goEast Katalog 2020

28.04.2020 Views

der 1930er Jahre angesiedelt, eine Variante des Mann’schen „Zauberberg“ ist. Ein Film, inszeniert in wunderschönen Tableaus – jedes einem Gemälde gleich –, in dem die gefährlichen antisemitischen Zeitläufte der Zwischenkriegszeit allmählich auch in die scheinbar isolierte Abgeschlossenheit des Sanatoriums am Schwarzen Meer eindringen. In unmittelbarem Zusammenhang stehen die beiden nächsten Filme ȚARA MOARTĂ / DIE TOTE NATION (2017) und ÎMI ESTE INDIFERENT DACĂ ÎN ISTORIE VOM INTRA CA BARBARI / MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN (2018), die die Auseinandersetzung mit dem rumänischen Antisemitismus weiterführen, vor dem Hintergrund historisch manifest gewordener Verstrickungen Rumäniens in den Holocaust sowie deren Fortwirken in der heutigen rumänischen Gesellschaft. DIE TOTE NATION ist dabei Radu Judes erster Ausflug in die Gattung des essayistischen Dokumentarfilms. Ausschließlich mit historischem Ausgangsmaterial entwirft er ein erschütterndes Bild Rumäniens in den Jahren 1937–1946: Die antisemitisch-faschistische Legionärsbewegung gewinnt immer mehr an Zuspruch, gipfelnd in der Machtübernahme Ion Antonescus im September 1940 und den ersten Massenmorden an Juden auf rumänischem Boden 1941. Im Film spricht Radu Jude selbst auf der Tonebene Auszüge aus dem Tagebuch des jüdischen Arztes Emil Dorian. Dorians Texte lassen die zunehmende Bedrohung durch den um sich greifenden Antisemitismus spürbar werden; dazwischen schieben sich immer wieder nationalistische Lieder und Radioausschnitte faschistischer Führer. Zu sehen sind ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotografien der Zeit – aufgenommen von dem Fotostudio Splendid –, die eindrücklich sowohl die einfache Landbevölkerung zeigen, aber auch die weitreichende Militarisierung dokumentieren. Während die Tagebuchauszüge zunehmende Verzweiflung erahnen lassen, wird auf der Bildebene die Faschisierung der Körper deutlich. Am eindrücklichsten anhand einer Montagesequenz, bei der Mädchen und Jungen stramm vor der Kamera posieren und die rechte Hand zum Saluto romano, dem römischen Gruß, recken, unterlegt mit faschistischer Marschmusik. Die Ideologie des Faschismus greift auch auf die noch unschuldigen Körper der Kinder über. Der Untertitel des Films, „Fragmente paralleler Leben“, könnte wahrlich nicht treffender sein. Konsequent führt Radu Jude diesen Weg in MIR IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE GESCHICHTE EINGEHEN fort: Während er in DIE TOTE NATION ausschließlich mit historischem Bild- und Tonmaterial inszeniert, wird die Suche nach historischem Ausgangsmaterial nun als Handlungselement dafür benutzt, die Regisseurin Mariana Marin (einprägsam gespielt von Ioana Iacob) bei ihren Vorbereitungen eines Reenactments zu begleiten: Es soll die Vernichtung rumänischer Juden in Odessa 1941 aufarbeiten. In hybrider Form – die fiktive Erzählung wird selbstreflexiv als solche ausgestellt, während immer wieder Dokumentarisches eindringt – verfolgt Radu Jude den Prozess der Erarbeitung der Inszenierung, die Probleme mit der Zensurbehörde, die dieses Massaker nur als eines unter vielen weltweit „begreift“, und schließlich die Aufführung auf einem Bukarester Platz, die vollkommen zur Farce gerät. Mit virtuoser Leichtigkeit gelingt es dem Filmemacher, einen unterhaltsamen, zugleich aber auch zutiefst erschütternden Film zu entwerfen. Dabei ist die Macht der rumänischen Geschichte stets in der Gegenwart präsent: Bei der Inszenierung versucht einer der gespielten Juden der Deportation zu entgehen, wird aber von den Zuschauermassen zurückgedrängt. Eine schreckliche Szene, die zeigt: Die dunklen Seiten der Geschichte sind nicht vergessen, sondern ziehen ihre kontinuierlichen Spuren unheilvoll in die Gegenwart hinein – nicht zuletzt aufgrund von Verdrängung und mangelnder Geschichtsaufarbeitung. Bei der diesjährigen Berlinale feierte Radu Jude die Weltpremiere seines neusten Films: TIPOGRAFIC MAJUSCUL / UPPERCASE PRINT (2020). Wieder ist es eine Auseinandersetzung mit der rumänischen Geschichte; dieses Mal jedoch mit der Diktatur unter Nicolae Ceaușescu. Der Film verhandelt die Frage nach der Macht staatlicher Repression auf zwei Ebenen. Auf der einen Seite wird die Geschichte des Jugendlichen Mugur Călinescu aufgearbeitet, der in den 1980er Jahren in das Fadenkreuz der Securitate gerät, weil er regimekritische Slogans verbreitet. In einer deutlich ans Theater angelehnten Inszenierung und basierend auf dem gleichnamigen dokumentarischen Theaterstück von Gianina Cărbunariu, die sich an den Geheimakten der Securitate orientierte, wird die Durchdringung der Privatsphäre deutlich: Befragungen von Schulkameraden und Eltern, 118

Abhören der Wohnungen und schließlich Prozesse gegen Mugur. Dazwischen wird immer wieder zeitgenössisches Fernseharchivmaterial platziert: Prozessionen zu Ehren Ceaușescus, aber auch alltägliche Berichte über sportliche Aktivitäten, Verordnungen über das Teppichklopfen oder Kochsendungen. Die rumänische Gesellschaft der Ceaușescu-Zeit ist also von zweierlei Machtstrukturen durchdrungen: Einerseits der Zersetzung des Individuums durch die Geheimpolizei und andererseits die gesellschaftliche Beeinflussung durch das Massenmedium Fernsehen, das versucht eine heile Welt zu evozieren, die sich jedoch als eine Chimäre entpuppt und zielstrebig auf den Staatszerfall Ende der 1980er Jahre zusteuert. Beide Sphären stehen im engen Wechselspiel zueinander: Beides sind Inszenierungen von Macht, die sich realiter in die Wirklichkeit einschreiben. Das Werk Radu Judes erscheint demnach vielgestaltig im Stil und variantenreich in der Themensetzung: Seine frühen Filme setzen sich in ästhetisch-realistischer Weise mit Problemen im gegenwärtigen Rumänien auseinander, während AFERIM! und SCARRED HEARTS zwei stilisierte Beschäftigungen mit der rumänischen Geschichte sind. Seine drei jüngsten Werke beschreiten einen eigenen Weg: Es sind hybride Filme, die zwischen den Gattungen Spiel- und Dokumentarfilm operieren und unterschiedlichste Materialien integrieren – Tagebücher, Fotografien, Theater und Archivmaterial. Doch trotz dieser von Film zu Film unterschiedlichen Herangehensweise lässt sich eine dezidierte Handschrift des Filmemachers erkennen: Alle Filme arbeiten sich an Machtdispositiven und Machtverhältnissen ab, die sowohl die Gesellschaft als auch das Individuum prägen und sich diesem körperlich einschreiben: von aktuellen Gesellschaftsthemen im gegenwärtigen Rumänien zu den großen geschichtlichen Verwerfungen, die ihre Schatten bis in die Gegenwart ziehen. Die Machtverhältnisse werden dabei jedoch nie isoliert betrachtet, sondern stets wechselseitig gespiegelt zwischen dem intimen, oft familiären Kreis und dem großen gesellschaftlichen Zusammenhang. Und vielleicht ist es gerade dieser thematische und ästhetische Variantenreichtum, der die Filme Radu Judes so erschütternd, interessant und aktuell macht: Sich nicht der Macht eines ästhetischen Konzepts zu unterwerfen, um gerade dadurch unterschiedliche Machtstrukturen offenzulegen und künstlerisch subversiv zu intervenieren. RADU JUDE’S CINEMA OF POWER DISPOSITIVES – FROM THE PRESENT INTO THE PAST Dominik Streib Since 2005, the Romanian New Wave has repeatedly caused a stir in the international film world. It all began with three films: MOARTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR LAZARESCU (2005) by Cristi Puiu, A FOST SAU N-A FOST? / 12:08 EAST OF BUCHAREST (2006) by Corneliu Porumboiu and 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ŞI 2 ZILE / 4 MONTHS, 3 WEEKS AND 2 DAYS (2007) by Cristian Mungiu. Ever since that initial trio hit, the wave has ebbed in cycles, only to work its way to the surface once again. As an assistant to Cristi Puiu during filming for THE DEATH OF MR LAZARESCU, Radu Jude has been a part of the movement from day one. Whereas at the beginning of his career Jude was still completely beholden to its impetus in his examination of contemporary Romania, his realistic approach and his frequent use of black humour, in his later works he has gone on to devote himself increasingly to Romanian history and its echoes in the present, while constantly re-defining himself through his aesthetic choices. Radu Jude’s first short film LAMPA CU CĂCIULĂ / THE TUBE WITH A HAT (2005) is a parable of consumerist society, whose nature he continues to probe in his debut feature CEA MAI FERICITÃ FATÃ DIN LUME / THE HAPPIEST GIRL IN THE WORLD (2009), a cinematic caricature of capitalism with a laconic attitude that extends the system ad absurdum. The protagonist, 18-year-old Delia, travels to Bucharest with her parents to take possession of an automobile she won in a prize drawing. Alas, the capitalist world can’t function without greed and compulsory production: the car may only change hands after shooting for a commercial has been completed. In countless takes, Delia is forced to recite the same slogan over and over while taking a sip of lemonade. The advertising aesthetic has to be perfect at all times – there is no room for compromise. Exhaustion gradually leaves its mark on Delia’s body: she becomes a modern-age Sisyphus in present-day Romania. And as if that weren’t bad enough already, her parents insist that she sell the car, threatening to disown her if she should refuse. In its rigour, the capitalistic structure of consumerist society even manages to force its 119 PORTRAIT

der 1930er Jahre angesiedelt, eine Variante des<br />

Mann’schen „Zauberberg“ ist. Ein Film, inszeniert<br />

in wunderschönen Tableaus – jedes einem Gemälde<br />

gleich –, in dem die gefährlichen antisemitischen<br />

Zeitläufte der Zwischenkriegszeit allmählich auch<br />

in die scheinbar isolierte Abgeschlossenheit des<br />

Sanatoriums am Schwarzen Meer eindringen.<br />

In unmittelbarem Zusammenhang stehen die<br />

beiden nächsten Filme ȚARA MOARTĂ / DIE TOTE<br />

NATION (2017) und ÎMI ESTE INDIFERENT DACĂ<br />

ÎN ISTORIE VOM INTRA CA BARBARI / MIR IST<br />

ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE<br />

GESCHICHTE EINGEHEN (2018), die die Auseinandersetzung<br />

mit dem rumänischen Antisemitismus<br />

weiterführen, vor dem Hintergrund historisch<br />

manifest gewordener Verstrickungen Rumäniens<br />

in den Holocaust sowie deren Fortwirken in der<br />

heutigen rumänischen Gesellschaft. DIE TOTE<br />

NATION ist dabei Radu Judes erster Ausflug in die<br />

Gattung des essayistischen Dokumentarfilms.<br />

Ausschließlich mit historischem Ausgangsmaterial<br />

entwirft er ein erschütterndes Bild Rumäniens in<br />

den Jahren 1937–1946: Die antisemitisch-faschistische<br />

Legionärsbewegung gewinnt immer mehr<br />

an Zuspruch, gipfelnd in der Machtübernahme<br />

Ion Antonescus im September 1940 und den<br />

ersten Massenmorden an Juden auf rumänischem<br />

Boden 1941. Im Film spricht Radu Jude selbst<br />

auf der Tonebene Auszüge aus dem Tagebuch<br />

des jüdischen Arztes Emil Dorian. Dorians Texte<br />

lassen die zunehmende Bedrohung durch den<br />

um sich greifenden Antisemitismus spürbar<br />

werden; dazwischen schieben sich immer wieder<br />

nationalistische Lieder und Radioausschnitte<br />

faschistischer Führer. Zu sehen sind ausschließlich<br />

Schwarz-Weiß-Fotografien der Zeit – aufgenommen<br />

von dem Fotostudio Splendid –, die eindrücklich<br />

sowohl die einfache Landbevölkerung zeigen,<br />

aber auch die weitreichende Militarisierung<br />

dokumentieren. Während die Tagebuchauszüge<br />

zunehmende Verzweiflung erahnen lassen, wird<br />

auf der Bildebene die Faschisierung der Körper<br />

deutlich. Am eindrücklichsten anhand einer<br />

Montagesequenz, bei der Mädchen und Jungen<br />

stramm vor der Kamera posieren und die rechte<br />

Hand zum Saluto romano, dem römischen Gruß,<br />

recken, unterlegt mit faschistischer Marschmusik.<br />

Die Ideologie des Faschismus greift auch auf die<br />

noch unschuldigen Körper der Kinder über. Der<br />

Untertitel des Films, „Fragmente paralleler Leben“,<br />

könnte wahrlich nicht treffender sein.<br />

Konsequent führt Radu Jude diesen Weg in MIR<br />

IST ES EGAL, WENN WIR ALS BARBAREN IN DIE<br />

GESCHICHTE EINGEHEN fort: Während er in DIE<br />

TOTE NATION ausschließlich mit historischem<br />

Bild- und Tonmaterial inszeniert, wird die<br />

Suche nach historischem Ausgangsmaterial<br />

nun als Handlungselement dafür benutzt, die<br />

Regisseurin Mariana Marin (einprägsam gespielt<br />

von Ioana Iacob) bei ihren Vorbereitungen eines<br />

Reenactments zu begleiten: Es soll die Vernichtung<br />

rumänischer Juden in Odessa 1941 aufarbeiten.<br />

In hybrider Form – die fiktive Erzählung wird<br />

selbstreflexiv als solche ausgestellt, während<br />

immer wieder Dokumentarisches eindringt<br />

– verfolgt Radu Jude den Prozess der Erarbeitung<br />

der Inszenierung, die Probleme mit der<br />

Zensurbehörde, die dieses Massaker nur als eines<br />

unter vielen weltweit „begreift“, und schließlich<br />

die Aufführung auf einem Bukarester Platz,<br />

die vollkommen zur Farce gerät. Mit virtuoser<br />

Leichtigkeit gelingt es dem Filmemacher, einen<br />

unterhaltsamen, zugleich aber auch zutiefst<br />

erschütternden Film zu entwerfen. Dabei ist die<br />

Macht der rumänischen Geschichte stets in der<br />

Gegenwart präsent: Bei der Inszenierung versucht<br />

einer der gespielten Juden der Deportation zu<br />

entgehen, wird aber von den Zuschauermassen<br />

zurückgedrängt. Eine schreckliche Szene, die<br />

zeigt: Die dunklen Seiten der Geschichte sind nicht<br />

vergessen, sondern ziehen ihre kontinuierlichen<br />

Spuren unheilvoll in die Gegenwart hinein – nicht<br />

zuletzt aufgrund von Verdrängung und mangelnder<br />

Geschichtsaufarbeitung.<br />

Bei der diesjährigen Berlinale feierte Radu Jude die<br />

Weltpremiere seines neusten Films: TIPOGRAFIC<br />

MAJUSCUL / UPPERCASE PRINT (<strong>2020</strong>). Wieder ist<br />

es eine Auseinandersetzung mit der rumänischen<br />

Geschichte; dieses Mal jedoch mit der Diktatur<br />

unter Nicolae Ceaușescu. Der Film verhandelt<br />

die Frage nach der Macht staatlicher Repression<br />

auf zwei Ebenen. Auf der einen Seite wird die<br />

Geschichte des Jugendlichen Mugur Călinescu<br />

aufgearbeitet, der in den 1980er Jahren in das<br />

Fadenkreuz der Securitate gerät, weil er regimekritische<br />

Slogans verbreitet. In einer deutlich ans<br />

Theater angelehnten Inszenierung und basierend<br />

auf dem gleichnamigen dokumentarischen<br />

Theaterstück von Gianina Cărbunariu, die sich an<br />

den Geheimakten der Securitate orientierte, wird<br />

die Durchdringung der Privatsphäre deutlich:<br />

Befragungen von Schulkameraden und Eltern,<br />

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