goEast Katalog 2020
Mönchs Kiril. Indem Manchevski die Zeitabläufe durcheinanderbringt, da die Ereignisse einer irrealen Chronologie folgen, stört dieser Film den orientalisierenden westlichen Blick auf diese aus den Fugen geratene Region (Jenkins/Tonkin 2015: 210). Der Dokumentarfilm GRAHAM UND ICH verschränkt zwei Perspektiven miteinander, die des Engländers Graham, der sich aus Protest gegen die britische Haltung in den Jugoslawien-Kriegen verbrennt, und die des Filmemachers Puhovski, der Grahams Schicksal und seine eigene künstlerische Biographie zusammenschließt. Der Titel GRAHAM I JA verweist ironisch auf einen der letzten in Jugoslawien produzierten Filme, Goran Markovićs TITO I JA / TITO UND ICH (Jugoslawien 1992). TITO UND ICH vermischt dokumentarische und fiktionale Elemente und thematisiert ironisch den Tito-Kult der 1950er Jahre. Bezieht man diese beiden Filme aufeinander, so erscheint die Darstellung des Jugoslawien-Verfechters Graham auch als eine Art Kult, eine posthume Verherrlichung eines Märtyrers, dessen Opfertod kaum zur Kenntnis genommen wurde. Der Film ist auch ein Beispiel für die (post)jugoslawischen Filme, die sich nicht nur um den Krieg drehen, sondern sich zudem mit der jugoslawischen Vergangenheit und deren Mythen auseinandersetzen. In der bulgarischen Kinematographie lässt sich eine „postkommunistische geistige Obdachlosigkeit“ (Trifonova 2016: 128) beobachten, die sich in der Dualität einer national begründeten Stilistik und westlicher Genre-Imitate niederschlug. Man bediente einerseits die Klischees des Balkan-Kinos à la Kusturica, mit absurder Komik und Gypsy Musik, und schielte andererseits auf westliche Erfolgsrezepte. Vor diesem Hintergrund sticht der Wendefilm AS, GRAFINJATA / ICH, DIE GRÄFIN (Bulgarien 1989, Regie: Petar Popzlatew) heraus, der retrospektiv die Spannung zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und dem sozialistischen Disziplinierungsdrill einfängt. Ein Kultfilm, der mit seinen Tabubrüchen die totalitäre Bevormundung der Gesellschaft in der Zhivkov-Ära demaskiert. Einen großen Filmmarkt bilden natürlich Russland und die postsowjetischen Staaten: Ukraine, Belarus, das Baltikum, die Länder des Kaukasus, Zentralasien. Den baltischen Kinematographien war das goEast Symposium 2018 gewidmet, so dass sie dieses Jahr nicht mit im Programm sind. Unter dem autoritären Regime Lukaschenkos sind kaum nennenswerte eigene Filme in Belarus entstanden. Nach der staatlichen Unabhängigkeit 1991 ging es mit der traditionsreichen und gut organisierten staatlichen Filmindustrie in Georgien bergab. Fielen georgische Filme vormals durch ihre Originalität und Kritik auf, so bot nach der Wende vielen Filmschaffenden einzig das Exil im Westen einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere ihres Landes. Neben Frankreich (Otar Iosseliani) wurde auch Deutschland (Nana Dzhordzhadze, Dito Tsintsadze) zu einem Standort des georgischen Films im Ausland. In Russland kam es im Zuge von Perestroika und Glasnost zuerst zu einer Lockerung der Zensur. Der wenig konforme Elem Klimov wurde Direktor des Verbands der Filmschaffenden, und eine Konfliktkommission wurde gebildet, die bisher verbotene Filme aus den Schubladen hervorholte und unzensierte Versionen von zensierten Filmen herausbrachte. Aleksandr Askoldovs KOM- MISSAR / DIE KOMMISSARIN (Sowjetunion 1967) und einige von Andrey Tarkovskys Filmen waren jetzt erstmals einem größeren Publikum zugänglich. Der Erfolg der georgischen Stalin-Abrechnung MONANIEBA / REUE (Sowjetunion 1984) von Tengiz Abuladze, die nach einem dreijährigen Verbot 1987 in Cannes mit dem Großen Preis der Jury und dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet wurde und auch eine Oscar-Nominierung erhielt, führte mit dazu, dass die Nachfrage nach Perestroika-Filmen auf den internationalen Filmfestivals wuchs. Die Zeit von Glasnost und Perestroika war somit durch die Wiederentdeckung von verbotenen Filmen geprägt. Der nächste Schritt waren sozialkritische Filme, die eine ungeschönte Wirklichkeit im Stile des britischen „in your face“ zeigten, mit Handkamera und extremen Close-ups; dafür steht der internationale Erfolg von Vasily Pichuls MALENKAYA VERA / DIE KLEINE VERA (Sowjetunion 1988) – hier fiel das letzte Tabu des sowjetischen Films, expliziter Sex auf der Leinwand. Während die Kinos in den Perestroika-Jahren noch gefüllt waren (DIE KLEINE VERA hatte 55 Millionen Zuschauer), kam es in den 1990er Jahren zu einem Kinosterben, das der ökonomischen und politischen Krise folgte. 88
Russland hatte dieselben Probleme mit dem Ende des staatlichen Produktionsmonopols und der Privatisierung der Vertriebswege wie die anderen postsozialistischen Staaten auch. Zudem wollte das russische Publikum nicht mit Problemen konfrontiert werden, die seinen Alltag ausmachten, und das waren genau die Themen der Filme in den 1990ern: Gewalt, Drogen, Willkür, Gesetzlosigkeit, sexuelle Übergriffe gegen Frauen, Selbstjustiz, Armut, Tschetschenien-Kriege. Stattdessen reüssierten amerikanische Filme, die zum Teil über Videopiraterie vertrieben wurden. Für das goEast Symposiumsprogramm haben wir nicht jene Filme ausgewählt, die bereits mehrfach gezeigt wurden, wie zum Beispiel Pavel Lungins in Cannes prämiertes Debüt TAKSI-BLYUZ / TAXI BLUES (Sowjetunion 1990), Sergey Bodrovs Antikriegsfilm KAVKASSKI PLENNIK / GEFANGEN IM KAUKASUS (Russland/Kasachstan 1996), Aleksey Balabanovs Mafia-Drama BRAT / DER BRUDER (Russland 1997) oder Rashid Nugmanovs postmoderner Kultfilm IGLA / DIE NADEL (Sowjetunion 1988), sondern Filme, die brutale Verbrechen der Vergangenheit erstmals für eine breite Öffentlichkeit im Kino aufgedeckt haben: Aleksandr Rogozhkins russisch-französische Koproduktion DER TSCHEKIST von 1992, der erste Nachwende-Film, der ein negatives Bild der Bolschewiki im Bürgerkrieg zeigt, ROZPAD / DER ZERFALL (Sowjetunion/USA 1990) des sowjetisch-ukrainischen Regisseurs Mykhailo Bielikov über die Unwissenheit, die Angst, aber vor allem auch das anfängliche Vertuschen der Tschernobyl-Katastrophe, und HOLOD 33 / HUNGER 33 (1991), ein ukrainischer Film von Oles Yanchuk über den Holodomor, die Hungerkatastrophe in der Ukraine 1932-33, die das Ergebnis der brachialen stalinschen Politik der Entkulakisierung und Zwangseinrichtung der Kolchosen war. Mit DIE NADEL ist schon ein Bereich angedeutet, der sich nach dem Ende der Sowjetunion auf ganz neue Weise herausbilden konnte: die Filme der zentralasiatischen Republiken, die noch bis 1991 unbemerkt an der Peripherie des Moskauer Zentrums entstanden. Waren diese Staaten ehemals eingespannt zwischen ideologischen Anforderungen der Sowjetunion und ihren eigenen kulturellen Kontexten, so blieben nach dem Loslassen der zentralen Kontrolle zwar einige sowjetische Traditionen erhalten, doch die Nachfolgestaaten, die sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen mussten, begannen eine autonome Entwicklung, was um die Jahrtausendwende zur Herausbildung der kasachischen Neuen Welle führte und in ihrem Gefolge Filmen aus zentralasiatischen Republiken internationale Aufmerksamkeit bescherte. Die Filmlandschaften aus dem Einzugsbereich des goEast Festivals, so lässt sich festhalten, waren alle gleichermaßen den Herausforderungen des (globalen) Marktes ausgesetzt, und sie alle brauchten über eine Dekade, um mit unterschiedlichem Erfolg neue Produktionsformen oder öffentliche Filmförderungsmodelle zu generieren. Dafür bedurfte es auch entsprechender Gesetzgebung, was bei den oft undurchsichtigen politischen Verhältnissen, in hoher Frequenz wechselnden politischen Akteuren oder als Profiteure ausgewiesenen Marktteilnehmern, die nicht bereit waren, für die Filmförderung Abgaben abzuführen, je nach Land lange oder gar nicht durchsetzbar war. Damit waren auch die Konsequenzen für das kulturelle Gedächtnis der Transformationsländer enorm, denn seit dem Kollaps des staatlichen Mäzenats wurden die Filme nicht mehr systematisch archiviert. Doch während der Umbruchszeit dokumentierte der Film wie kaum eine andere Kunstform die Transformation der Gesellschaften des gesamten ehemaligen Ostblocks, und genau diese Werke drohen nun verloren zu gehen. 89 SYMPOSIUM
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Russland hatte dieselben Probleme mit dem Ende<br />
des staatlichen Produktionsmonopols und der<br />
Privatisierung der Vertriebswege wie die anderen<br />
postsozialistischen Staaten auch. Zudem wollte das<br />
russische Publikum nicht mit Problemen konfrontiert<br />
werden, die seinen Alltag ausmachten, und<br />
das waren genau die Themen der Filme in den<br />
1990ern: Gewalt, Drogen, Willkür, Gesetzlosigkeit,<br />
sexuelle Übergriffe gegen Frauen, Selbstjustiz,<br />
Armut, Tschetschenien-Kriege. Stattdessen<br />
reüssierten amerikanische Filme, die zum Teil<br />
über Videopiraterie vertrieben wurden.<br />
Für das <strong>goEast</strong> Symposiumsprogramm haben wir<br />
nicht jene Filme ausgewählt, die bereits mehrfach<br />
gezeigt wurden, wie zum Beispiel Pavel Lungins<br />
in Cannes prämiertes Debüt TAKSI-BLYUZ /<br />
TAXI BLUES (Sowjetunion 1990), Sergey Bodrovs<br />
Antikriegsfilm KAVKASSKI PLENNIK / GEFANGEN<br />
IM KAUKASUS (Russland/Kasachstan 1996),<br />
Aleksey Balabanovs Mafia-Drama BRAT / DER<br />
BRUDER (Russland 1997) oder Rashid Nugmanovs<br />
postmoderner Kultfilm IGLA / DIE NADEL<br />
(Sowjetunion 1988), sondern Filme, die brutale<br />
Verbrechen der Vergangenheit erstmals für eine<br />
breite Öffentlichkeit im Kino aufgedeckt haben:<br />
Aleksandr Rogozhkins russisch-französische<br />
Koproduktion DER TSCHEKIST von 1992, der<br />
erste Nachwende-Film, der ein negatives Bild<br />
der Bolschewiki im Bürgerkrieg zeigt, ROZPAD<br />
/ DER ZERFALL (Sowjetunion/USA 1990) des<br />
sowjetisch-ukrainischen Regisseurs Mykhailo<br />
Bielikov über die Unwissenheit, die Angst, aber<br />
vor allem auch das anfängliche Vertuschen der<br />
Tschernobyl-Katastrophe, und HOLOD 33 / HUNGER<br />
33 (1991), ein ukrainischer Film von Oles Yanchuk<br />
über den Holodomor, die Hungerkatastrophe in der<br />
Ukraine 1932-33, die das Ergebnis der brachialen<br />
stalinschen Politik der Entkulakisierung und<br />
Zwangseinrichtung der Kolchosen war.<br />
Mit DIE NADEL ist schon ein Bereich angedeutet,<br />
der sich nach dem Ende der Sowjetunion auf ganz<br />
neue Weise herausbilden konnte: die Filme der<br />
zentralasiatischen Republiken, die noch bis 1991<br />
unbemerkt an der Peripherie des Moskauer Zentrums<br />
entstanden. Waren diese Staaten ehemals<br />
eingespannt zwischen ideologischen Anforderungen<br />
der Sowjetunion und ihren eigenen kulturellen<br />
Kontexten, so blieben nach dem Loslassen der<br />
zentralen Kontrolle zwar einige sowjetische Traditionen<br />
erhalten, doch die Nachfolgestaaten, die<br />
sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen<br />
mussten, begannen eine autonome Entwicklung,<br />
was um die Jahrtausendwende zur Herausbildung<br />
der kasachischen Neuen Welle führte und in ihrem<br />
Gefolge Filmen aus zentralasiatischen Republiken<br />
internationale Aufmerksamkeit bescherte.<br />
Die Filmlandschaften aus dem Einzugsbereich des<br />
<strong>goEast</strong> Festivals, so lässt sich festhalten, waren<br />
alle gleichermaßen den Herausforderungen des<br />
(globalen) Marktes ausgesetzt, und sie alle brauchten<br />
über eine Dekade, um mit unterschiedlichem<br />
Erfolg neue Produktionsformen oder öffentliche<br />
Filmförderungsmodelle zu generieren. Dafür<br />
bedurfte es auch entsprechender Gesetzgebung,<br />
was bei den oft undurchsichtigen politischen<br />
Verhältnissen, in hoher Frequenz wechselnden<br />
politischen Akteuren oder als Profiteure ausgewiesenen<br />
Marktteilnehmern, die nicht bereit waren,<br />
für die Filmförderung Abgaben abzuführen, je<br />
nach Land lange oder gar nicht durchsetzbar<br />
war. Damit waren auch die Konsequenzen für das<br />
kulturelle Gedächtnis der Transformationsländer<br />
enorm, denn seit dem Kollaps des staatlichen<br />
Mäzenats wurden die Filme nicht mehr systematisch<br />
archiviert. Doch während der Umbruchszeit<br />
dokumentierte der Film wie kaum eine andere<br />
Kunstform die Transformation der Gesellschaften<br />
des gesamten ehemaligen Ostblocks, und genau<br />
diese Werke drohen nun verloren zu gehen.<br />
89 SYMPOSIUM