goEast Katalog 2020
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FILMERBE<br />
DER<br />
UMBRUCHSZEIT<br />
Schamma Schahadat / Margarete Wach<br />
Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war nicht nur<br />
ein (geo)politisches Ereignis, sondern vor allem<br />
auch ein kulturelles – ein Schockerlebnis, das für<br />
die Menschen, aber auch für die Institutionen ein<br />
Neu- und Umdenken bedeutete. Soziale Sicherheiten<br />
wurden durch das ideologische Erdbeben<br />
ebenso in Frage gestellt wie nationale Identitäten.<br />
Ost und West mussten sich neu sortieren.<br />
Die Folgen für die Kinematographien in Ost-,<br />
Ostmittel- und Südosteuropa betrafen sowohl die<br />
Filminhalte und -ästhetiken als auch die Filminstitutionen.<br />
Auf der einen Seite ermöglichten (und<br />
erforderten) die neue Freiheit und die neue Zeit<br />
neue Themen und neue Formen. Manche Filmschaffende<br />
versuchen die spätsozialistische Zeit in<br />
ihren Filmen festzuhalten, ein Beispiel ist Helke<br />
Misselwitz‘ WINTER ADÉ von 1987/88. In Interviews<br />
mit Frauen fängt Misselwitz die Endzeitstimmung<br />
der DDR subtil ein, die Wende kündigt<br />
sich an. „Machen, wat wir wollen“, so beschreiben<br />
zwei Teenager ihre Wünsche und Träume in einer<br />
Welt, die einerseits voller Regeln und andererseits<br />
bereits dem Untergang geweiht ist. In den 1990er<br />
Jahren behandeln die Filme Unsicherheiten und<br />
soziale Verwerfungen (OKRAINA / RANDBEZIRK,<br />
Russland 1998, Regie: Pyotr Lutsik), Kriminalität<br />
und Mafia (PSY / HUNDE, Polen 1992, Regie: Władysław<br />
Pasikowski) oder aber die Traumata einer<br />
lange verschwiegenen Vergangenheit (CHEKIST /<br />
DER TSCHEKIST, Russland/Frankreich 1992, Regie:<br />
Aleksandr Rogozhkin). Daneben experimentieren<br />
die Filmemacher/innen ab etwa Mitte der 1980er<br />
Jahre mit ästhetischen Neuerungen, so dass spätsowjetisches<br />
Underground-Kino unter den Namen<br />
„Paralleles Kino“ und „Nekrorealismus“ kleine,<br />
eingeweihte Kreise erreicht. Subversiv-affirmativ<br />
besingen die Brüder Aleinikov in dem Kurzfilm<br />
TRAKTORA / TRAKTOREN (Sowjetunion 1987) geradezu<br />
hymnisch den Aufbau eines Traktors, eines<br />
zentralen Symbols des sozialistischen Mythos von<br />
Fortschritt, Modernisierung und Kommunismus,<br />
doch sie tun es auf eine Weise, die diesen Mythos<br />
ad absurdum führt – aus der Hymne wird eine Parodie.<br />
Der Nekrorealismus von Evgeny Kondratiev<br />
wiederum zelebriert grotesk-absurde Mysterien,<br />
die nicht nur die spätsowjetische Wirklichkeit<br />
zerlegen, sondern zugleich eine Hommage an das<br />
frühe Stummfilmkino sind. Zu den ästhetisch<br />
radikalsten Erneuerern gehört der Ungar Béla<br />
Tarr. Seine ausgedehnten, schwarz-weißen<br />
Filmkompositionen sorgen dank ihrer abstrakten<br />
Bilder, extrem langen Einstellungen und Kamerafahrten<br />
sowie ihres geschärften Bewusstseins<br />
des Moments international für Furore. Mit einer<br />
Laufzeit von 450 Minuten gilt etwa sein gefeiertes<br />
Mammutprojekt SÁTÁNTANGÓ / SATANSTANGO<br />
(Ungarn 1994) als einer der längsten Filme aller<br />
Zeiten, dessen Vorführbarkeit jedes Festival vor<br />
enorme Herausforderungen stellt. Auch Ildikó<br />
Enyedis Spielfilmdebüt AZ ÉN XX. SZÁZADOM /<br />
MEIN 20. JAHRHUNDERT (Ungarn/Deutschland<br />
1989), das in Cannes 1989 begeistert aufgenommen<br />
wurde, zählt zu den innovativen Filmen der<br />
Umbruchsphase, in der viele der ungarischen<br />
Filmschaffenden sich düster apokalyptischen<br />
Endzeitvisionen hingaben. Enyedis allegorische<br />
Zeitreise zu den Ursprüngen des 20. Jahrhunderts<br />
zeichnet in ironischen Brechungen und mit einem<br />
feministischen Gestus die Lebensstationen zweier<br />
Zwillingsschwestern als Verweise auf nicht<br />
eingelöste Zukunftserwartungen nach.<br />
Neue Themen, neue Formen also auf der einen<br />
Seite. Auf der anderen: das Chaos der Institutionen,<br />
was für die verschiedenen nationalen Kinematographien<br />
nicht nur eine Chance bedeutete, sondern<br />
auch verheerende Folgen hatte. Die Auflösung<br />
staatlicher Institutionen führte dazu, dass die<br />
Filmförderung zu großen Teilen wegbrach, neue<br />
Finanzierungsmöglichkeiten mussten gesucht<br />
werden. Zudem wurden Filme nicht mehr – wie in<br />
der Epoche einer von oben gelenkten Kulturpolitik<br />
– systematisch archiviert. So war das slowakische<br />
Kino in den 1990er Jahren praktisch vom Aussterben<br />
bedroht, bevor es um die Jahrtausendwende zu<br />
einer Art Wiederauferstehung kam. Und dennoch<br />
gibt es den wunderbar poetischen Film ZÁHRADA<br />
/ DER GARTEN des slowakischen Regisseurs,<br />
Drehbuchautors und Schauspielers Martin<br />
Šulík, eine slowakisch-tschechisch-französische<br />
Koproduktion von 1995. Der Protagonist des Films<br />
wird dazu gezwungen, aus seinem gleichmäßigen,<br />
ereignisarmen Leben auszusteigen und sich<br />
neuen, fast mystischen Erlebnissen zu öffnen. Sein<br />
bisheriges Dasein wird damit nicht nur auf den<br />
Kopf, sondern vollständig in Frage gestellt. Aber,<br />
wie gesagt, hier handelt es sich um eine Koproduktion,<br />
und Koproduktionen waren eine Möglichkeit,<br />
mit der institutionellen und finanziellen Krise<br />
umzugehen.<br />
85 SYMPOSIUM