FILMERBE DER UMBRUCHSZEIT MITTEL- UND OST- EUROPA 1985–1999 FILM HERITAGE IN TRANSITION CENTRAL AND EASTERN EUROPE 1985–1999 SYM 84 –POSIUM
FILMERBE DER UMBRUCHSZEIT Schamma Schahadat / Margarete Wach Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war nicht nur ein (geo)politisches Ereignis, sondern vor allem auch ein kulturelles – ein Schockerlebnis, das für die Menschen, aber auch für die Institutionen ein Neu- und Umdenken bedeutete. Soziale Sicherheiten wurden durch das ideologische Erdbeben ebenso in Frage gestellt wie nationale Identitäten. Ost und West mussten sich neu sortieren. Die Folgen für die Kinematographien in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa betrafen sowohl die Filminhalte und -ästhetiken als auch die Filminstitutionen. Auf der einen Seite ermöglichten (und erforderten) die neue Freiheit und die neue Zeit neue Themen und neue Formen. Manche Filmschaffende versuchen die spätsozialistische Zeit in ihren Filmen festzuhalten, ein Beispiel ist Helke Misselwitz‘ WINTER ADÉ von 1987/88. In Interviews mit Frauen fängt Misselwitz die Endzeitstimmung der DDR subtil ein, die Wende kündigt sich an. „Machen, wat wir wollen“, so beschreiben zwei Teenager ihre Wünsche und Träume in einer Welt, die einerseits voller Regeln und andererseits bereits dem Untergang geweiht ist. In den 1990er Jahren behandeln die Filme Unsicherheiten und soziale Verwerfungen (OKRAINA / RANDBEZIRK, Russland 1998, Regie: Pyotr Lutsik), Kriminalität und Mafia (PSY / HUNDE, Polen 1992, Regie: Władysław Pasikowski) oder aber die Traumata einer lange verschwiegenen Vergangenheit (CHEKIST / DER TSCHEKIST, Russland/Frankreich 1992, Regie: Aleksandr Rogozhkin). Daneben experimentieren die Filmemacher/innen ab etwa Mitte der 1980er Jahre mit ästhetischen Neuerungen, so dass spätsowjetisches Underground-Kino unter den Namen „Paralleles Kino“ und „Nekrorealismus“ kleine, eingeweihte Kreise erreicht. Subversiv-affirmativ besingen die Brüder Aleinikov in dem Kurzfilm TRAKTORA / TRAKTOREN (Sowjetunion 1987) geradezu hymnisch den Aufbau eines Traktors, eines zentralen Symbols des sozialistischen Mythos von Fortschritt, Modernisierung und Kommunismus, doch sie tun es auf eine Weise, die diesen Mythos ad absurdum führt – aus der Hymne wird eine Parodie. Der Nekrorealismus von Evgeny Kondratiev wiederum zelebriert grotesk-absurde Mysterien, die nicht nur die spätsowjetische Wirklichkeit zerlegen, sondern zugleich eine Hommage an das frühe Stummfilmkino sind. Zu den ästhetisch radikalsten Erneuerern gehört der Ungar Béla Tarr. Seine ausgedehnten, schwarz-weißen Filmkompositionen sorgen dank ihrer abstrakten Bilder, extrem langen Einstellungen und Kamerafahrten sowie ihres geschärften Bewusstseins des Moments international für Furore. Mit einer Laufzeit von 450 Minuten gilt etwa sein gefeiertes Mammutprojekt SÁTÁNTANGÓ / SATANSTANGO (Ungarn 1994) als einer der längsten Filme aller Zeiten, dessen Vorführbarkeit jedes Festival vor enorme Herausforderungen stellt. Auch Ildikó Enyedis Spielfilmdebüt AZ ÉN XX. SZÁZADOM / MEIN 20. JAHRHUNDERT (Ungarn/Deutschland 1989), das in Cannes 1989 begeistert aufgenommen wurde, zählt zu den innovativen Filmen der Umbruchsphase, in der viele der ungarischen Filmschaffenden sich düster apokalyptischen Endzeitvisionen hingaben. Enyedis allegorische Zeitreise zu den Ursprüngen des 20. Jahrhunderts zeichnet in ironischen Brechungen und mit einem feministischen Gestus die Lebensstationen zweier Zwillingsschwestern als Verweise auf nicht eingelöste Zukunftserwartungen nach. Neue Themen, neue Formen also auf der einen Seite. Auf der anderen: das Chaos der Institutionen, was für die verschiedenen nationalen Kinematographien nicht nur eine Chance bedeutete, sondern auch verheerende Folgen hatte. Die Auflösung staatlicher Institutionen führte dazu, dass die Filmförderung zu großen Teilen wegbrach, neue Finanzierungsmöglichkeiten mussten gesucht werden. Zudem wurden Filme nicht mehr – wie in der Epoche einer von oben gelenkten Kulturpolitik – systematisch archiviert. So war das slowakische Kino in den 1990er Jahren praktisch vom Aussterben bedroht, bevor es um die Jahrtausendwende zu einer Art Wiederauferstehung kam. Und dennoch gibt es den wunderbar poetischen Film ZÁHRADA / DER GARTEN des slowakischen Regisseurs, Drehbuchautors und Schauspielers Martin Šulík, eine slowakisch-tschechisch-französische Koproduktion von 1995. Der Protagonist des Films wird dazu gezwungen, aus seinem gleichmäßigen, ereignisarmen Leben auszusteigen und sich neuen, fast mystischen Erlebnissen zu öffnen. Sein bisheriges Dasein wird damit nicht nur auf den Kopf, sondern vollständig in Frage gestellt. Aber, wie gesagt, hier handelt es sich um eine Koproduktion, und Koproduktionen waren eine Möglichkeit, mit der institutionellen und finanziellen Krise umzugehen. 85 SYMPOSIUM