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RADU JUDES KINO DER<br />
MACHTDISPOSITIVE –<br />
VON DER<br />
GEGENWART IN<br />
DIE VERGANGENHEIT<br />
Dominik Streib<br />
Seit 2005 sorgt die rumänische neue Welle in der<br />
internationalen Filmszene immer wieder für<br />
Aufsehen. Sie startete mit drei Filmen: MOARTEA<br />
DOMNULUI LĂZĂRESCU / DER TOD DES HERRN<br />
LAZARESCU (2005) von Cristi Puiu, A FOST SAU N-A<br />
FOST? / 12:08 JENSEITS VON BUKAREST (2006) von<br />
Corneliu Porumboiu und 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI<br />
ŞI 2 ZILE / 4 MONATE, 3 WOCHEN UND 2 TAGE<br />
(2007) von Cristian Mungiu. Seitdem ebbt die Welle<br />
zyklisch ab, um sich dann wieder an die Oberfläche<br />
zu arbeiten. Auch Radu Jude war als Assistent<br />
von Cristi Puiu bei den Dreharbeiten zu DER TOD<br />
DES HERRN LAZARESCU von Anfang an Teil der<br />
Bewegung. Ihrem Impetus ist Jude zu Beginn seiner<br />
Karriere in seiner Auseinandersetzung mit dem<br />
gegenwärtigen Rumänien, einem realistischen<br />
Zugang und einer Portion schwarzem Humor noch<br />
ganz verhaftet, in seinen späteren Werken widmet<br />
er sich immer mehr der rumänischen Geschichte<br />
sowie deren Auswirkungen in der Gegenwart und<br />
definiert sich ästhetisch immer wieder neu.<br />
Radu Judes erster Kurzfilm LAMPA CU CĂCIULĂ<br />
/ THE TUBE WITH A HAT (2005) ist eine Parabel<br />
über die Konsumgesellschaft, deren Natur er<br />
konsequent in seinem ersten Langfilm CEA MAI<br />
FERICITÃ FATÃ DIN LUME / DAS GLÜCKLICHSTE<br />
MÄDCHEN DER WELT (2009) weiterführt: Eine<br />
filmische Karikatur des Kapitalismus, die diesen<br />
mit lakonischem Gestus ad absurdum führt. Die<br />
18-jährige Delia hat bei einem Preisausschreiben<br />
ein Auto gewonnen und will es mit ihren Eltern in<br />
Bukarest in Empfang nehmen. Doch die kapitalistische<br />
Welt funktioniert nicht ohne Leistungsdruck<br />
und Begehrlichkeiten, denn die Übergabe des<br />
Autos ist an den Dreh eines Werbespots gekoppelt.<br />
In etlichen Takes muss Delia immer und immer<br />
wieder den gleichen Slogan aufsagen und dabei<br />
einen Schluck Limonade trinken. Die Werbeästhetik<br />
muss stets perfekt sein; Kompromisse gibt es<br />
nicht. Die Erschöpfung schreibt sich allmählich in<br />
Delias Körper ein: Sie wird zum modernen Sisyphos<br />
im gegenwärtigen Rumänien. Und als wäre<br />
dies nicht schon schlimm genug, drängen ihre<br />
Eltern darauf, das Auto zu verkaufen; sollte Delia<br />
sich weigern, wird sie enterbt. Die kapitalistische<br />
Struktur der Konsumgesellschaft dringt in ihrer<br />
Konsequenz auch in die intimsten Sphären hinein<br />
und schließlich gibt Delia nach. An die Stelle der<br />
Diktatur unter General Ion Antonescu (1940–1944)<br />
sowie unter Nicolae Ceaușescu (1965–1989) – denen<br />
sich Radu Jude in späteren Werken noch widmen<br />
wird – tritt der Konsumismus, den der schillernde<br />
Filmemacher Pier Paolo Pasolini in den 1970er<br />
Jahren als einen neuen Faschismus beschrieben<br />
hat: „Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen<br />
durch die Konsumgesellschaft“.<br />
Auch sein zweiter Langfilm TOATĂ LUMEA DIN<br />
FAMILIA NOASTRĂ / EVERYBODY IN OUR FAMILY<br />
(2012) ist eine Erweiterung eines frühen Kurzfilms,<br />
ALEXANDRA (2008); beide verhandeln Machtspiele<br />
innerhalb der Familie. Ausgangspunkt von<br />
EVERYBODY IN OUR FAMILY ist eine alltägliche<br />
Situation: Marius möchte mit seiner Tochter einen<br />
Ausflug ans Meer unternehmen, doch seine Ex-Frau<br />
macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Ihr<br />
neuer Partner lässt Marius und Sofia nicht gehen,<br />
ehe die Mutter zurück ist und ihr Einverständnis<br />
gibt. Während in ALEXANDRA noch eine halbwegs<br />
friedliche Lösung gefunden werden kann, eskaliert<br />
in EVERYBODY IN OUR FAMILY der Konflikt. An<br />
dessen Ende stehen: ein Polizeieinsatz, Kidnapping<br />
und ein blutüberströmter Marius, der durch die<br />
Straßen von Bukarest flüchtet. Immer wieder<br />
sind es die Erwachsenen und Eltern, die ihre<br />
gekränkten Befindlichkeiten auf Kosten der Kinder<br />
austragen.<br />
Ab Mitte der 2010er Jahre emanzipiert sich Radu<br />
Jude stärker von der Stoßrichtung der neuen Welle<br />
und befasst sich mit den dunklen und vergessenen<br />
Seiten der rumänischen Geschichte, denen er sich<br />
stets mit neuen ästhetischen Mitteln nähert, um<br />
ganz unterschiedliche Machtverhältnisse aufzudecken.<br />
Zunächst ist es vor allem die Kontinuität des<br />
rumänischen Antisemitismus: In AFERIM! (2015)<br />
verfolgt er den Antiziganismus und Antisemitismus<br />
in eindrücklichen Schwarz-Weiß-Bildern<br />
ins 19. Jahrhundert zurück und inszeniert einen<br />
stilisierten Western, der durch eine feindliche Welt<br />
führt, die durchdrungen ist von Vorurteilen, Hass<br />
und stereotypen Zuschreibungen – für AFERIM!<br />
erhielt Radu Jude 2015 den Silbernen Bären der<br />
Berlinale. Ganz anders seine Herangehensweise<br />
in INIMI CICATRIZATE / SCARRED HEARTS (2016),<br />
der – basierend auf dem gleichnamigen autobiographischen<br />
Roman von Max Blecher – im Rumänien<br />
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