer<br />

Parodie wird aus „semper crescis“<br />

schlicht „some men like cheese“,<br />

„aut decrescis vita detestabilis“<br />

klingt wie „hot temperate cheese“<br />

und „ludo mentis aciem“ lässt<br />

sich als „you don’t get cheese or<br />

chicken“ verhören.<br />

Über seinen Schüler Werner Egk<br />

verriet Orff: „Wir beide, Egk und<br />

ich, durch so viel Gemeinschaftliches<br />

verbunden, ergänzten uns<br />

bestens. Manch entschiedener<br />

Ratschlag lebt in seinem und<br />

meinem Werk heute noch weiter.“<br />

Hans Pfitzner meinte damals über<br />

die Strömungen zeitgenössischer<br />

Musik: „Egk mich am Orff.“<br />

In dem Gershwin-Song<br />

Let’s Call The Whole Thing<br />

Off streitet sich ein Paar<br />

über die richtige Aussprache,<br />

aber beide meinen<br />

dasselbe. In der Parodie<br />

wurde daraus: „You say Carmina,<br />

and I say CarmanaYou say Burina,<br />

and I say BuranaCarmina, Carmana,<br />

Burina, BuranaLet’s Carl the whole<br />

thing Orff.“<br />

Geklaut<br />

Die Carmina Burana scheint ein<br />

Selbstbedienungsladen zu sein,<br />

so oft tauchen Teile daraus in der<br />

Popmusik auf. Ein besonderer<br />

Fan gesampelter Orff-Fetzen ist<br />

der ECHO-Preisträger Michael<br />

Cretu. Sein Enigma-Album (<strong>20</strong>00)<br />

„The Screen Behind the Mirror“<br />

enthält gleich vier Tracks<br />

mit den Carmina.<br />

Der aus Brooklyn stammende<br />

Rapper NAS ließ es auf einen<br />

Rechtsstreit ankommen, als er<br />

sich 1999 in seinem Stück Hate<br />

me Now zu „Fortuna“-Grooves<br />

aus den Carmina Burana kreuzigen<br />

ließ. Orffs Erben erwirkten<br />

eine einstweilige Verfügung<br />

und die schon mehrere<br />

Millionen Mal<br />

verkaufte Scheibe<br />

durfte nicht länger<br />

verkauft werden.<br />

Jimmy Webb schrieb 1967 über<br />

seine Verflossene den Song<br />

MacArthur Park. Interpret<br />

war Richard Harris, aus den<br />

Harry- Potter-Filmen bekannt<br />

als Professor Dumbledore. Kurz<br />

darauf sang den Song Long<br />

John Baldry. Warum er mit<br />

den Carmina Burana beginnt,<br />

wird wohl ein Rätsel der Musikgeschichte<br />

bleiben.<br />

FOTOS: WIKIPEDIA<br />

59


C A R L O R F F<br />

Das Bild entstand im Rahmen eines Kunstprojekts der Carl-Orff-Grund- und Musikmittelschule in<br />

Dießen am Ammersee mit dem ortsansässigen Künstler Christian Wahl<br />

60 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


CARL ORFF<br />

URMUSIK UND<br />

WELTTHEATER<br />

Seine Klangsprache ist unverwechselbar, seine Bühnenwerke<br />

frappierend originell, seine Pädagogik seit Jahrzehnten<br />

hochaktuell. Carl Orff, der dieses Jahr 125 geworden wäre,<br />

war ein Genie – mit ein paar Ecken und Kanten.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Das schönste Denkmal für einen<br />

Komponisten sei es, „wenn er im<br />

Spielplan bleibt“, fand Carl Orff.<br />

Was ihm mit seiner bombastischen<br />

Chor-Hymne O Fortuna aus den<br />

Carmina Burana gelungen ist. Wer<br />

sie im Ohr hat, wird sie nicht mehr los, diese orgiastische<br />

Ode auf die Jugend und Lebensfreude zu<br />

Ehren der Schicksalsgöttin Fortuna. Seit der Uraufführung<br />

1937 in Frankfurt wird sie in die weite Welt<br />

hinausposaunt. Vom Münchner Odeonsplatz bis hin<br />

in die Verbotene Stadt in Peking. In Ritterfilmen<br />

aus Hollywood wie bei großen Boxkämpfen und<br />

Reitturnieren. Von Rappern wie Puff Daddy bis hin<br />

zu André Rieu. In der Werbung für Schweizer Schokolade<br />

oder australisches Bier. O Fortuna gleich<br />

„O(rffs) Fortuna“, könnte man meinen.<br />

Was umso mehr stimmt, als Jahrzehnte der<br />

Suche und der Unsicherheit diesem Erfolg voran-<br />

61


C A R L O R F F<br />

gegangenen waren, auch wenn Orff im Rückblick<br />

schrieb: „In meiner Jugend war alles schon in mir vorgeformt<br />

und verarbeitet“.<br />

Geboren wird Carl Orff 1895 im München der<br />

Prinzregentenzeit in eine alte bayerische Offiziers- und<br />

Gelehrtenfamilie, in der viel musiziert wird. Nach einer<br />

Aufführung von Richard Wagners Der fliegende Holländer<br />

kann der 14-Jährige tagelang nicht reden und<br />

essen.<br />

Orff „tobt“ sich auf dem Klavier<br />

aus. Die Schulnoten verschlechtern<br />

sich, und der Onkel droht: „Ein Orff,<br />

der kein Abitur hat, nicht auf der<br />

Universität zugelassen wird und keinen<br />

Doktor machen kann, ist kein<br />

Orff!“ Worauf der Junge kühl erwidert:<br />

„Ich brauche kein Abitur, ich<br />

brauche Musik, und ich kriege den<br />

Doktor h. c. sowieso, genau wie mein<br />

Großvater.“ Und er sollte Recht<br />

behalten, wenn man an die späteren<br />

Ehrendoktorwürden aus Tübingen<br />

und München denkt. Orffs einzige<br />

Tochter Godela beschrieb die damalige<br />

familiäre Situation so: „Mein<br />

Vater aber entgleiste und wurde ein<br />

armer Künstler.“<br />

„ICH BRAUCHE KEIN<br />

ABITUR, ICH BRAUCHE<br />

MUSIK“<br />

Aber war das wirklich so? Mit 16 Jahren<br />

geht er zwar ohne Abitur von der<br />

Schule ab, aber für seine erste Liedsammlung<br />

Eiland übernimmt der<br />

Großvater, General Koestler, den<br />

Druckkostenzuschuss. Der Unterricht<br />

an der Musikakademie in München<br />

allerdings will dem jungen<br />

Mann, der für Richard Strauss,<br />

Debussy und Schönberg schwärmt,<br />

nicht behagen. Die Empfehlung eines<br />

Akademieprofessors aus „diesem Ort<br />

des muffigen Geistes des 19. Jahrhunderts“<br />

aber bekommt er trotzdem,<br />

und so tritt er 1916 die Kapellmeisterstelle<br />

an den Münchener Kammerspielen<br />

an – inmitten des Ersten<br />

Weltkrieges, der auch ihn nicht verschont.<br />

Schon 1917 aber wird er an<br />

der Ostfront verschüttet. „Kriegsverwendungsunfähig“<br />

beendet er seine<br />

„wunderliche Militärlaufbahn“,<br />

schreibt er damals. 1918 findet er sich<br />

als Kapellmeister bei Wilhelm Furtwängler<br />

am Nationaltheater Mannheim<br />

und am Hoftheater Darmstadt<br />

wieder, doch schon im Sommer <strong>20</strong>19<br />

ist er endlich wieder zurück – in seinem geliebten München.<br />

Ein Jahr später heiratet er die Sängerin Alice Solscher. Sie wird<br />

sich nach wenigen Jahren Ehe von ihm trennen. Orff gibt Godela,<br />

das gemeinsame Kind, in ein Schweizer Internat und vereitelt so<br />

jeden Versuch der Mutter, die Tochter zu sich zu nehmen. Alice<br />

wandert 1930 nach Australien aus. „Mein Vater war damals noch<br />

sehr jung“, beschreibt Godela die Situation, „er hatte kein Geld und<br />

CARL ORFFS MEILENSTEINE<br />

10. Juli 1895 geboren in München<br />

1900 erster Klavier‐, Cello- und Orgelunterricht,<br />

erste Komposition<br />

1909 Schlüsselerlebnis beim Besuch von Richard<br />

Wagners Der fliegende Holländer<br />

1911 Orff schreibt rund 50 Lieder zu Texten von<br />

Heinrich Heine, Friedrich Hölderlin und anderen<br />

1912 Komposition des ersten großen Chorwerkes nach<br />

Nietzsches Also sprach Zarathustra<br />

1913 bis 1914 Studium an der Königlichen Akademie<br />

der Tonkunst in München<br />

1917/18 Kriegsdienst<br />

1918/19 Kapellmeister in München, Mannheim und<br />

Darmstadt<br />

1921/22 Studium in München bei Heinrich Kaminski<br />

1924 Gründung der „Günther-Schule München –<br />

Ausbildungsstätte vom Bund für freie und angewandte<br />

Bewegung e. V.“ zusammen mit Dorothee Günther<br />

1930/34 Erste Veröffentlichungen zum Orff-Schulwerk<br />

1935/36 Komposition seiner berühmten Carmina burana<br />

1936 Sein Einzug und Reigen der Kinder wird zur<br />

Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin aufgeführt<br />

1937 Uraufführung und weltweiter Durchbruch mit<br />

Carmina burana in Frankfurt/Main<br />

1939 Uraufführung der Märchenoper Der Mond in<br />

München<br />

1943 bis 1949 Uraufführungen seiner Bühnenwerke Die<br />

Kluge (1943), Cartulli Carmina (1943), Die Bernauerin<br />

(1947) und Antigone (1949)<br />

1943 Orffs Freund Kurt Huber, Mitbegründer der<br />

NS-Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, wird<br />

hingerichtet<br />

1944 Orff wird von Hitler in die „Gottbegnadeten-<br />

Liste“ aufgenommen und vom Wehrmachts- und<br />

Arbeitseinsatz an der Heimatfront freigestellt<br />

1950 bis 1954 Herausgabe von fünf Bänden Musik für<br />

Kinder zusammen mit Gunild Keetman<br />

1950 bis 1960 Leitung einer Meisterklasse für<br />

musikalische und dramatische Komposition an der<br />

Staatlichen Hochschule für Musik in München<br />

1955/56 Auszeichnung mit dem Ehrendoktor der<br />

Universität Tübingen, dem Orden „Pour le Mérite“<br />

und der Ehrendoktorwürde der Universität München<br />

Ab 1961 Leitung des neu gegründeten Orff-Institutes<br />

an der Akademie Mozarteum Salzburg<br />

1972 Sein Gruß der Jugend wird zur Eröffnung der<br />

Olympischen Sommerspiele in München aufgeführt<br />

29. März 1982 Orff stirbt im Alter von 86 Jahren in<br />

München<br />

konnte nichts mit einem Baby anfangen (…). Ich<br />

wurde an verschiedensten Orten untergestellt (…).<br />

Ich hatte dadurch eine sehr einsame Kindheit“.<br />

Trotz der Vorschüsse des Schott Verlags ist Orff<br />

oft mit der Miete und den Internatsgebühren im Rückstand.<br />

„Wenn er nicht mehr zahlte, wurde ich heimgeschickt“,<br />

erinnert sich Godela. Es heißt, er habe in<br />

den 30er-Jahren diverse Lehrangebote abgelehnt. Er<br />

wollte wohl in München bleiben, bei<br />

FOTO: ORFF-STIFTUNG<br />

seiner Alma Mater, der Musiksammlung<br />

der Bayerischen Staatsbibliothek.<br />

Hier konnte er sich in das Werk<br />

der alten Meister wie Monteverdi<br />

oder di Lasso vertiefen, die ihn mit<br />

ihrer strengen Ordnung faszinierten.<br />

Sein Schüler, der Komponist Karl<br />

Marx, erinnert sich an „dicke<br />

Bände (…), Gesamtausgaben von<br />

Buxtehude, Pachelbel, Krieger, Haßler,<br />

Lasso“, die auf Orffs Flügel lagen.<br />

1923 schließlich begegnet er<br />

Dorothee Günther. Sie teilt seine<br />

Liebe zur Alten Musik, aber auch den<br />

Glauben an deren elementare,<br />

ursprüngliche Kraft. 1924 gründen<br />

sie die Günther-Schule, eine Ausbildungsstätte<br />

für Spiel, Gesang und<br />

Tanz für Kinder. Hier beginnt Orff<br />

mit seiner Arbeit am Schulwerk, das<br />

vom Händeklatschen, Fingerschnalzen<br />

und Fußstampfen bis hin zur<br />

Beherrschung komplexer Schlag-Instrumente<br />

die Kreativität der Kinder<br />

anregen soll. „Education“ im wahrsten<br />

Sinne des Wortes, lang bevor der<br />

Begriff im Musikbetrieb in Mode<br />

kommt.<br />

„RHYTHMUS IST DAS<br />

LEBEN SELBST!“<br />

Orff strebt die „Regeneration der<br />

Musik vom Tanz her“ an. Sprache,<br />

Klang, Geste und Bewegung sollen<br />

zu einer Einheit werden, verbunden<br />

durch den Rhythmus, der „das Leben<br />

selbst“ sei. Orffs Melodien bleiben<br />

eingängig und kurz, sie kennen keine<br />

Entwicklung. Und auch die Harmonien<br />

sind von erstaunlicher Einfachheit.<br />

Dennoch gelingt ihm eine<br />

eigene Tonsprache, die keiner Schule<br />

folgt, die oft nachgeahmt wird, dabei<br />

aber doch unnachahmbar bleibt.<br />

„Ich bin Altbayer, (…) und dieses<br />

Land, diese Landschaft haben<br />

(…) mein Wesen und mein Werk<br />

mitgeprägt.“ Orffs Theatrum Mundi,<br />

sein „kleines“ und sein „großes Welttheater“,<br />

umfasst zwölf Kantaten, neun Opern, drei Oratorien, darunter<br />

ludi scaenici, also Spielszenen wie die Carmina, Märchenopern<br />

wie Der Mond, „Bairische“ Tragödien und Komödien wie Die<br />

Bernauerin und Astutuli, Antikendramen wie Antigone, Ödipus und<br />

Prometheus. Dazu das Schulwerk. Viele Jugendwerke wie die<br />

Debussy-nahen Tanzenden Faune op. 21 wird Orff später als „dekadenten<br />

Dreck“ abtun und seinem Verleger schreiben: „Alles, was<br />

62 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Bühnenbildentwurf zu Carl Orffs Oedipus der Tyrann von Helmut Jürgens zur Aufführung 1961<br />

FOTO: UWE JÜRGENS<br />

ich bisher geschrieben und Sie leider gedruckt haben, können<br />

Sie nun einstampfen! Mit Carmina Burana beginnen meine<br />

‚Gesammelten Werke‘!“<br />

SEINE DRITTE EHEFRAU BESCHRIEB IHN ALS<br />

„GENIE UND DÄMON IN EINEM“<br />

Und sein Erfolg. Auch wenn sich hier alle Popularität konzentriert<br />

– ein sich anbiedernder Klassikhit-Lieferant wurde Orff nicht. Firm<br />

im „Bayerlatein“ müsste man schon sein, wenn man die Wortverdrehungen,<br />

Klangreime und Zungenbrecher des „Gaglers“ (Gauklers)<br />

in Astutuli von 1953 verstehen will. Firm im Altgriechischen,<br />

wenn man die Handlung im Prometheus nachvollziehen will, auch<br />

wenn der Komponist die Sänger vor der Uraufführung 1968 beruhigt:<br />

„Wenn Ihr mit dem Text nicht weiterkommt, sagt ‚Kyriazi,<br />

Kyriazi‘ [der Name einer Zigarettenmarke]. Das merkt keiner!“<br />

Große aufführungstechnische Anforderungen stellt auch De temporum<br />

fine comoedia von 1973, Orffs apokalyptische Vision vom<br />

Ende der Welt. 1982 stirbt Orff und wird auf Bayerns „Heiligem<br />

Berg“ in Kloster Andechs beigesetzt. „Summus finis“ steht auf dem<br />

Grab, „Ende“ heißt das, aber auch: „höchstes Ziel“.<br />

Nicht wenige haben am Mythos Orff gekratzt. In ihrer Autobiografie<br />

Saturn auf der Sonne beschreibt Orffs dritte Frau, die<br />

Schriftstellerin Luise Rinser, ihre Ehe mit dem „Genie und Dämon<br />

in einem“. 1954 hatten sie ein Anwesen in Dießen gekauft – heute<br />

Sitz der Carl Orff Stiftung. „Als sie [die Schulden] abbezahlt waren,<br />

drängte mich das neue Paar hinaus. Buchstäblich“, schrieb sie. Und<br />

meinte Orff und seine Sekretärin Liselotte Schmitz, ab 1960 Orffs<br />

Ehefrau Nummer vier.<br />

Kritisch betrachtet wurde Orffs Haltung während des Dritten<br />

Reiches. Besonders objektiv und präzise gelang dies dem Musikhistoriker<br />

Fred K. Prieberg (Musik im NS-Staat, 1982). „Mein Vater<br />

war kein Held“, schrieb auch Tochter Godela 1992 (Mein Vater Carl<br />

Orff und ich, 1992). „Er ging immer den konfliktloseren Weg, auch<br />

in dieser bösen Zeit; er hatte (…) Angst. Er besaß keine Begabung<br />

zum Märtyrer. Das kann ich nicht als Schuld empfinden.“<br />

Anrührend die Szene im Prolog ihres Buches. Da fragt sie ihren<br />

Vater: „Was bist Du von Beruf?“ Und er antwortet: „Das siehst Du<br />

doch, ein Düpferlscheißer.“ – „Aha“ sagt sie. „Verdienst Du denn<br />

etwas damit?“ – „Vorläufig noch nicht. Aber wenn ich gestorben<br />

bin, wirst Du vielleicht einmal ganz gut verdienen“. Und sie sagt:<br />

„Schad’, dass Du erst sterben musst.“<br />

n<br />

63


C A R L O R F F<br />

DER LIEBLING DER FLIMMERWELT<br />

CARL ORFFS MUSIK IM FILM<br />

Die Musik von Carl Orff fordert regelrecht dazu heraus, sie an bedeutenden Passagen in<br />

Film und Fernsehen einzusetzen – ob freche gelbe Comic-Helden, bitterböser Roadmovie,<br />

Mittelalter-Blockbuster oder inklusives Tanzprojekt. VON STEFAN SELL<br />

64 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


EXCALIBUR<br />

Die Ritter der Tafelrunde auf der Suche nach dem heiligen Gral.<br />

Das magisch Mythische hat Orff immer wieder gesucht und im<br />

Rad der Fortuna als ewigem Kreislauf gefunden. So erreicht seine<br />

Musik ihre Resonanz oft da, wo Mythen zum Leben erweckt werden.<br />

Der Film Excalibur ist wohl einer der ersten, der den rhythmischen<br />

Chorgesang der Anrufung der Schicksalsgöttin zentral<br />

einsetzt. Viele folgten in Film, Performance, Videospielen oder mit<br />

suggestiven Werbeclips. Immer geht es um die Sinnesreizung des<br />

Archaischen. Auf dem Höhepunkt der alles entscheidenden<br />

Schlacht wird in dem Leinwandepos Excalibur aus dem Jahre 1981<br />

der Ruf nach Fortuna wach. Orffs Carmina Burana geben den<br />

dramatischen Soundtrack. Wenn der Filmkritiker Georg Seeßlen<br />

über die Musik im Film meint „Viel Wagner und ein wenig Orff“,<br />

muss man entgegnen, Orff ist hier an prominenter Stelle zu hören,<br />

ja, filmprägend! Wenn Artus mit seinen Mannen gegen Mordred<br />

ins Feld zieht, ist Orff zur Stelle! Orffs Beschäftigung mit Repetitionen<br />

scheint ihre Resonanz auch in der häufig wiederholten Verwendung<br />

seiner Musik gefunden zu haben.<br />

BADLANDS<br />

Eigentlich hat George Tipton die Filmmusik zu diesem<br />

Film geschrieben, aber wie so oft: Der Knaller,<br />

der magische Moment, das Thema schlechthin kam<br />

aus bewährter Feder. Carl Orff hatte dafür einen<br />

„Gassenhauer“ des Renaissance-Lautenspielers Hans<br />

Neusidler von der darmbesaiteten Laute auf die hölzernen<br />

Klangstäbe eines Xylofons übertragen. Dieses<br />

Stück firmiert bei Orff unter dem Titel Musica Poetica<br />

und findet sich in seinem Schulwerk, das er<br />

gemeinsam mit der Komponistin und Musikpädagogin<br />

Gunild Keetman schuf. Kontrastreicher hätte diese<br />

sonnig heitere, perlend sprudelnde Musik in einem Film<br />

tatsächlich nicht eingesetzt werden können. Nach einer<br />

wahren Begebenheit erzählt der Film die skurrile<br />

Geschichte des Pärchens Kit und Holly: er ein 25-jähriger<br />

Müllmann, sie noch ein Teenie. Die beiden begegnen<br />

sich zufällig vor ihrem Haus und verlieben sich. Hollys<br />

Vater ist gegen diese Beziehung, weshalb Kit ihn kurzerhand<br />

umbringt, das Haus zur Musik von Orffs Passion<br />

(Musica Poetica II) niederbrennt, die beiden mit dem<br />

Auto flüchten und von da an mordend durch die nordamerikanischen<br />

Lande vagabundieren – ein Roadmovie befremdender<br />

Art. Bilder absoluter Schönheit kontrastieren mit grausamer<br />

Willkür, aus Unschuld wird Schuld – und die Musik Orffs schwebt<br />

parteilos über allem.<br />

ORFF BEI DEN SIMPSONS<br />

Bei den Simpsons finden alle ein Zuhause. Voller Zitate und Anspielungen<br />

verstecken sich in jeder Episode Details des gesellschaftlichen<br />

wie kulturellen Lebens. Auch Orff hat einen Platz bei den Simpsons,<br />

in Staffel <strong>20</strong>, Folge 13. Maggie findet sich durch Homers Leichtfertigkeit<br />

plötzlich in einem Kloster wieder. Als Maggies jüngere Schwester<br />

Lisa sie dort herausholen will, hören wir das O Fortuna des<br />

Nonnenchors. Im weiteren Verlauf stößt Lisa auf ein mysteriöses<br />

Juwel, weshalb die Folge im Deutschen „Auf der Jagd nach dem<br />

Juwel von Springfield“ heißt und ein Fingerzeig in Richtung<br />

Vermächtnis der Tempelritter und Da Vinci Code ist. Eine der Nonnen<br />

ist Sister Marylin, ihr parodistischer „Sister Act“ ist eine Spitze<br />

auf Marylin Monroes berühmte Kleidbelüftung über dem U‐Bahn-<br />

Schacht. In der darauffolgenden Staffel taucht Orff in Folge 2 auf.<br />

Dort gibt es einen Werbeclip für das Buch The Answer, eine Persiflage<br />

auf den Esoterikbestseller The Secret, der sowohl als Buch als auch<br />

als Film seinerzeit einen Hype auslöste. Nun, und was singt der<br />

Nonnenchor hier: O Fortuna – und, weil’s so schön war: im Abspann<br />

gleich noch einmal.<br />

CARMINA – ES LEBE DER UNTERSCHIED<br />

„… und ohne den Unterschied wäre das Leben langweilig!“, sagt<br />

Wolfgang Stange, einer der drei Choreografen, der an diesem Projekt<br />

mitgewirkt hat. Stange leitet die AMICI Dance Company. 1980 in<br />

London gegründet, hat er mit ihr viele inklusive Tanzprojekte initiiert.<br />

Royston Maldoom ist vielen als Choreograf aus dem Projekt<br />

„Rhythm is it!“ bekannt, doch sein Wirken ist weit umfangreicher.<br />

Die Carmina hat er zuvor mit äthiopischen Straßenkindern eingeübt<br />

und ihnen mit der Aufführung den verlorenen Stolz wiedergegeben.<br />

Auch der Choreograf Volker Eisenach fokussiert seine Aufmerksamkeit<br />

darauf, den Tanz denen nahezubringen, denen der Zugang<br />

dazu meist verwehrt bleibt. Einst Schüler von Royston Maldoom,<br />

wirkte auch er schon bei „Rhythm is it!“ mit und ist heute künstlerischer<br />

Leiter und Mitbegründer der Faster-Than-Light-Dance-<br />

Company Berlin. Orffs Einheit aus Musik, Bewegung, Sprache und<br />

Tanz wird hier zur inklusiven Offenbarung. In diesem Film wird<br />

Orffs Musik nicht verwendet, um einen Effekt zu erzielen, in diesem<br />

Film ist sie gelebte Inklusion. Der Film von Sebastian Heinzel zeigt<br />

„ein einzigartiges internationales Tanzprojekt“. Über 300<br />

behinderte und nicht behinderte Akteure, Real- und Förderschüler,<br />

professionelle Tänzer und Laien erwecken die Carmina<br />

Burana zu einer Vision gelebter Möglichkeiten, zu<br />

einem Tanzwunder der Vielfarbigkeit.<br />

KAPITALISMUS – EINE<br />

LIEBESGESCHICHTE<br />

Der alles fressende Kapitalismus, euphemistisch „Neoliberalismus“<br />

genannt, hat den Filmemacher Michael Moore<br />

Ende der Nullerjahre während der amerikanischen Finanzkrise<br />

dazu inspiriert, den provokanten Film Kapitalismus<br />

– eine Liebesgeschichte zu drehen. Dem Thema<br />

entsprechend vermittelt Moore seine Botschaft völlig<br />

suggestiv, plakativ und manipulativ. So setzte er auch<br />

seine Musik ein. Orffs Schicksalrad aus den Carmina<br />

Burana dreht sich hier, um die Zuschauer im Zusammenhang<br />

mit den bewegten wie bewegenden Bildern<br />

aufzuwühlen, die Musik stellvertretend für Furcht und<br />

Schrecken zu nutzen. Zu Ausschnitten aus Filmmaterialien<br />

der Encyclopedia Britannica dräut das O Fortuna.<br />

Es sind Bilder, die die Situation mit dem Niedergang<br />

des alten Rom vergleichen, das Volk wird mit Brot<br />

und Spielen dumm und dumpf gehalten, damit der<br />

Kapitalismus auf der Basis von Kriegen und Katastrophen unbehelligt<br />

wachsen und gedeihen kann – ein Mechanismus, den die kanadische<br />

Journalistin Naomi Klein „die Schock-Strategie“ nannte.<br />

THE DOORS<br />

Die Präsenz dieser Band ist bis heute unantastbar. Ihr legendärer<br />

Sänger Jim Morrison starb 1971 in Paris in einer Badewanne. Sein<br />

Grab auf dem Friedhof Père Lachaise ist zur ewigen Pilgerstätte<br />

geworden. Was das mit Carl Orff zu tun hat? Zunächst nichts. Doch!<br />

Im Film The Doors von Oliver Stone erklingen – einmal mehr! – die<br />

Carmina Burana. So weit, so gut. Wäre da nicht die Bearbeitung<br />

der Carmina Burana des inzwischen ebenfalls verstorbenen Keyboarders<br />

Ray Manzarek. Er war das musikalische Gehirn der Doors.<br />

Ein Jahr nach Orffs Tod, 1983, veröffentlichte er seine Carmina<br />

Burana, eine Art Recomposing in Zusammenarbeit mit Philip Glass,<br />

dessen Minimal Music das zyklisch-repetitive Moment in Orffs<br />

Musik fortsetzt. Manzarek und Glass verbannten das Orchester aus<br />

ihrer Bearbeitung und setzten den Synthesizer in den Mittelpunkt.<br />

Es lohnt sich, diesen Pfaden zu folgen, The Doors ebenso zu hören<br />

wie Orff und sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, um<br />

die Einheit in der Vielfalt wie die Vielfalt in der Einheit, die für Orff<br />

sehr bedeutend war, für sich zu entdecken. Philip Glass hat sich<br />

damals gefragt, „was Orff getan hätte, wenn er dabei gewesen wäre<br />

und Synthesizer zur Verfügung gehabt hätte?“.<br />

n<br />

65


C A R L O R F F<br />

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66 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


EINE REVOLUTIONÄRE NEUE<br />

MUSIKPÄDAGOGIK<br />

Carl Orff suchte die perfekte Verschmelzung von Musik, Bewegung und Sprache.<br />

Seine Gedanken zu einer neuen Elementarmusik sind bis heute aktuell.<br />

VON ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER<br />

Carl Orff 1964 im<br />

SOS-Kinderdorf<br />

Dießen<br />

Er war nicht nur ein begnadeter<br />

Komponist, sondern<br />

stellte auch die<br />

Musikpädagogik auf den<br />

Kopf. Fast 90 Jahre nach Carl<br />

Orffs ersten Gedanken zu einer<br />

neuen Elementarmusik, bei der<br />

Klang mit Tanz und Sprache<br />

zusammenkommt, sind seine<br />

Ideen bis heute brandaktuell.<br />

Orff-Schulwerk-Gesellschaften<br />

gibt es weltweit: von<br />

Australien über Ar gentinien und<br />

Island bis Südafrika. 48 sind es<br />

derzeit, die von der elementaren Musik- und Tanzpädagogik im<br />

Sinne von Carl Orff und Gunild Keetman inspiriert und motiviert<br />

sind. In den USA ist der Enthusiasmus besonders groß: „Jedes Jahr<br />

treffen sich Delegierte aus allen Bundesstaaten zu einem Kongress“,<br />

berichtet Dr. Thomas Rösch von persönlichen Besuchen vor Ort.<br />

„Bei ihnen herrscht immer eine Bombenstimmung. Die Teilnehmer<br />

füllen große Hotelkomplexe, tauschen sich aus und erzählen oft,<br />

dass Orff ihr Leben verändert hat.“<br />

Für den Direktor des Orff-Zentrums München, das den Nachlass<br />

des Multitalents wissenschaftlich erforscht, ist dies ein Beweis<br />

der andauernden Strahlkraft von Orffs Konzept. Von 1932 bis 1935<br />

erschien zunächst seine Produktionsreihe „Elementare Musikübung“<br />

nach einer Werkstattphase an der Münchner Günther-<br />

Schule für Gymnastik und Tanz (gegründet 1924 mit der Gymnastik-<br />

und Tanzpädagogin Dorothee Günther). Ab 1948 wurde es als<br />

Sendereihe des Bayerischen Rundfunks und fünfbändiges Begleitwerk<br />

Musik für Kinder ausgeweitet, das im Schott Verlag erschien.<br />

Sein Erfolgsgeheimnis liegt für Rösch in Orffs Wunsch, die kindliche<br />

„Fantasie und Kreativität“ möglichst früh zu fördern.<br />

Ausschlaggebend findet er auch sein ganzheitliches Anliegen,<br />

das der Komponist – der sich übrigens selbst nie als Pädagoge<br />

bezeichnet habe – so formulierte: „Elementare Musik ist nie Musik<br />

allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist<br />

eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer,<br />

sondern als Mitspieler einbezogen ist.“ Außerdem habe Orff verstanden,<br />

dass es nicht um „eine reine Lehre ging, die für ewige Zeiten<br />

festgelegt ist“, sondern um ein „lebendiges Konzept, das sich von<br />

Generation zu Generation verändert – selbstverständlich unter<br />

Wahrung der Grundideen.“<br />

Für Angela Holzschuh<br />

bedeutet das, Carl Orffs Schulwerk<br />

heute „nicht von A bis Z“<br />

anzuwenden, sich aber Elemente<br />

für ihren Unterricht in Musikalischer<br />

Früherziehung herauszupicken.<br />

„Orff-Instrumente gibt<br />

es in vielen Kindergärten“, freut<br />

sich die Lehrerin an der Musikschule<br />

Weilheim. „Xylofone,<br />

Trommeln, Glockenspiele und<br />

Klanghölzer sind ohne vorherigen<br />

Instrumentalunterricht<br />

leicht zu spielen. Das begeistert<br />

Kinder und führt beim Kennenlernen von Rhythmus, Melodie oder<br />

einfacher Notation zu erstaunlichen Ergebnissen.“<br />

Für sie selbst war Orff ein Wegbegleiter: Ihren ersten Kontakt<br />

mit ihm hatte sie als kleines Mädchen in Form der Langspielplatte<br />

„Musik für Kinder“, die sie faszinierte. Während ihres Studiums<br />

der Elementaren Musikpädagogik, Orchestermusik und Harfe<br />

begegnete sie in Mannheim auch Orffs Schulwerk. Später vertiefte<br />

sie ihr Wissen mit Fortbildungen, unter anderem am Orff-Institut<br />

in Salzburg. „In der Musikpädagogik hat sich viel entwickelt“, resümiert<br />

sie. „Ohne Orff wäre das nicht denkbar gewesen.“<br />

Seinen Stellenwert bestätigt auch Prof. Dr. Johannes Voit, der<br />

seit <strong>20</strong>18 eine musikpädagogische Forschungsstelle an der Universität<br />

Bielefeld leitet: „Aus der Luft gegriffen war Orffs Ansatz nicht.<br />

Im Ausdruckstanz oder der Reformpädagogik deutete sich bereits<br />

nach der Wende zum <strong>20</strong>. Jahrhundert ein Umdenken an. Orff ist<br />

aber der Erste, der das methodisch aufbereitet hat und dessen Ideen<br />

sehr einflussreich waren.“ Unter anderem sei Orff quasi Erfinder<br />

der Body Percussion. Was bei ihm „Klanggesten“ hieß, sei heute als<br />

Klatschen oder Stampfen Bestandteil des musikpädagogischen<br />

Standardrepertoires.<br />

Gleichzeitig habe Orffs Schulwerk Grenzen. „Kinder sind heute<br />

schon in der Grundschule mit komplexerer Musik und multikulturellen<br />

Stilen vertraut“, weiß Voit. Es sei eine vertane Chance, ihre offenen<br />

Ohren nicht zu nutzen und sich auf Orffs elementare „Urmusik“ zu<br />

beschränken. Auch beim Instrumentarium gebe es eine größere Bandbreite.<br />

„Wenn Schüler am Computer mixen oder komponieren, beweist<br />

das auch kreatives Potenzial“, so Voit. „Dass sie heute verschiedenste<br />

Vorerfahrungen und Fähigkeiten mitbringen, eröffnet der Musikpädagogik<br />

neue Möglichkeiten und Herausforderungen.“ <br />

n<br />

FOTO: (C) FRED LINDINGER, ARCHIV CARL-ORFF-STIFTUNG<br />

67


C A R L O R F F<br />

FOTO: ORFF-INSTITUT<br />

68 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


DER TANZ DES<br />

MENSCHLICHEN<br />

HERZENS<br />

Carl Orff strebte nach einem weit gefassten Musikverständnis,<br />

das die Bewegung und Körperlichkeit des Menschen ins<br />

Zentrum stellt und einen intuitiven Zugang zum Klang<br />

ermöglichen sollte.<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Tänzer des Orff-Instituts an der<br />

Universität Mozarteum Salzburg<br />

Mutiger Neuerer, engagierter Pädagoge<br />

und vielseitig interessiertes Multitalent<br />

– Carl Orff war all das in einem.<br />

Dass er tatsächlich aber auch bereits<br />

ganzheitlich dachte, also Bewegung einerseits<br />

und die Wirkung der Musik andererseits in<br />

ihrem Zusammenhang erkannte und dann auch<br />

wechselseitig begriff, war für die damalige Zeit<br />

fast schon revolutionär.<br />

Der Tänzer und Choreograf Helge Musial<br />

ist seit <strong>20</strong>07 Leiter des Orff-Instituts für Elementare<br />

Musik- und Tanzpädagogik an der Universität<br />

Mozarteum Salzburg und beschäftigt sich<br />

intensiv mit dem Erbe von Carl Orff und dessen<br />

Ziel der „Regeneration der Musik von der Bewegung<br />

her“. Ein Gespräch über die Enge der Korsette,<br />

die inspirierende Kraft der künstlerischen<br />

Vielfalt und den Tanz des menschlichen<br />

Herzens.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Bewegung spielt in Orffs<br />

Musikverständnis eine wichtige Rolle. Wie<br />

kam es dazu?<br />

Helge Musial: Man muss Orff im historischen<br />

Kontext und als Kind seiner Zeit verstehen. In<br />

seiner Jugend ging eine eher körperfeindliche<br />

Zeit zu Ende – denken Sie an die Kleidung der<br />

Wilhelminischen Ära, zum Beispiel die Korsette.<br />

Carl Orff kann als Teil einer Erneuerungsbewegung<br />

gesehen werden, die aus dieser Starrheit<br />

ausbrechen und sich den traditionellen Zwängen<br />

entziehen wollte. In diesem Sinne hat Orff mit<br />

der Musik auch die Bewegung als<br />

Mittel des künstlerischen und pädagogischen<br />

Schaffens erkannt.<br />

Wer war Teil dieser Erneuerungsbewegung?<br />

Mit wem kam Carl Orff hier zusammen?<br />

Für Orff war die Begegnung mit der Gymnastikund<br />

Tanzpädagogin Dorothee Günther, mit der<br />

er 1924 die Günther-Schule gegründet hat, sehr<br />

bedeutend. Diese Schule war ein ausgesprochen<br />

wichtiger Inspi rationsort für Orff. Er hat mit<br />

Dorothee Günther dort viele kreative Menschen<br />

aus den Bereichen Tanz und Gymnastik um sich<br />

versammelt und gemeinsam mit ihnen das<br />

Zusammenspiel von Musik und Bewegung<br />

betrachtet. Sehr beflügelnd muss das gewesen<br />

sein. Ganz generell interessierte sich Orff für<br />

Dynamik, Rhythmus und Melodik, aber nicht<br />

nur von Musik, sondern zum Beispiel auch von<br />

Sprache. In der Günther-Schule gab es Räume<br />

für Tanz und Bewegung, und die Studierenden<br />

der Günther-Schule wechselten innerhalb der<br />

Lektionen vom Instrumentenspiel zum Tanz<br />

und umgekehrt.<br />

Was ist für Sie an Orffs Ansatz bis heute<br />

aktuell?<br />

Orffs Lehrauftrag ist für mich: Sei explorativ, sei<br />

offen! Orff selbst war ein aktiver Zeitgenosse, der<br />

zum Beispiel ein großes Interesse an ungewöhnlichen<br />

Musikinstrumenten hatte. Und darüber<br />

hinaus auch an deren Bau. Mit seiner Arbeit war<br />

Orff Teil einer echten Reformbewegung und<br />

seiner Zeit in gewisser Weise weit voraus. Ohne<br />

den Begriff selbst anzuwenden, hat er Interdisziplinarität<br />

gelebt und die Vielfalt von Künstlergemeinschaften<br />

genau erkannt: Die Musiker<br />

waren Tänzer und die Tänzer waren Musiker.<br />

Wo endet – und das sowohl in Ihrer eigenen<br />

Wahr nehmung als auch nach Orffs Verständnis<br />

– die Bewegung, und wo beginnt der Tanz?<br />

Ist letztlich alles Tanz?<br />

Ich persönlich finde es tatsächlich schwierig, den<br />

Begriff des Tanzes von dem der Bewegung abzugrenzen.<br />

Nehmen wir den menschlichen Herzschlag:<br />

Da ist ein Puls, da ist Bewegung – und in<br />

gewisser Weise kann das Tanz sein, der sich in<br />

Musik umsetzt und umgekehrt. Orff sah im Tanz<br />

eine alltagsfunktionsüberhöhende Kunstform,<br />

die sich durch die stilistische Kodifizierung von<br />

der Bewegung unter schied.<br />

Sie haben sich intensiv mit Orffs Konzept der<br />

Bewegung auseinandergesetzt. Wie hat sich<br />

Orff wohl selbst bewegt?<br />

Orff selbst war natürlich weder Choreograf noch<br />

Tänzer, aber wenn man sich Fotos von ihm<br />

anschaut, erkennt man einen sehr vitalen Mann.<br />

Ich vermute, dass Orff ein sehr körperlicher<br />

Mensch war.<br />

n<br />

69


C A R L O R F F<br />

O, R, FORTISSIMO!<br />

Orff wollte nie, dass sein Privatleben öffentlich wird. Und doch will man wissen, wer, vor allem<br />

aber wie der Mann hinter seiner Pfeife wirklich war. Einer, der ihn wirklich gut kannte, ist der<br />

Münchner Komponist Wilfried Hiller. Zunächst Schüler, dann Freund, zeichnet er anhand<br />

einiger Anekdoten ein lebendiges Bild des Komponisten, ohne eine Grenze zu übertreten.<br />

Ich war mit meiner Familie bei Orff. Die beiden Frauen gingen zum Reiten.<br />

Mein Sohn Amadeus lag unterm Flügel – und wir haben ihn total vergessen.<br />

Orff demonstrierte mir eine Stelle, an dem sich der Erdenschlund auftut,<br />

und schlug mit japanischen Holzstäben auf die tiefen Seiten und schrie: „Vae,<br />

vae, portae interi!“ Den einzigen im Stück vorkommenden Akkord auf der<br />

Kirchenorgel demonstrierte er, indem er beide Ellenbogen auf die Tasten des<br />

Flügels krachen ließ. „Sechs Klaviere, <strong>20</strong> Schlagzeuge – das ist ein Mordslärm.“<br />

Der kleine Amadeus aber brüllte wie am Spieß! Wir knieten nieder,<br />

versuchten, ihn zu beruhigen. Orff sang Wiegenlieder und das Schlaflied<br />

Schuh-Schuhu aus der Klugen. Aber es half alles nichts. Erst, als meine Frau<br />

zurückkam, verstummte Amadeus und schaute sie mit großen Augen an.<br />

Und Orff sagte lakonisch: „Heute hat meine Kunst aber gründlich versagt.“<br />

70 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


Wir haben uns oft im<br />

Deutschen Museum zu<br />

Jazzkonzerten getroffen<br />

– er hat sich ja ganz<br />

bewusst mit dem Jazz<br />

auseinandergesetzt. Als<br />

er Miles Davis improvisieren<br />

hörte, sagte er.<br />

„Wenn einer so mit<br />

meinen Carmina Burana<br />

umgehen würde, das<br />

wäre toll.“<br />

Orff war besessen von der Arbeit. Er war<br />

dafür aber auf seinen eigenen Schreibtisch zu<br />

Hause angewiesen. Er brauchte seinen<br />

Schreibtisch, eine Pfeife, guten Tabak.<br />

Eines Tages trafen<br />

wir Orff auf einem<br />

Partiturplatz in<br />

der Bayerischen<br />

Staatsoper. Und er<br />

erklärte: „Ich will<br />

nur wissen, wie der<br />

Sawallisch dirigiert,<br />

wenn er denkt, dass<br />

ich in Italien im<br />

Urlaub bin.“<br />

FOTO: H GASSNER; KARL ALLIGER, CARL-ORFF-STIFTUNG, ARCHIV: ORFF-ZENTRUM-MÜNCHEN. MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON JOHANNA ALLIGER<br />

Mein Sohn Amadeus war<br />

vier, als Orff ihn fragte:<br />

„Kennst du was von mir?“<br />

Der sagte: „Klar, O Fortuna,<br />

tuna, tuna, tuna …“ Daraufhin<br />

Orff: „Du hast mich<br />

durchschaut …“<br />

Er hatte viel Humor, war mitunter aber auch recht sarkastisch.<br />

Seinen Schlaganfall schilderte er folgendermaßen: „Ich sitze hier<br />

am Schreibtisch, plötzlich geht die Tür auf und ein Gerippe<br />

kommt herein. Sagt nicht einmal grüß Gott, nur so viel: ‚Mein<br />

Name ist Schlag, wann kann ich Sie treffen?‘ Dann wurde ich ohnmächtig<br />

und bin erst wieder im Krankenhaus aufgewacht.“<br />

Premiere in Salzburg, Orff holt<br />

die Karten ab. Darauf ein kleiner<br />

Zettel, auf dem stand: Orf.<br />

Er sagt zu der Dame an der<br />

Kasse „Ich heiße nicht wie<br />

euer komischer Fernsehsender,<br />

sondern O, R und dann<br />

Fortissimo.“ Woraufhin die in<br />

schönstem Salzburger Dialekt<br />

erwidert: „Und wos hoaßt des<br />

jetzt wieda?“<br />

Er hatte ein Nachdenkstüberl –<br />

da saß er, hat gebrütet. Dann<br />

stand er auf und hat zwei Takte<br />

aufgeschrieben.<br />

Eigentlich war er<br />

ein Menschenfreund.<br />

Es sei denn,<br />

er mochte jemanden<br />

nicht. Seine<br />

Reaktion auf eine<br />

Collage im Münchner<br />

Stadtmuseum,<br />

die Karajan und ihn<br />

zeigt: „So nett sind<br />

wir nie beieinandergestanden<br />

…“<br />

„Manche sind Kleingeister.<br />

Ich hab nur Modelle geliefert.<br />

Ihr könnt improvisieren.“<br />

Zum 80. Geburtstag von Orff versammelte Schlagzeugprofessor Karl<br />

Peinkofer <strong>20</strong> Schlagzeuger aus München, um im Garten von Orff den<br />

Gassenhauer aus dem Schulwerk als Geburtstagsständchen aufzuführen.<br />

Man begann zu spielen, plötzlich kam Wind auf und blies dem<br />

Xylofonisten die Noten vom Pult. Er wurde nervös, übersprang vier<br />

Takte, einige Musiker folgten ihm, die anderen spielten konsequent<br />

weiter. Die Aufführung endete in totalem Gelächter. „Kein Wunder,<br />

dass das nicht geklappt hat“, kommentierte Orff. „Ich hab’s ja nicht<br />

für Profis geschrieben, sondern für Kinder. Vor 14 Tagen war eine<br />

Schulklasse da, die haben das auswendig gespielt. Hat funktioniert!“<br />

71


C A R L O R F F<br />

IM RAUSCH<br />

DER WORTE<br />

Extraordinär ist bis heute Carl Orffs<br />

kreativer, ja genialer Umgang mit Sprache.<br />

Vor der „Erfindung“ von Rap und<br />

Techno trieb der sinnlich-spirituelle<br />

Bühnenvisionär die Vernachlässigung von<br />

Melodie und Harmonik zugunsten von<br />

Deklamation und Rhythmus ins Extrem.<br />

VON ROLAND DIPPEL<br />

Die Vereinfachungen musikalischer Satztechniken hatte<br />

er bereits in den Carmina burana (1937) kultiviert. Heute<br />

sind diese „Cantiones profanae“ ein unverzichtbarer<br />

Evergreen des Chor-Repertoires. Ansonsten aber bleibt<br />

es zum 125. Geburtstag Carl Orffs fast beunruhigend still. Still wie<br />

das betörende „Schuh-Schuhu“-Lied der Bauerntochter, mit dem sie<br />

den König in Orffs zweitbekanntestem Werk Die Kluge (1943) in<br />

den Schlaf singt. Langsame, bedächtig und andächtig wirkende<br />

Tonwellen der Sopranstimme auf gerundeten, sich noch nicht zu<br />

Worten bindenden Silben schaffen Ruhe. An solchen Stellen verstummt<br />

auch die Frage nach Alter, Herkunft und Dauer von Orffs<br />

musikalischem Material: Zeitlosigkeit in gewinnender Form.<br />

Orff kokettiert aber auch mit der verbalen Pranke und<br />

berauscht sich an deftig bis derben Aphorismen: „Löschs Licht aus,<br />

dann sind alle Weiber gleich!“ bellt ein Strolch in dem zwei Wochen<br />

nach der Niederlage von Stalingrad uraufgeführten Märchenspiel.<br />

Derartiges holte sich Orff aus Simrocks Spruchsammlung. Da verhielt<br />

er sich neben dem keineswegs prüden Bertolt Brecht, den er<br />

vertont hatte, wie ein archaischer Kobold im Kosmos von Bühnenwirkung,<br />

anspringender Menschlichkeit, musikalischer Stoßkraft<br />

und sprachlicher Attacke.<br />

Die Bernauerin (1947), von Orff noch während des Zweiten<br />

Weltkriegs als Spielplanalternative zu Hebbels Schauspiel begonnen,<br />

hatte um 1985 dank August Everding eine laute Erfolgsstory bei den<br />

Münchner Opernfestspielen und auf der Freilichtbühne am Roten<br />

Tor Augsburg, die trotz einer Serie in Wunsiedel und bei den Straubinger<br />

Agnes-Bernauer-Festspielen nicht nachwirkte.<br />

Die Aufzeichnung der Wiener Volksoper mit der Schauspielerin<br />

Sunnyi Melles in der Titelpartie im Jahr 1997 vermittelt einen<br />

anschaulichen Eindruck davon, welche Ausdrucksnuancen zwischen<br />

Natürlichkeit und Manierismus nötig sind, um das gern als „bayerische<br />

Volksoper“ missverstandene „bairische Stück“ in ein bewegendes<br />

Theater zu steigern.<br />

Ein ausgesprochen wichtiges Vermächtnis des Wortbeschwörers<br />

Carl Orff ist seine Rezitation des Stücks Astutuli (1953) für<br />

Schauspieler und Schlagwerk in einer Aufzeichnung durch den<br />

Südwestfunk 1958. „Wer dumm ist, bleibe daheim“, lautet darin ein<br />

ironisch wiederholter Vers in diesem Stoff über die Allzuschlauen<br />

und unverbesserlichen Neunmalklugen.<br />

Sprache ist auch in Orffs von lebhaften Gesten begleitetem<br />

Vortrag das raue und lustvolle, aber nie zu geschmeidige Ereignis.<br />

Der Klang und dessen Formung sagen oft mehr als der Sinn von<br />

Worten. Diese Gewalt der Töne und Silben ist Orffs Alleinstellungsmerkmal.<br />

Deshalb wirken Orff-Aufführungen in Opernhäusern<br />

oft wie ein Kompromiss. Das gilt sogar für das 1973 durch Herbert<br />

von Karajan bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Spiel<br />

Notenzitat aus Carmina Burana in der Handschrift Carl Orffs<br />

De temporum fine comoedia (1973), in dem Orff das Weltende aus<br />

einer rein christlichen Betrachtung herausgehoben hatte.<br />

Der größte Verlust, wenn man vom Orffschen Werk spricht,<br />

ist, dass sich keine von Orffs Griechentragödien Antigonae (1949),<br />

Oedipus der Tyrann (1959) und Prometheus (1968) nachhaltig im<br />

Repertoire etablieren konnte. Hundertprozentige Verständlichkeit<br />

gehörte nach Oedipus der Tyrann nicht mehr zu den für Orff wesentlichen<br />

Voraussetzungen im Theater. Sonst hätte er Aischylos’ Prometheus,<br />

der zuletzt in der Kraftzentrale Dortmund zur Ruhrtriennale<br />

<strong>20</strong>12 in einem dem Werk angemessenen Ambiente zur Aufführung<br />

gelangte, nie in altgriechischer Sprache vertont.<br />

Während der monatelangen Proben mit Carlos Alexander,<br />

dem Interpreten der Uraufführung, ging es von Anfang an mehr<br />

um die Gestik als um den Sinn. Dieses Tanzen, Stampfen und Rattern<br />

mit Zunge und Zähnen steht in denkbar großem Widerspruch<br />

zum Sprechen heute, das möglichst resonanzarm auf eine präzisierende<br />

inhaltliche Aussage zielt.<br />

„Das Mechanische, Pulsierende, Rücksichtslose in diesen Triolen<br />

hat keine Entsprechung in Catulls wiegendem Pentameter“,<br />

analysiert Wilfried Stroh, Professor für Klassische Philologie in<br />

München, Orffs Vertonung Catulli carmina (1943) und lobt Orffs<br />

eigenschöpferische Sprachkompetenz für Latein im Vorspiel, in dem<br />

sich Jungvolk immer heftiger umwirbt und bespringt: dionysische<br />

Laszivität in einer den meisten Hörern unverständlichen Sprache.<br />

Orff bewegt sich also im Widerstreit von metrischer Freiheit<br />

in der Komposition und sprachlicher Präzision, aber auch von<br />

rhetorischem Übermut und erfolgsorientierter Glätte. Für die Vertonungen<br />

der Sophokles-Tragödien Antigonae und Oedipus der<br />

Tyrann wählte er in der jungen Bundesrepublik die deutsche Übertragung<br />

von Friedrich Hölderlin. Mainstream-affiner geht kaum,<br />

denn Hölderlins an inhaltlichen Freiheiten reiche Nachschöpfung<br />

galt als die „klassische“. Es ist also sein pulsierender, universeller<br />

Sprachreichtum, der heute die Auseinandersetzung mit Orff<br />

erschwert, obwohl seine Sprache auch abseits der Bühne großartige<br />

Effekte beinhaltet.<br />

n<br />

FOTO: (C) CARL-ORFF-STIFTUNG<br />

72 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


LEBENSART<br />

Stadt, Liebe, Fluss: I wie Isar! Ein München-Spaziergang mit Konstantin Wecker (Seite 74)<br />

Hack over Beethoven: Alexander Herrmann und die Liebe zu gestottertem Tatar (Seite 78)<br />

Paula Bosch ist ihnen bereits seit ihrer Kindheit verfallen: Süßweine – feinstes Gaumenkapital (Seite 80)<br />

KUNST & KRISE<br />

Eigentlich sollte die Vernissage mit den Bildern von Matthias Schilling am 7. Mai stattfinden.<br />

Dann kam alles anders: Shutdown und Schockstarre. Dass Letzteres nicht für alle<br />

galt, hat der Grafiker, Zeichner und Illustrator bewiesen, als er uns nach der Lockerung<br />

in der Redaktion besucht hat. Mit im Gepäck nun auch neue Bilder zum Zeitgeschehen.<br />

Ironisch, sarkastisch, politisch – er bleibt seinem Strich auch inhaltlich treu.<br />

Wir werden die Vernissage zu gegebener Zeit nachholen. Melden Sie sich an und<br />

wir benachrichtigen Sie gern, sobald der Termin stattfinden kann. Einstweilen<br />

haben Sie die Chance, unsere digitale Vernissage auf crescendo.de/vernissage<br />

zu besuchen und sich Ihr Lieblingsbild zu sichern. Die Hälfte vom Erlös geht<br />

übrigens an die <strong>CRESCENDO</strong> Künstlernothilfe. Danke, Matthias!<br />

www.d-signbureau.de<br />

Vernissage in den Redaktionsräumen (Rindermarkt 6 in München)<br />

Eintritt frei. Anmelden unter crescendo.de/vernissage – wir melden uns bei Ihnen bzgl. des Termins<br />

„EINGEMACHTES“ (<strong>20</strong><strong>20</strong>) TUSCHE / AQUARELL AUF PAPIER, 21 x 29,7 cm<br />

73


L E B E N S A R T<br />

4<br />

1 2 3<br />

7<br />

6<br />

8 9<br />

5<br />

FOTOS: WLADYSLAW SOJKA AUF WIKI COMMONS, TILMAN<strong>20</strong>07 AUF WIKI COMMONS, SCHLAIER AUF WIKIPEDIA, HAIKO HERTES AUF PIXELIO, MICHAELA SCHÖLLHORN AUF PIXELIO, WOLFGANG DIRSCHERL AUF PIXELIO,<br />

MORELIGHT AUF PIXABAY, MICHAEL SIEBRT AUF PIXABAY, HEINZ HUMMEL AUF PIXABAY<br />

1) Olympiaturm und Olympiapark – das 72.000 m 2 große Dach ist ein Wahrzeichen Münchens 2) Nationaltheater, Sitz der Staatsoper und des<br />

Staatsballetts 3) Treffpunkt zum Baden und Feiern: der „Flaucher“, ein Isarabschnitt 4) Münchner Innenstadt mit Rathaus und Frauenkirche<br />

5) Maibaum am Münchner Viktualienmarkt 6) Münchner Kindl 7) Kettenkarussell am <strong>Oktober</strong>fest 8) Breze mit Obatzdem 9) Chinesischer Turm<br />

74 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


STADT DER SCHÖNEN UND REICHEN, DER BUSSI-BUSSI-GESELLSCHAFT,<br />

DER UNANSTÄNDIG HOHEN MIETEN. UND DOCH LIEBT MAN SIE:<br />

FÜR IHRE ENTSPANNTE ELEGANZ, IHREN LÄSSIGEN HEDONISMUS UND<br />

IHRE GANZ EIGENE SPERRIGKEIT, VON TRADITIONEN ZU LASSEN.<br />

München<br />

Isar, Sommer, Praterinsel – in diesen drei Worten und Orten steckt die ganze Liebe, die der<br />

Münchner Liedermacher Konstantin Wecker für seine Stadt empfindet. Weil sie Sinnbild sind<br />

für die Seele seines Münchens – und für ein großartiges Lebensgefühl.<br />

VON BARBARA SCHULZ<br />

FOTO: THOMAS KARSTEN<br />

Wo, wenn nicht nahe der Isar,<br />

sollte ein Spaziergang mit<br />

Konstantin Wecker in München<br />

beginnen? Wir treffen<br />

uns am Mariannenplatz, wo<br />

er aufgewachsen ist – mitten im heute recht<br />

gediegenen Lehel. Der „echte“ Münchner, also<br />

auch Wecker, nennt das Viertel „Lechel“. Was<br />

richtig ist, darum streitet man sich bis heute.<br />

Einst ein Ort für Handwerker- und Geringverdiener,<br />

wurde das Lehel zwar bereits 1724 eingemeindet,<br />

behielt seinen ursprünglichen Charakter<br />

aber lange bei. „Wir haben wie auf einem<br />

Dorf gelebt – völlig autark. Es gab ja alles. Heute<br />

ist es ein Zweitwohnsitzviertel reicher Anwälte. Nicht mehr lebendig<br />

wie damals“, beklagt Konstantin Wecker. Und ja, die prächtigen<br />

Stuckfassaden der Gründerzeit, die Jugendstilbauten, die schicken,<br />

aber nicht hippen Restaurants und Cafés lassen keinen Zweifel zu:<br />

Hier, zwischen Isar, Altstadt und Englischem Garten stehen wir in<br />

einer der vornehmsten und teuersten Wohngegenden Münchens.<br />

„Für mich bestand meine ganze Kindheit aus Sommer!“,<br />

schwärmt Wecker. „Und aus dem Blick auf die Lukaskirche, die stetig<br />

mit ihrem herben Glockenschlag dräute – dank ihr brauchten<br />

wir zu Hause nie eine Uhr. Dann in der Badehose aus dem vierten<br />

Stock runter und rüber zur Praterinsel und in die Isar, in der mich<br />

meine Mama das Schwimmen gelehrt hat.“ Alles sei fußläufig gewesen:<br />

die Volksschule in der Herrnstraße, das Wilhelmsgymnasium<br />

in der Tierschstraße, Münchens ältestes und wohl schönstes Gymnasium,<br />

das bis heute als Eliteschule bekannt ist. Zu Ende besucht<br />

hat Wecker es nicht – seine autoritären Strukturen und die vielen<br />

Nazis, die zu der Zeit noch unterrichteten, hielt er nicht aus: „Ich<br />

wurde gegangen.“<br />

Schon liegt die Praterinsel vor uns, einst von Franziskanermönchen<br />

als Garten und zur Erholung angelegt und neben der Museumsinsel<br />

eine von zwei befestigten und bebauten Flussinseln in der Isar.<br />

Konstantin Wecker: Politische<br />

Haltung war ihm immer wichtig<br />

„Die Isar war schon prägend für mein Leben“,<br />

sagt Wecker. Und meint das nicht nur physisch,<br />

sondern auch in übertragenem, philosophischem<br />

Sinn: „Panta rhei – alles ist im Fluss.“<br />

Wir bleiben am Wasser, lassen das Kulturzentrum<br />

Gasteig hinter uns, und das nur einen<br />

Katzensprung entfernte Müllersche Volksbad,<br />

eines der schönsten Badehäuser Europas, erbaut<br />

in reinstem Jugendstil – in Richtung Englischer<br />

Garten. Heißt: Eisbach, eine Ableitung der Isar,<br />

und Chinesischer Turm. Er sei immer gern am<br />

„Turm“, „aber im Moment hat das ein wenig an<br />

Leichtigkeit verloren“, meint Wecker im Hinblick<br />

auf Corona. „Aber der Eisbach: Da waren früher<br />

die ,Nackerten‘. Ich war auch dabei. Das war mein Isar-Erleben.<br />

Heute muss man dafür nicht mehr nackt sein.“<br />

Wir verlassen den Englischen Garten und machen uns dahin<br />

auf den Weg, wo alles seinen Anfang nahm: Das erste „reine“<br />

Wecker-Konzert fand in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft<br />

statt. Sammy Drechsel und Dieter Hildebrandt hatten die<br />

Bühne in der Schwabinger Ursulastraße 1956 als politisches Kabarett<br />

gegründet. „Hildebrandt war nicht nur ein Freund, er war auch<br />

mein Gönner und nahm mich immer zum ‚Scheibenwischer‘ mit.<br />

Überhaupt war ich am Anfang meiner Karriere mehr mit Kabarettisten<br />

zusammen, obwohl ich ja gar keiner bin. Es war die politische<br />

Haltung, die mir wichtig war.“ Ob das erste Konzert ausverkauft<br />

war? Wecker lächelt: „Als ich damals in dem Saal stand, dachte ich:<br />

Wenn du hier mal vor verkauftem Haus spielst, dann hast du’s<br />

geschafft.“ Heute füllt er den Gasteig gern auch zweimal. Oder den<br />

Circus Krone, über den Wecker geradezu ins Schwärmen gerät: „Es<br />

war atemberaubend, das erste Konzert im Krone. Volles Haus! Ich<br />

bin ihm mein Leben lang schon als Künstler verbunden, habe dort<br />

zu meinem 50., 60. und 70. Geburtstag konzertiert.“<br />

Aber zurück zur Schwabinger Zeit: „Ich war ja musikalisch gar<br />

nicht kompatibel mit der Musik von damals. Ich hatte ein Cello<br />

75


L E B E N S A R T<br />

dabei, dafür aber kein Schlagzeug – das Publikum<br />

hätte meinen Text gar nicht mehr verstanden.“<br />

Das war für ihn immer zentral: „Wenn<br />

ihr an das glaubt, was ihr singt, müsst ihr deutlich<br />

singen. Das ist wichtiger, als schön zu singen.“<br />

Er will, dass jedes Wort verstanden wird:<br />

„Ich singe vertonte Gedichte – jedes noch so<br />

kleine nicht verstandene Wort wäre vergeudet.“<br />

Er hat sich durchgesetzt. Schmunzelnd<br />

sagt er aber auch: „Ich glaube, viele sind damals<br />

gar nicht wegen, sondern trotz meiner Musik<br />

gekommen.“<br />

Inzwischen sind wir im Hofgarten angekommen.<br />

Im Sommer wie im Winter wird hier<br />

Boule gespielt, Touristen wie Einheimische sitzen<br />

auf den Bänken rund um den mittigen<br />

Pavillon, suchen sommers im Schatten oder<br />

ganzjährig einfach nur Ruhe. Wer vor dem<br />

Café Tambosi auf der Odeonsplatzseite keinen<br />

Platz ergattert, weil der Blick auf die Feldherrnhalle und die mächtige<br />

Theatinerkirche Sankt Kajetan einfach zu schön ist, sitzt an den<br />

Arkaden auf der Rückseite beschaulicher.<br />

„Auch hier habe ich schon gespielt“, sagt Konstantin Wecker<br />

und zeigt in Richtung Süden, hin zum Herkulessaal im nördlichen<br />

Gebäude der Residenz. Hier finden vorwiegend klassische Konzerte<br />

statt, insofern sieht sich Wecker hier gar nicht so falsch aufgehoben:<br />

„Literatur und Musik waren das, was mich bis zu meinem 18. Lebensjahr<br />

getragen hat. Mich hat ja nichts anderes interessiert.“ Letztlich<br />

sei auch Franz Schubert mit seinen sogenannten Kunstliedern der<br />

Ziehvater seines Liedermachertums. „Als die Beatles herauskamen,<br />

hab ich ziemlich arrogant gesagt, hört euch lieber das Beethoven-<br />

Violinkonzert an. Ich fand die zunächst langweilig.“<br />

Kultur<br />

Konstantin Wecker empfiehlt jedem, der nach<br />

München kommt, aber auch allen, die dort<br />

wohnen, einen Besuch in den Pinakotheken<br />

(pinakothek.de): der Neuen Pinakothek<br />

(Barer Straße 29), die die Pinakothek der<br />

Moderne (Barer Straße 40) und die Alte<br />

Pinakothek (Barer Straße 27) thematisch<br />

verknüpft. Außerdem für unbedingt sehenswert<br />

hält er das Deutsche Museum<br />

(deutsches-museum.de, siehe Bild), vorzugsweise<br />

auch mit Kindern. Hier werden Meisterwerke<br />

aus Naturwissenschaft und Technik gezeigt.<br />

Gleich nebenan: das Museum Brandhorst<br />

(museum-brandhorst.de), das durch<br />

seine spektakuläre Architektur besticht.<br />

Mitten im Herzen Münchens:<br />

Glockenspiel am Marienplatz<br />

Lange Zeit habe er mit seinem Vater, der<br />

einen schönen Tenor gehabt hätte, immer die<br />

großen Liebesduette der italienischen Oper<br />

gesungen. Schon vor dem Stimmbruch habe er<br />

„unglaublich viel Musik inhaliert. Zu Hause<br />

gab es nur Schellackplatten mit der Callas und<br />

der Tebaldi – die haben mich damals interessiert,<br />

ich war ja Sopran. Später dann die Tenöre:<br />

Caruso, Beniamino Gigli, vor allem aber Jussi<br />

Björling. Er ist derjenige, der bis heute in meiner<br />

Seele alles anrührt, was man anrühren<br />

kann.“ Mit seinem Musiklehrer machte er dann<br />

viele Aufnahmen mit Knabenstimme – Schubert,<br />

Mozart, Haydn. Schließlich hat Wecker an<br />

der Hochschule für Musik und Theater in der<br />

Arcisstraße auch ein paar Semester Gesang<br />

studiert.<br />

Am Ende unseres Spaziergangs noch ein<br />

kleiner Exkurs: „In meinem Leben wollte ich<br />

drei Meister kennenlernen, die mich beeinflusst haben.“ Henry Miller<br />

und Erich Fromm habe er nicht geschafft, weil sie zu früh gestorben<br />

seien. Den alten Carl Orff aber durfte er am nahe gelegenen<br />

Ammersee besuchen. „Orff hatte sich zuvor richtig mit meinen Liedern<br />

und Gedichten beschäftigt. Er bat mich in den Arbeitsraum mit<br />

dem Flügel und sagte nur: ‚Jetzt spui, Bua.‘ Und ich spielte Wenn der<br />

Sommer nicht mehr weit ist. Er ging um mich herum und meinte:<br />

‚Komisch Klavier spielst du, so hab ich das noch gar nicht gehört.‘<br />

Nicht abwertend, eher so ‚Donnerwetter, so was gibt’s auch.‘ Und<br />

dann kam es: ‚Du bist koa Mozart, du bist koa Schubert – du bist der<br />

Wecker.‘ Das war das größte Kompliment, das ich je in meinem<br />

Leben bekommen hab.“<br />

n<br />

Tipps, Infos & Adressen<br />

Reiseinformationen rund um Ihren Besuch in München.<br />

Essen & Trinken<br />

„Auf ein Bier in den Osterwaldgarten“<br />

(schwabinger-osterwaldgarten.de) – für<br />

Konstantin Wecker, der um die Ecke wohnt,<br />

nur ein Katzensprung. Fühlt sich an wie ein klassischer<br />

Biergarten (in dem Selbstbedienung<br />

gilt), ist aber ein gutes Speiselokal mit besonders<br />

nettem Service. Ein Revival „seiner“ 70er-Jahre<br />

verspricht das Fendstüberl (Fendstraße 4).<br />

Und weil München die nördlichste Stadt Italiens<br />

ist, gibt es „echte“ italienische Lokale: Wecker<br />

mag das Bibulus (bibulus-ristorante.de) am<br />

Erich-Mühsam-Platz. Service und Küche top!<br />

Die Redaktion isst gern im Grano (Sebastiansplatz<br />

3). Bester Kaffee der Innenstadt: in der<br />

Kaffeerösterei am Viktualienmarkt.<br />

Übernachten<br />

Direkt gegenüber vom Osterwaldgarten,<br />

unmittelbar am Englischen Garten, liegt das<br />

Hotel Gästehaus Englischer Garten<br />

(hotelenglischergarten.de). Jedes der Zimmer<br />

ist individuell eingerichtet, Apartments<br />

mit Balkon oder Terrasse gibt’s im Nebenhaus.<br />

Idyllisches Frühstück am Bach. Musiker<br />

steigen gern im 5-Sterne-Hotel Palace<br />

(hotel-muenchen-palace.de) in Bogenhausen<br />

ab. Stadtnah mit charman tem Innenhof:<br />

Hotel Opera (hotel-opera.de). Film- und<br />

Fernsehleute buchen das HOTEL (dashotel-in-muenchen.de)<br />

im quirligen Schwabing<br />

oder das Olympic (hotel-olympic.de)<br />

im szenigen Glockenbachviertel.<br />

FOTOS: CHRISTOPH BRAUN AUF WIKIMEDIA COMMONS, DEUTSCHES MUSEUM, SCHWABINGER OSTERWALDGARTEN, HOTEL ENGLISCHER GARTEN<br />

76 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


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UND KLEINE GESCHICHTEN, DIE DAZUGEHÖREN ...<br />

VON BEETHOVEN INSPIRIERT:<br />

RINDERTA-TA-TA-TAAR<br />

ALEXANDER HERRMANN<br />

FOTO: SANDRA ECKHARDT<br />

78 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


ALEXANDER HERRMANN<br />

GASTRONOM UND KOCH MIT ZWEI STERNEN<br />

„Beethoven bewegt nicht nur, er inspiriert auch! Ja, zum Kochen. Liegt es nicht auf der Hand? Ta-ta-ta-taa!<br />

Und? Woran denken Sie? Genau, an Tatar! Für mich ist das sowohl ein doppeltes Wort- als auch ein Klangspiel.<br />

Ta-ta-ta-taa klingt wie gestottertes Tatar. Und selbst wenn man nur „Tatar“ sagt, sind wir schon beim Ta-ta-ta-taa.<br />

Und wie hört es sich an, wenn ich Fleisch mit dem Messer zu einem Tatar hacke? Ja, genau: Ta-ta-ta-taa!<br />

Deshalb gefällt mir das Motiv so besonders gut: weil es die Phonetik und das Gehör gleichermaßen beansprucht.“<br />

FOTO: DEBUS FOTOGRAFIE<br />

•<br />

Alexander Herrmann begleitet<br />

uns kulinarisch durchs<br />

Beethoven-Jahr. Der <strong>20</strong>19 mit<br />

zwei Sternen gekürte Koch ist<br />

als „Klassik-Einsteiger“<br />

Botschafter des Großprojekts<br />

„Beethoven bewegt“.<br />

Herrmann wird seine noch<br />

relativ neu entdeckte<br />

Leidenschaft für klassische<br />

Musik mit den Klassikexperten<br />

des Bayerischen Rundfunks<br />

anhand Beethoven intensivieren.<br />

Und seine „musikalischen<br />

Rezepte“ mit uns teilen.<br />

RINDERTATAR MIT SECHS-MINUTEN-MAYONNAISE<br />

Für 2 Personen<br />

Für die Mayonnaise: 1 Bio-Landei (M), <strong>20</strong> g scharfer oder mittelscharfer Senf, <strong>20</strong> g Rapsöl, Salz, schwarzer Pfeffer (Mühle)<br />

Für das Tatar: 300 g Rinderhüfte, Fleur de sel, schwarzer Pfeffer (Mühle), 1–2 Msp. Cayennepfeffer<br />

Zum Anrichten: 1 dünne Frühlingszwiebel, gewaschen, geputzt und fein geschnitten, Salz, 1 Esslöffel Butterschmalz,<br />

30 g Kapern (Glas), abgetropft, 60 g Essiggurken, geschält und in feine Würfel geschnitten<br />

Zum Servieren: Bauern- oder Weißbrot, Butter nach Belieben; Küchenhelfer: Anrichtering (ø etwa 8 cm)<br />

Für die Mayonnaise das Ei sechs Minuten kochen lassen, abschrecken, schälen, mit Senf und Öl in einen hohen Becher<br />

geben, mit dem Stabmixer zu einer cremigen Mayonnaise aufmixen und mit Salz und Pfeffer abschmecken.<br />

Für das Tatar das Rindfleisch durch den Fleischwolf drehen, auf einem Teller verteilen und mit vier Prisen Fleur de sel,<br />

etwas schwarzem Pfeffer und Cayennepfeffer würzen. Kurz beiseitestellen.<br />

Frühlingszwiebeln in eine Schüssel geben, mit einer Prise Salz würzen, umrühren und kurz ziehen lassen. Inzwischen<br />

Butterschmalz in einer kleinen Pfanne stark erhitzen. Abgetropfte Kapern dazugeben (Vorsicht: spritzt!), abdecken und<br />

1 Minute knusprig frittieren. Auf Küchenpapier abkühlen lassen.<br />

Das Rindertatar mithilfe des Anrichterings portionsweise auf Tellern anrichten, mit Mayonnaise, Gurken, Kapern und<br />

Frühlingszwiebeln garnieren und z. B. mit frischem oder geröstetem Bauern- oder Weißbrot und Butter servieren.<br />

Alexander Herrmann: Weil’s einfach besser ist (Dorling Kindersley)<br />

Wer „einfach“ mal besser essen möchte: bei Alexander Herrmann in Herrmann’s Posthotel<br />

in Wirsberg (posthotel@romantikhotels.com). Oder in Nürnberg: im Imperial, im Frank’ness<br />

oder bei der Dinner-Show Palazzo. Mehr Informationen unter www.alexander-herrmann.de<br />

79


L E B E N S A R T<br />

Die Paula-Bosch-Kolumne<br />

GOLDEN GLAMOUR<br />

Everybody’s Darlings sind sie definitiv nicht! Süßweine werden seit Jahren nur noch von einer<br />

kleinen, und ja, einer ganz bestimmten Gruppe Menschen geschätzt und gern getrunken.<br />

Ein Plädoyer für besonders edleTropfen, die (noch) nicht hip sind und sich jeder Mode entziehen.<br />

Neben ihrer lustvollen Liebe zu den Pralinen unter<br />

den Weinen wissen Liebhaber von Süßweinen sehr<br />

genau, dass ihre kleinen Sweeties zu den wertvollsten<br />

Schätzen im Keller zählen und Raritäten darstellen,<br />

die meist nur in Kleinstmengen produziert werden<br />

können – weltweit! Diese großen Weine<br />

sind für die Fan-Gemeinde der edelsüßen<br />

Gewächse Meilensteine, ob deutsche Beeren<br />

und Trockenbeerenauslesen, Ruster Ausbruch<br />

aus dem Burgenland, Sauternes aus<br />

Bordeaux oder ein Tokajer aus Ungarn –<br />

und ich habe mich hier bewusst auf Weine<br />

aus Europa beschränkt: flüssige Elixiere, für<br />

die sie bereit sind, ordentlich höhere Preise<br />

als für die trocken ausgebauten Weine zu<br />

bezahlen. Wobei die Zukunft der ganz Großen unter den süßen<br />

Edelsteinen in jedem Fall ziemlich rosig aussieht. Dies, weil sie sich<br />

in der Regel unendlich langsam entwickeln und mit ihrer Säure ewig<br />

jung bleiben können. Heißt: Es gibt so gut wie keinen Wertverlust.<br />

Im besten Fall bedeutet das nach Jahren der Reife einen potenzierten<br />

Genuss inklusive Wertsteigerung. Meine Favoriten sind sie allemal.<br />

<strong>20</strong>06 ZELTINGER SCHLOSSBERG, RIESLING,<br />

TROCKENBEERENAUSLESE; MARKUS MOLITOR, MOSEL<br />

Markus Molitors Wissen über Weine und Lagen, zumindest von der<br />

Mosel, ist unerschöpflich. Seine grenzenlose regionale Weinleidenschaft<br />

macht ihn zum größten Privatweingut an der Mosel mit den<br />

meisten und besten Lagen. Damit hat er inzwischen ein Portfolio an<br />

Weinen im Keller, das seinesgleichen sucht – von trocken bis edelsüß.<br />

Kein Wunder, dass seine internationalen Höchstbewertungen<br />

in Deutschland unerreicht sind. Seine gereiften Schätze, die zu den<br />

besten Süßweinen der Welt gezählt werden müssen, sind immens<br />

groß – und das zu fairen Preisen. Es heißt also schnell sein.<br />

Dieser Wein ist ein Paradebeispiel für Trockenbeerenauslesen<br />

aus dem ganz großen Jahrgang <strong>20</strong>06. Glockenklare, frisch anmutende<br />

Frucht. Keine einzige Pilznote, nur konzentrierte und reife<br />

Früchte, in erster Reihe Feige, Aprikose, Mirabelle, Pflaume, gelbes<br />

„LIEBHABER VON SÜSSWEINEN<br />

WISSEN, DASS IHRE SWEETIES<br />

RARITÄTEN DARSTELLEN.“<br />

Melonenfleisch, Akazienhonig. Strahlend und tanzend die virtuos<br />

eingebundene Säure am Gaumen, die mit zarten Klängen wie bei<br />

einem Konzert beginnt, am Ende aber mit Pauken und Trompeten<br />

verklingt. Ein ganz wunderbares Trinkerlebnis.<br />

fine-wining.de 0,375 l, 95,55 € (oder direkt im Weingut)<br />

<strong>20</strong>18 RUSTER AUSBRUCH,<br />

TRIEBAUMER; GÜNTER UND REGINA<br />

TRIEBAUMER, BURGENLAND<br />

Schon als Kind habe ich regelmäßig von Süßweinflaschen,<br />

vor allem von denen von Triebaumers,<br />

zu Hause in der Speisekammer<br />

genascht. Sicher, sie waren nicht für meinen<br />

jungen Gaumen bestimmt, aber so lernte ich<br />

durch sie die Faszination Wein kennen. Triebaumers<br />

gibt es viele in Rust, zwei davon stehen auf meiner Hitliste:<br />

Ernst Triebaumer, berühmt und beliebt wegen seines Blaufränkisch<br />

Marientals und meiner ersten Süßweinerlebnisse. Und dann Günter<br />

und Regina Triebaumer. Sie kenne ich erst seit ein paar Jahren, war<br />

aber von Anfang an in erster Linie von ihren ganz wunderbaren Blaufränkischen<br />

begeistert.<br />

Die Ruster Spezialität „Ausbruch“ war mir zwar schon viel früher<br />

geläufig, aber diese Cuvée war neu für mich. Sie wird aus den Rebsorten<br />

Welschriesling, Chardonnay, Furmint und Traminer hergestellt,<br />

in den Anteilen jedes Jahr etwas anders. Die Prädikatsweinstufe<br />

„Ruster Ausbruch“ ist erst seit <strong>20</strong>16 dem „Ausbruch“ vorbehalten, die<br />

Reben müssen aus der Region stammen. <strong>20</strong>18 trumpft mit gewaltigen<br />

278 g Restzucker und 10,4 g/l Säure auf, hat dabei aber nur 9 Vol.-%<br />

Alkohol. Noch viel zu jung, strahlt er dennoch mit seinen feinen<br />

Aprikosentönen, Kletzenbirnen, leichter Exotik mit Honigduft, Fencheltee,<br />

Steinobst und zarter Botrytis. Im Mund vollkonzentriert,<br />

honigsüß und mit versteckter Säure, die nach langer Reife verlangt.<br />

triebaumer.at 0,375 l, 26 €<br />

<strong>20</strong>09 CHÂTEAU RIEUSSEC, SAUTERNES; BORDEAUX<br />

Zu den großen Klassikern der Süßweine zählen ohne Zweifel jene<br />

aus Sauternes, allen voran Château D’Yquem, der König ohne Köni-<br />

80 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


FOTO: PAULA BOSCH<br />

Gute Aussichten für goldene Zeiten: Beste Mosel-Lagen machen<br />

beste Qualität möglich und lassen das flüssige Gold im Glas funkeln<br />

gin. Aber in dessen Nachbarschaft finden sich erstklassige Beispiele,<br />

die ich für eine royale Begegnung geeignet halte, auch weil sie bereits<br />

im einen und anderen Jahrgang als Konkurrenz aufgetreten sind.<br />

Château Rieussec ist so ein Exempel: 72 Hektar Rebfläche, die<br />

sich einzigartig – auf einem Hügel – zusammenhängend präsentieren.<br />

Die Jahresproduktion ist beschränkt auf ca. 6.000 Kisten. 1993<br />

wurde gar kein Wein produziert, im Jahr <strong>20</strong>00 nur die Hälfte. Qualität<br />

ist oberstes Gebot, spätestens nach 1984, als Rieussec an die<br />

Besitzer von Château Lafite Rothschild verkauft wurde. Seit dieser<br />

Zeit ging man nochmals einen deutlichen Schritt nach oben. Im<br />

Weinberg stehen 95 Prozent Sémillon, die von Muscadelle und Sauvignon<br />

blanc ergänzt werden. Der Fassausbau spielt sich zu 50 Prozent<br />

in neuen Fässern zwischen 18 und 26 Monaten ab. Auf Château<br />

Rieussec wird schon lange ein kräftigerer Stil und Charakter bevorzugt.<br />

Power und Eleganz wird gleichermaßen geschätzt, solange das<br />

balancierende Säurespiel Frische und Trinkfluss garantiert.<br />

<strong>20</strong>09 ist jetzt trinkreif. Strohgelb, nach Bienenwaben, Karamell,<br />

gerösteten Mandeln und Vanille duftend, präsentiert sich dieser<br />

große Sauternes im Glas. Immer noch geprägt von den Röstaromen<br />

der Fässer, gepaart mit einem raffinierten Aromenspiel hochreifer<br />

Ananas und Grapefruit bis zu getrockneter Zwetschge. Im Mund<br />

überwältigend, zupackend und fordernd zugleich, präzise Balance<br />

von Säure, Frucht und Alkohol. Endlos im komplexen Finale.<br />

ungerweine.de 0,75 l, 58 €<br />

<strong>20</strong>07 TOKAJI ASZÚ 6 PUTTONYOS; ISTVÁN SZEPSY, TOKAJI<br />

Der König aller Süßweine, mit ganz großer Historie, war viele Jahrzehnte<br />

der Tokajer. Geliebt von vielen Berühmtheiten ab dem 17.<br />

Jahrhundert, so auch von Beethoven. Massive Weinverfälschungen<br />

führten zu einer regelrechten Verwahrlosung der Weinkultur. Das<br />

hat sich seit Beginn der 90er-Jahre geändert: Der große Tokajer ist<br />

wieder da. Unter den verschiedenen Typen bei der Herstellung ist<br />

Aszú die Hauptkategorie, die mit der Trockenbeerenauslese vergleichbar<br />

ist. Seit Hunderten von Jahren hergestellt, werden die von<br />

Botrytis (Edelschimmel) befallenen Furmint-, Muskateller- und<br />

Hárslevelű-Trauben verwendet, wobei hier die spezielle Kombination<br />

von Boden, Rebe und Wetter bedeutend ist. Die Trauben werden<br />

punktgenau handverlesen, um diesem fantastischen Wein ein<br />

perfekt ausgewogenes Süße- und Säurespiel zu garantieren. Die Aszús<br />

von István Szepsy sind Paradebeispiele für alle Süßweine der Region.<br />

Im ersten Duft floral, nussig, mit Waldhonignoten. Dann kandierte<br />

Zitrusfrüchte, getrocknete Orangenschalen, Kokosflocken.<br />

Stramme, unendlich lang anhaltende Säure – ein absolut hinreißendes<br />

Feuerwerk am Gaumen! Ganz nebenbei <strong>20</strong>0 g/l Restzucker,<br />

3 Jahre in Holzfässern gereift. borstore.de 0,5 l, 98,50 €<br />

81


T KI TOEL LUZMENI LE<br />

E<br />

RHYTHMISCHE VERSENKUNG<br />

Irgendwann ist fast jeder mal mit dem Orff’schen Instrumentarium in Berührung gekommen.<br />

Meist schon in der Grundschule und nicht immer zum Vergnügen aller Beteiligten.<br />

Ganz sicher aber hat dabei das ein oder andere Drummer-Drama seinen Anfang – oder aber<br />

sein Ende – gefunden, glaubt unser Autor Philipp Hontschik.<br />

FOTO: ACH GUCK MAL<br />

Orff’scher Rhythmus – für den Wackeldackel ein echter Auftrag<br />

Die Olympischen Sommerspiele von Peking<br />

beginnen am glückszahltrunkenen Datum<br />

8.8.<strong>20</strong>08, um <strong>20</strong>.08 Uhr. Hunderte in martialischem<br />

Braun einmarschierter Trommler<br />

verwandeln sich bei der Eröffnungsfeier<br />

in ein blinkendes Ensemble. Und dann legen<br />

sie hin, was in die Musikgeschichte eingeht<br />

als die ultimative Turbo-Version des<br />

„Orff’schen Schulwerks“ für größtmögliche<br />

Besetzung: Alles Melodische schweigt. Es<br />

herrscht einzig kollektiv-präziser Rhythmus.<br />

Kraftvolle, drängende Trommelschläge breiten<br />

sich über Stadion und Stadt hinaus, in<br />

Milliarden Ohren: vor Ort, an Fernsehern<br />

und Radios. Eine Meisterleistung der Toningenieurskunst<br />

verhindert, dass die Trommeln<br />

in den Schlagpausen wabern.<br />

Der Bezug zu Orff liegt nahe. Immerhin<br />

komponierte Carl Orff für die Olympischen<br />

Sommerspiele 1936 in Berlin den Einzug und<br />

Reigen der Kinder als Teil der Eröffnungsfeier<br />

(der Rest, so ungefähr, kam von Werner<br />

Egk). Und fürs Opening der Münchener<br />

Spiele 1972 den Gruß der Jugend.<br />

Das Orff-Schulwerk, dessen erste Teile<br />

in den frühen 30er-Jahren erschienen<br />

waren, lebte in den 50er-Jahren fort als<br />

„Musik für Kinder“. Wir begegneten ihm in<br />

Unterrichtsstunden der Grundschule noch<br />

Ende der 60er-Jahre, oft angeleitet von den<br />

Kirchenmusikern der nahe gelegenen Stadtpfarreien.<br />

Wenige, melodisch bereits Sichere<br />

von uns durften dabei auf dem Ton-Holz<br />

„das Lied spielen“. Die anderen hatten ihre<br />

liebe Not damit, den Takt zu halten, während<br />

sie die entsprechenden Rhythmusinstrumente<br />

traktierten. Freilich versuchte<br />

man uns durch eine Art sanften Dirigierens<br />

halbwegs in der Spur zu halten. Was Spaß<br />

machte, wenn es gelang. Manche Schlegelschwinger<br />

aber hieß der Leiter mit alarmierter<br />

Miene, ihr Bemühen einzustellen. Etwa,<br />

wenn nach kläglichem Abwürgen ein Neueinsatz<br />

zu riskant fürs Gesamte werden<br />

konnte oder wieder andere lausbubenartig<br />

viel zu laut zugehauen hatten. Denn natürlich<br />

konnte jederzeit das urwüchsige Vergnügen<br />

am chaotischen Exzess wirksam<br />

werden – jung genug waren die beteiligten<br />

ORFF’SCHE MUSIK:<br />

EINE ERSTE AHNUNG VON<br />

PUNK UND ROCK ’N’ ROLL<br />

Kinder allemal. Zudem bekamen sie ansonsten<br />

vermutlich viel zu selten Musikinstrumente<br />

in die Hand. Ein erstes Erleben einer<br />

Ahnung von Punk oder Rock ’n’ Roll griff<br />

auf diese Weise Platz in so mancher noch<br />

im Werden befindlichen Musikseele.<br />

Vielleicht liegt es ja an solchen Überdosen<br />

Orff’schen Schulwerks, dass in vielen<br />

Bands stets die Schlagzeuger und Perkussionisten<br />

als ein wenig einfältig angesehen<br />

werden. Ringo bei den Beatles etwa. Das<br />

ganze Gegenteil ist wahr: Der Drummer<br />

hält immer noch den Takt – was nicht einfach<br />

ist. Dass die Arbeit des Trommlers oft<br />

die schweißtreibendste im Orchester ist,<br />

bemerkt das Publikum viel zu selten.<br />

So war die Weihnachtsaufführung des<br />

Orff’schen Schulwerks in den frühen Schuljahren<br />

oft schon die letzte Chance, als<br />

genügsamer Trommler in bescheidenem<br />

Rampenlicht zu stehen. Ganze Wochen hatten<br />

die Kinder die Stücke eingeübt: erst sehr<br />

langsam, dann etwas weniger langsam,<br />

zuletzt mäßig schnell. Wie oft fuhr einem<br />

der Rhythmus abends im Bett noch in die<br />

Beine! Immer mitzählen, dann kann nichts<br />

schiefgehen. Und besonders gut aufpassen,<br />

bevor’s losgeht!<br />

Die gerührten Eltern hörten dann den<br />

einen oder anderen Neuansatz eines Stücks<br />

und verließen die Kirche im Abendschein,<br />

die Köpfe schunkelnd im Takt wie die<br />

Wackeldackel, die einige Opas noch auf der<br />

Hutablage ihrer Autos stehen hatten.<br />

Das ist die eine, vielleicht auch leicht<br />

verstaubte Seite des Carl Orff – ein Musikpädagoge<br />

von einiger Bedeutung für ganze<br />

Generationen ist er gewesen. Und um noch<br />

auf Egk und Orff zu kommen: Vor Verstrickung<br />

der beiden in die NS-Musikpolitik<br />

(klar stärker bei Egk als bei Orff) gab es ja<br />

auch die Zeit, als ihre Musik etwas rundheraus<br />

„Neues“ war und entsprechend<br />

Furore machte, ja geradezu skandalös war.<br />

Aus dieser Phase muss das Bonmot stammen,<br />

in dem zwei Musikfreunde – mitunter<br />

wird es Hans Pfitzner zugeschrieben – in<br />

der Opernpause das Büsten-Foyer des Münchener<br />

Nationaltheaters durchschreiten<br />

und der eine den anderen fragt, was der<br />

denn zu den beiden neuen jungen Komponisten<br />

sage. Die Antwort: „Egk mich am<br />

Orff!“ <br />

n<br />

82 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> <strong>20</strong><strong>20</strong>


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RACHMANINOFF: PRÉLUDES<br />

ÉTUDES-TABLEAUX · MOMENTS MUSICAUX<br />

CD / DOWNLOAD / STREAM<br />

MARIA JOÃO PIRES<br />

COMPLETE RECORDINGS ON<br />

DEUTSCHE GRAMMOPHON LTD. ED.<br />

38 CD BOX<br />

www.klassikakzente.de<br />

www.deutschegrammophon.com

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