goEast Katalog 2020
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Auf manche Filme dieser Umbruchszeit trifft man<br />
zwar in der Fachliteratur, doch die Filme selbst<br />
sind nicht aufzutreiben. Besonders hart betroffen<br />
war hier die rumänische Filmindustrie: Zur Zeit<br />
des Kommunismus wurden etwa 30 Filme pro Jahr<br />
produziert, während in den 1990er Jahren sowohl<br />
die Produktion als auch die Qualität der Filme dramatisch<br />
zurückgingen – soweit, dass im Jahr 2000<br />
kein einziger rumänischer Film gedreht wurde.<br />
Ab 2001 kam es dann zu einem Aufschwung, der<br />
fast „unheimlich war, was die Produktivität und<br />
Qualität der Filme anbetraf“ (Uricaru 2012: 428).<br />
Dennoch liegen die Anfänge einiger rumänischer<br />
Filmemacher, die in den 2000er Jahren reüssierten,<br />
in den 1990er Jahren. Cristi Puiu, der 2001 MARFA<br />
ȘI BANII / WARE UND GELD (Rumänien 2001) in<br />
Cannes präsentierte und dessen Film MOARTEA<br />
DOMNULUI LĂZĂRESCU / DER TOD DES HERRN<br />
LAZARESCU (Rumänien 2005) mit mehreren<br />
internationalen Preisen ausgezeichnet wurde,<br />
drehte etwa in der zweiten Hälfte der 1990er<br />
Jahre einige wegweisende Dokumentarfilme, die<br />
wichtige Themen der Transformationszeit in den<br />
Fokus nahmen.<br />
Nicht überall war die Situation der Kinematographie<br />
so desolat wie in Rumänien – wie aber sah<br />
es in den einzelnen Ländern aus? Für Polen zum<br />
Beispiel wird eine „erfolgreiche Transformation“<br />
der Filmbranche behauptet (Durys 2016) – und das,<br />
obwohl die polnische Kinematographie, wie viele<br />
der anderen in den ehemals kommunistischen<br />
Staaten, zunächst um ihr Überleben kämpfen<br />
musste. Einerseits herrschte nach dem Ende des<br />
Kommunismus eine Atmosphäre der Hoffnung auf<br />
eine bessere Zukunft, andererseits fiel schlagartig<br />
die staatliche Finanzierung weg. Die Filmbranche<br />
stand plötzlich in Konkurrenz zu internationalen<br />
Filmen – vor allem zu der weltweit kommerziell<br />
maßgebenden Hollywood-Produktion – und musste<br />
sich den Regeln eines globalen freien Marktes wie<br />
auch den neuen Formaten und neuen Vertriebswegen<br />
anpassen. Eine Lösung – nicht nur für<br />
die polnische Filmbranche – war das öffentliche<br />
Fernsehen, das den Filmemacher/innen unter die<br />
Arme griff und in vielen Fällen Produktionen (mit-)<br />
finanzierte. Die Filmschaffenden versuchten auch<br />
in ihrer Themenwahl auf diese Krise zu reagieren;<br />
so entstanden einige Publikumserfolge nach<br />
Hollywood-Muster, die vorzugsweise das Chaos<br />
und die Kriminalität bzw. die mafiösen Strukturen<br />
abbildeten, wie zum Beispiel Pasikowskis schon<br />
genannter Film HUNDE über die Karrieren<br />
ehemaliger Geheimdienstler im Nachwende-Polen<br />
als Polizisten oder Mafiosi. Krzysztof Krauzes<br />
herausragender Thriller DŁUG / DIE SCHULD von<br />
1999, der in Kreisen hoffnungsvoller Jungunternehmer<br />
spielt, beleuchtet das Thema Kriminalität<br />
aus einer anderen Perspektive, aus jener der Opfer,<br />
die unversehens in die Fänge krimineller Machenschaften<br />
geraten und sich nur daraus befreien<br />
können, indem sie selbst zu Tätern werden. Vor<br />
allem HUNDE ging in die polnische Alltagskultur<br />
ein: „Pasikowskis Actionfilm beeinflusste und<br />
konstruierte die gesellschaftliche Wahrnehmung<br />
der realen Gegebenheiten und führte zur Herausbildung<br />
einer eigenen mentalen Landschaft.<br />
Zahlreiche Repliken aus dem Drehbuch sind in<br />
die Umgangssprache eingegangen“ (Klejsa 2013:<br />
425). Ausgerechnet diese beiden Filme entstanden<br />
aber ohne Beteiligung des polnischen Fernsehens<br />
TVP, sondern wurden von dem sehr erfolgreichen<br />
Regisseur und Produzenten Juliusz Machulski und<br />
seiner Produktionsfirma Zebra in Verbund mit<br />
ausländischen Investoren wie der Kinosparte von<br />
Canal+ oder dem Verleih ITI Cinema auf den Weg<br />
gebracht.<br />
Neben dem massentauglichen Kino waren gerade<br />
in den 1990ern auch ästhetisch ambitionierte<br />
Filme zu verzeichnen, so Krzysztof Kieślowskis<br />
vorwiegend in Frankreich produziertes Spätwerk,<br />
LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE / DIE ZWEI LEBEN<br />
DER VERONIKA (Frankreich/Polen/Norwegen 1991)<br />
und TROIS COULEURS: BLEU, BLANC, ROUGE / DREI<br />
FARBEN: BLAU, WEISS, ROT (Frankreich/Schweiz/<br />
Polen 1993-1994). Allesamt internationale Koproduktionen,<br />
denen bereits der weltweite Erfolg<br />
von Kieślowskis DEKALOG-Fernsehserie (Polen<br />
1989) und ihrer Kino-Auskopplungen KRÓTKI<br />
FILM O ZABIJANIU / EIN KURZER FILM ÜBER DAS<br />
TÖTEN (Polen 1988) und KRÓTKI FILM O MIŁOŚCI<br />
/ EIN KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE (Polen 1988)<br />
vorausgegangen war. Und, um noch ein drittes<br />
Phänomen zu nennen: Durch das Eindringen<br />
westlicher Theorien der Postmoderne mit ihrem<br />
autoreflexiven Fokus wurde das Medium Film,<br />
einschließlich des Kinoraums und der Zuschauer/<br />
innen, zu einem populären Thema des Nachwendefilms.<br />
Beispiele sind UCIECZKA Z KINA WOLNOŚĆ<br />
/ FLUCHT AUS DEM KINO FREIHEIT (Polen 1990)<br />
von Wojciech Marczewski und HISTORIA KINA<br />
W POPIELAWACH / DIE GESCHICHTE DES KINOS<br />
IN POPIELAWY (Polen 1998) von Jan Jakub Kolski.<br />
Hier haben wir einerseits in Anlehnung an Woody<br />
Allens THE PURPLE ROSE OF CAIRO (USA 1985) den<br />
Aufstand der Filmfiguren gegen ihr vorgegebenes<br />
Script, was als politisches Statement angelegt<br />
ist, und andererseits im Gefolge von Giuseppe<br />
Tornatores CINEMA PARADISO (Italien/Frankreich<br />
1988) eine nostalgisch affirmative Erzählung über<br />
das Kino als Sehnsuchtsort.