goEast Katalog 2020

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PORTRÄT/ PORTRAIT RADU JUDE

RADU JUDES KINO DER MACHTDISPOSITIVE – VON DER GEGENWART IN DIE VERGANGENHEIT Dominik Streib Seit 2005 sorgt die rumänische neue Welle in der internationalen Filmszene immer wieder für Aufsehen. Sie startete mit drei Filmen: MOARTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / DER TOD DES HERRN LAZARESCU (2005) von Cristi Puiu, A FOST SAU N-A FOST? / 12:08 JENSEITS VON BUKAREST (2006) von Corneliu Porumboiu und 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ŞI 2 ZILE / 4 MONATE, 3 WOCHEN UND 2 TAGE (2007) von Cristian Mungiu. Seitdem ebbt die Welle zyklisch ab, um sich dann wieder an die Oberfläche zu arbeiten. Auch Radu Jude war als Assistent von Cristi Puiu bei den Dreharbeiten zu DER TOD DES HERRN LAZARESCU von Anfang an Teil der Bewegung. Ihrem Impetus ist Jude zu Beginn seiner Karriere in seiner Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Rumänien, einem realistischen Zugang und einer Portion schwarzem Humor noch ganz verhaftet, in seinen späteren Werken widmet er sich immer mehr der rumänischen Geschichte sowie deren Auswirkungen in der Gegenwart und definiert sich ästhetisch immer wieder neu. Radu Judes erster Kurzfilm LAMPA CU CĂCIULĂ / THE TUBE WITH A HAT (2005) ist eine Parabel über die Konsumgesellschaft, deren Natur er konsequent in seinem ersten Langfilm CEA MAI FERICITÃ FATÃ DIN LUME / DAS GLÜCKLICHSTE MÄDCHEN DER WELT (2009) weiterführt: Eine filmische Karikatur des Kapitalismus, die diesen mit lakonischem Gestus ad absurdum führt. Die 18-jährige Delia hat bei einem Preisausschreiben ein Auto gewonnen und will es mit ihren Eltern in Bukarest in Empfang nehmen. Doch die kapitalistische Welt funktioniert nicht ohne Leistungsdruck und Begehrlichkeiten, denn die Übergabe des Autos ist an den Dreh eines Werbespots gekoppelt. In etlichen Takes muss Delia immer und immer wieder den gleichen Slogan aufsagen und dabei einen Schluck Limonade trinken. Die Werbeästhetik muss stets perfekt sein; Kompromisse gibt es nicht. Die Erschöpfung schreibt sich allmählich in Delias Körper ein: Sie wird zum modernen Sisyphos im gegenwärtigen Rumänien. Und als wäre dies nicht schon schlimm genug, drängen ihre Eltern darauf, das Auto zu verkaufen; sollte Delia sich weigern, wird sie enterbt. Die kapitalistische Struktur der Konsumgesellschaft dringt in ihrer Konsequenz auch in die intimsten Sphären hinein und schließlich gibt Delia nach. An die Stelle der Diktatur unter General Ion Antonescu (1940–1944) sowie unter Nicolae Ceaușescu (1965–1989) – denen sich Radu Jude in späteren Werken noch widmen wird – tritt der Konsumismus, den der schillernde Filmemacher Pier Paolo Pasolini in den 1970er Jahren als einen neuen Faschismus beschrieben hat: „Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft“. Auch sein zweiter Langfilm TOATĂ LUMEA DIN FAMILIA NOASTRĂ / EVERYBODY IN OUR FAMILY (2012) ist eine Erweiterung eines frühen Kurzfilms, ALEXANDRA (2008); beide verhandeln Machtspiele innerhalb der Familie. Ausgangspunkt von EVERYBODY IN OUR FAMILY ist eine alltägliche Situation: Marius möchte mit seiner Tochter einen Ausflug ans Meer unternehmen, doch seine Ex-Frau macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Ihr neuer Partner lässt Marius und Sofia nicht gehen, ehe die Mutter zurück ist und ihr Einverständnis gibt. Während in ALEXANDRA noch eine halbwegs friedliche Lösung gefunden werden kann, eskaliert in EVERYBODY IN OUR FAMILY der Konflikt. An dessen Ende stehen: ein Polizeieinsatz, Kidnapping und ein blutüberströmter Marius, der durch die Straßen von Bukarest flüchtet. Immer wieder sind es die Erwachsenen und Eltern, die ihre gekränkten Befindlichkeiten auf Kosten der Kinder austragen. Ab Mitte der 2010er Jahre emanzipiert sich Radu Jude stärker von der Stoßrichtung der neuen Welle und befasst sich mit den dunklen und vergessenen Seiten der rumänischen Geschichte, denen er sich stets mit neuen ästhetischen Mitteln nähert, um ganz unterschiedliche Machtverhältnisse aufzudecken. Zunächst ist es vor allem die Kontinuität des rumänischen Antisemitismus: In AFERIM! (2015) verfolgt er den Antiziganismus und Antisemitismus in eindrücklichen Schwarz-Weiß-Bildern ins 19. Jahrhundert zurück und inszeniert einen stilisierten Western, der durch eine feindliche Welt führt, die durchdrungen ist von Vorurteilen, Hass und stereotypen Zuschreibungen – für AFERIM! erhielt Radu Jude 2015 den Silbernen Bären der Berlinale. Ganz anders seine Herangehensweise in INIMI CICATRIZATE / SCARRED HEARTS (2016), der – basierend auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman von Max Blecher – im Rumänien 117 PORTRAIT

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