ZAP-2020-07
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
7 <strong>2020</strong><br />
1. April<br />
32. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
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AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Der Zugang zu Gerichtsentscheidungen (S. 325)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Maßnahmenpaket gegen Corona‐Krise (S. 326) • Gesetz zum Aufbau von Ladestationen<br />
für E‐Autos (S. 329) • Vergütung des Kanzleiabwicklers in der Insolvenz (S. 330)<br />
Aufsätze<br />
Viefhues, Die Bedeutung des Angehörigen‐Entlastungsgesetzes für den Elternunterhalt (S. 345)<br />
Förster/Fast, Stiftung und Nachlassrecht in der anwaltlichen Praxis (S. 349)<br />
Siefert, Bundesteilhabegesetz – Neuerungen im Recht der Eingliederungshilfe (S. 359)<br />
Rechtsprechung<br />
VerfGH NRW: Richterablehnung (S. 339)<br />
LG Bonn: Nachrichteneingang bei „WhatsApp“ (S. 340)<br />
BVerfG: Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung (S. 341)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 325–326<br />
Anwaltsmagazin – – 326–334<br />
Rechtsprechung 1 39–48 335–344<br />
Viefhues, Die Bedeutung des Angehörigen‐<br />
Entlastungsgesetzes für den Elternunterhalt 11 1571–1574 345–348<br />
Förster/Fast, Stiftung und Nachlassrecht in<br />
der anwaltlichen Praxis 12 385–394 349–358<br />
Siefert, Bundesteilhabegesetz – Neuerungen<br />
im Recht der Eingliederungshilfe 18 1721–1732 359–370<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />
Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />
Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />
Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />
Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />
Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />
Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Der Zugang zu Gerichtsentscheidungen<br />
Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist<br />
der Zugang zu aktuellen Gerichtsentscheidungen<br />
sehr wichtig, um ihre Mandanten richtig beraten<br />
zu können, aber auch, um Haftungsrisiken zu<br />
vermeiden.<br />
In vielen Verfahren sind die Entscheidungsgründe<br />
nicht nur im Einzelfall von Interesse, sondern<br />
betreffen eine Vielzahl von Fällen. Doch für viele<br />
Rechtsanwälte ist es schwierig, an Gerichtsentscheidungen<br />
zu kommen, oftmals blockiert die<br />
Gerichtsverwaltung den Zugang auch zu anonymisierten<br />
Entscheidungen, insb. mit dem Argument<br />
der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen – und<br />
das obwohl bei einer ordentlichen Anonymisierung<br />
keine Namen genannt und oftmals auch zutreffende<br />
Verfremdungen des Sachverhalts vorgenommen<br />
werden.<br />
Auch für die Medien sind Gerichtsentscheidungen<br />
von hohem Interesse, wie gerade die Auseinandersetzung<br />
des Ehemanns der Bundesfamilienministerin<br />
mit dem Verwaltungsgericht Berlin<br />
gezeigt hat. KARSTEN GIFFEY hatte versucht, die<br />
Veröffentlichung des Urteils zu verhindern, in<br />
dem das VG Berlin entschieden hatte, dass er als<br />
Beamter aus dem öffentlichen Dienst wegen<br />
Arbeitszeit- und Reisekostenbetrugs entfernt<br />
wird. Mit klaren Worten hat das VG Berlin (Beschl.<br />
v. 27.2.<strong>2020</strong> – 27 L 43/20) dieses Ansinnen zu<br />
Recht abgelehnt.<br />
Die Entscheidung betrifft zwar nur den Zugang<br />
der Medien zu der Gerichtsentscheidung, das VG<br />
Berlin verweist aber auch auf einen vielen Rechtsanwältinnen<br />
und Rechtsanwälten nicht bekannten<br />
Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom<br />
5.4.2017 (IV AR [VZ] 2/16).<br />
Der Leitsatz dieses Beschlusses soll noch einmal<br />
mitgeteilt werden:<br />
„In Zivilsachen kann der Gerichtsvorstand am Verfahren<br />
nicht beteiligten Dritten regelmäßig anonymisierte<br />
Abschriften von Urteilen und Beschlüssen<br />
erteilen, ohne dass dies den Anforderungen an die<br />
Gewährung von Akteneinsicht gem. § 299 Abs. 2<br />
ZPO unterliegt.“<br />
Der BGH begründet dies mit der öffentlichen<br />
Aufgabe der Gerichte, Gerichtsentscheidungen<br />
zu veröffentlichen. Fast schon gebetsmühlenartig<br />
wiederholen die Gerichte die Argumentation des<br />
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Stattgebender<br />
Kammerbeschl. v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15, NJW<br />
2015, 3708) und des Bundesverwaltungsgerichts<br />
(BVerwG, Urt. v. 26.2.1997 – 6 C 3/96, BVerwGE 104,<br />
105), die (auszugsweise) ausgeführt haben:<br />
„Aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht,<br />
dem Demokratiegebot und<br />
dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt grds. eine<br />
Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikationsveröffentlichung<br />
würdiger Gerichtsentscheidungen.<br />
… Der Bürger muss zumal in einer zunehmend<br />
komplexen Rechtsordnung zuverlässig in Erfahrung<br />
bringen können, welche Rechte er hat und welche<br />
Pflichten ihm obliegen; die Möglichkeiten und Aussichten<br />
eines Individualrechtsschutzes müssen für ihn<br />
annähernd vorhersehbar sein. Ohne ausreichende<br />
Publizität der Rechtsprechung ist dies nicht möglich.“<br />
Der BGH wie auch die beiden anderen obersten<br />
Gerichte BVerfG und BVerwG stellen klar, dass es<br />
zur Begründung der Pflicht der Gerichte, der<br />
Öffentlichkeit ihre Entscheidungen zugänglich<br />
zu machen und zur Kenntnis zu geben, bei der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 325
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
klaren Verfassungslage keiner speziellen gesetzlichen<br />
Rechtsgrundlage bedarf. Und der BGH<br />
stellt auch in aller Deutlichkeit noch einmal klar,<br />
dass es bei der Veröffentlichung von Entscheidungen<br />
der Gerichte nicht davon abhängt, ob<br />
nach Ansicht des betreffenden Gerichts diese<br />
Entscheidung der Veröffentlichung würdig ist,<br />
sondern dass es allein auf das Interesse der<br />
Dritten ankommt. Besonders anschaulich ist der<br />
Fall des BGH deswegen, weil eine Bank hier<br />
versucht hatte, die Veröffentlichung einer für sie<br />
negativen Entscheidung zu verhindern, die Leitcharakter<br />
hatte. Das aber darf in einem Rechtsstaat<br />
auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit<br />
nicht passieren.<br />
Es mag umstritten sein, ob dieser Beschluss des<br />
BGH auch für Strafsachen gilt, aus der Entscheidung<br />
des BVerfG (a.a.O.), die zu einem Strafverfahren<br />
erging, lässt sich dagegen eindeutig<br />
herleiten, dass es einen Anspruch auch der<br />
Rechtsanwältin und des Rechtsanwalts als Organ<br />
der Rechtspflege mit der besonderen Stellung<br />
gibt, Entscheidungen anonymisiert zu erhalten.<br />
Der BGH stellt zudem klar, dass es die Aufgabe<br />
der Justizverwaltung und nicht des einzelnen<br />
Richters, der einzelnen Kammer oder des einzelnen<br />
Senats ist zu entscheiden, ob eine Entscheidung<br />
veröffentlicht wird oder nicht. Die<br />
Verwaltung hat hier für eine Gleichbehandlung<br />
zu sorgen.<br />
Für die Rechtsanwältin/den Rechtsanwalt bedeutet<br />
dies: Erfahren Sie von einer Gerichtsentscheidung,<br />
die für ein Mandat oder allgemein von<br />
Interesse ist, so ist diese Entscheidung direkt<br />
bei der Justizverwaltung anzufordern und um<br />
eine Übersendung einer anonymisierten Kopie zu<br />
bitten. Dies allerdings erst dann, wenn man sich<br />
vorher vergewissert hat, dass die Entscheidung<br />
nicht bereits in den einschlägigen Datenbanken –<br />
die zum Teil auch tagesaktuell eingestellt werden<br />
– vorhanden ist. Nicht nur die obersten Bundesgerichte<br />
sind hier mitunter sehr schnell, sondern<br />
auch offene Datenbanken der Länder (z.B. www.<br />
nrwe.de) oder aber die Datenbank www.openjur.de.<br />
Und notfalls sollte man sich durchaus mit der<br />
Verwaltung streiten.<br />
Rechtsanwalt MARTIN W. HUFF, Köln<br />
Anwaltsmagazin<br />
Maßnahmenpaket gegen<br />
Corona-Krise<br />
Um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie<br />
einzudämmen, hat die Bundesregierung<br />
Mitte März ein umfassendes Maßnahmenpaket<br />
beschlossen. Für Beschäftigte und<br />
für Unternehmen, die durch die Auswirkungen<br />
des Corona-Virus in Schwierigkeiten geraten,<br />
soll ein „Schutzschild“ errichtet werden, der auf<br />
vier Säulen beruht:<br />
• Flexibilisierung des Kurzarbeitergelds;<br />
• steuerliche Liquiditätshilfe für Unternehmen;<br />
• Milliarden-Hilfsprogramm für die Wirtschaft;<br />
• Stärkung des Europäischen Zusammenhalts.<br />
Beim Kurzarbeitergeld werden erleichterte Zugangsvoraussetzungen<br />
eingeführt: Das Quorum<br />
der von Arbeitsausfall betroffenen Beschäftigten<br />
im Betrieb wird auf bis zu 10 % abgesenkt.<br />
Zudem wird es künftig auch für Leiharbeitnehmer<br />
gezahlt. Die Sozialversicherungsbeiträge<br />
326 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
sollen vollständig durch die Bundesagentur für<br />
Arbeit (BA) erstattet werden.<br />
Im Rahmen der vorgesehenen steuerlichen Erleichterungen<br />
werden die Möglichkeiten zur<br />
Stundung von Steuerzahlungen, zur Senkung von<br />
Vorauszahlungen und im Bereich der Vollstreckung<br />
verbessert. Insgesamt wird Unternehmen<br />
die Möglichkeit von Steuerstundungen in Milliardenhöhe<br />
gewährt. Bei den Steuern, die von der<br />
Zollverwaltung verwaltet werden (z.B. Energiesteuer<br />
und Luftverkehrssteuer), ist die Generalzolldirektion<br />
angewiesen worden, den Steuerpflichtigen<br />
entgegenzukommen. Gleiches gilt für<br />
das Bundeszentralamt für Steuern, das für die<br />
Versicherungssteuer und die Umsatzsteuer zuständig<br />
ist und entsprechend verfahren wird.<br />
Kern des Milliarden-Schutzschilds für Betriebe und<br />
Unternehmen ist die massive Aufstockung der<br />
KfW-Kreditprogramme. Diese Liquiditätshilfen sollen<br />
im Volumen unbegrenzt sein. Zudem will der<br />
Bund den Unternehmen leichteren Zugang zu<br />
Bankbürgschaften verschaffen. Zu diesem Zweck<br />
werden sowohl der Risikoanteil des Bundes bei<br />
den Bürgschaftsbanken als auch der jeweilige<br />
Bürgschaftshöchstbetrag erhöht. Das bislang auf<br />
Unternehmen in strukturschwachen Regionen beschränkte<br />
Großbürgschaftsprogramm wird für Unternehmen<br />
außerhalb dieser Regionen geöffnet. Für<br />
Unternehmen, die krisenbedingt vorübergehend in<br />
ernsthaftere Finanzierungsschwierigkeiten geraten<br />
und daher nicht ohne Weiteres Zugang zu den<br />
bestehenden Förderprogrammen haben, werden<br />
zusätzliche Sonderprogramme aufgelegt. Betriebe,<br />
die im Exportgeschäft tätig sind, erhalten verstärkt<br />
Exportkreditgarantien (sog. Hermesdeckungen).<br />
Die Bundesregierung verweist zudem auf europäische<br />
Hilfsmaßnahmen wie etwa die „Corona<br />
Response Initiative“ der EU-Kommission mit einem<br />
Volumen von 25 Mrd. Euro und finanzielle Lockerungen<br />
durch die europäische Bankenaufsicht.<br />
Es sei eine vergleichbare Situation mit den Jahren<br />
nach der Finanzkrise 2009 zu bewältigen, so die<br />
Begründung der Bundesregierung bei Vorstellung<br />
des Maßnahmenpakets. Viele der Instrumente<br />
hätten sich damals schon bewährt und die jetzt<br />
im Haushalt <strong>2020</strong> verfügbaren Mittel reichten aus<br />
für ein vergleichbares Hilfsprogramm. Zugleich<br />
kündigte die Bundesregierung eine kurzfristig zu<br />
erlassende gesetzliche Stundungsregelung für Fälle<br />
pandemiebedingter Zahlungsrückstände an; sie soll<br />
z. B. Miet- und Darlehensschuldner in den nächsten<br />
Monaten vor Kündigungen schützen.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Hinweise der BRAK zur<br />
Corona-Pandemie<br />
Speziell mit Blick auf die Rechtsanwaltschaft<br />
hat sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) mit Hinweisen zur aktuellen Pandemie<br />
geäußert. Die Kammer erhalte zur Zeit „vermehrt<br />
Anfragen von besorgten Kollegen und Kolleginnen“ und<br />
gab deshalb auf ihrer Internetseite (www.brak.de)<br />
am 13. März eine Reihe von Hinweisen, die die<br />
Pandemie sowohl allgemein als auch mit Blick auf<br />
das anwaltliche Berufsrecht betreffen.<br />
Was allgemeine Informationen rund um die Erkrankung<br />
und Schutz vor Ansteckung angeht,<br />
verweist die BRAK auf eine Reihe von Internetseiten,<br />
so u.a. des Robert-Koch-Instituts (https://<br />
www.rki.de), der World Health Organization (WHO;<br />
www.euro.who.int/de/home), der Bundeszentrale für<br />
gesundheitliche Aufklärung (BZGA; https://www.<br />
bzga.de) sowie des Bundesgesundheitsministeriums<br />
(BMG; https://www.bundesgesundheitsministerium.de/<br />
ministerium.html); diese stellen zahlreiche Informationen,<br />
insb. Hinweise zu Hygienemaßnahmen<br />
und zu den aktuellen Fallzahlen, zur Verfügung.<br />
Viele Kolleginnen und Kollegen, so die BRAK, fragten<br />
sich aber auch, wie sie sich selbst im Falle einer<br />
Erkrankung oder der Verhängung von Quarantänemaßnahmen<br />
zu verhalten hätten. Die Antwort<br />
enthalte die Bestimmung des § 53 Abs. 1<br />
BRAO; diese lege fest, dass ein Rechtsanwalt für<br />
seine Vertretung sorgen müsse, wennerlängerals<br />
eine Woche daran gehindert ist, seinen Beruf<br />
auszuüben, oder wenn er sich länger als eine Woche<br />
von seiner Kanzlei entfernen wolle oder müsse.<br />
Kolleginnen und Kollegen, insb. mit Kanzleien in<br />
besonders betroffenen Gebieten, sollten daher<br />
vorsorgen, damit sie notfalls auch in Quarantäne<br />
arbeitsfähig seien, so die BRAK. Es empfehle sich,<br />
soweit vorhanden, beispielsweise notwendige<br />
technische Arbeitsmittel wie Laptop, Kartenlesegerät<br />
etc. täglich mit sich zu führen. Auch solle<br />
rechtzeitig überprüft werden, ob alle gewünschten<br />
bzw. notwendigen Zugriffsrechte auf das<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 327
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
besondere elektronische Anwaltspostfach (beA),<br />
also auch solche für den Vertretungsfall, ordnungsgemäß<br />
vergeben seien. Infos dazu, wie man<br />
Rechte vergebe, finde man im beA-Newsletter<br />
auf der Webseite der BRAK (www.brak.de). Bei<br />
Fragen rund um die Vertreterbestellung könne<br />
man sich an die zuständige regionale Rechtsanwaltskammer<br />
wenden. [Quelle: BRAK]<br />
Anwaltsorganisationen<br />
verabschieden Resolution<br />
zur Rechtsstaatlichkeit<br />
Über 50 Anwaltsorganisationen haben auf Initiative<br />
von EDITH KINDERMANN, Präsidentin des Deutschen<br />
Anwaltvereins (DAV), eine gemeinsame<br />
Resolution zur Rechtsstaatlichkeit in der EU verabschiedet.<br />
Anlässlich der Europäischen Präsidentenkonferenz<br />
in Wien betonen die Berufsverbände<br />
und Kammern damit die Unabdingbarkeit<br />
von Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit<br />
von Justiz und Anwaltschaft in der EU. Mit der<br />
Resolution werden die europäischen Institutionen<br />
wie auch die nationalen Regierungen dazu aufgerufen,<br />
diese Prinzipien mit allen verfügbaren<br />
Mitteln zu schützen. Insbesondere die EU-Kommission<br />
wird aufgefordert, die notwendigen Maßnahmen<br />
einzuleiten, um einen weiteren Vollzug<br />
der polnischen Justizreformen zu verhindern. DAV-<br />
Präsidentin KINDERMANN betont: „Die Anwaltschaft<br />
kann und wird angesichts der permanenten Angriffe auf<br />
den Rechtsstaat in Europa nicht schweigen. Es ist<br />
unsere Pflicht, aufzustehen, laut zu werden und die<br />
Prinzipien zu verteidigen, auf denen die Europäische<br />
Union beruht.“ Die unterzeichnenden Organisationen<br />
rufen zu einem Marsch der europäischen<br />
Roben auf, der zwischen dem 24. und 26.6.<strong>2020</strong> in<br />
Brüssel stattfinden soll. Damit wollen die Initiatoren<br />
mit Vertretern aller Rechtsberufe in Europa ein<br />
gemeinsames, sichtbares und starkes Zeichen für<br />
die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der<br />
Europäischen Union setzen. [Quelle: DAV]<br />
Experten sehen Gefahr<br />
für die Demokratie<br />
Desinformation, politisches Hacking sowie politische<br />
Online-Werbung und Cyberangriffe auf Wahlmaschinen<br />
beeinflussen nach Ansicht zahlreicher<br />
Experten zunehmend die politische Willensbildung<br />
in der Europäischen Union. Deutschland und die EU<br />
müssten die Forschung zu politischer Kommunikation<br />
und Meinungsmanipulation stärker vorantreiben<br />
und gemeinsame Gegenstrategien entwickeln,<br />
forderten daher u.a. der Rechtswissenschaftler<br />
CHRISTIAN CALLIESS (Freie Universität Berlin) und JULIAN<br />
JAURSCH von der Stiftung Neue Verantwortung e.V.<br />
in einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses<br />
im Bundestag Anfang März zum Thema<br />
„Schutz der liberalen Demokratie in Europa“. Der<br />
Kulturwissenschaftler JÜRGEN NEYER von der Europa-<br />
Universität Viadrina warnte hingegen vor staatlichen<br />
Eingriffen in die Meinungsbildungsprozesse,<br />
da eine liberale Gesellschaft „maximalen Freiraum“<br />
brauche und jede Intervention in Willensbildungsprozesse<br />
der Versuch einer Manipulation sei. Die<br />
Gesellschaft solle den Staat prägen, nicht der Staat<br />
die Gesellschaft, betonte er. Mitberaten wurde in<br />
der zweistündigen Sitzung auch ein Antrag aus<br />
dem Bundestag, in dem die Abgeordneten die<br />
Bundesregierung auffordern, die Vorschläge des<br />
französischen Staatspräsidenten EMMANUEL MACRON<br />
zur Einrichtung einer europäischen Agentur für<br />
den Schutz der Demokratie positiv zu begleiten.<br />
Für eine solche Agentur sah CHRISTIAN CALLIESS<br />
allerdings keine Notwendigkeit. Das in der Europäischen<br />
Agentur für Cybersicherheit versammelte<br />
Know-how sei besser in der Lage, die<br />
komplexen Bedrohungslagen einzuschätzen und<br />
die Mitgliedstaaten zu beraten. CALLIES sieht außerdem<br />
die EU in der Verantwortung, Standards<br />
für die sozialen Medien und die Datenerhebung<br />
durch Plattformen zu formulieren. Die Projektmanagerin<br />
für Internationale Cybersicherheitspolitik<br />
bei der Stiftung Neue Verantwortung, JULIA SCHUET-<br />
ZE, wies auf die verbreitete Wahrnehmung hin, dass<br />
IT-Systeme und Wahl-Infrastrukturen angreifbar<br />
und manipulierbar seien. Dies könne dem demokratischen<br />
Prozess seine Legitimation entziehen,<br />
warnte sie. Wahlrelevante Systeme und Daten<br />
müssten daher besser vor Cyberangriffen geschützt<br />
werden. Ihr Kollege JULIAN JARUSCH forderte<br />
überdies, digitale Plattformen stärker zu regulieren<br />
und deren Handeln besser zu erforschen.<br />
CONSTANZE KURZ vom Chaos Computer Club sah<br />
Meinungen und Handlungen insb. durch die „Manipulationsmacht“<br />
von Social Media-Plattformen<br />
wie Facebook und Twitter beeinflusst. Die über<br />
diese kommerziellen Werbeplattformen geführten<br />
Kampagnen seien intransparent, die Bürger könnten<br />
normale politische Wahlwerbung nicht mehr<br />
328 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
von Desinformation unterscheiden. KURZ nannte<br />
Beispiele für derart manipulierte Wahlen, etwa die<br />
Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und die<br />
Brexit-Abstimmung in Großbritannien, und warnte<br />
vor einer grundlegenden Gefährdung der Demokratie.<br />
Es brauche u.a. Transparenzanforderungen<br />
gegenüber den kommerziellen Plattformen und<br />
eine Stärkung der Medien- und Technikkompetenz<br />
in allen Altersgruppen, appellierte sie.<br />
Für ULRIKE KLINGER von der Freien Universität Berlin<br />
gibt es hingegen bisher keinen Beleg dafür,<br />
dass automatisierte Accounts (Social Bots) entscheidenden<br />
Einfluss auf Wahlen gehabt hätten.<br />
Meinungs- und Willensbildungsprozesse seien<br />
sehr komplex und Social Media-Plattformen für<br />
die meisten eine Nachrichtenquelle von vielen,<br />
betonte sie. Allerdings sprach auch sie sich für<br />
mehr Forschung zu politischer Kommunikation<br />
und ein systematisches Monitoring von Meinungsmanipulation<br />
aus. Das Wissen über Kampagnendynamiken<br />
sei bislang zu gering.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Gesetz zum Aufbau von<br />
Ladestationen für E-Autos<br />
beschlossen<br />
Das Bundeskabinett hat im März einen vom<br />
Bundeswirtschafts- und vom Bundesinnenministerium<br />
erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes<br />
zum Aufbau einer gebäudeintegrierten Ladeund<br />
Leitungsinfrastruktur für die Elektromobilität<br />
(Gebäude-Elektromobilitätsinfrastrukturgesetz<br />
– GEIG) beschlossen. Das Gesetz hat v.a. Wohnund<br />
Nicht-Wohngebäude mit größeren Parkplatzanlagen<br />
im Blick. Er soll die Voraussetzungen<br />
dafür schaffen, das Laden von Elektrofahrzeugen<br />
zu Hause, am Arbeitsplatz oder bei der Erledigung<br />
alltäglicher Besorgungen zu verbessern.<br />
Werden Wohngebäude mit mehr als zehn Stellplätzen<br />
gebaut oder umfassend renoviert, müssen<br />
künftig alle Stellplätze mit Schutzrohren für<br />
Elektrokabel ausgestattet werden. Diese Schutzrohre<br />
sind Voraussetzung dafür, dass Ladepunkte<br />
bei Bedarf rasch errichtet werden können. Bei<br />
Nicht-Wohngebäuden muss mindestens jeder<br />
fünfte Stellplatz ausgerüstet und mindestens ein<br />
Ladepunkt errichtet werden. Ab 2025 muss dann<br />
jedes dieser Nicht-Wohngebäude mit mehr als<br />
zwanzig Stellplätzen mit mindestens einem Ladepunkt<br />
ausgestattet werden. Verstöße sollen mit<br />
Bußgeldern geahndet werden.<br />
Das geplante Gesetz sieht auch Ausnahmen für<br />
bestimmte Gebäude vor, um besonders kleine<br />
und mittlere Unternehmen nicht über Gebühr zu<br />
belasten. Ausgenommen sind deshalb u.a.<br />
• Gebäude, die sich im Eigentum von kleinen<br />
und mittleren Unternehmen befinden und<br />
überwiegend von ihnen selbst genutzt werden,<br />
sowie<br />
• Bestandsgebäude, wenn die Kosten für die<br />
Lade- und Leitungsinfrastruktur sieben Prozent<br />
der Gesamtkosten einer größeren Renovierung<br />
überschreiten.<br />
Das neue Gebäude-Elektromobilitätsinfrastrukturgesetz<br />
ist eine Umsetzung der EU-Gebäude-<br />
Richtlinie 2018/844 in deutsches Recht. Hintergrund<br />
ist die Überlegung, dass Elektrofahrzeuge<br />
einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Klimabilanz<br />
des Verkehrssektors zu verbessern. In<br />
ihrem Klimaschutzprogramm hatte die Bundesregierung<br />
deshalb auch das Ziel definiert, dass in<br />
Deutschland bis 2030 sieben bis zehn Millionen<br />
Elektrofahrzeuge zugelassen sein sollen. Als eines<br />
der größten Hindernisse für den flächendeckenden<br />
Einsatz von Elektrofahrzeugen wurde u.a.<br />
das Fehlen einer ausreichenden Ladeinfrastruktur<br />
ausgemacht.<br />
Ergänzend zu dem neuen Gesetz verweist die<br />
Bundesregierung auf ihre Förderprogramme zum<br />
Ausbau der Elektromobilität, z.B. die erst jüngst<br />
erhöhte Kaufprämie (Umweltbonus). Zudem hat<br />
sie sich i.R.d. „Masterplans Ladeinfrastruktur“ verpflichtet,<br />
öffentliche Fördergelder für Ladepunkte<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Persönlichkeitsschutz<br />
bei Bildaufnahmen<br />
Der Persönlichkeitsschutz bei der Herstellung und<br />
Verbreitung von Bildaufnahmen soll verbessert<br />
und das Strafgesetzbuch zu diesem Zweck entsprechend<br />
geändert werden. Ein entsprechender<br />
Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dazu u.a.<br />
vor, den geschützten Personenkreis auf Verstorbene<br />
auszuweiten (vgl. BT-Drucks 19/17795).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 329
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Vom Straftatbestand erfasst werden sollen das<br />
Herstellen und das Übertragen einer Bildaufnahme,<br />
die in grob anstößiger Weise eine verstorbene<br />
Person zur Schau stellt, sowie das Herstellen<br />
und das Übertragen einer Bildaufnahme<br />
von bestimmten gegen Anblick geschützten<br />
Körperteilen. Auch das Gebrauchen und Zugänglichmachen<br />
von solchen Bildaufnahmen gegenüber<br />
Dritten soll erfasst werden.<br />
Hintergrund ist dem Entwurf zufolge, dass Schaulustige<br />
bei Unfällen oder Unglücksfällen Bildaufnahmen<br />
vom Geschehen, insb. von verletzten<br />
und verstorbenen Personen, anfertigen und diese<br />
Aufnahmen über soziale Netzwerke verbreiten.<br />
Oftmals würden solche Bildaufnahmen auch an<br />
die Medien weitergegeben. Den damit verbundenen<br />
Verletzungen der Rechte der Abgebildeten<br />
gelte es zu begegnen.<br />
Darüber hinaus gebe es Fälle, in denen unbefugt<br />
eine i.d.R. heimliche Bildaufnahme hergestellt<br />
oder übertragen wird, die den Blick unter den<br />
Rock oder unter das Kleid einer anderen Person<br />
zeige. Auch entsprechende Bildaufnahmen, die in<br />
den Ausschnitt gerichtet seien und die weibliche<br />
Brust abbildeten, würden gefertigt. Damit setze<br />
sich der Täter über das Bestreben des Opfers,<br />
diese Körperregionen dem Anblick fremder Menschen<br />
zu entziehen, grob unanständig und ungehörig<br />
hinweg und verletze damit die Intimsphäre<br />
des Opfers. [Quelle: Bundestag]<br />
Vergütung des Kanzleiabwicklers<br />
in der Insolvenz<br />
Auf eine interessante Entscheidung des BGH zur<br />
Vergütung des Kanzleiabwicklers hat die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) hingewiesen. In dem<br />
Fall hatte das Gericht die Gelegenheit, sich mit der<br />
seit Längerem umstrittenen Frage nach dem Verhältnis<br />
von Kanzleiabwicklung und Insolvenz zu<br />
befassen.<br />
Der BGH entschied, dass die Vergütungsansprüche<br />
des Abwicklers für seine Tätigkeit keine Masseverbindlichkeiten<br />
darstellen. Bürgerlich-rechtliche<br />
Rechtsbeziehungen zwischen dem Kanzleiabwickler<br />
und dem ehemaligen Rechtsanwalt bestehen<br />
nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das<br />
Vermögen des Rechtsanwalts nicht zulasten der<br />
Masse fort, soweit der ehemalige Rechtsanwalt als<br />
Auftraggeber anzusehen ist. Zudem stellte der<br />
BGH klar, dass ein Dienstvertrag des Schuldners,<br />
der kein Dauerschuldverhältnis begründet, nicht<br />
mit Wirkung für die Insolvenzmasse fortbesteht –<br />
dies gelte auch für Anwaltsverträge.<br />
Der Entscheidung liegt ein Fall zugrunde, in dem<br />
die zuständige Rechtsanwaltskammer (RAK)<br />
einem Anwalt die Zulassung entzogen hatte,<br />
nachdem über sein Vermögen das Insolvenzverfahren<br />
eröffnet worden war; zudem bestellte die<br />
Kammer einen Abwickler für die Kanzlei. Dessen<br />
Vergütung stellte sie mit zwei Bescheiden fest<br />
und zahlte sie ihm aus. Das Honorar verlangte sie<br />
anschließend vom Insolvenzverwalter erstattet.<br />
Das Amtsgericht hat der Klage hinsichtlich des<br />
Honorars für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens<br />
stattgegeben und sie für die Zeit<br />
vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgewiesen.<br />
Gegen die teilweise Abweisung wandte die<br />
Kammer sich mit ihrer Sprungrevision. Auf die<br />
Anschlussrevision des Insolvenzverwalters hat<br />
der BGH die Klage jetzt insgesamt abgewiesen.<br />
Weder der Vergütungsanspruch für die Zeit vor<br />
Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch derjenige<br />
für die Zeit danach sei eine Masseverbindlichkeit.<br />
Dass der Kanzleiabwickler die anwaltlichen<br />
Pflichten des ehemaligen Rechtsanwalts<br />
übernehme, stelle sich nicht als reine Verwaltung<br />
von Teilen der Insolvenzmasse dar und<br />
knüpfe auch nicht an eine auch nach Insolvenzeröffnung<br />
fortbestehende Rechtsstellung des<br />
Schuldners an, da die Zulassung gem. § 14 Abs. 2<br />
Nr. 7 BRAO zu widerrufen sei. Auch daraus, dass<br />
der Abwickler die Verpflichtungen des ehemaligen<br />
Rechtsanwalts aus Mandatsverträgen erfülle,<br />
ergebe sich kein ausreichender Bezug zur<br />
Insolvenzmasse.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
Doppelbesteuerung von Renten<br />
Führt die sog. nachgelagerte Besteuerung von<br />
Renten am Ende zu einer doppelten Steuerbelastung<br />
von bestimmten Rentenjahrgängen? Davon<br />
sind einige Steuerexperten überzeugt, unter ihnen<br />
auch der BFH-Richter Dr. EGMONT KULOSA. Er hatte<br />
330 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
schon im Jahr 2017 in einer Kommentierung<br />
dargelegt: „Es bedarf keiner komplizierten mathematischen<br />
Übungen, um bei Angehörigen der heute mittleren<br />
Generation, die um das Jahr 2040 in den<br />
Rentenbezug eintreten werden, eine Zweifachbesteuerung<br />
nachzuweisen, denn diese Personen werden ihre<br />
Rentenbezüge in vollem Umfang versteuern müssen,<br />
können ihre Beiträge aber nur 15 Jahre lang – von 2025<br />
bis 2039, und auch dann nur bis zum Höchstbetrag des<br />
Abs. 3 – ohne prozentuale Beschränkung abziehen.“<br />
(in Herrmann/Heuer/Raupach [Hrsg.], EStG/KStG,<br />
§ 10 EStG Rn 340 [283. Lieferung 12/2017]).<br />
Unter anderem diese Rechtsauffassung wurde<br />
kürzlich von Bundestagsabgeordneten zum Anlass<br />
genommen, bei der Bundesregierung anzufragen,<br />
wie deren Position zu dieser Steuerfrage<br />
ist. Insbesondere wollten die Abgeordneten<br />
wissen, ob die in letzter Zeit geäußerten Zweifel<br />
vieler Steuerexperten an der Verfassungsmäßigkeit<br />
der Steuerregelung die Regierung zu einer<br />
erneuten Berechnung bzw. einer neuen juristischen<br />
Prüfung hinsichtlich des Umfangs einer<br />
möglichen Zweifachbesteuerung der Rente veranlasst<br />
haben.<br />
Darauf antwortete die Bundesregierung kürzlich,<br />
dass sie die Diskussion um eine mögliche<br />
Zweifachbesteuerung aufmerksam beobachte<br />
(BT-Drucks 19/17088). Eine eventuelle doppelte<br />
Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen<br />
und Altersbezügen müsste ggf. korrigiert werden.<br />
Allerdings seien ihr derzeit keine Fälle<br />
doppelter Besteuerung bekannt. Sie gehe auch<br />
davon aus, dass die seinerzeitige Umstellung auf<br />
eine nachgelagerte Rentenbesteuerung keinen<br />
verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Der<br />
Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung im<br />
Jahr 2005 mit nur 50 % Besteuerungsanteil habe<br />
einen schonenden Übergang gewährleisten sollen.<br />
Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass<br />
bei einem Arbeitnehmer, der erst im Jahr 2040<br />
in den Rentenbezug eintreten werde, der Arbeitgeberanteil<br />
zur Rentenversicherung bereits<br />
heute vollständig steuerbefreit sei.<br />
Eine „Zweifachbesteuerung“ wäre nur dann gegeben,<br />
wenn der aus versteuertem Einkommen<br />
geleistete Teil der Altersvorsorgeaufwendungen<br />
höher sei als die voraussichtlich steuerunbelastet<br />
zufließenden Rententeilbeträge. Es sei jedoch<br />
davon auszugehen, dass die dem Rentner steuerunbelastet<br />
zufließende Rentenzahlung größer sei<br />
als nur die Summe der jährlichen steuerfreien<br />
Teile seiner Rentenbezüge.<br />
Derzeit seien, so führte die Bundesregierung in ihrer<br />
Antwort weiter aus, zu dieser Fragestellung zwei<br />
Revisionsverfahren beim BFH anhängig. Sie beabsichtige,<br />
diesen beiden Verfahren beizutreten.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Rechtsexperten uneins<br />
über Legal Tech<br />
Um die Modernisierung des Rechtsdienstleistungsrechts<br />
und die Stärkung der Anwaltschaft<br />
ging es bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss<br />
für Recht und Verbraucherschutz des<br />
Bundestags Mitte März <strong>2020</strong>. Sachverständige<br />
aus der Anwaltschaft, der Wissenschaft und<br />
der Wirtschaft äußerten sich in der Sitzung zu<br />
Gesetzesinitiativen der FDP und der Grünen.<br />
Die Vorschläge beider Fraktionen wollen der<br />
Tatsache Rechnung tragen, dass sich in den<br />
letzten Jahren neue Unternehmensformen der<br />
Rechtsberatung etabliert haben. Um diesen<br />
neuen Sektor rechtsberatender Dienstleistungen,<br />
in erster Linie sog. Legal Tech-Anwendungen,<br />
nicht einem Feld von gerichtlichen Einzelfallentscheidungen<br />
zu überlassen, müsse der Gesetzgeber<br />
tätig werden. Insbesondere die Digitalisierung<br />
der Rechtslandschaft verlange zügig<br />
Regelungen, die die Automatisierung von Rechtsdienstleistungen<br />
zum Inhalt haben. Die Initiatoren<br />
setzen sich zudem dafür ein, die Anwaltschaft<br />
durch eine angemessene Erhöhung der Rechtsanwaltsgebühren<br />
zu stärken. Auch soll etwa die<br />
Vereinbarung von Erfolgshonoraren bis zu einem<br />
bestimmten Streitwert zugelassen sowie geprüft<br />
werden, inwiefern in Einzelfällen eine Lockerung<br />
des Verbots der Prozessfinanzierung sinnvoll und<br />
angemessen sein könne. Damit solle langfristig<br />
ein fairer Wettbewerb zwischen Anwaltschaft<br />
und nichtanwaltlichen Dienstleistern gewährleistet<br />
werden.<br />
Der Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK), ANDRÉ HAUG, verwies auf eine<br />
Stellungnahme seiner Kammer, in der reine<br />
Kapitalbeteiligungen an anwaltlichen Berufsaus-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 331
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
übungsgesellschaften mit dem Ziel, alternative<br />
Finanzierungswege insb. zur Finanzierung von<br />
Legal Tech zu erlauben, nachdrücklich abgelehnt<br />
werden. Für solche Fremdkapitalgeber werde<br />
keine Notwendigkeit gesehen. In der Praxis bestünden<br />
ausreichende alternative Möglichkeiten,<br />
Finanzierungen einzuholen. Wirtschaftliche Interessen<br />
dürften unter keinen Umständen den<br />
Mandanteninteressen vorgehen. Die anwaltliche<br />
Unabhängigkeit müsse ganz und gar unangetastet<br />
bleiben. Eine gesetzgeberische Bevorzugung<br />
von Kanzleien, die sich mit Legal Tech-Anwendungen<br />
befassten, gegenüber Berufsträgern, die<br />
aus anderen Gründen Kapitalbedarf hätten, sei<br />
verfassungsrechtlich kaum haltbar.<br />
Eine Rechtsanwältin aus Hamburg sah ebenso<br />
wie ihre Berliner Kollegin EDITH KINDERMANN, Präsidentin<br />
des Deutschen Anwaltvereins, den Zugang<br />
zum Recht durch die vorgeschlagenen<br />
Neuerungen erheblich erschwert. Bei der derzeitigen<br />
Entwicklung in der Rechtsprechung drohten<br />
die bisherigen Grundprinzipien im Bereich Rechtsdienstleistungen<br />
in ihr Gegenteil verkehrt zu<br />
werden, so ihre Stellungnahme. Den Befürwortern<br />
einer Öffnung des Rechtsdienstleistungsgesetzes<br />
(RDG) für Legal Tech gehe es nicht um den<br />
Rechtsstaat, sondern um Geschäftsinteressen<br />
von diversen Unternehmen, die sich neue Geschäftsfelder<br />
zu erschließen hofften. Das BGH-<br />
Urteil zu wenigermiete.de habe aus der Rechtswissenschaft<br />
bereits erhebliche und sehr berechtigte<br />
Kritik erfahren, erklärte sie. Es dürfte damit<br />
auch in der Rechtsprechung hinsichtlich dieser<br />
Frage spannend bleiben. Eine Anpassung der<br />
Gebühren des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes<br />
sei allerdings überfällig und werde nachdrücklich<br />
befürwortet.<br />
Der Vertreter des Verbraucherzentrale Bundesverbands<br />
plädierte dafür, die Lösung für Defizite<br />
bei der Durchsetzung von Verbraucherrecht in<br />
verfahrensrechtlichen Regelungen zu suchen,<br />
die eine Vollkompensation ermöglichen und dem<br />
Verbraucher den gesamten ihm zustehenden Betrag<br />
zukommen lassen. Der Gesetzgeber solle<br />
deshalb vornehmlich die individuellen und kollektiven<br />
Regeln zur Rechtsdurchsetzung und Streitbeilegung<br />
anpassen, anstatt vorschnell dem Ruf<br />
nach einer Deregulierung der Rechtsberatung<br />
zu folgen. Eine solche Deregulierung sei für eine<br />
Nutzbarmachung der Möglichkeiten von Legal<br />
Tech auch nicht erforderlich. Die derzeitige Ausgestaltung<br />
von Legal Tech-Angeboten – Abtretungsmodelle<br />
unter Nutzung einer Inkassolizenz –<br />
sei für das eigentliche Tätigkeitsbild nicht ansatzweise<br />
ausreichend geregelt, bemängelte er.<br />
Ein Düsseldorfer Rechtsanwalt erklärte, die Gesetzentwürfe<br />
reflektierten digitalisierungsbedingte<br />
Umwälzungen auf den Rechtsdienstleistungsmärkten,<br />
mit denen die Entwicklung der regulatorischen<br />
Rahmenbedingungen bislang nicht mitgehalten<br />
habe. Das Ziel beider Vorschläge, das<br />
Rechtsdienstleistungs- und das anwaltliche Berufsrecht<br />
zumindest in einigen zentralen Teilen an die<br />
Wirklichkeit heranzuführen, sei zu begrüßen. Die<br />
Anwaltschaft könne unter unveränderten berufsrechtlichen<br />
Rahmenbedingungen für den rational<br />
desinteressierten Verbraucher in etlichen Beratungsbereichen<br />
keine effektiven Rechtsschutzangebote<br />
unterbreiten. In diese Lücke seien Legal<br />
Tech-Anbieter gestoßen.<br />
Nach Meinung eines Professors von der Leibniz<br />
Universität Hannover würde mit den Plänen<br />
dagegen schwerwiegend in den Schutzbereich<br />
des RDG eingegriffen. Die Regelung lade zur<br />
Umgehung des anwaltlichen Berufsrechts ein<br />
und stelle nicht sicher, dass die Rechtsberatung<br />
hinreichend qualifiziert erfolge. Das in den Vorlagen<br />
beider Fraktionen vorgesehene Erfolgshonorar,<br />
wonach der Rechtsanwalt die Verfahrenskosten<br />
trage, habe zur Konsequenz, dass der<br />
Anwalt auf dieser Basis nur Verfahren mit sehr<br />
hoher Erfolgswahrscheinlichkeit führen werde.<br />
Im Gegensatz hierzu lägen die Anforderungen,<br />
die der Staat an die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />
stelle, deutlich niedriger. Das Erfolgshonorar<br />
werde den Zugang zum Recht nicht<br />
erleichtern.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Überwiegende Zustimmung zur<br />
Neuverteilung der Maklerkosten<br />
Auf grundsätzliche Zustimmung der Sachverständigen<br />
traf der Gesetzentwurf der Bundesregierung<br />
über die Verteilung der Maklerkosten<br />
bei der Vermittlung von Kaufverträgen über<br />
Wohnungen und Einfamilienhäuser (vgl. dazu<br />
BT-Drucks 19/15827) in einer öffentlichen Anhörung,<br />
die Ende Januar im Bundestagsausschuss<br />
für Recht und Verbraucherschutz stattfand. Die<br />
acht Experten aus Praxis und Rechtswissen-<br />
332 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
schaft sahen übereinstimmend Regelungsbedarf,<br />
bewerteten einzelne Aspekte aber auch kritisch.<br />
Die Abgeordneten waren v.a. an der Meinung der<br />
Sachverständigen bzgl. Transparenz und Rechtssicherheit<br />
des Gesetzesvorhabens interessiert<br />
und fragten nach Details zum Bestellerprinzip,<br />
zur Doppeltätigkeit von Maklern sowie zu deren<br />
Bezahlung und Ausbildung.<br />
Wie es in dem Gesetzentwurf heißt, wird die<br />
Bildung von Wohneigentum auch durch hohe<br />
Erwerbsnebenkosten erschwert, die zumeist<br />
aus Eigenkapital geleistet werden müssen. Auf<br />
den Kostenfaktor der Maklerprovision hätten<br />
Kaufinteressenten dabei häufig keinerlei Einfluss.<br />
Daher zielen die Änderungen im Maklerrecht<br />
darauf ab, durch bundesweit einheitliche,<br />
verbindliche Regelungen die Transparenz<br />
und Rechtssicherheit bei der Vermittlung von<br />
Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser<br />
zu erhöhen und die Käufer vor der<br />
Ausnutzung einer faktischen Zwangslage zu<br />
schützen. Unter anderem soll verhindert werden,<br />
dass Maklerkosten, die vom Verkäufer<br />
verursacht wurden und v.a. in seinem Interesse<br />
angefallen sind, im Kaufvertrag vollständig oder<br />
zu einem überwiegenden Anteil dem Käufer<br />
aufgebürdet werden.<br />
Dem Entwurf zufolge soll die Weitergabe von<br />
Maklerkosten vor dem Hintergrund, dass i.d.R.<br />
auch der Käufer von der Tätigkeit eines Maklers<br />
profitiert, zwar nicht gänzlich ausgeschlossen<br />
werden. Jedoch soll diese nur noch bis zu einer<br />
maximalen Obergrenze von 50 % des insgesamt<br />
zu zahlenden Maklerlohns möglich sein. Außerdem<br />
soll der Käufer zur Zahlung erst verpflichtet<br />
sein, wenn der Verkäufer nachweist, dass er<br />
seinen Anteil an der Maklerprovision gezahlt hat.<br />
Vertreter der Immobilienverbände bemängelten<br />
zwar einen Eingriff in die Vertragsfreiheit, unterstützten<br />
aber das Ziel der Bundesregierung, die<br />
Erwerbsnebenkosten für privat genutzte Immobilien<br />
zu senken. CHRISTIAN J. OSTHUS vom Immobilienverband<br />
Deutschland IVD erklärte, im Ergebnis<br />
werde der Entwurf gebilligt, da er weiterhin<br />
eine Doppeltätigkeit des Immobilienmaklers zulasse.<br />
Der geplante Verteilungsmechanismus im<br />
Hinblick auf die Provision werde die Branche aber<br />
vor große Herausforderungen stellen. OSTHUS<br />
betonte, dass aus Sicht des IVD eine umfassende<br />
Entlastung der Käufer nur durch eine generelle<br />
Absenkung der Grunderwerbsteuer oder zumindest<br />
durch Freibeträge möglich ist.<br />
Dies forderte auch KAI ENDERS, Vorstandsmitglied<br />
eines großen privaten Immobilienmaklers in<br />
Deutschland. Den Gesetzentwurf bewerte sein<br />
Unternehmen im Hinblick auf das wohnungspolitische<br />
Ziel der Bundesregierung als weitestgehend<br />
gelungen, erklärte ENDERS in seiner Stellungnahme.<br />
Begrüßt werde, dass die Idee der<br />
Übertragung des sog. Bestellerprinzips aus dem<br />
Mietrecht in das Maklerrecht verworfen worden<br />
sei. Die hälftige Teilung der Courtage, wie sie der<br />
Gesetzentwurf künftig deutschlandweit vorsehe,<br />
sei angemessen und sachgerecht.<br />
Auch SUN JENSCH, Geschäftsführerin des Zentralen<br />
Immobilien Ausschusses (ZIA), der auch die<br />
Makler vertritt, befürwortete die mit dem Gesetzentwurf<br />
vorgesehene Teilung der Maklerprovision<br />
bei beidseitiger Beauftragung. Sie sei<br />
geeignet, Üblichkeiten in verschiedenen Bundesländern<br />
zu harmonisieren, und lasse dennoch<br />
Spielraum für verschiedene Marktsituationen.<br />
Auch eine Teilung bei einseitiger Beauftragung<br />
sehe der ZIA positiv, jedoch berge die vorgeschlagene<br />
Regelung auch die Gefahr von Unsicherheiten,<br />
erklärte JENSCH. Ganz abzulehnen sei die<br />
für die einseitige Beauftragung vorgeschlagene<br />
Regelung, wonach die Maklerprovision gegenüber<br />
dem Nicht-Beauftragenden erst dann fällig<br />
wird, wenn eine Zahlung durch den Beauftragenden<br />
nachgewiesen ist. Positiv sei anzumerken,<br />
dass der Gesetzentwurf keine Vorgaben zur<br />
Höhe der Maklerprovision vorsehe und somit den<br />
Parteien ihre Vertragsfreiheit belasse.<br />
Der Immobilienberater ANDRÉ RADICKE hielt den<br />
Entwurf für ungenügend, da er die Interessen der<br />
Verbraucher nicht ausreichend berücksichtige.<br />
Dies zeige sich an der Möglichkeit der Doppelbeauftragung.<br />
Aus Verbrauchersicht sei das Bestellerprinzip<br />
am besten geeignet, um die Kosten<br />
zu senken. RADICKE sagte, das Gesetz habe nichts<br />
mit Verbraucherschutz zu tun, sondern diene<br />
ausschließlich dem Maklerschutz.<br />
Weitergehende gesetzliche Regelungen forderte<br />
FRANZ MICHEL, Referent beim Verbraucherzentrale<br />
Bundesverband (vzbv). MICHEL erläuterte, dass für<br />
Immobilienkäufer die Maklerprovision neben der<br />
Grunderwerbsteuer den größten Kostenblock bei<br />
den fixen Erwerbsnebenkosten bilde. Diese Gebühr<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 333
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
könne für den Käufer je nach Bundesland zwischen<br />
3,57 % und 7,14 % des Kaufpreises betragen. Der<br />
vzbv begrüße eine gesetzlich verbindliche Regelung<br />
zur Teilung der Provision und die damit einhergehende<br />
gestiegene Rechtssicherheit sowie Transparenz<br />
für private Immobilienkäufer, sagte MICHEL.<br />
Der Verband fordere darüber hinaus spürbare<br />
Entlastungen für alle Verbraucher beim Immobilienkauf,<br />
die Einführung des Bestellerprinzips auch<br />
für den Erwerb von Immobilien zur Eigennutzung<br />
und eine Deckelung der Maklercourtage.<br />
MARKUS ARTZ von der Universität Bielefeld, Direktor<br />
der Forschungsstelle für Immobilienrecht, bezeichnete<br />
das Gesetz als einen positiven politischen<br />
Kompromiss. Er sprach sich für die Anwendung des<br />
Bestellerprinzips aus und sieht grundlegenden<br />
Änderungsbedarf bei der Bestimmung des sachlichen<br />
und persönlichen Anwendungsbereichs in<br />
mehreren Paragrafen des Entwurfs, die zu nicht<br />
begründbaren Wertungswidersprüchen führten<br />
und darüber hinaus erhebliche Fehlanreize erzeugten.<br />
…<br />
CAROLINE MELLER-HANNICH von der Martin-Luther-<br />
Universität Halle-Wittenberg bestätigte den vom<br />
Gesetzentwurf vorausgesetzten Regelungsbedarf.<br />
Das angestrebte Ziel einer Reduzierung<br />
der Gesamtkosten des Immobilienerwerbs sei<br />
grds. berechtigt. Ein Wettbewerb um die Provisionshöhe<br />
würde zur Senkung der Kaufnebenkosten<br />
führen und die Käufer entlasten. MELLER-<br />
HANNICH äußerte jedoch Zweifel daran, ob das<br />
Gesetz das Ziel auch erreichen könne. Die Begrenzung<br />
der Möglichkeit, die Maklerkosten auf<br />
die andere Vertragspartei abzuwälzen, sei ein<br />
Schritt in die richtige Richtung; sie biete allerdings<br />
Umgehungspotenzial. MELLER-HANNICH sprach sich<br />
dafür aus, eine Doppeltätigkeit des Maklers für<br />
Käufer und Verkäufer ganz auszuschließen.<br />
DETLEV FISCHER, Richter am BGH a.D., begrüßte<br />
den Entwurf. Damit werde die in Berlin, Brandenburg,<br />
Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein<br />
und Hessen praktizierte Verlagerung der Maklerkosten<br />
allein auf den Käufer beseitigt und zur<br />
hälftigen Aufteilung der Kosten zurückgefunden.<br />
Entgegen dem Entwurf sollte der Anwendungsbereich<br />
nicht auf Makler, die Unternehmer sind,<br />
beschränkt werden, sagte FISCHER. Im Immobilienbereich<br />
seien vielfach auch Gelegenheitsmakler<br />
tätig, die im Hinblick auf ihre nur eingeschränkte<br />
berufliche Sachkompetenz sowohl im<br />
Marktgeschehen wie auch bei maklerrechtlichen<br />
Streitigkeiten nicht selten negativ in Erscheinung<br />
träten.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
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[Red.]<br />
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[Red.]<br />
334 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 39<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Medizinischer Sachverständiger: Substanziierungslast im Regressprozess<br />
(BGH, Beschl. v. 30.1.<strong>2020</strong> – III ZR 91/19) • Die im Interesse des klageführenden Patienten anerkannte<br />
Herabsetzung der Substanziierungslast im Arzthaftungsprozess kann nicht auf den Regressprozess<br />
gegen den medizinischen Sachverständigen nach § 839a BGB übertragen werden. Der Regresskläger<br />
ist hier – ebenso wie bei der Klage gegen andere Sachverständige – gehalten, schlüssig darzulegen,<br />
dass der Beklagte mindestens grob fahrlässig ein unrichtiges gerichtliches Gutachten erstattet hat.<br />
Hinweis: Für derartige Erleichterungen besteht nach Ansicht des BGH weder Bedarf noch Raum. Der<br />
Regresskläger ist auf jedem Sachgebiet dem von ihm in Anspruch genommenen Sachverständigen<br />
typischerweise in fachlicher Hinsicht unterlegen. Insofern gibt es bei der Inanspruchnahme eines<br />
medizinischen Sachverständigen keine Besonderheit. Dies ist aus Sicht eines potenziellen Klägers<br />
wenig nachvollziehbar, auch wenn diese Rechtsprechung wohl der h.M. entspricht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 152/<strong>2020</strong><br />
Straftatbestand der Geldwäsche: Schutzgesetz im Sinne des Deliktsrechts<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 5.2.<strong>2020</strong> – 4 U 418/19) • Der Straftatbestand der Geldwäsche ist nur dann ein<br />
Schutzgesetz i.S.d. zivilrechtlichen Deliktsrechts, wenn die erforderliche Vortat in einem gewerbsmäßigen<br />
Betrug besteht, der allerdings nicht vollendet sein muss; auch ein konkreter Täter muss nicht<br />
bekannt sein. Ein Rechtsanwalt, der auf seinem Geschäftskonto eingegangene Geldbeträge unbekannter<br />
Herkunft unter Abzug einer Provision ohne nähere Prüfung an einen Dritten auskehrt, obwohl<br />
ihm bekannt ist, dass dieser in der Vergangenheit in vergleichbare Vorfälle verwickelt war, handelt<br />
leichtfertig i.S.d. § 261 StGB. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 153/<strong>2020</strong><br />
Schwarzgeldabrede: Auswertung von „WhatsApp“-Mitteilungen<br />
(OLG Düsseldorf. Urt. v. 21.1.<strong>2020</strong> – I-21 U 34/19) • Das Gericht kann, auch ohne dass sich eine<br />
Vertragspartei darauf beruft, feststellen, dass eine zur Nichtigkeit des Werkvertrags führende<br />
Schwarzgeldabrede getroffen worden ist. Die Überzeugung von einer solchen (stillschweigend) zustande<br />
gekommenen Schwarzgeldvereinbarung kann sich aus der Auswertung der schriftlichen<br />
Kommunikation zwischen den Parteien (hier: per WhatsApp) ergeben. Hinweis: Hier hatte der<br />
Geschäftsführer der Klägerin den Beklagten gebeten, einen zu überweisenden Betrag von 35.000 € in<br />
Beträge von 20.000 € aufzuteilen, damit „nicht so viel an die Augen von F … kommt“. Das Gericht hat diese<br />
Nachricht dahingehend verstanden hat, dass mit „F …“ das Finanzamt gemeint war.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 154/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 335
Fach 1, Seite 40 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Diesel-Skandal: Erwerb eines Gebrauchtwagens nach dem 16.12.2015<br />
(OLG Karlsruhe, Urt. v. 9.1.<strong>2020</strong> – 17 U 133/19) • Die Einschränkung eines bezifferten Leistungsantrags<br />
„Zug um Zug gegen Zahlung einer von der Beklagten Ziff. 1 noch darzulegenden Nutzungsentschädigung“ führt<br />
nicht zur Unbestimmtheit des Klageantrags, wenn dieser ersichtlich nicht auf eine Zug-um-Zug-<br />
Verurteilung gerichtet ist, sondern nur der Klarstellung dient, dass eine Vorteilsanrechnung akzeptiert<br />
werde. Die Strategieentscheidung des Vorstands der VW AG, die EG-Typengenehmigung für alle mit der<br />
Motorsteuerungssoftware ausgestatteten Kfz ihrer Konzerngesellschaften von den dafür zuständigen<br />
Erteilungsbehörden zu erschleichen, ohne dass die materiellen Voraussetzungen dafür vorliegen, ist<br />
nicht adäquat kausal für den Erwerb eines (gebrauchten) Fahrzeugs, wenn der Erwerber positive<br />
Kenntnis von dem Vorhandensein dieser Software im erworbenen Fahrzeug hatte. Der Zweitkäufer ist<br />
als lediglich mittelbar Geschädigter einer sittenwidrigen vorsätzlichen Handlung zwar grds. in den<br />
Schutzbereich des § 826 BGB einbezogen (dazu Senat, Urt. v. 19.11.2019 – 17 U 146/19, juris Rn 46). Jedoch<br />
stellt sich ein nach dem 16.12.2015 geschlossener Kaufvertrag nicht mehr als zurechenbarer Vermögensschaden<br />
dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 155/<strong>2020</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Gewerberaummietvertrag: Kündigung<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2019 – 18 U 19/19) • Nimmt der Vermieter entgegen § 112 Nr. 1 InsO eine<br />
Kündigung vor, ist diese nichtig; eine vom Insolvenzverwalter auf diese Kündigung erklärte „Bestätigung“<br />
führt nicht ohne Weiteres zur Beendigung des Mietverhältnisses ex nunc oder gar rückwirkend auf<br />
den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung, sondern nur dann, wenn diese Bestätigung als<br />
Angebot an den Vermieter auf Abschluss einer Aufhebungsvereinbarung anzusehen und wenn diese<br />
durch den Vermieter angenommen worden ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 156/<strong>2020</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Ärztliche Behandlung: Wirtschaftliche Information des Patienten<br />
(BGH, Urt. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VI ZR 92/19) • Die in § 630c Abs. 3 S. 1 BGB kodifizierte Pflicht des Behandlers<br />
zur wirtschaftlichen Information des Patienten soll den Patienten vor finanziellen Überraschungen<br />
schützen und ihn in die Lage versetzen, die wirtschaftliche Tragweite seiner Entscheidung zu überschauen.<br />
Sie zielt allerdings nicht auf eine umfassende Aufklärung des Patienten über die wirtschaftlichen<br />
Folgen einer Behandlung. Der Arzt, der eine neue, noch nicht allgemein anerkannte<br />
Behandlungsmethode anwendet, muss die Möglichkeit in den Blick nehmen, dass der private Krankenversicherer<br />
die dafür erforderlichen Kosten nicht in vollem Umfang erstattet. Die Beweislast<br />
dafür, dass sich der Patient bei ordnungsgemäßer Information über die voraussichtlichen Behandlungskosten<br />
gegen die in Rede stehende medizinische Behandlung entschieden hätte, trägt nach<br />
allgemeinen Grundsätzen der Patient. Eine Beweislastumkehr erfolgt nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 157/<strong>2020</strong><br />
Franchisevertrag: Anwaltsverschulden<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 3.2.<strong>2020</strong> – 4 W 918/19) • Ein Franchisevertrag ist ein Ratenlieferungsvertrag<br />
i.S.v. § 510 Abs. 1 Nr. 3 BGB. Ist die Belehrung über das Widerrufsrecht fehlerhaft, kann er innerhalb<br />
von zwölf Monaten und 14 Tagen widerrufen werden. An der haftungsausfüllenden Kausalität eines<br />
Anwaltsverschuldens fehlt es, wenn infolge dessen zwar das Prozessziel verfehlt wird, die Forderung<br />
aber wegen Vermögenslosigkeit des in Anspruch Genommenen ohnehin nicht hätte durchgesetzt<br />
werden können. Hinweis: Die beklagten Rechtsanwälte haben ihre Pflicht aus dem Anwaltsvertrag im<br />
Vorprozess verletzt, da sie die Klage nicht auf einen Widerruf des Franchisevertrags gem. §§ 355, 356c,<br />
510, 513 BGB gestützt haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 158/<strong>2020</strong><br />
336 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 41<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Beschlussmängelverfahren: Vertretungsbefugnis des Verwalters<br />
(BGH, Urt. v. 18.10.2019 – V ZR 286/18) • Die gesetzliche Vertretungsbefugnis des Verwalters für die in<br />
einem Beschlussmängelverfahren beklagten Wohnungseigentümer erstreckt sich auf den Abschluss<br />
eines Prozessvergleichs. Hat der Verwalter mit der Prozessvertretung einen Rechtsanwalt beauftragt,<br />
kann er diesem eine verbindliche Weisung zum Abschluss eines Prozessvergleichs erteilen. Vertritt der<br />
Verwalter die Wohnungseigentümer in einem gegen sie gerichteten Beschlussmängelverfahren, können<br />
sie ihm im Rahmen einer Wohnungseigentümerversammlung durch Mehrheitsbeschluss Weisungen für<br />
die Prozessführung erteilen. Hierzu gehört auch der Abschluss eines Prozessvergleichs. Abweichende<br />
Weisungen einzelner Wohnungseigentümer an den Verwalter sind unbeachtlich. Von der Beschlusskompetenz<br />
der Wohnungseigentümer nicht umfasst ist hingegen ein Beschluss, der es den Wohnungseigentümern<br />
untersagt, in dem Prozess für sich selbst aufzutreten und von dem Mehrheitsbeschluss<br />
abweichende Prozesshandlungen vorzunehmen. Die Vertretungsmacht des Verwalters und die Vollmacht<br />
des Rechtsanwalts für einen Wohnungseigentümer enden erst, wenn dieser dem Gericht<br />
die Selbstvertretung und die Kündigung des Mandatsverhältnisses in einer § 87 Abs. 1 ZPO genügenden<br />
Form mitgeteilt hat. Hat der Verwalter einen Rechtsanwalt mit der Vertretung der in einem Beschlussmängelverfahren<br />
beklagten Wohnungseigentümer beauftragt, kann nur er dem Rechtsanwalt<br />
Weisungen für die Prozessführung erteilen und das Mandatsverhältnis beenden, solange er zur Vertretung<br />
der Wohnungseigentümer befugt ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 159/<strong>2020</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Güteantrag: Verjährungshemmung<br />
(OLG Braunschweig, Beschl. v. 13.1.<strong>2020</strong> – 3 U 91/16) • Ein Güteantrag zu geltend gemachten<br />
Anlegeransprüchen muss bestimmten Anforderungen genügen, um im Einzelfall eine Verjährungshemmung<br />
bewirken zu können. In Bezug auf die Beschreibung des angestrebten Verfahrensziels ist<br />
erforderlich, dass die Größenordnung des geltend gemachten Anspruchs für Antragsgegner und<br />
Gütestelle aus dem Güteantrag erkennbar und wenigstens im Groben einschätzbar wird. Hierfür<br />
bedarf es bereits im Güteantrag u.a. einer klarstellenden Äußerung, ob der vollständige Zeichnungsschaden<br />
oder nur ein Differenzschaden (etwa nach zwischenzeitlicher Veräußerung der Beteiligung<br />
oder unter Geltendmachung einer günstigeren Alternativbeteiligung) begehrt wird, ob das eingebrachte<br />
Beteiligungskapital fremdfinanziert war, sowie Angaben, die etwaige weitere Schadenspositionen,<br />
wie z.B. einen beanspruchten entgangenen Gewinn, bestimmbar machen (Anschluss an<br />
BGH, Beschl. v. 28.1.2016 – III ZB 88/15, juris Rn 17 und III ZR 116/15, juris Rn 4; v. 4.2.2016 – 3 ZR 356/14,<br />
juris Rn 4; v. 25.2.2016 – III ZB 74/15, III ZB 76/15, III ZB 77/15, III ZB 78/15 und III ZB 79/15, jeweils juris<br />
Rn 17; BGH, Urt. v. 3.9.2015 – III ZR 347/14, juris Rn 18; Beschl. v. 24.9.2015 – III ZR 363/14, juris Rn 13;<br />
v. 24.3.2016 – III ZB 75/15, juris Rn 17 sowie v. 7.9.2017 – IV ZR 238/15, juris Rn 19; OLG Braunschweig,<br />
Beschl. v. 11.9.2017 – 10 U 82/17, juris Rn 74). Art. 229 § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 EGBGB verstößt nicht<br />
wegen unzulässiger Rückwirkung gegen Art. 20 Abs. 3 GG (Anschluss an OLG Braunschweig, Beschl.<br />
v. 21.11.2018 – 10 U 90/18, juris Rn 169). Kündigt eine Anwaltskanzlei an, eine große Vielzahl im<br />
Wesentlichen gleichgerichteter Klagen gegen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bei einem Gericht<br />
einzureichen und richtet das Präsidium daraufhin eine Kammer mit einer Sonderzuständigkeit für das<br />
zugrunde liegende Rechtsgebiet ein (hier: Streitigkeiten aus der Berufstätigkeit der Wirtschaftsprüfer),<br />
führt dies nicht zu einem unzulässigen Ausnahmegericht i.S.d. § 16 GVG, Art. 101 Abs. 1 S. 1 GVG.<br />
Es gehört vielmehr zu den Aufgaben des Präsidiums, bei der Jahresgeschäftsverteilung und der sich in<br />
diesem Zusammenhang stellenden Frage der Einrichtung von Spezialkammern bereits absehbare<br />
Verfahrenseingänge zu berücksichtigen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 160/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 337
Fach 1, Seite 42 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Rückstau vor einer ampelgeregelten Baustelle: Langsames Überholen<br />
(OLG Koblenz, Urt. v. 10.2.<strong>2020</strong> – 12 U 1134/19) • Bildet sich auf einer Landstraße vor einer ampelgeregelten<br />
Baustelle ein kolonnenartiger Rückstau und überholt – in einer Phase, in welcher kein<br />
Gegenverkehr naht – ein Motorrad mit mäßiger Geschwindigkeit (ca. 15 km/h) diese Kolonne, trifft den<br />
Motorradfahrer auch unter Berücksichtigung der von seinem Motorrad ausgehenden Betriebsgefahr<br />
keine Mithaftung, wenn aus der Kolonne ohne jegliche Vorankündigung ein Pkw nach links ausschert,<br />
um in einen dort befindlichen Wirtschaftsweg einzubiegen, und es hierdurch zu einer Kollision mit dem<br />
bereits auf (nahezu) gleicher Höhe befindlichen Motorrad kommt. Die Voraussetzungen für eine<br />
Schadensabrechnung auf der Basis des gutachterlich ermittelten Reparaturaufwands (fiktive Abrechnung)<br />
sind nicht gegeben, wenn der Geschädigte eine die Weiternutzung ermöglichende Reparatur des<br />
Motorrads nicht vornimmt, sondern dieses im unreparierten Zustand weiterveräußert. Möchte der<br />
Geschädigte aus dem Regulierungsverhalten (der Versicherung) des Schädigers rechtliche Konsequenzen<br />
dergestalt herleiten, dass er wegen einer Einschränkung seines Wahlrechts hinsichtlich der Form der<br />
Schadensbehebung und einer damit einhergehenden Verletzung seines Integritätsinteresses einen<br />
(weiteren) Schaden in Höhe der Differenz zwischen dem Schadensbetrag bei fiktiver Schadensberechnung<br />
auf Reparaturkostenbasis und demjenigen auf Basis des Wiederbeschaffungsaufwands<br />
geltend machen möchte, so muss er vorab seiner Warnungspflicht nachkommen und den Schädiger<br />
bzw. dessen Versicherung auf diese drohenden Folgen hinweisen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 161/<strong>2020</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Private Krankenversicherung: Geheimhaltungsinteresse bei Prämienerhöhungen<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.2.<strong>2020</strong> – 12 W 24/19) • Im Rechtsstreit über Prämienerhöhungen in der<br />
privaten Krankenversicherung kann zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse des Krankenversicherers die<br />
Öffentlichkeit ausgeschlossen und die Geheimhaltung von Unterlagen über die technischen Berechnungsgrundlagen<br />
angeordnet werden (Anschluss an BGH, Urt. v. 9.12.2015 – IV ZR 272/15). Eine<br />
Geheimhaltungsanordnung gem. § 174 Abs. 3 GVG erstreckt sich nicht auf die im Verhandlungstermin<br />
nicht anwesende Partei. Dem im Verhandlungstermin anwesenden Prozessbevollmächtigten ist es<br />
aufgrund der Geheimhaltungsanordnung in diesem Fall untersagt, seinen Mandanten über den Inhalt<br />
der geheimzuhaltenden Schriftstücke zu informieren. Dies steht der Zulässigkeit einer Geheimhaltungsanordnung<br />
nicht entgegen. Eine Geheimhaltungsanordnung muss die geheimzuhaltenden Tatsachen<br />
oder Schriftstücke hinreichend genau bezeichnen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 162/<strong>2020</strong><br />
Familienrecht<br />
Zugewinnausgleichsverfahren: Wesentlicher Verfahrensmangel<br />
(OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.<strong>2020</strong> – 13 UF 127/17) • Eine Überraschungsentscheidung durch<br />
Verletzung der richterlichen Hinweispflicht nach § 139 Abs. 2 ZPO begründet einen wesentlichen<br />
Verfahrensmangel nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Auf mangelnde Substantiierung darf sich ein Gericht nie<br />
stützen, bevor auf die Ergänzungsbedürftigkeit des Sachvortrages hingewiesen worden ist. Insoweit ist<br />
nach § 139 Abs. 2 ZPO eine Erörterung unerlässlich, wenn Tatsachenvortrag, Beweisangebote oder<br />
Anträge unvollständig, unklar oder neben der Sache sind, es sei denn, die Partei war bereits durch<br />
eingehenden und von ihr erfassten Vortrag des Verfahrensgegners zutreffend über die Sach- und<br />
Rechtslage unterrichtet. Zur schlüssigen Darstellung eines Zugewinnausgleichsanspruchs aus § 1378<br />
BGB genügt regelmäßig die Bezifferung der beiderseitigen Endvermögen; diese stellen bei regelmäßig<br />
fehlenden Verzeichnissen der Anfangsvermögen nach § 1377 Abs. 3 BGB den jeweiligen Zugewinn der<br />
Ehegatten dar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 163/<strong>2020</strong><br />
338 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 43<br />
Nachlass-/Erbrecht<br />
Nacherbentestamentsvollstrecker: Entlassung<br />
(OLG München, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – 31 Wx 439/17) • Ist im Fall der Nacherbschaft ein Vermögensverzeichnis<br />
zu erstellen, so hat dies die im Nachlass befindlichen Vermögensgegenstände, nicht jedoch<br />
bloße Erinnerungsstücke ohne materiellen Wert oder Verbindlichkeiten zu umfassen. Ist den Nacherben<br />
der Umfang des Nachlasses bekannt und weiß der Nacherbentestamentsvollstrecker daher, dass im<br />
Nachlass keine Wertgegenstände vorhanden sind, die nicht im Nachlassverzeichnis aufgeführt sind,<br />
wäre es reiner Formalismus, würde vom Nacherbentestamentsvollstrecker dennoch verlangt, vom<br />
Vorerben eine über das Nachlassverzeichnis hinausgehende Auskunft anzufordern.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 164/<strong>2020</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Revisionszulassung: Entgegenwirken einer Gehörsverletzung<br />
(BGH, Beschl. v. 28.1.<strong>2020</strong> – VIII ZR 57/19) • Eine Zulassung der Revision wegen eines dem Berufungsgericht<br />
unterlaufenen Gehörsverstoßes kommt nicht in Betracht, wenn es der Beschwerdeführer<br />
versäumt hat, i.R.d. ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des<br />
Berufungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken (im Anschluss an BGH,<br />
Beschl. v. 17.3.2016 – IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699). Hierbei ist eine anwaltlich vertretene Partei auch<br />
gehalten, das Berufungsgericht auf von ihm bislang nicht beachtete höchstrichterliche Rechtsprechungsgrundsätze<br />
hinzuweisen (hier: Voraussetzungen einer Behauptung „ins Blaue hinein“ und eines<br />
„Ausforschungsbeweises“). Hinweis: Das Berufungsgericht hatte das Vorbringen des Klägers zum<br />
Vorhandensein einer oder mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen zu Unrecht als unbeachtliche<br />
Behauptungen „ins Blaue hinein“ gewertet und den hierfür angetretenen Sachverständigenbeweis nicht<br />
erhoben, obwohl ein solches Vorgehen im Prozessrecht keine Stütze findet. Schon als Referendar lernt<br />
man, dass der Anwalt den Sachverhalt vorträgt und das Gericht Recht findet. Offensichtlich brauchen<br />
manche Gerichte etwas Nachhilfe. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 165/<strong>2020</strong><br />
Richterablehnung: Grenzen einer Selbstentscheidung<br />
(VerfGH NRW, Beschl. v. 11.2.<strong>2020</strong> – VerfGH 32/19.VB-3) • Ein wegen Besorgnis der Befangenheit<br />
abgelehnter Richter in einem zivilgerichtlichen Verfahren kann über das Ablehnungsgesuch selbst<br />
entscheiden, wenn es wegen Rechtsmissbräuchlichkeit als offensichtlich unzulässig zu verwerfen ist. So<br />
verhält es sich, wenn das Ablehnungsgesuch offensichtlich lediglich dazu dient, das Verfahren zu<br />
verschleppen, oder verfahrensfremde Ziele verfolgt. Diese – gesetzlich nicht geregelte – Ausnahme von<br />
den Zuständigkeitsbestimmungen der Zivilprozessordnung gerät bei strenger Prüfung ihrer Voraussetzungen<br />
mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter nicht in Konflikt, soweit die Prüfung der<br />
Rechtsmissbräuchlichkeit keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt<br />
und deshalb keine echte Entscheidung in eigener Sache ist. Eine verfassungswidrige Entziehung<br />
des gesetzlichen Richters für das Ablehnungsverfahren kann nicht in jeder fehlerhaften Annahme eines<br />
abgelehnten Richters, über das Ablehnungsgesuch wegen offensichtlicher Unzulässigkeit selbst entscheiden<br />
zu dürfen, gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen<br />
Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind<br />
aber dann überschritten, wenn das Vorgehen des abgelehnten Richters im Einzelfall willkürlich oder<br />
offensichtlich unhaltbar ist oder die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des gesetzlichen<br />
Richters grundlegend verkennt. Der Verfassungsgerichtshof hegt Bedenken gegen die Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), nach der bei einer verfassungswidrigen Überschreitung der<br />
Grenzen der Selbstentscheidung durch den abgelehnten Richter das im Beschwerdeverfahren nach § 46<br />
Abs. 2 ZPO entscheidende Gericht diesen Verfassungsverstoß nur durch die Aufhebung der erstinstanzlichen<br />
Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache beheben kann (so namentlich BVerfG,<br />
Beschl. v. 14.11.20<strong>07</strong> – 2 BvR 1849/<strong>07</strong>). Hinweis: Der Verfassungsgerichtshof hat letztgenannte Bedenken<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 339
Fach 1, Seite 44 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
dahinstehen lassen, weil ihre abschließende Klärung im vorliegenden Einzelfall nicht erforderlich war.<br />
Eine bemerkenswerte Entscheidung, die aus anwaltlicher Sicht (endlich) in die richtige Richtung weist.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 166/<strong>2020</strong><br />
Vermeidung einer Kostentragungspflicht: Nachrichteneingang bei „WhatsApp“<br />
(LG Bonn, Urt. v. 31.1.<strong>2020</strong> – 17 O 323/19) • Zur Vermeidung einer Kostentragungspflicht gem. § 93 ZPO<br />
ist der Kläger vor Einreichung einer Antrags- oder Klageschrift auch verpflichtet, einen etwaigen<br />
Nachrichteneingang bei „WhatsApp“ zur Kenntnis zu nehmen und daraufhin zu kontrollieren, ob der<br />
Beklagte bereits anerkannt oder sich der geforderten Verpflichtung unterworfen hat. Haben die<br />
Parteien bereits im Vorfeld Kommunikationen über „WhatsApp“ geführt, ist es zulässig, dass weitere<br />
rechtserhebliche Erklärungen ebenfalls über diesen Kommunikationskanal abgegeben werden, soweit<br />
das Textformerfordernis ausreicht. Bei einer derart weit verbreiteten Applikation wie „WhatsApp“<br />
kann aus einer Phase ohne Kommunikation nicht der Schluss gezogen werden, der andere Teil habe<br />
diesen eröffneten Kommunikationskanal wieder aufgegeben. Gemäß § 291 ZPO ist als allgemein<br />
bekannt anzunehmen, dass bei der Anzeige von zwei blauen Haken die Nachricht auf dem Endgerät<br />
des Empfängers eingegangen und auch von diesem geöffnet worden ist. Insoweit kann offen bleiben,<br />
ob von dieser „WhatsApp“-Nachricht tatsächlich erst später Kenntnis genommen wurde. Hinweis: Die<br />
Entscheidung ist zwar im Einzelfall ergangen, hat über diesen hinaus jedoch große praktische<br />
Bedeutung, da auch im Rechtsverkehr zunehmend Messenger-Dienste zum Einsatz kommen, was im<br />
Hinblick auf das Empfängerrisiko nicht unerheblich ist. Sobald zwei blaue Haken bei „WhatsApp“<br />
gesetzt werden, gilt die Nachricht als gelesen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 167/<strong>2020</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Restschuldbefreiung: Antragsbefugnis für einen Versagungsantrag<br />
(BGH, Beschl. v. 13.2.<strong>2020</strong> – IX ZB 55/18) • Den Antrag, die Restschuldbefreiung zu versagen, wenn sich<br />
nach dem Schlusstermin herausstellt, dass ein Versagungsgrund nach § 290 Abs. 1 InsO vorgelegen hat,<br />
können nur Insolvenzgläubiger stellen, die sich durch Anmeldung ihrer Forderung am Insolvenzverfahren<br />
beteiligt haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 168/<strong>2020</strong><br />
Insolvenzanfechtung: Beteiligter an einem Anlagebetrug<br />
(LG Tübingen, Urt. v. 4.2.<strong>2020</strong> – 5 O 238/19) • Ist der Inhaber eines Anlagekontos beim Anlagebetrug<br />
abredewidrig nicht der Vertragspartner, sondern ein Dritter, so stellt eine Zahlung des Kontoinhabers an den<br />
geschädigten Anleger – jedenfalls bis zur Höhe des eingesetzten Betrags – die Erfüllung einer Verbindlichkeit<br />
nach § 812 BGB dar. Ist beim Anlagebetrug der Inhaber des Kontos, auf dem die Kundengelder abgewickelt<br />
werden, Teil des Betrugssystems, so erfolgen Zahlungen bis zur Höhe des deliktischen Schadenersatzanspruchs,<br />
d.h. regelmäßig mindestens bis zur Höhe des Anlagebetrags nebst Agio, auch zur Erfüllung<br />
deliktischer Verbindlichkeiten. Eine Unterscheidung zwischen Gewinnauszahlungen und Kapitalrückzahlungen<br />
i.R.d. Insolvenzanfechtung ist beim Anlagebetrug, begangen oder unterstützt durch den Gemeinschuldner,<br />
nicht vorzunehmen, da es schon von der Natur der Sache her überhaupt keine Gewinne gibt,<br />
sondern nur Scheingewinne als Mittel zur Verschleppung der Taterkennung oder zur Gewinnung neuer<br />
Opfer. Ein Schneeballsystem setzt begrifflich und gesetzmäßig voraus, dass jeder gewonnene Kunde oder<br />
Mitspieler seinerseits neue nachgeordnete Mitspieler sucht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 169/<strong>2020</strong><br />
Handels-/Gesellschaftsrecht<br />
Wiedereintragung einer KG: Nachtragsliquidation zur vollständigen Beendigung<br />
(KG, Beschl. v. 9.9.2019 – 22 W 93/17) • Ist die Beendigung einer Kommanditgesellschaft nach den §§ 157<br />
Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB in das Handelsregister eingetragen, ist die Gesellschaft auf eine Anmeldung hin<br />
wieder einzutragen, wenn die Wiedereintragung i.R.d. Nachtragsliquidation zur vollständigen Beendigung<br />
notwendig ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 170/<strong>2020</strong><br />
340 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 45<br />
Frachtsendung: Zwischenlagerung<br />
(LG Hamburg, Urt. v. 24.10.2019 – 4<strong>07</strong> HKO 23/19) • Die Zwischenlagerung einer Frachtsendung im<br />
Umschlagslager am Flughafen nach einem vorangegangenen Lufttransport unterfällt in jedem Fall noch<br />
dem Schutzbereich des Montrealer Übereinkommens. Dies gilt auch dann, wenn die Sendung von<br />
diesem Lager aus per Lkw zum Empfänger befördert werden soll. Denn die Obhutshaftung des<br />
Luftfrachtführers endet bzw. der nachfolgende Straßentransport beginnt erst mit dem Abschluss der<br />
Beladung des Lkw. Praxishinweis: Dem Montrealer Übereinkommen (MÜ) ist eine Haftungsdurchbrechung<br />
fremd (vgl. Art. 22 Abs. 3 MÜ). Insofern ist gerade bei der Nutzung verschiedenartiger<br />
Beförderungsmittel wichtig zu wissen, wo der Anwendungsbereich des Montrealer Übereinkommens<br />
beginnt bzw. endet. Das LG Hamburg legt dabei einen spediteur-/frachtführerfreundlichen Maßstab an,<br />
indem es – dem Wortlaut des MÜ entsprechend – dieses auf alle Tätigkeiten auf dem Flughafengelände<br />
anwendet. Dabei ist es nach Auffassung des Gerichts vollkommen egal, aus welchem Grund sich die<br />
Sendung dort befunden hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 171/<strong>2020</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber- und Medien-/Marken- und Wettbewerbsrecht<br />
Unionsmarkenstreitsache: Zuständigkeit des Unionsmarkengerichts<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 16.1.<strong>2020</strong> – 4 U 72/19) • Die Bestimmungen der Unionsmarkenverordnung über die<br />
Zuständigkeit der Unionsmarkengerichte sind dahin auszulegen, dass nur Unionsmarkengerichte<br />
Sachentscheidungen in Unionsmarkenstreitsachen treffen dürfen. Die Anwendung des § 513 Abs. 2<br />
ZPO darf nicht dazu führen, dass ein Berufungsgericht, das kein Unionsmarkengericht ist, eine<br />
Sachentscheidung in einer Unionsmarkenstreitsache trifft. § 513 Abs. 2 ZPO ist unionsrechtskonform in<br />
entsprechender Weise einschränkend auszulegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 172/<strong>2020</strong><br />
Sozialrecht<br />
Vertragsarztvergütung: Arztbezogene Plausibilitätsprüfung<br />
(SG Dresden, Beschl. v. 21.11.2019 – S 25 KA 147/19 ER) • Die Tages- und Quartalszeitprofile für<br />
Plausibilitätsprüfungen in Arztpraxen mit angestellten Ärzten sind arztbezogen, nicht praxisbezogen, zu<br />
bilden. Dies gilt auch für Prüfzeiträume vor dem Inkrafttreten der Richtlinien zum Inhalt und zur<br />
Durchführung der Prüfungen gem. § 106d Abs. 6 SGB V (Abrechnungsprüfungs-Richtlinien – AbrPrRL)<br />
v. 7.3.2018, soweit § 8 AbrPrRL nach § 22 Abs. 3 AbrPrRL rückwirkend auf Verfahren anzuwenden ist,<br />
die am 31.12.2014 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren. § 8 Abs. 3 der Richtlinien nach § 106a<br />
Abs. 2 SGB V in der bis zum 31.3.2018 geltenden Fassung v. 1.7.2008 ist insoweit nicht anzuwenden. Die<br />
Ausschlussfrist von zwei Jahren für den Erlass von Richtigstellungsbescheiden gem. § 106d Abs. 5 S. 3<br />
SGB V in der Fassung TSVG gilt nicht für Honorarrückforderungen, bei denen der Ausgangsbescheid<br />
noch vor dem Inkrafttreten der Neuregelung am 11.5.2019 bekannt gegeben wurde und damit noch einer<br />
Ausschlussfrist von vier Jahren unterlag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 173/<strong>2020</strong><br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung: Unvereinbarkeit mit dem GG<br />
(BVerfG, Urt. v. 26.2.<strong>2020</strong> – 2 BvR 2347/15) • Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.<br />
Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.<br />
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die<br />
Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und<br />
Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer<br />
Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen,<br />
umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in<br />
Anspruch zu nehmen. Auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung<br />
entfalten, können Grundrechte beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 341
Fach 1, Seite 46 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
gerechtfertigt sein. Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />
Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig<br />
angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der<br />
Selbsttötung ist am Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit zu messen. Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist<br />
zu berücksichtigen, dass die Regelung der assistierten Selbsttötung sich in einem Spannungsfeld<br />
unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Schutzaspekte bewegt. Die Achtung vor dem grundlegenden,<br />
auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener<br />
Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt<br />
in Kollision zu der Pflicht des Staats, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe<br />
Rechtsgut Leben zu schützen. Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben<br />
beimisst, ist grds. geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu<br />
rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der<br />
Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu<br />
freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung<br />
der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem<br />
solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich<br />
geschützten Freiheit verbleibt. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 174/<strong>2020</strong><br />
Rechtsreferendarinnen: Kopftuchverbot<br />
(BVerfG, Beschl. v. 14.1.<strong>2020</strong> – 2 BvR 1333/17) • Die Rechtsreferendarinnen und -referendaren auferlegte<br />
Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentanten des Staats wahrgenommen werden oder<br />
wahrgenommen werden könnten, die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht<br />
durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in<br />
die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Als mit der Glaubensfreiheit<br />
in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden<br />
Zusammenhang rechtfertigen können, kommen der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität<br />
des Staats, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit<br />
der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Keine rechtfertigende<br />
Kraft entfalten dagegen das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und der Gedanke der Sicherung des<br />
weltanschaulich-religiösen Friedens. Die Verpflichtung des Staats auf Neutralität kann keine andere<br />
sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität, denn der Staat kann nur durch Personen<br />
handeln. Allerdings muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private<br />
Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. Eine Zurechnung kommt aber<br />
insb. dann in Betracht, wenn der Staat – wie im Bereich der Justiz – auf das äußere Gepräge einer<br />
Amtshandlung besonderen Einfluss nimmt. Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zählt zu den<br />
Grundbedingungen des Rechtsstaats und ist im Wertesystem des Grundgesetzes fest verankert, da<br />
jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der Grundrechte dient. Funktionsfähigkeit setzt voraus,<br />
dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die<br />
Justiz insgesamt existiert. Ein „absolutes Vertrauen“ in der gesamten Bevölkerung wird zwar nicht zu<br />
erreichen sein. Dem Staat kommt aber die Aufgabe der Optimierung zu. Hinweis: Vgl. dazu RÖDEL, Das<br />
Kopftuch als religiöses Symbol im öffentlichen Raum. Überblick über die neuere Rechtsprechung und<br />
Literatur, <strong>ZAP</strong> F. 19 R, S.393–398, insb. zum Kopftuchverbot für Rechtsanwältinnen und (ehrenamtliche)<br />
Richterinnen. Zu begrüßen ist auf jeden Fall die eindeutige Begründung der BVerfG-Entscheidung,<br />
die sich auch auf andere Bereiche im öffentlichen Raum übertragen lassen wird.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 175/<strong>2020</strong><br />
Verfassungsbeschwerdeverfahren: Antrag auf Wertfestsetzung<br />
(BVerfG, Beschl. v. 21.1.<strong>2020</strong> – 1 BvR 1867/17) • Gemäß § 37 Abs. 2 S. 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert<br />
im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 5.000 €. Ein höherer Gegenstandswert<br />
kommt in Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder<br />
zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 79, 365, 369). Ist deshalb vom<br />
Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstands-<br />
342 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 47<br />
wertes kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.5.1999 – 2 BvR 1790/94, NJW 2000, 1399).<br />
Hinweis: Diese wenig anwaltfreundliche Entscheidung ist abzulehnen, da sie an der Wirklichkeit<br />
vorbeigeht. Für Gebühren aus einem Gegenstandswert von 5.000 € lässt sich der Zeit- und Arbeitsaufwand<br />
für das Abfassen einer Verfassungsbeschwerde nicht ansatzweise rechtfertigen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 176/<strong>2020</strong><br />
Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheids: Reichweite der Rechtskraft<br />
(OVG Hamburg, Beschl. v. 3.2.<strong>2020</strong> – 5 Bf 228/18.Z) • Anders als bei einem Bescheidungsurteil erstreckt<br />
sich bei einem Urteil, mit dem die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts festgestellt wird, die<br />
Rechtskraft nicht auf die Entscheidungsgründe (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 18.7.2013 – 5 C 8/12,<br />
juris Rn 15). Gegenstand der materiellen Rechtskraft eines Urteils, das einem Begehren nach § 113 Abs. 1<br />
S. 4 VwGO stattgibt, ist die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Für einen späteren Prozess<br />
entfaltet ein solches Urteil präjudizielle Bindungswirkung, wenn die rechtskräftig entschiedene Frage<br />
vorgreiflich für die Beurteilung des zur Entscheidung stehenden Rechtsverhältnisses ist (im Anschluss<br />
an BVerwG, Urt. v. 31.1.2002 – 2 C 7/01, juris Rn 13 ff.). Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines<br />
Bescheids, mit dem Fördermittel für ein bestimmtes Forschungsvorhaben für einen bestimmten<br />
Zeitraum versagt wurden, entfaltet keine Bindungswirkung bezüglich der Behandlung zukünftiger<br />
Anträge für andere, wenn auch vergleichbare Ausschreibungen von Fördermitteln. Die Zulassung der<br />
Berufung kommt nicht in Betracht, wenn das Verwaltungsgericht seine Feststellung, der Verwaltungsakt<br />
sei rechtswidrig gewesen, auf mehrere selbstständig tragende Gründe gestützt und<br />
die Beklagte die Zulassungsgründe nicht wegen eines jeden die Entscheidung tragenden Grundes<br />
dargelegt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 177/<strong>2020</strong><br />
Steuerrecht<br />
Schenkungsteuer: Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
(BFH, Urt. v. 6.11.2019 – II R 34/16) • Die Begünstigung von Betriebsvermögen nach § 13a ErbStG i.d.F.<br />
des Jahres 20<strong>07</strong> setzt voraus, dass der Gegenstand des Erwerbs bei dem bisherigen Rechtsträger<br />
Betriebsvermögen war und bei dem neuen Rechtsträger Betriebsvermögen wird. Ist Gegenstand des<br />
Erwerbs eine Beteiligung an einer Personengesellschaft, muss der Erwerber Mitunternehmer werden.<br />
Der Eigentümer eines nießbrauchbelasteten Kommanditanteils kann Mitunternehmer sein. Die Übertragung<br />
der Steuerberechnung auf das Finanzamt im Tenor der finanzgerichtlichen Entscheidung<br />
setzt voraus, dass dem Finanzamt nur noch die Berechnung der Steuer verbleibt. Wertungs-,<br />
Beurteilungs- oder Entscheidungsspielräume sind unzulässig. Ein Zuwarten auf eine gesonderte<br />
Feststellung geht über die Steuerberechnung hinaus. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 178/<strong>2020</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />
Einspruchsverwerfung: Abwesenheit des Verteidigers<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.1.<strong>2020</strong> – 3 Rb 32 Ss 983/19) • Der Umstand, dass auch der Verteidiger des<br />
von der Anwesenheitspflicht entbundenen Betroffenen der Hauptverhandlung ferngeblieben ist, rechtfertigt<br />
den Erlass eines Verwerfungsurteils nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 179/<strong>2020</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Übernachtungskosten: Erforderlichkeit<br />
(LG Memmingen, Beschl. v. 20.1.<strong>2020</strong> – 34 O 1272/16) • Übernachtungskosten nach Nr. 7006 VV RVG<br />
sind zu erstatten, wenn diese angemessen sind. Dies ist regelmäßig dann gegeben, wenn die Übernachtung<br />
zweckmäßig, oder aber, wenn Hin- und Rückreise am selben Tag nicht möglich oder nicht<br />
zumutbar sind. Dies ist in Anlehnung an § 758a Abs. 4 ZPO dann anzunehmen, wenn die Hin- und<br />
Rückreise nicht im Zeitfenster von 6 Uhr bis 21 Uhr erfolgen können. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 180/<strong>2020</strong><br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 343
Fach 1, Seite 48 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
Terminvertreter: Erstattungsfähigkeit einer Pauschalvergütung<br />
(OLG Hamm, Beschl. v. 15.10.2019 – 25 W 242/19) • Wenn ein Rechtsanwalt einen Terminvertreter<br />
beauftragt, sind die dadurch entstehenden (Mehr-)Kosten im Kostenfestsetzungsverfahren nicht zu<br />
berücksichtigen. Hinweis: Dies ist wieder eine wenig anwaltfreundliche und auch realitätsferne<br />
Entscheidung. Im Streitfall ging es um Kosten von 200 € brutto, die der Terminvertreter in Rechnung<br />
gestellt hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 181/<strong>2020</strong><br />
EU-Recht/IPR<br />
Zeichenanmeldung: „Fack Ju Göhte“<br />
(EuGH, Urt. v. 27.2.<strong>2020</strong> – C-240/18 P) • Das Amt der Europäischen Union für Geistiges Eigentum<br />
(EUIPO) muss erneut über das von der Constantin Film Produktion GmbH als Unionsmarke angemeldete<br />
Zeichen „Fack Ju Göhte“ entscheiden. Das EUIPO und das Gericht, die das Zeichen für<br />
sittenwidrig hielten, haben nicht hinreichend berücksichtigt, dass dieser Titel einer Filmkomödie von der<br />
deutschsprachigen breiten Öffentlichkeit offenbar nicht als moralisch verwerflich wahrgenommen<br />
wurde. Hinweis: Nach Auffassung des EUIPO erkennen die deutschsprachigen Verkehrskreise in den<br />
Wörtern „Fack Ju“ den (lautschriftlich ins Deutsche übertragenen) vulgären und anstößigen englischen<br />
Ausdruck „Fuck you“. Durch die Hinzufügung des Elements „Göhte“ (mit dem der Name des deutschen<br />
Dichters Goethe lautschriftlich übertragen werde) könne die Wahrnehmung der Beleidigung „Fack Ju“<br />
nicht wesentlich abgeändert werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 182/<strong>2020</strong><br />
Entzug einer Bankzulassung: Anglo Austrian AAB Bank<br />
(EuGH, Beschl. v. 7.2.<strong>2020</strong> – T-797/19 R) • Da die Anglo Austrian AAB Bank ihre Abwicklung bereits<br />
selbst beschlossen hatte, bevor die Europäische Zentralbank (EZB) ihr die Bankzulassung entzog, ist<br />
es ihr nicht gelungen, darzutun, dass ihr durch diesen Entzug ein schwerer und nicht wiedergutzumachender<br />
Schaden droht. Hinweis: Mit Beschluss vom 14.11.2019 entzog die EZB der österreichischen<br />
Privatbank Anglo Austrian AAB Bank ihre Bankzulassung. Dieser Beschluss ging auf einen<br />
Vorschlag der österreichischen Finanzmarktaufsichtsbehörde zurück, die zuvor schon zahlreiche<br />
aufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen die AAB Bank getroffen hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 183/<strong>2020</strong><br />
Inverkehrbringen von Arzneimitteln: Zugang zu Dokumenten<br />
(EuGH, Urt. v. 22.1.<strong>2020</strong> – C-175/18 P u. C-178/18 P) • Der Europäische Gerichtshof bestätigt das Recht<br />
auf Zugang zu Dokumenten, die in den Akten zu einem Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen<br />
von Arzneimitteln enthalten sind. Ein Widerspruch gegen einen solchen Zugang muss<br />
Erläuterungen zu Art, Gegenstand und Tragweite der Daten enthalten, deren Verbreitung geschäftliche<br />
Interessen beeinträchtigen würde. Hinweis: Streitgegenständlich waren Berichte über toxikologische<br />
Prüfungen und ein Bericht über eine klinische Prüfung, die von den Rechtsmittelführerinnen im<br />
Rahmen ihrer Anträge auf Genehmigung für das Inverkehrbringen zweier Arzneimittel – eines davon<br />
ein Humanarzneimittel (Az. C-175/18 P), das andere ein Tierarzneimittel (Az. C-178/18 P) – vorgelegt<br />
worden waren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 184/<strong>2020</strong><br />
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344 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1571<br />
Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />
Familienrecht<br />
Unterhaltsrecht<br />
Die Bedeutung des Angehörigen-Entlastungsgesetzes für den Elternunterhalt<br />
Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weitere Aufsicht führender Richter am RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />
Mit dem zum 1.1.<strong>2020</strong> in Kraft getretenen „Gesetz zur Entlastung unterhaltsverpflichteter Angehöriger<br />
in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe vom 10.12.2019“ (Angehörigen-Entlastungsgesetz,<br />
BGBl. I 2019, S. 2135) – einem sozialpolitischen Reformgesetz – hat der Gesetzgeber eine Reihe von<br />
Problemen geregelt, die Bedeutung für den Elternunterhalt haben.<br />
Inhalt<br />
I. Bedeutung für den Elternunterhalt<br />
II. Keine Anwendung auf den Ehegattenunterhalt<br />
III. Keine Änderung des Unterhaltsrechts<br />
I. Bedeutung für den Elternunterhalt<br />
Viele Seniorinnen und Senioren leben in Alters- und Pflegeheimen. Da die eigene Rente in aller Regel<br />
nicht ausreicht, um die Kosten zu decken, müssen die Sozialämter einspringen, die aber versuchen, das<br />
Geld von den unterhaltspflichtigen Kindern zurückzuholen.<br />
Verwandte ersten Grades schulden einander gem. §§ 1601 ff. BGB Unterhalt. Dieser Unterhaltsanspruch<br />
ist ein wechselseitiger. Es können also nicht nur Kinder von ihren Eltern Unterhalt beanspruchen,<br />
sondern auch umgekehrt die Eltern von ihren Kindern, wenn sie ihren Bedarf aus ihren Einkünften nicht<br />
decken können („Elternunterhalt“; ausführlich DOERING-STRIENING, Elternunterhalt und der Rückgriff des<br />
Sozialhilfeträgers, 2018; HAUß, Elternunterhalt, 5. Aufl. 2015).<br />
In der familienrechtlichen Praxis spielte dieser Elternunterhalt in der Vergangenheit eine immer größere<br />
Rolle.<br />
Die Notwendigkeit der Unterbringung in einem Heim ist immer dann gegeben, wenn dem alten<br />
Menschen die Selbstversorgung in einer eigenen Wohnung nicht mehr möglich ist (OLG Oldenburg<br />
FamRZ 2010, 991). Dies wird durch Zuerkennung einer Pflegestufe bzw. eines Pflegegrads indiziert<br />
(HAUß, FamRZ 2013, 206, 2<strong>07</strong>).<br />
Dann bestimmt sich der Unterhaltsbedarf des Elternteils durch seine Unterbringung im Heim und deckt<br />
sich mit den dort anfallenden notwendigen Kosten (BGH, Beschl. v. 27.4.2016 – XII ZB 485/14, NJW 2016,<br />
2122; BGH, Beschl. v. 17.6.2015 – XII ZB 458/14, FamRZ 2015, 1594, BORTH, FamRZ 2015, 1599; s.a. OLG Celle,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 345
Fach 11, Seite 1572<br />
Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />
Familienrecht<br />
Beschl. v. 20.10.2015 – 18 UF 5/15, FamRZ 2016, 825). Weiter steht dem Elternteil ein Anspruch auf ein<br />
Taschengeld in Form der sozialrechtlich gewährten Barbeträge zu, also des angemessenen Barbetrags<br />
nach § 35 Abs. 2 S. 1 SGB XII (BGH, Urt. v. 21.10.2012 – XII ZR 150/10, FamRZ 2013, 203; BGH, Beschl.<br />
v. 17.6.2015 – XII ZB 458/14, FamRZ 2015, 1594 mit Anm. BORTH; BGH, Beschl. v. 27.4.2016 – XII ZB 485/14,<br />
NJW 2016, 2122) sowie des Zusatzbarbetrags nach § 133a SGB XII (BGH, Urt. v. 28.7.2010 – XII ZR 140/<strong>07</strong>,<br />
FamRZ 2010, 1535). Denn der in einem Heim lebende Elternteil muss auch für seine persönlichen, von<br />
den Leistungen der Einrichtung nicht umfassten Bedürfnisse Geld zur Verfügung haben, denn sonst<br />
könnte er nicht etwa Aufwendungen für Körper- und Kleiderpflege, Zeitschriften und Schreibmaterial<br />
und sonstige Kleinigkeiten des täglichen Lebens bezahlen (BGH BGHZ 186, 350 = FamRZ 2010, 1535<br />
Rn 16; BGH, Urt. v. 7.7.2004 – XII ZR 272/02, FamRZ 2004, 1370; Urt. v. 15.10.2003 – XII ZR 122/00, FamRZ<br />
2004, 366, 369 m.w.N).<br />
Voraussetzung eines Anspruchs auf Elternunterhalt ist weiter, dass der im Heim lebende Elternteil<br />
seinen Bedarf nicht aus eigenen Mitteln decken kann. Folglich ist eigenes Einkommen des unterhaltsberechtigten<br />
Elternteils (Rente, Pension, Leistungen der Pflegeversicherung, ggf. Leistungen der<br />
Grundsicherung) zwar anzurechnen, genügt aber vielfach nicht, um diese regelmäßig anfallenden und<br />
recht hohen Kosten abzudecken.<br />
Auch vorhandenes Vermögen muss der Elternteil einsetzen, um die Kosten zu decken – bis das<br />
Vermögen verbraucht ist. In der Praxis kann auch die Schenkungsanfechtung eine Rolle spielen, wenn<br />
in der Vergangenheit Vermögen an Dritte verschenkt worden ist (hierzu BGH, Beschl. v. 20.2.2019 –<br />
XII ZB 364/18, NJW 2019, 1<strong>07</strong>4).<br />
Reichen Einkünfte und Vermögen des Elternteils nicht aus, die Heimkosten zu decken, muss der<br />
Sozialleistungsträger einspringen und den unterhaltsrechtlichen Bedarf decken. Dann aber geht<br />
regelmäßig der vorhandene Anspruch auf Elternunterhalt gegen ein oder mehrere gem. § 1606 Abs. 3<br />
S. 1 BGB als Teilschuldner nach Maßgabe ihrer Erwerbs- und Vermögensverhältnisse (vgl. BGH, Urt.<br />
v. 25.6.2003 – XII ZR 63/00, FamRZ 2004, 186) haftende Kinder des pflegebedürftigen Elternteils auf den<br />
Sozialleistungsträger über. Sind mehrere Kinder vorhanden, haften diese ggf. anteilig.<br />
Hier setzt das Angehörigen-Entlastungsgesetz ein. Die bisherigen Regelungen haben die sozialpolitische<br />
Frage, ob der Staat (und damit die Allgemeinheit) oder die Kinder für die Kosten pflegebedürftiger<br />
Menschen aufkommen müssen, zulasten der Kinder geregelt. Jetzt wird zumindest für<br />
die meisten zukünftigen Fälle die Frage zulasten des Staates entschieden. Denn dieser Anspruchsübergang<br />
auf den Sozialleistungsträger wird eingeschränkt auf diejenigen Fälle, in denen das unterhaltspflichtige<br />
Kind ein jährliches Bruttoeinkommen von 100.000 € oder mehr erzielt (§ 94 Abs. 1a<br />
SGB XII). Mit dieser Einkommensgrenze wird das gesamte Jahresbruttoeinkommen erfasst, so<br />
dass auch sonstige Einnahmen z.B. aus Vermietung, Verpachtung oder Wertpapierhandel als Einkommen<br />
im Sinne dieser 100.000 Euro-Grenze einbezogen werden müssen (zu den Detailfragen<br />
des Gesetzes s. DOERING-STRIENING/HAUß/SCHÜRMANN, FamRZ <strong>2020</strong>, 137; SCHÜRMANN, FF <strong>2020</strong>, 48; HAUß,<br />
FamRB <strong>2020</strong>, 76).<br />
Dabei wird vermutet, dass das Einkommen der unterhaltsverpflichteten Personen die Jahreseinkommensgrenze<br />
nicht überschreitet (§ 94 Abs. 1a S. 3 SGB XII). Folglich entfällt der Unterhaltsrückgriff des<br />
Sozialhilfeträgers bis zu einem Jahreseinkommen von 100.000 € automatisch. Vorhandenes Vermögen<br />
bleibt unberücksichtigt.<br />
Das Angehörigen-Entlastungsgesetz gilt für Unterhaltsansprüche, die seit dem 1.1.<strong>2020</strong> entstanden sind.<br />
Eine rückwirkende Anwendung der Regelungen erfolgt nicht. Daher können vom Sozialhilfeträger<br />
Ansprüche auf Elternunterhalt aus dem Zeitraum bis zum 31.12.2019 weiterhin ohne diese Einschränkungen<br />
durchgesetzt werden.<br />
346 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1573<br />
Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />
Verfügt der Sozialleistungsträger über einen Titel über aktuell laufenden und zukünftigen Unterhalt, so<br />
sind Aktivitäten des darin verpflichteten Kindes erforderlich, um eine weitere Vollstreckung von<br />
Ansprüchen über den 1.1.<strong>2020</strong> hinausgehend zu verhindern. Denn der Wegfall der Berechtigung infolge<br />
der für diesen Zeitraum nicht mehr greifenden Überleitung führt nicht zur automatischen Auflösung des<br />
Titels. Daher ist es zu empfehlen, dass der Unterhaltspflichtige den Leistungsträger umgehend zu<br />
einem Verzicht auf die Rechte aus diesem Titel und ggf. zur Herausgabe des Titels auffordert.<br />
Kommt der Sozialleistungsträger einer solchen Aufforderung nicht nach, ist ein gerichtliches Verfahren<br />
auf Abänderung des Unterhaltstitels der richtige Weg, die Aufhebung des Titels ab 1.1.<strong>2020</strong> zu<br />
erreichen. Bei einem gerichtlichen Titel handelt es sich um ein Abänderungsverfahren nach § 238<br />
FamFG, bei einer Unterhaltsvereinbarung oder bei einer einseitigen notariellen Unterhaltsverpflichtung<br />
um ein Verfahren nach § 239 FamFG. Der sachliche Grund für das Abänderungsbegehren ist die<br />
nachträgliche Änderung des Gesetzes. Der Abänderungsantrag des zu Unterhalt verpflichteten Kindes<br />
ist dann in den einschlägigen Fällen allein aufgrund dieser Gesetzesänderung begründet.<br />
Ein verfahrensrechtliches Risiko sollte nicht übersehen werden. Fehlt es an einem vorgerichtlichen<br />
Verzichtsverlangen, kann der Träger der Sozialleistungen im gerichtlichen Verfahren den Anspruch<br />
sofort anerkennen mit der Folge, dass die Verfahrenskosten dem Kind als Antragsteller des Abänderungsverfahrens<br />
auferlegt werden, da der Antragsgegner keine Veranlassung zur Einleitung eines<br />
gerichtlichen Verfahrens gegeben hat (§ 243 S. 2 Nr. 4 FamFG). Ein solches Risiko besteht auch, wenn<br />
zuvor dem auf Unterhalt in Anspruch genommenen Kind als Antragsteller des Abänderungsverfahrens<br />
Verfahrenskostenhilfe bewilligt worden ist, denn die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe schützt<br />
nicht vor der Zahlungspflicht für die Kosten der Gegenseite.<br />
II. Keine Anwendung auf den Ehegattenunterhalt<br />
Auf Fälle des Ehegattenunterhalts findet das Gesetz keine Anwendung.<br />
Lebt also ein pflegebedürftiger Ehegatte im Pflegeheim (dazu BGH, Beschl. v. 27.4.2016 – XII ZB 485/14,<br />
NJW 2016, 2122; s.a. OLG Celle, Beschl. v. 20.10.2015 – 18 UF 5/15, FamRZ 2016, 825) oder in einer<br />
Einrichtung des betreuten Wohnens (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.6. 2017 – 6 WF 105/17, FuR 2018, 98),<br />
so steht ihm ein Unterhaltsanspruch gegen seinen Ehegatten zu. Es handelt sich dabei um einen Fall des<br />
konkreten Bedarfs, bei dem sich der Bedarf des Ehegatten nicht nach einer Quote des Familieneinkommens<br />
bemisst, sondern konkret nach den anfallenden Heimkosten. Wird also in diesen Fällen der<br />
Bedarf des Heimbewohners vom Sozialamt gedeckt, geht der Unterhaltsanspruch weiterhin über und<br />
kann gegen den Ehegatten geltend gemacht werden, der sich seinerseits nur auf seinen Selbstbehalt<br />
nach der Düsseldorfer Tabelle berufen kann. Dieser beträgt seit dem 1.1.<strong>2020</strong> bei einem erwerbstätigen<br />
Ehegatten 1.280 € und bei einem nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen (Rentner) 1.180 €.<br />
III. Keine Änderung des Unterhaltsrechts<br />
Das Angehörigen-Entlastungsgesetz greift auch nicht in das Unterhaltsrecht selbst ein, sondern betrifft<br />
allein den sozialrechtlichen Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialleistungen. Erfolgt also kein<br />
Übergang des Elternunterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger, kann der pflegebedürftige Elternteil<br />
weiterhin sein Kind auch dann selbst in Anspruch auf Unterhalt nehmen, wenn es weniger als 100.000 €<br />
im Jahr verdient.<br />
Bei der Bemessung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit des auf Zahlung in Anspruch genommenen<br />
Kindes sind dann dessen eigener Selbstbehalt von 2.000 € und ggf. derjenige seines Ehegatten<br />
von weiteren 1.600 € einzubeziehen, die in der Düsseldorfer Tabelle festgelegt sind. Allerdings konnte<br />
die Neuregelungen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes noch nicht in die Selbstbehaltsätze der zum<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 347
Fach 11, Seite 1574<br />
Elternunterhalt: Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />
Familienrecht<br />
1.1.<strong>2020</strong> geltenden Düsseldorfer Tabelle eingearbeitet werden. Hier ist noch eine Korrektur erforderlich,<br />
um nicht mehr sachlich zu begründende Verwerfungen zu vermeiden (SCHÜRMANN, FF <strong>2020</strong>, 48).<br />
Hierzu zwei Berechnungsbeispiele:<br />
Aus der Jahres-Einkommensgrenze des Angehörigen-Entlastungsgesetzes von 100.000 € brutto ergibt<br />
sich ein monatliches Bruttoeinkommen von 8.333 €. Dies entspricht überschlägig einem Nettoeinkommen<br />
von 5.000 € monatlich.<br />
Übersteigt das monatliche Nettoeinkommen des unterhaltspflichtigen Kindes diesen Grenzbetrag von<br />
5.000 € nicht, besteht kein übergeleiteter Unterhaltsanspruch des Sozialleistungsträgers gegen das<br />
unterhaltspflichtige Kind. Ist dessen Einkommen aber nur geringfügig höher, ist der Unterhaltsanspruch<br />
auf den Sozialleistungsträger übergegangen und berechnet sich wie folgt:<br />
Fall 1:<br />
Einkommen des ledigen unterhaltspflichtigen Kindes 5.010,00 €<br />
abzgl. des eigenen Selbstbehalts des Kindes - 2.000,00 €<br />
verbleibende unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Kindes 3.010,00 €<br />
i.H.d. Hälfte dieses Betrags besteht der Unterhaltsanspruch (BGH, Urt. v. 28.7.2010 – XII ZR 140/<strong>07</strong>, 1.505,00 €<br />
NJW 2010, 3161 = FamRZ 2010, 1535), also i.H.v.:<br />
Fall 2:<br />
Einkommen des verheirateten unterhaltspflichtigen Kindes 5.010,00 €<br />
abzgl. des eigenen Selbstbehalts des Kindes - 2.000,00 €<br />
abzgl. des Selbstbehalts des Ehegatten des Kindes - 1.600,00 €<br />
verbleibende unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Kindes 1.410,00 €<br />
i.H.d. Hälfte dieses Betrags besteht der Unterhaltsanspruch, also i.H.v.: 705,00 €<br />
Die in den Fallbeispielen aufgezeigte Diskrepanz ist sachlich nicht zu begründen. Folglich müssen die<br />
Selbstbehaltsätze des Elternunterhalts in entsprechender Höhe ebenfalls angepasst werden. Denn nur<br />
so kann vermieden werden, dass es bei geringfügiger Überschreitung der Einkommensgrenze von<br />
100.000 € brutto jährlich zu unangemessenen Ergebnissen kommt. Denn der Zweck des Gesetzes,<br />
Familien wirksam zu entlasten und den Familienfrieden zu wahren, darf nicht dadurch in sein<br />
Gegenteil verkehrt werden, dass bei einem nur geringfügig höheren Einkommen des in Anspruch<br />
genommenen Kindes von diesem ein deutlich höherer Unterhaltsbetrag verlangt wird und damit nur<br />
ein geringerer Betrag für die eigene Lebensführung verbleibt als einem Pflichtigen mit geringerem<br />
Einkommen.<br />
348 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 385<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Erbrecht<br />
Stiftung und Nachlassrecht in der anwaltlichen Praxis<br />
Von Rechtsanwalt Dr. LUTZ FÖRSTER, Brühl, unter Mitwirkung von Rechtsreferendar DENNIS FAST, Brühl<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Stiftungsformen<br />
1. Rechtsfähige (selbstständige) Stiftung<br />
2. Nichtrechtsfähige (unselbstständige)<br />
Stiftung<br />
III. Stiftungserrichtung mit anwaltlicher Hilfe<br />
1. Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung<br />
2. Errichtung einer nichtrechtsfähigen<br />
Stiftung<br />
IV. Erbrechtliche Gestaltungsmittel<br />
1. Rechtsfähige Stiftung<br />
2. Nichtrechtsfähige Stiftung<br />
3. Vermögenszuwendung durch<br />
letztwillige Verfügung<br />
V. Steuerliche Aspekte<br />
1. Steuervorteile für die Stiftung<br />
2. Steuervorteile des Stifters und<br />
Zuwendungsgebers<br />
VI. Fazit<br />
I. Einleitung<br />
Die Errichtung einer eigenen Stiftung hat in den letzten Jahren an Beliebtheit stark zugenommen. Mit der<br />
Errichtung einer Stiftung kann der Stifter einen von ihm bestimmten Zweck fördern und über sein eigenes<br />
Ableben hinaus Gutes tun. Gemäß einer aktuellen Erhebung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen<br />
beträgt die Anzahl an rechtfähigen Stiftungen in Deutschland heute 22.743 Stiftungen, wovon im Jahre<br />
2018 allein 554 Stiftungen neu errichtet worden sind. Hierbei beträgt das in den Stiftungen gebundene<br />
Kapital ca. 68 Milliarden Euro. 95 % der rechtsfähigen Stiftungen verfolgen gemeinnützige Zwecke<br />
(Erhebungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, abrufbar unter: https://www.stiftungen.org/de/<br />
stiftungen/zahlen-und-daten/statistiken.html).<br />
Die Stiftungsberatung hat als Rechtsgebiet in der anwaltlichen Beratung im Stiftungsrecht und Erbrecht<br />
an Bedeutung gewonnen. Ein Rechtsanwalt oder Notar kann den potenziellen Stifter beratend unterstützen<br />
und den Stifterwillen praktisch für die Ewigkeit umsetzen. Vor dessen Umsetzung muss der<br />
Rechtsanwalt oder Notar dem Stifter die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen und<br />
bei der Errichtung die gesetzlichen Mindestvoraussetzungen einhalten. Hierzu soll der Beitrag einen<br />
ersten Überblick über die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die einzuhaltenden Mindestvoraussetzungen<br />
sowie die erbrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten geben.<br />
II. Stiftungsformen<br />
Am Anfang steht die Überlegung, in welcher Stiftungsform die Stiftung errichtet werden soll. Der potenzielle<br />
Stifter hat eine Wahlmöglichkeit zwischen einer rechtsfähigen oder einer nichtrechtsfähigen Stiftung, die<br />
er zu Lebzeiten oder durch Verfügung von Todes wegen errichten kann. Der Rechtsanwalt hat dem Mandanten<br />
zunächst diese Wahlmöglichkeit aufzuzeigen, wobei er die finanziellen Mittel und Bedürfnisse<br />
des Mandanten zu berücksichtigen hat sowie die Vor- und Nachteile der jeweiligen Stiftungsform benennt.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 349
Fach 12, Seite 386<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
1. Rechtsfähige (selbstständige) Stiftung<br />
Die Stiftung ist in ihrer Grundform eine wertneutrale, steuerpflichtige selbstständige juristische Person<br />
des Privatrechts, die auch gemeinnützig i.S.d. §§ 53 ff. Abgabenordnung (AO) sein kann. Die rechtsfähige<br />
Stiftung ist auf die Ewigkeit angelegt und muss von der zuständigen Stiftungsbehörde anerkannt<br />
werden. Hierfür muss die Stiftung bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllen, §§ 80 ff. Bürgerliches<br />
Gesetzbuch (BGB). Die rechtsfähige Stiftung untersteht einer staatlichen Aufsicht, die die Einhaltung<br />
und Umsetzung der vom Stifter festgelegten Stiftungszwecke kontrolliert.<br />
Mit der Errichtung einer gemeinnützigen rechtsfähigen Stiftung kann sich der Stifter sozial engagieren<br />
und Gutes tun. Eine Stiftung verfolgt gem. § 52 Abs. 1 AO gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätigkeit<br />
darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu<br />
fördern. Ein Katalog mit gemeinnützigen Zwecken, die der Stifter verfolgen kann, enthält § 52 Abs. 2 AO.<br />
Hierzu gehören beispielweise:<br />
• die Förderung von Wissenschaft und Forschung,<br />
• die Förderung der Religion,<br />
• die Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und der öffentlichen Gesundheitspflege, insb. die<br />
Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten,<br />
• die Förderung der Jugend- und Altenhilfe,<br />
• die Förderung von Kunst und Kultur.<br />
Neben dem sozialen Engagement bietet eine gemeinnützige Stiftung unter Einhaltung der Vorgaben der<br />
§§ 52 ff. AOsteuerliche Begünstigungen für die Stiftung und den Stifter. Die gemeinnützige Stiftung<br />
unterliegt nicht der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Die Einkommensteuer beim Stifter kann<br />
gemindert werden (s. hierzu V).<br />
Die gemeinnützige rechtsfähige Stiftung ist von der privatnützigen Stiftung zu unterscheiden. Eine<br />
privatnützige Stiftung dient nicht einem gemeinnützigen Zweck. Gemäß § 52 Abs. 1 S. 2 AO liegt eine<br />
Gemeinnützigkeit nicht vor, wenn der Kreis der Personen, dem die Förderung zugutekommt, fest<br />
abgeschlossen ist, z.B. Zugehörigkeit zu einer Familie oder zur Belegschaft eines Unternehmens. Die<br />
sog. Familienstiftung – ein Unterfall der rechtsfähigen Stiftung – ist beispielweise eine privatnützige<br />
Stiftung. Die Familienstiftung dient dem langfristigen Erhalt des Familienvermögens und der Versorgung<br />
von Familienmitgliedern. Eine Zersplitterung des Familienvermögens durch einen Erbfall kann durch sie<br />
verhindert werden. Die Familienstiftung bildet eine Option bei der Nachfolgeplanung eines Unternehmens.<br />
Die rechtsfähige Stiftung kann zu Lebzeiten vom Stifter oder nach seinem Ableben durch eine<br />
Verfügung von Todes wegen errichtet werden.<br />
Bei einer Errichtung zu Lebzeiten kann er selbst eine Funktion in der Stiftung ausüben und damit Sorge<br />
dafür tragen, dass der Stiftungszweck nach seinem Willen umgesetzt wird. Er muss sich jedoch darüber im<br />
Klaren sein, dass auch er für eine spätere Änderung der Stiftungssatzung oder des Stiftungszwecks die<br />
Genehmigung der Aufsichtsbehörde benötigt. Bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen wird<br />
diese erst nach dem Tod des Stifters ins Leben gerufen. Die Bestimmung der Satzung zu Lebzeiten ist auch<br />
hier von wesentlicher Bedeutung, da der Stifter nachträglich nicht mehr korrigierend eingreifen kann<br />
(s. hierzu II 1 b). Bei der Errichtung der Stiftung durch Verfügung von Todes wegen stehen dem Stifter –<br />
wie unten noch zu sehen sein wird – eine Vielzahl von erbrechtlichen Gestaltungsmitteln zur Verfügung.<br />
Schließlich muss bei der Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung – wie bereits angesprochen – ein<br />
Hauptaugenmerk auf die Vermögensausstattung der Stiftung gelegt werden. Die rechtsfähige Stiftung<br />
muss den vom Stifter vorgegebenen Stiftungszweck selbstständig erfüllen und die Kosten des<br />
Verwaltungsaufwands decken. Zwar verlangt das Gesetz keine Mindestausstattung bei der Errichtung<br />
einer rechtsfähigen Stiftung. Eine Mindestausstattung zwischen 50.000 und 100.000 € ist aber notwendig,<br />
damit die Stiftung von der Stiftungsbehörde als handlungsfähig angesehen und anerkannt<br />
350 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 387<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
wird. Für diejenigen, die das vorgenannte Kapital nicht aufbringen können, bietet die Errichtung einer<br />
unselbstständigen Stiftung eine Alternative. Eine Mindestausstattung wird hier grds. nicht verlangt.<br />
2. Nichtrechtsfähige (unselbstständige) Stiftung<br />
Im Gegensatz zur rechtsfähigen Stiftung untersteht die nichtrechtsfähige Stiftung keiner staatlichen<br />
Aufsicht und bedarf nicht der Anerkennung durch die zuständige Aufsichtsbehörde zu ihrer Entstehung.<br />
Damit ist die unselbstständige, treuhänderische oder fiduziarische Stiftung keine juristische<br />
Person und keine Trägerin von Rechten und Pflichten im Rechtsverkehr. Aus diesem Grund benötigt die<br />
unselbstständige Stiftung einen Rechtsträger (Stiftungsträger), der die mit ihr verbundenen Rechte und<br />
Pflichten wahrnimmt. Die nichtrechtsfähige Stiftung hat keine positive gesetzliche Grundlage erhalten.<br />
Die §§ 80 ff. BGB sind nicht anwendbar. Vielmehr wird die unselbstständige Stiftung entweder<br />
vertraglich durch ein Rechtsgeschäft unter Lebenden oder erbrechtlich durch eine Verfügung von<br />
Todes wegen errichtet. Die unselbstständige Stiftung kann durch einen Vertrag zwischen dem Stifter<br />
und dem Rechtsträger (Stiftungsträger) errichtet werden. Rechtsträger kann jede natürliche oder<br />
juristische Person sein. Das Stiftungsvermögen wird in sein Eigentum übertragen, bleibt aber als wirtschaftliches<br />
Sondervermögen vom übrigen Vermögen getrennt. Der BGH hat die nichtrechtsfähige<br />
Stiftung zuletzt wie folgt definiert: „Unter einer unselbstständigen Stiftung versteht man die Übertragung von<br />
Vermögenswerten auf eine natürliche oder juristische Person mit der Maßgabe, dass diese als ein vom übrigen<br />
Vermögen des Empfängers getrenntes wirtschaftliches Sondervermögen zu verwalten und zur Verfolgung der vom<br />
Stifter gesetzten Zwecke zu verwenden sind“ (BGH ZIP 2015, 923 ff.).<br />
Wird die unselbstständige Stiftung als Stiftung von Todes wegen errichtet, wird das Vermögen der<br />
Stiftung dem Stiftungsträger durch Erbeinsetzung oder durch eine Vermächtnisanordnung zugewandt.<br />
Die Einhaltung des Stiftungszwecks kann durch die Anordnung einer Auflage oder eines Vermächtnisses<br />
gesichert werden.<br />
III. Stiftungserrichtung mit anwaltlicher Hilfe<br />
Hat sich der potenzielle Stifter zwischen der Errichtung einer rechtsfähigen oder nichtrechtsfähigen<br />
Stiftung entschieden, muss der Stifterwille bei einer rechtsfähigen Stiftung gem. §§ 80 ff. BGB oder bei<br />
einer nicht rechtsfähigen Stiftung durch einen Vertragsabschluss mit einem Treuhänder praktisch<br />
umgesetzt werden. Bei der Errichtung durch Verfügung von Todes wegen bedarf es zusätzlich der<br />
Errichtung einer letztwilligen Verfügung.<br />
1. Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung<br />
Die Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung erfolgt durch das Stiftungsgeschäft des Stifters, die Errichtung<br />
einer Stiftungssatzung und die staatliche Anerkennung durch die zuständige Behörde, §§ 80 ff. BGB.<br />
a) Stiftungsgeschäft<br />
Das Stiftungsgeschäft ist in § 81 BGB geregelt. Es ist eine verbindliche Erklärung des Stifters, eine<br />
Stiftung errichten zu wollen und ein bestimmtes Vermögen dauerhaft zur Erfüllung eines bestimmten<br />
Zwecks zu widmen, § 81 Abs. 1 S. 2 BGB.<br />
Die Erklärung ist an die Stiftungsbehörde zurichten, da die zuständige Behörde erst durch das<br />
Vorliegen eines Stiftungsgeschäfts veranlasst wird, die Anerkennung zur Errichtung einer rechtsfähigen<br />
Stiftung zu prüfen und später zu erteilen. Daher unterliegt die Erklärung bei einem Stiftungsgeschäft zu<br />
Lebzeiten der Schriftform gem. § 81 Abs. 1 S. 1 BGB, die von dem Stifter eigenhändig zu unterzeichnen<br />
ist. Einer notariellen Beurkundung bedarf es nicht.<br />
Bei einer Errichtung durch Verfügung von Todes wegen enthält die Verfügung die entsprechende<br />
Erklärung, § 83 S. 1 BGB. Das zuständige Nachlassgericht hat das Stiftungsgeschäft in einer Verfügung<br />
von Todes wegen, der zuständigen Behörde zur Anerkennung mitzuteilen, sofern sie nicht von dem<br />
Erben oder dem Testamentsvollstrecker beantragt wird, § 83 S. 1 BGB.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 351
Fach 12, Seite 388<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Bei einer Mehrzahl von Stiftern besteht die Möglichkeit, dass das Stiftungsgeschäft für den einen Stifter<br />
ein Rechtsgeschäft unter Lebenden und für den anderen Stifter eine Verfügung von Todes wegen<br />
darstellt (Palandt/ELLENBERGER, § 80 BGB Rn 1). So können Ehegatten gemeinsam durch einen Erbvertrag<br />
eine Stiftung, die mit dem Tod des Erstversterbenden entstehen soll, errichten. Hier nimmt jeder<br />
Ehegatte ein Stiftungsgeschäft sowohl unter Lebenden wie von Todes wegen vor, ersteres unter der<br />
Bedingung, dass der andere Ehegatte, letzteres unter der Bedingung, dass er selbst als Erster verstirbt<br />
(BGH NJW 1978, 943 ff.).<br />
b) Stiftungssatzung<br />
Die Satzung ist die „Verfassung“ der Stiftung. In ihr legen die Stifter dauerhaft die Stiftungszwecke<br />
und die Stiftungsorganisation fest, wodurch sich ihr Wille in der Stiftungssatzung für die Ewigkeit<br />
manifestiert. Dies hat bereits das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1977 wie folgt zum Ausdruck<br />
gebracht: „Jede Stiftung ist in das historisch-gesellschaftliche Milieu eingebunden, innerhalb dessen sie entstanden<br />
ist. … Das eigentümliche einer Stiftung ist, dass der Stifterwille für die Stiftung dauernd konstitutiv bleibt.<br />
Charakter und Zweck der Stiftung liegen mit diesem Anfang in die Zukunft hinein und für die Dauer der Existenz der<br />
Stiftung fest. Deshalb sind auch die Erklärungen der Stifter aus dem zu ihrer Zeit herrschenden örtlichen Zeitgeist<br />
heraus auszulegen. …“ (BVerfGE 46, 73 ff.).<br />
Eine Stiftungssatzung muss von Gesetzes wegen zwingend Regelungen über<br />
• den Namen der Stiftung,<br />
• den Sitz der Stiftung,<br />
• den Zweck der Stiftung,<br />
• das Vermögen der Stiftung sowie<br />
• die Bildung des Vorstands der Stiftung<br />
enthalten, § 81 Abs. 1 S. 3 BGB. Daneben kann die Satzung auch Handlungsanweisungen des Stifters<br />
enthalten, wie der Stiftungszweck effektiv umgesetzt oder Stiftungsvermögen angelegt und verwaltet<br />
werden soll.<br />
Die Gestaltung der Stiftung ist die zentrale Aufgabe der anwaltlichen Beratung. Neben den<br />
Mindestvoraussetzungen aus § 81 Abs. 1 S. 3 BGB muss die Stiftungssatzung flexibel gestaltet sein.<br />
Eine zukünftige Änderung der Stiftungssatzung ist nach der staatlichen Anerkennung nur bedingt<br />
möglich. Eine Änderung bedarf je nach Bundesland und den unterschiedlichen Landesstiftungsgesetzen<br />
der Anerkennung durch die Stiftungsbehörde.<br />
Hierzu heißt es z.B. in § 8 Abs. 1, 3 Landesstiftungsgesetz Rheinland-Pfalz:<br />
„(1) Soweit nicht in der Satzung etwas anderes bestimmt ist, kann der Vorstand der Stiftung eine Änderung der<br />
Satzung beschließen, wenn hierdurch der Stiftungszweck oder die Organisation der Stiftung nicht wesentlich<br />
verändert wird. … (3) Beschlüsse nach den Abs. 1 und 2 bedürfen der Anerkennung durch die Stiftungsbehörde.“<br />
Hingegen ist im Landesstiftungsgesetz von Nordrhein-Westfalen beispielweise eine Änderung auch<br />
ohne Anerkennung, aber mit Unterrichtung der Stiftungsbehörde möglich, sofern der Stiftungszweck<br />
nicht wesentlich verändert wird. Hierzu heißt es in § 5 Abs. 1 Landesstiftungsgesetz Nordrhein-<br />
Westfalen:<br />
„(1) Soweit nicht in der Satzung etwas anderes bestimmt ist, können die zuständigen Stiftungsorgane eine<br />
Änderung der Satzung beschließen, wenn hierdurch der Stiftungszweck oder die Organisation der Stiftung nicht<br />
wesentlich verändert wird. Die Stiftungsbehörde ist hierüber innerhalb eines Monats nach Beschlussfassung zu<br />
unterrichten.“<br />
352 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 389<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Die Unterscheidung zwischen „wesentlich“ und „unwesentlich“ ist hierbei nicht trennscharf, wodurch es<br />
im Einzelfall zu Umsetzungs- und Anerkennungsschwierigkeiten mit der Stiftungsbehörde kommen<br />
kann und ggf. die Satzungsänderung doch einer Genehmigung der Stiftungsbehörde bedarf, § 5 Abs. 1<br />
S. 3 Landesstiftungsgesetz Nordrhein-Westfalen.<br />
Praxistipp:<br />
Entsprechend sollte bei der Gestaltung einer Stiftungssatzung ein Grundsatz immer berücksichtigt werden:<br />
Eine Stiftung ist auf Dauer angelegt; Umstände, Bedürfnisse und Notwendigkeiten können sich ändern. Es<br />
gilt daher, in der Satzung möglichst viele Optionen offen zu halten und nur wenige auszuschließen. Hierfür<br />
ist eine sorgfältige individuelle Prüfung und Absprache mit dem Stifter notwendig. Abrufbare Mustersatzungen<br />
können dem Stifter grds. als Vorlage und Ideengeber dienen, sollten aber nicht ungeprüft auf das eigene<br />
Vorhaben angewandt werden.<br />
c) Anerkennung durch die Stiftungsbehörde<br />
Die zuständige Stiftungsbehörde erkennt die Stiftung durch Verwaltungsakt an, wodurch diese ihre<br />
Rechtsfähigkeit erlangt. Welche Behörde für die Stiftungsanerkennung zuständig ist, ergibt sich aus dem<br />
jeweiligen Stiftungsgesetz des Bundeslandes.<br />
Der Stifter hat grds. gem. § 80 Abs. 2 S. 1 BGB einen Anspruch auf Anerkennung der Stiftung, wenn<br />
• das Stiftungsgeschäft den vorgenannten Anforderungen des § 81 Abs. 1 BGB genügt,<br />
• die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert erscheint und<br />
• der Stiftungszweck das Gemeinwohl nicht gefährdet.<br />
§ 80 Abs. 2 BGB entfaltet unter den vorgenannten Normativbedingungen eine Sperrwirkung gegenüber<br />
landesrechtlichen Regelungen, wodurch der Anspruch auf Anerkennung bundeseinheitlich geregelt ist<br />
(vgl. Staudinger/HÜTTEMANN/RAWERT, § 80 BGB Rn 15).<br />
Die Bedingung der dauernden und nachhaltigen Erfüllung bedarf bei der Stiftungserrichtung besonderer<br />
Beachtung. Die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks bezieht sich i.d.R. auf das<br />
Verhältnis zwischen der Vermögensausstattung und der effektiven Verfolgung des Stiftungszwecks.<br />
Dies hat das Verwaltungsgericht Gießen in einer Entscheidung (Urt. v. 25.11.2009 – 8 K 341/09.GI) wie<br />
folgt zusammengefasst: „Das gesetzliche Tatbestandsmerkmal der dauernden und nachhaltigen Erfüllung des<br />
Stiftungszwecks dient dem Schutz des Rechtsverkehrs und ist daher unverzichtbar. Stiftungen sollen nur anerkannt<br />
werden, wenn sie nach ihrer Ausstattung die Gewähr bieten, dass der Stiftungszweck erfüllt werden kann, wobei<br />
davon auszugehen ist, dass Stiftungen grds. auf unbegrenzte Dauer angelegt sind (vgl. Palandt, § 80 BGB Rn 5). Die<br />
Dauerhaftigkeit der Zweckerfüllung soll die Beständigkeit des Stiftungszwecks gegenüber dem Wandel der<br />
Verhältnisse sicherstellen (jurisPK, BGB, § 80 BGB Rn 35 m.w.N.) und verlangt daher i.R.d. zu treffenden<br />
Prognoseentscheidung, dass die Stiftung mit einem ausreichend großen Vermögen ausgestattet ist (jurisPK, a.a.O.,<br />
Rn 36). Dieses Vermögen muss vor einer Aufzehrung gesichert sein (jurisPK, a.a.O.).“<br />
Die hinreichende Vermögenausstattung der rechtsfähigen Stiftung ist für ihre Handlungsfähigkeit<br />
daher unerlässlich. Dies gilt in der heutigen Niedrigzinsphase umso mehr. Die rechtsfähige<br />
Stiftung unterliegt dem Grundsatz der Vermögenserhaltung bezüglich ihrem Grundstockvermögen.<br />
Das Grundstockvermögen einer bestehenden rechtsfähigen Stiftung besteht aus ihrem Anfangsvermögen<br />
(Ausstattungsvermögen), Zustiftungen und aufgelösten Rücklagen. Dieses Grundstockvermögen<br />
darf nicht verschenkt, verbraucht, beträchtlich unter Wert veräußert oder in anderer Weise<br />
verringert werden, es sei denn, die Stiftungssatzung sieht dies ausdrücklich vor (HOF in v. Campenhausen/Richter,<br />
Stiftungsrechts-Handbuch, § 9 Rn 70). Eine Ausnahme hiervon bietet beispielweise die<br />
Verbrauchsstiftung. Die Verbrauchsstiftung ist eine Stiftung, die für eine bestimmte Zeit errichtet und<br />
deren Vermögen für die konkrete Zweckverfolgung des jeweiligen Stiftungszwecks verbraucht werden<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 353
Fach 12, Seite 390<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
soll. Die Verbrauchsstiftung ist ausdrücklich mit dem Gesetz zur Stärkung des Ehrenamtes aus dem<br />
Jahre 2013 anerkannt worden. Das Gesetz enthält hierzu in § 80 Abs. 2 S. 2 BGB eine Legaldefinition:<br />
„Bei einer Stiftung, die für eine bestimmte Zeit errichtet und deren Vermögen für die Zweckverfolgung verbraucht<br />
werden soll (Verbrauchsstiftung), erscheint die dauernde Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert, wenn die<br />
Stiftung für einen im Stiftungsgeschäft festgelegten Zeitraum bestehen soll, der mindestens zehn Jahre umfasst.“<br />
Die vom Stifter festgelegten Stiftungszwecke werden durch die Erträge aus der Anlage des Grundstockvermögens<br />
bedient. Wegen der Niedrigzinsphasen bedarf es daher für die langfristige und<br />
nachhaltige Zweckerfüllung einer qualifizierten Anlageberatung. Der Stifter muss im Rahmen einer<br />
Prognoseentscheidung bereits heute die rechtsfähige Stiftung mit genügendem Vermögen ausstatten.<br />
Die Vermögensbewirtschaftung und die Verwendung der Erträge werden von dem Vorstand<br />
i.R.d. Satzung in eigener Verantwortung wahrgenommen (HOF in v. Campenhausen/Richter,<br />
Stiftungsrechts-Handbuch, § 9 Rn 60).<br />
2. Errichtung einer nichtrechtsfähigen Stiftung<br />
Die Errichtung einer nichtrechtsfähigen Stiftung erfolgt zu Lebzeiten durch einen Vertragsabschluss<br />
zwischen dem Stifter und dem Treuhänder. Der Vertrag über die Errichtung einer unselbstständigen<br />
Stiftung kann als Schenkung unter Auflage oder in Gestalt eines fiduziarischen Rechtsgeschäfts als<br />
Auftrag beziehungsweise bei Entgeltlichkeit als Geschäftsbesorgungsvertrag geschlossen werden (BGH<br />
ZIP 2015, 923 ff.). Die Parteien können die Rechtsform frei wählen. Entscheidend ist, welche Rechtsform<br />
die Parteien gewählt haben (BGH ZIP 2015, 923 ff.).<br />
Ziel der treuhänderischen Verwaltung des Stiftungsvermögens ist es, eine möglichst hohe Rendite zu<br />
erzielen, dabei jedoch die Sicherheit und Substanz zu erhalten. Die besonderen Voraussetzungen zur<br />
Erhaltung und Anlage des Stiftungsvermögens müssen dabei berücksichtigt werden.<br />
Als Treuhänder, die das Vermögen des Stifters als wirtschaftliches Sondervermögen verwalten und die<br />
Stiftungszwecke realisieren, kommen natürliche oder juristische Personen in Betracht. Als Treuhänder<br />
kann beispielweise ein Rechtsanwalt oder Notar in Betracht kommen, der aber aufgrund seiner eigenen<br />
Endlichkeit eine Regelung für das Treuhandverhältnis über seinen eigenen Tod hinaus zu treffen hat.<br />
Daneben kann aber auch eine andere rechtsfähige Stiftung Treuhänder sein. Zu diesem Zweck hat der<br />
Autor im Jahre 2019 die Deutsche-Vermögen-Stiftung errichtet.<br />
Die individuelle Ausgestaltung des Treuhandvertrags bleibt den Vertragsparteien vorbehalten, wodurch<br />
eine individuelle Beratung erforderlich ist. Der Treuhandvertrag unterliegt je nach rechtlicher<br />
Ausgestaltung dem jederzeitigen Widerruf oder der Kündigung. Die Auflösung des Treuhandvertrags<br />
widerspricht dem Gedanken der Ewigkeit einer Stiftung und ihrer langfristigen Zweckerfüllung, wodurch<br />
eine jederzeitige Auflösungsmöglichkeit im Vertrag beschränkt werden sollte.<br />
Praxistipp:<br />
Der Stifter sollte bei einem Treuhandvertrag von einer Widerrufs- oder Kündigungsmöglichkeit<br />
zurückhaltend Gebrauch machen.<br />
Die nichtrechtsfähige Stiftung kann auch unter dem Eintritt bestimmter Bedingungen errichtet werden,<br />
dass diese später in eine selbstständige Stiftung umgewandelt wird (BGH ZIP 2015, 923 ff.).<br />
IV. Erbrechtliche Gestaltungsmittel<br />
Für die Errichtung oder Berücksichtigung einer Stiftung durch Verfügung von Todes wegen muss der<br />
Stifter ein Testament oder einen Erbvertrag errichten, welcher die gesetzliche Erbfolge ausschließt.<br />
Bei der Errichtung der Verfügung von Todes wegen hat der Stifter eine Fülle von erbrechtlichen Gestaltungsmitteln,<br />
mit welchen er eine Stiftung errichten oder eine bestehende Stiftung bedenken kann.<br />
354 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 391<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
1. Rechtsfähige Stiftung<br />
Die rechtsfähige Stiftung kann als Erbin, Nacherbin, Vermächtnisnehmerin oder Auflagenbegünstigte<br />
berücksichtigt werden, wobei die Errichtung durch die Anordnung einer Testamentsvollstreckung<br />
abgesichert werden kann.<br />
a) Rechtsfähige Stiftung als Allein-/oder Miterbin<br />
Die zu errichtende Stiftung kann in einer letztwilligen Verfügung zunächst als Alleinerbin eingesetzt<br />
werden. In diesem Fall hat der Stifter in der Verfügung seinen Stifterwillen, die Errichtung der Stiftung<br />
sowie die Höhe der Vermögenszuwendung ausdrücklich niederzulegen. Die Stiftungssatzung sollte der<br />
Erblasser bereits vorbezeichnet und in der endgültigen Fassung dem Testament beigefügen.<br />
Hierbei ist eine genaue Bezeichnung des Stiftungszwecks sowie der Stiftung zugewendeter Mittel<br />
Pflicht. Der Stifter kann nach seinem Ableben nicht mehr gefragt werden, welchen Willen er mit der<br />
Errichtung der Stiftung verfolgen wollte. Ungenauigkeiten können hier zur fehlenden Anerkennung der<br />
Stiftung durch die Stiftungsbehörden führen. Andernfalls kann die Behörde den vermeintlichen<br />
Stifterwillen auch falsch auslegen.<br />
Praxistipp:<br />
Häufige Fehler bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen sind nicht ausreichende Angaben<br />
zur Vermögenszuwendung, zum Sitz, zu den Organen und ihrer Bestellung, zur Rechtsform und zur<br />
Entstehung der Stiftung.<br />
Wird die Stiftung zur Alleinerbin eingesetzt, erwirbt sie das Vermögen des Stifters gem. §§ 1922, 84 BGB<br />
als Gesamtrechtsnachfolger. Wird die Stiftung neben anderen bloße Miterbin, kann ihr Erbanteil vor der<br />
Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft, was sich häufig wegen Erbstreitigkeiten hinziehen kann,<br />
nicht festgestellt werden. Die Anerkennung der Stiftung ist in diesen Fällen in Gefahr oder kann sich<br />
ebenfalls über Jahre hinziehen. Der Erblasser sollte daher auch hier den Erbanteil, den er der Stiftung zu<br />
Verfügung stellen will, genau bezeichnen.<br />
Damit die Stiftung bei einer Verfügung von Todes wegen erfolgreich errichtet wird, sollte zwingend<br />
ein Testamentsvollstrecker eingesetzt werden. Der Testamentsvollstrecker wird eingesetzt, um den<br />
Nachlass abzuwickeln oder zu verwalten und den Willen des Erblassers umzusetzen. Bei der Errichtung<br />
einer Stiftung von Todes wegen kann dem Wunsch des Stifters nach der Perpetuierung des eigenen<br />
Vermögens und des eigenen Willens durch die Bestellung eines Testamentsvollstreckers am besten<br />
Rechnung getragen werden.<br />
Praxistipp:<br />
In einer Verfügung von Todes wegen, in der eine Stiftung errichtet wird, sollte ein Testamentsvollstrecker<br />
bestellt werden, damit er den Stifterwillen in jedem Fall auch gegen den Widerstand etwaiger weiterer<br />
Erben erfüllen und durchsetzen kann.<br />
b) Rechtsfähige Stiftung als Nacherbin<br />
Mit der Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft nach §§ 2100–2146 BGB kann der Erblasser die<br />
Verteilung seines Nachlasses über mehrere Generationen gezielt steuern. Der Erblasser kann festlegen,<br />
wer den Nachlass nach dem Vorerben erhalten soll, wodurch der Erblasser sein Vermögen in seiner<br />
Familie binden und eine Weitergabe an familienfremde Dritte verhindern kann. Mit dieser Steuerungsfunktion<br />
hat der Erblasser die Möglichkeit, dass sein Nachlass auf den Nacherben erst nach dem Eintritt<br />
eines bestimmten Ereignisses oder eines bestimmten Alters übergehen soll.<br />
Die Stiftung als juristische Person kann in einem Testament als Nacherbin bedacht werden. Bei der<br />
Bestimmung als Nacherbin muss aber die Frist von 30 Jahren beachtet werden, nach der die Nach-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 355
Fach 12, Seite 392<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
erbeneinsetzung unwirksam wird, § 2109 BGB. Der Ablauf der Frist kann z.B. dadurch verhindert werden,<br />
dass der Erblasser den Eintritt der Nacherbschaft von einem bestimmten Ereignis in der Person des<br />
Vorerben abhängig macht – vgl. § 2109 Abs. 1 Nr. 1 BGB –, welches beispielweise weiter in der Zukunft liegt.<br />
Vielfach tritt bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen als Nacherbin das Problem auf, dass die<br />
spätere Vermögensausstattung der Stiftung vom wohlwollenden Vorverhalten des Vorerben abhängig ist.<br />
Kann der Vorerbe i.S.d. § 2136 BGB als befreiter Vorerbe über das Vermögen weitestgehend frei verfügen,<br />
besteht die Gefahr, dass die notwendige Vermögensausstattung im Nacherbfall nicht mehr besteht. Es<br />
besteht die Gefahr, dass die Stiftungsbehörde die Stiftung nicht anerkennt.<br />
Praxistipp:<br />
Bei der Errichtung einer Stiftung von Todes wegen als Nacherbin sollte der Vorerbe nicht nach § 2136 BGB<br />
vom Erblasser durch eine testamentarische Verfügung befreit werden, damit die Vermögensausstattung<br />
der Stiftung im Zeitpunkt des Nacherbfalls nicht gefährdet wird.<br />
Die Errichtung einer Stiftung durch Verfügung von Todes wegen als Nacherbin oder die Einsetzung einer<br />
bestehenden Stiftung als Nacherbin kann sich bei dem sog. Behindertentestament anbieten. Das<br />
Behindertentestament bietet Eltern behinderter Kinder die Möglichkeit, testamentarisch dafür zu<br />
sorgen, dass nach ihrem Ableben dem Kind mehr Geld zur Verfügung steht als der reine Sozialhilfesatz.<br />
Das behinderte Kind kann zunächst als Vorerbe eingesetzt werden. Eine Stiftung kann hier geeignete<br />
Nacherbin sein, mit dem verbliebenen Nachlass können ähnlich Betroffene unterstützt werden.<br />
Praxistipp:<br />
Wenn zu Lebzeiten eine Stiftung errichtet werden soll, kann der Stifter selbst dazu beitragen, dass die<br />
Stiftung ihren Zweck erfüllt und weitere Zustifter gewinnt. Der Stifter kann mit seiner Begeisterungsfähigkeit<br />
für die eigene Idee maßgeblich dazu beitragen, weitere Personen „anzustiften“.<br />
Die Einsetzung der Stiftung als Vorerbin bietet i.d.R. keine Alternative. Einerseits sind der Fortbestand<br />
der Stiftung sowie die gesicherte Vermögensausstattung eine wesentliche Voraussetzung für die<br />
Anerkennung der Stiftung. Andererseits soll durch die Stiftung der gewählte Stiftungszweck dauerhaft<br />
verwirklicht werden.<br />
c) Rechtsfähige Stiftung und Auflage<br />
Die Auflage ist den §§ 1940, 2192–2196 BGB geregelt. Durch die Auflage als Gestaltungsmittel in<br />
Verfügungen von Todes wegen kann der Rechtsanwalt unterschiedliche Wünsche des Mandanten<br />
berücksichtigen, die nicht notwendig in der Zuwendung eines Vermögensvorteils bestehen. Auf<br />
Wunsch des Erblassers kann durch eine Auflage ein bestimmtes Verhalten des Begünstigten<br />
angeordnet werden, welches in der Praxis häufig darin besteht, dass der Erbe zu:<br />
• der Grabpflege,<br />
• der Pflege und/oder Unterbringung von Haustieren,<br />
• karitativen Spenden oder zur<br />
• Errichtung einer Stiftung<br />
verpflichtet wird. Sofern einem Dritten – z.B. einer wohltätigen Einrichtung – eine Spende zukommen<br />
soll, hat der Dritte als Begünstigter im Gegensatz zu einem Vermächtnis kein eigenes einklagbares<br />
Forderungsrecht aus §§ 2147, 2174 BGB gegen den Erben, der mit der Auflage beschwert ist. Die<br />
Errichtung einer Stiftung durch eine Auflage birgt gegenüber der Erbeinsetzung oder Vermächtnisanordnung<br />
das Risiko, dass die Errichtung mangels einklagbaren Anspruchs unterbleibt. Die Errichtung<br />
einer Stiftung von Todes wegen ist durch eine Auflage aber möglich. Der Erblasser muss jedoch auch in<br />
diesen Fällen beachten, dass er den Stiftungszweck sowie die Vermögensausstattung zu Lebzeiten<br />
hinreichend bestimmt.<br />
356 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 393<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
2. Nichtrechtsfähige Stiftung<br />
Der nichtrechtsfähigen Stiftung wird das Vermögen durch Erbeinsetzung des Treuhänders oder einer<br />
Vermächtnisanordnung zu seinen Gunsten zugewandt. Bei der Bestimmung als Alleinerbe geht das<br />
Vermögen mit dem Ableben des Erblassers im Wege der Universalsukzession auf den Erben über. Bei<br />
einem Vermächtnis erhält der Stiftungsträger/Treuhänder einen einklagbaren schuldrechtlichen<br />
Anspruch, § 2174 BGB. Die Umsetzung des Stiftungszwecks kann durch die Anordnung einer Auflage<br />
oder eines Vermächtnisses gesichert werden. Zudem ist auch bei einer nichtrechtsfähigen Stiftung<br />
die Anordnung eines Testamentsvollstreckers in der Verfügung von Todes wegen ratsam. Der Testamentsvollstrecker<br />
kann dafür Sorge tragen, dass der Stiftungsträger das ihm zugewandte Vermögen<br />
tatsächlich erhält.<br />
3. Vermögenszuwendung durch letztwillige Verfügung<br />
Der Stifter kann auch einer bestehenden Stiftung durch Verfügung von Todes wegen eine Zuwendung<br />
machen. Die rechtsfähige Stiftung als juristische Person wird wie eine natürliche Person entweder als<br />
Alleinerbin oder als Miterbin eingesetzt. Sie tritt die Gesamtrechtsnachfolge nach dem Erblasser an und<br />
haftet für bestehende Nachlassverbindlichkeiten nach § 1967 BGB. Durch die Einsetzung der Stiftung als<br />
Erbin kann der Stifter seiner Verbundenheit mit dem Stiftungszweck Ausdruck verleihen, aber auch<br />
sein Ansehen über das eigene Ableben hinaus steigern. Ungeachtet der persönlichen Motive, die den<br />
Stifter dazu bewogen haben, die Stiftung in seinem Nachlass zu berücksichtigen, führt dies zu einem<br />
Kapitalausbau der Stiftung, mit dem ggf. Projekte realisiert werden können, die aus finanziellen Gründen<br />
bislang zurückgestellt werden mussten. Die Zuwendung in einer Verfügung von Todes wegen ist für<br />
eine bereits bestehende Stiftung als Zustiftung zu betrachten. Die Stiftung kann die Zuwendung<br />
annehmen und ihrem Vermögen zuführen, wenn der Erblasser nichts anderes vorgesehen hat, § 62<br />
Abs. 3 Nr. 1 AO. Der Erblasser sollte die Stiftung in seiner Verfügung von Todes wegen ausdrücklich<br />
nennen. Dies ist nach der Rechtsprechung aber nicht zwingend notwendig (vgl. OLG München, Beschl.<br />
v. 4.7.2017 – 31 Wx 211/15). Bei einem Vermächtnis erhält die begünstigte Stiftung einen eigenständigen<br />
einklagbaren schuldrechtlichen Anspruch gegen den Erben als Beschwerten des Anspruchs, § 2174 BGB.<br />
V. Steuerliche Aspekte<br />
Die Stiftungserrichtung in der Form einer gemeinnützigen Stiftung kann sowohl für die Stiftung als auch<br />
für den Stifter steuerliche Vorteile begründen.<br />
1. Steuervorteile für die Stiftung<br />
Damit die Steuervorteile der Stiftung Anwendung finden, ist vorab zu prüfen, ob der Stiftungszweck auf<br />
die Verfolgung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke i.S.d. Abgabenordnung gerichtet<br />
ist, §§ 52 ff. AO. Wird dies bejaht, ist darüber hinaus zu prüfen, ob die Mittel der Stiftung nur für<br />
satzungsmäßige Zwecke, insb. zeitnah, verwendet werden dürfen, § 55 AO. Außerdem hat die<br />
Steuerbegünstigung zur Voraussetzung eine Sicherung durch die Satzung, dass die Stiftung ihre<br />
gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecke ausschließlich nach § 56 AO und unmittelbar nach<br />
§ 57 AO erfüllt. Hierfür kann der Stifter eine Zweckänderung in der Stiftungsatzung ausschließen,<br />
wodurch die steuerliche Begünstigung abgesichert wird. § 58 AO enthält steuerlich unschädliche<br />
Betätigungen der Stiftungen. Hervorgehoben werden soll die Möglichkeit der Stiftung, ohne Auswirkung<br />
auf ihre Gemeinnützigkeit bis zu einem Drittel ihres Einkommens für den angemessenen<br />
Unterhalt, die Grabpflege und das ehrende Andenken des Stifters sowie seiner nächsten Angehörigen zu<br />
verwenden, § 58 Nr. 6 AO. In der Praxis kommt dies jedoch überaus selten vor. In jedem Fall setzt<br />
die Anerkennung einer Stiftung als gemeinnützig die strikte Einhaltung der vorgenannten Voraussetzungen<br />
hinsichtlich der Mittelverwendung als auch der Mittelerzielung voraus, ohne diese liegt eine<br />
steuerliche Privilegierung nicht vor. Infolge der Gemeinnützigkeit ist eine Stiftung von der Erbschaftund<br />
Schenkungsteuer befreit, soweit der Bereich der Gemeinnützigkeit reicht und sie sich im Inland<br />
befindet. Bei einem ausländischen gemeinnützigen Rechtsträger, der seine Geschäftsleitung und seinen<br />
Sitz nicht im Inland hat, gelten die weiteren Voraussetzungen von § 13 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. c ErbStG.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 357
Fach 12, Seite 394<br />
Stiftung und Nachlassrecht<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
2. Steuervorteile des Stifters und Zuwendungsgebers<br />
Beim Stifter kann das zu versteuernde Einkommen bzw. der Gewerbeertrag gemindert werden. Gemäß<br />
§ 10b Abs. 1 S. 1 EStG können Zuwendungen im vorgenannten Sinne zur Förderung steuerbegünstigter<br />
Zwecke i.S.d. §§ 52–54 AO insgesamt bis zu 20 % des Gesamtbetrags der Einkünfte des Zuwendungsgebers<br />
oder als Betriebsspende bis zu 0,4 % der Summe aller Umsätze, Löhne und Gehälter des Betriebs<br />
im Kalenderjahr der Spende als Sonderausgaben abgezogen werden. Sofern Zuwendungen anlässlich<br />
der Neugründung einer Stiftung in den Vermögensstock geleistet werden, ist § 10b Abs. 1a S. 1 EStG<br />
zu beachten. Danach kann die Zuwendung zur Neugründung einer Stiftung bis zu einer Höhe von<br />
einer Mio. Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren, zusätzlich zu den Spendenhöchstbeträgen nach<br />
§ 10b Abs. 1 EStG geltend gemacht werden.<br />
Der steuerliche Abzug kann wahlweise im Jahr der Zuwendung oder auf das Jahr der Zuwendung und die<br />
folgenden neun Jahre verteilt werden, wobei jährlich beispielsweise 100.000 € steuerlich geltend gemacht<br />
werden können. Sofern sich der Zuwendungsgeber hierfür entscheidet, muss auf Antrag des Steuerpflichtigen<br />
bereits jetzt auf den Schluss des Veranlagungszeitraums des Zuwendungsjahrs eine gesonderte<br />
Feststellung des verbleibenden Spendenvortrags nach § 10b Abs. 1a S. 4 EStG i.V.m. § 10d Abs. 4 EStG<br />
durchgeführt werden (BFH, Urt. v. 6.12.2018 – X R 10/17). In diesem Verfahren ist verbindlich zu klären, ob<br />
die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Vermögensstockspende vorliegen. Ist dies der Fall, hat die<br />
Feststellung Bindungswirkung. Diese gesonderte Feststellung ist innerhalb des zehn-jährigen Verteilungszeitraums<br />
fortzuführen, solange und soweit der Spendenvortrag von 1 Mio. Euro nicht verbraucht wurde.<br />
Hervorzuheben ist, dass Ehepaare den Betrag aus § 13b Abs. 1a S. 1 EStG doppelt geltend machen können.<br />
Insoweit können sie bis zu 2 Mio. Euro zuwenden, sofern sie die Zuwendung zusammen veranlagt haben.<br />
Der Vorteil nach § 13b Abs. 1a S. 1 EStG gilt nicht nur für eine Zuwendung in eine Stiftung zum Zeitpunkt der<br />
Stiftungsgründung. Vielmehr gilt dies auch für Zustiftungen zugunsten einer bereits bestehenden Stiftung.<br />
Voraussetzung hierfür ist, dass die Zuwendung nach Ablauf des Gründungsjahrs erfolgt. Die Vergünstigung<br />
für den Zuwendungsgeber gilt nicht, sofern der Erblasser einer gemeinnützigen Stiftung einen<br />
Geldbetrag durch ein Vermächtnis zuwendet (BFH NJW 1997, 887 ff.).<br />
VI. Fazit<br />
Dem Stifter stehen bei der Errichtung einer Stiftung eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten zur<br />
Verfügung. Die nachfolgendeTabelle gibt einen Überblick über mögliche Vor- und Nachteile der<br />
Errichtung einer rechtsfähigen bzw. nichtrechtsfähigen Stiftung:<br />
Rechtsfähige Stiftung<br />
Nichtrechtsfähige Stiftung<br />
Vorteile Nachteile Vorteile Nachteile<br />
eigenständige<br />
Rechtsperson<br />
Mindestausstattung zwischen<br />
50.000–100.000 €<br />
Abschluss eines Treuhandvertrags,<br />
freie Wahl der<br />
Suche nach einem zuverlässigen<br />
Treuhänder<br />
ratsam<br />
Rechtsform<br />
nachhaltige Erfüllung<br />
der Stiftungszwecke<br />
Anerkennung durch die<br />
Stiftungsbehörde erforderlich<br />
geringere Mindestausstattung<br />
Treuhänder muss Regelungen<br />
für sein eigenes<br />
Ableben treffen<br />
grds. auf die Ewigkeit<br />
angelegt<br />
untersteht der Stiftungsaufsicht<br />
keine Anerkennung<br />
erforderlich<br />
Wahrnehmung der operativen<br />
Tätigkeit durch den<br />
Stiftungsvorstand<br />
keine Stiftungsaufsicht,<br />
dadurch geringere<br />
Verwaltungskosten<br />
bei Gemeinnützigkeit<br />
steuerliche Anreize für<br />
den Stifter und die Stiftung<br />
flexiblere Gestaltung bei<br />
Änderung der Stiftungssatzung<br />
oder des Stiftungszwecks<br />
358 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1721<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
Rehabilitation/Schwerbehindertenrecht<br />
Bundesteilhabegesetz – Neuerungen im Recht der Eingliederungshilfe<br />
Von Richterin am BSG JUTTA SIEFERT, Kassel<br />
Inhalt<br />
I. Allgemeines<br />
II. Änderungen im Einzelnen<br />
1. Eingliederungshilfe ist antragsabhängig<br />
2. Anspruchsberechtigter Personenkreis<br />
3. Existenzsichernde Leistungen<br />
4. Berücksichtigung von Einkommen<br />
und Vermögen<br />
5. Die einzelnen Leistungsgruppen<br />
der Eingliederungshilfe<br />
6. Wunsch- und Wahlrecht<br />
I. Allgemeines<br />
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen<br />
(Bundesteilhabegesetz [BTHG] vom 23.12.2016) haben in insgesamt 26 Artikeln zahlreiche Regelungsbereiche<br />
des SGB und anderer Gesetze Veränderungen erfahren. In der <strong>ZAP</strong> wurde von der Verfasserin<br />
bereits über die Neuerungen im Schwerbehindertenrecht (<strong>ZAP</strong> 2017, F. 18, S. 1549) und im Recht der<br />
Rehabilitation und Teilhabe (<strong>ZAP</strong> 2018, F. 18, S. 1571) berichtet. Dieser Beitrag soll die Serie mit den<br />
„Neuerungen im Recht der Eingliederungshilfe“ vervollständigen.<br />
Der Veröffentlichung dieses Beitrags Anfang des Jahres <strong>2020</strong> liegt zugrunde, dass eine zentrale<br />
strukturelle Änderung im Recht der Eingliederungshilfe zum 1.1.<strong>2020</strong> in Kraft getreten ist, nämlich<br />
die „Herauslösung“ der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII (Recht der Sozialhilfe) und ihr Transfer in<br />
Teil 2 des SGB IX (Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen). Dieses ist nunmehr<br />
ein echtes Leistungsgesetz. Ziel dieser Änderung war zum einen (und vorrangig), der Eingliederungshilfe<br />
den Stempel einer Fürsorgeleistung, nämlich einer Leistung der Sozialhilfe, zu nehmen. Zum<br />
anderen verfolgte der Gesetzgeber das Ziel einer verstärkten Personenzentriertheit der Leistung. Dies<br />
brachte er dadurch zum Ausdruck, dass – anders als bislang – bei der Erbringung existenzsichernder<br />
Leistungen für den Lebensunterhalt und das Wohnen (nach Maßgabe des SGB XII) nicht mehr danach<br />
unterschieden wird, ob ein behinderter Mensch in der eigenen Wohnung, einer Wohngemeinschaft<br />
oder einer stationären Einrichtung wohnt, und die Fachleistung Eingliederungshilfe (nach Maßgabe<br />
des SGB IX) deshalb von der Lebensunterhaltssicherung getrennt bewilligt wird (dazu unter 3). Diese<br />
vollständige strukturelle Neuordnung hat im Nachgang zur Verabschiedung des BTHG weiteren<br />
Korrektur- und Anpassungsbedarf nach sich gezogen, dem zuletzt durch das Gesetz zur Änderung<br />
des SGB IX und des SGB XII und anderer Rechtsvorschriften vom 30.11.2019 (BGBl I 2019, S. 1948 und<br />
BT-Drucks 19/11006) Rechnung getragen worden ist.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 359
Fach 18, Seite 1722<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
II.<br />
Änderungen im Einzelnen<br />
1. Eingliederungshilfe ist antragsabhängig<br />
Seit 1.1.<strong>2020</strong> werden Leistungen der Eingliederungshilfe nur noch auf Antrag gewährt (§ 108 SGB IX);<br />
bislang genügte das Bekanntwerden eines Bedarfs (sog. Kenntnisgrundsatz, § 18 SGB XII). Der<br />
Gesetzgeber hat diese Änderung damit begründet, dass vor der Bewilligung einzelner Leistungen<br />
zunächst ein Gesamtplanverfahren (§§ 19, 21 SGB IX i.V.m. §§ 117 ff. SGB IX) durchzuführen sei, also ein<br />
strukturiertes Verfahren unter Beteiligung des behinderten Menschen und der verschiedenen<br />
Leistungsträger. Er geht davon aus, dass in diesem Verfahren auch auf eine Antragstellung hingewirkt<br />
wird (BT-Drucks 18/9522, S. 282 zu § 108). Auch wenn sicherlich dem behinderten Menschen keine<br />
Leistung gegen seinen Willen „aufgedrückt“ werden darf, ist doch das durch das BTHG erfolgte<br />
Abwenden vom Kenntnisgrundsatz als dem in der Sozialhilfe maßgeblichen Zugangskriterium für<br />
Leistungen ein Rückschritt und das Gegenteil des gesetzgeberischen Ziels, Leistungen – weiterhin –<br />
niedrigschwellig zugänglich zu machen. Der in der Gesetzesbegründung geschilderten „Problematik“,<br />
dass im Anwendungsbereich des Kenntnisgrundsatzes Leistungen erst ab Kenntnis, bei Antragstellung<br />
aber rückwirkend auf den Ersten des Antragsmonats zu erbringen seien, hätte bei einer vergleichbaren<br />
Rückwirkungsfiktion auch für den Monatsersten der Kenntniserlangung Rechnung getragen<br />
werden können.<br />
Probleme wird es sicherlich in der Übergangszeit geben: Wer schon laufende Leistungen der Eingliederungshilfe<br />
erhält, musste bei fortbestehendem Bedarf bislang nicht gesondert die Weitergewährung<br />
beantragen. Es genügte, dass der Sozialhilfeträger vom fortbestehenden Bedarf wusste.<br />
Da Leistungen der Eingliederungshilfe regelmäßig zeitabschnittsweise bewilligt werden, muss ein<br />
Fortzahlungsantrag gestellt werden, um Zahlungslücken zu vermeiden.<br />
Rechtlich noch nicht geklärt ist auch die Frage, wie zu verfahren ist, wenn in einem gerichtlichen<br />
Verfahren, das 2019 noch nicht abgeschlossen war, um den Anspruch auf eine Leistung selbst<br />
gestritten wird, also eine Leistung, die sich der behinderte Mensch noch nicht selbst beschafft hat, und<br />
bislang der Sozialhilfeträger den Anspruch abgelehnt hat (und deshalb Beklagter des Verfahrens<br />
ist). Da – einen Erfolg der Klage unterstellt – in diesem Moment der Sozialhilfeträger nicht mehr<br />
Rehabilitationsträger ist (vgl. §§ 6, 241 Abs. 8 SGB IX), sondern die Leistungen vom Träger der<br />
Eingliederungshilfe zu erbringen wären, sind verschiedene Lösungen denkbar. Denn eine gesetzgeberische<br />
Überlegung zu dieser Frage kann den Materialien nicht entnommen werden und Übergangsregelungen<br />
fehlen.<br />
Man könnte vertreten, der Eingliederungshilfeträger sei bloßer Funktionsnachfolger des Sozialhilfeträgers<br />
und würde daher auch in das noch laufende Verfahren eintreten – dann würde allenfalls<br />
das Rubrum eines Urteils entsprechend anzupassen sein (eine Klageänderung nach § 99 SGG liegt<br />
nicht vor; vgl. dazu nur BSG, Urt. v. 18.1.2011 – B 4 AS 108/10 R, BSGE 1<strong>07</strong>, 217) und verurteilt werden<br />
könnte der Träger der Eingliederungshilfe. Dies würde voraussetzen, dass man von einem unveränderten<br />
Inhalt der nun im 2. Teil des SGB IX geregelten Leistungen im Vergleich zu den §§ 53 ff.<br />
SGB XII ausginge (was in Bezug auf die Leistungserbringung in „stationären Einrichtungen“ –dazu<br />
unter 3 – fast ausgeschlossen scheint).<br />
Anders wäre es ggf. dann, wenn man den gesetzgeberischen Willen verfahrensrechtlich nachvollzieht:<br />
Er schaffte einen neuen Träger für neue Leistungen, die keine Fürsorgeleistungen mehr sind und die<br />
nur noch antragsabhängig erbracht werden – er macht also einen harten Schnitt. Dann hätten sich<br />
mit dem Entfallen der Zuständigkeit für Aufgaben der Eingliederungshilfe ab 1.1.<strong>2020</strong> die Bescheide des<br />
Sozialhilfeträgers ggf. erledigt (§ 39 SGB X) und – da es an einer Entscheidung des Trägers der<br />
Eingliederungshilfe über die dann neu zu beantragende Leistung fehlte – wäre die Klage abzuweisen.<br />
Entsprechende Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit § 14 SGB IX: Liegt mit dem Zu-<br />
360 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1723<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
ständigkeitswechsel ein neuer Rehabilitationsfall mit der Konsequenz vor, dass der Eingliederungshilfeträger<br />
mit der Erstantragstellung bei ihm berechtigt ist, seine Zuständigkeit zu prüfen und den<br />
Antrag ggf. weiterzuleiten? Dies wäre wohl nur zu bejahen, wenn man eine Funktionsnachfolge<br />
ablehnt.<br />
Praxistipp:<br />
Leistungen der Eingliederungshilfe, auch wenn es um die Fortzahlung von Leistungen nach Ende des<br />
Bewilligungszeitraums geht, müssen seit 1.1.<strong>2020</strong> ausdrücklich beantragt werden. Der Antrag wirkt auf<br />
den Monatsersten zurück.<br />
In der <strong>ZAP</strong> 2018, F. 18, S. 1571 ff. wurde bereits das Teilhabeplanverfahren (§ 19 SGB IX) dargestellt; geht es<br />
um Leistungen der Eingliederungshilfe, dann ist ein Gesamtplanverfahren nach Maßgabe der §§ 117 ff.<br />
SGB IX durchzuführen, das Gegenstand des Teilhabeplanverfahrens ist. Das bedeutet, dass neben den<br />
Anforderungen des § 19 SGB IX die weiteren Anforderungen an das Verfahren nach den §§ 117 ff. SGB IX<br />
zu beachten sind.<br />
2. Anspruchsberechtigter Personenkreis<br />
Im Gesetzgebungsverfahren höchst umstritten war die ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehene<br />
Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises: Nach § 99 SGB IX des Entwurfs sollte nur<br />
diejenige Person eine leistungsbegründende „Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft“<br />
haben, die u.a. in mindestens fünf Lebensbereichen – diese waren in § 99 Abs. 2 SGB IX d.E. aufgeführt –<br />
personelle oder technische Unterstützung benötigte. Die massive Kritik an dieser Idee, weil das<br />
Herausfallen bestimmter Gruppen von Leistungsberechtigten aus der Eingliederungshilfe befürchtet<br />
wurde, hat der Gesetzgeber aufgenommen; er hat den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe<br />
nicht geändert, sondern in § 99 SGB IX für die Definition des leistungsberechtigten Personenkreises auf<br />
§ 53 Abs. 1 und 2 SGB XII und die §§ 1 bis 3 Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31.12.2019 gültigen<br />
Fassung verwiesen.<br />
Hinweis:<br />
Es bleibt also auch nach dem 1.1.<strong>2020</strong> dabei, dass Eingliederungshilfe Personen zu leisten ist, die durch<br />
eine Behinderung i.S.v. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben,<br />
eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der<br />
Besonderheit des Einzelfalls, insb. nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die<br />
Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.<br />
Erst zum Jahr 2023 (vgl. Art. 25a BTHG) soll ein an den ICF-Kriterien orientierter Ansatz den berechtigten<br />
Personenkreis genauer beschreiben, wobei Voraussetzung dafür ist, dass bis dahin ein Bundesgesetz<br />
geschaffen worden ist, das die Einzelheiten für den Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe<br />
regelt.<br />
Mittlerweile liegt der Forschungsbericht „Rechtliche Wirkungen im Fall der Umsetzung von Artikel 25a<br />
§ 99 BTHG (ab 2023) auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe“ vor (abrufbar<br />
unter https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/Forschungsberichte/Forschungsberichte-Teilhabe/<br />
fb-517-rechtliche-wirkungen-auf-leistungsberechtigten-personenkreis-der-eingliederungshilfe.html). Dieser kommt<br />
– zusammengefasst – zum Ergebnis, dass eine quantifizierende Neudefinition des leistungsberechtigten<br />
Personenkreises („ 5 / 3 aus 9“ oder „ 4 / 2 aus 9“) einerseits dazu führte, dass ein Teil der derzeit<br />
leistungsberechtigten Personen keine Leistung mehr erhielte, umgekehrt aber auch ein erheblicher Teil<br />
zum Kreis der leistungsberechtigten Personen hinzukäme. Das Kriterium, dass der leistungsberechtigte<br />
Personenkreis durch das Verfahren unverändert bleiben soll, würde daher nicht erfüllt (s. Forschungsbericht<br />
a.a.O., S. 115 ff.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 361
Fach 18, Seite 1724<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
3. Existenzsichernde Leistungen<br />
a) Allgemeines<br />
Mit der Überführung der Eingliederungshilfe in das SGB IX zum 1.1.<strong>2020</strong> wurde dieses nicht nur ein<br />
echtes Leistungsgesetz; vielmehr vollzog der Gesetzgeber auf diesem Weg auch formal die Trennung<br />
zwischen der Eingliederungshilfe als Fachleistung (so die künftige Terminologie anstelle der Bezeichnung<br />
„besondere Sozialhilfeleistung“) und der Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. der Grundsicherung<br />
im Alter und bei Erwerbsminderung nach, die weiterhin nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII<br />
gewährt werden.<br />
Hinweis:<br />
Die Gewährung existenzsichernder Leistungen erfolgt ab 1.1.<strong>2020</strong> grds. unabhängig von der Wohnform.<br />
Diese Neustrukturierung führt insb. dort, wo Bezieher von Eingliederungshilfe in stationären Einrichtungen<br />
leben (besondere Wohnformen nach § 42a Abs. 2 Nr. 2 SGB XII), zu erheblichen Veränderungen.<br />
b) Regelbedarf<br />
Nach alter Rechtslage umfasste bei Leistungen in stationären Einrichtungen der notwendige Lebensunterhalt<br />
den „in der Einrichtung erbrachten Lebensunterhalt“ und den „weiteren notwendigen Lebensunterhalt“,<br />
z.B. das sog. Taschengeld (§ 27b Abs. 2 S. 1 SGB XII). Normativ war dieses nicht Bestandteil der<br />
besonderen Sozialhilfeleistung „Eingliederungshilfe“, sondern als eigenständige Leistung der Hilfe zum<br />
Lebensunterhalt ausgestaltet (§ 27b Abs. 1 SGB XII) mit der Konsequenz unterschiedlicher Regelungen<br />
zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen bei der jeweiligen Leistungsart. Praktisch führte<br />
die rechtliche Konstruktion des „Lebensunterhalts in Einrichtungen“ dazu, dass den Berechtigten<br />
die Leistungen für den notwendigen Lebensunterhalt (also alle Leistungen, die für das Leben und<br />
die fachliche Betreuung in der Einrichtung erforderlich waren), nicht ausgezahlt wurden, sondern –<br />
rechtlich unterfüttert durch das von der Rechtsprechung entwickelte „sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis“<br />
unmittelbar der Einrichtung zuflossen (vgl. dazu BSG, Urt. v. 28.10.2008 – B 8 SO 22/<strong>07</strong> R).<br />
Nur das sog. Taschengeld erhielten die Berechtigten selbst zu ihrer freien Verfügung (zur Funktion des<br />
sog. Taschengelds vgl. nur BSG, Urt. v. 23.8.2013 – B 8 SO 17/12 R). Lebten Leistungsberechtigte nicht in<br />
stationären Einrichtungen, erfolgte schon immer eine getrennte Leistungsbewilligung (Eingliederungshilfe<br />
plus Regelbedarf, ggf. Mehrbedarf, plus Kosten der Unterkunft und Heizung).<br />
Um die Trennung von Fachleistung und Hilfe zum Lebensunterhalt auch im stationären Bereich deutlich<br />
zu machen, gibt es seit 1.1.<strong>2020</strong> die Besonderheit des „Lebensunterhalts in Einrichtungen“ bei der<br />
Eingliederungshilfe nicht mehr. Auch die Leistungsberechtigten, die in dieser Wohnform leben, erhalten,<br />
wie jede andere hilfebedürftige Person auch, Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder<br />
Vierten Kapitel des SGB XII an sich ausgezahlt. Leistungen für stationäre Einrichtungen nach § 27b<br />
SGB XII kommen deshalb nur noch bei Leistungen nach dem 7. bis 9. Kapitel SGB XII in Betracht, also<br />
insb. bei der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XII.<br />
Praxistipp:<br />
Alle Empfänger von Eingliederungshilfe erhalten künftig die Leistungen zum Lebensunterhalt sowie<br />
die Kosten für Unterkunft und Heizung auf ihr Konto gezahlt. Leben sie in einer „besonderen Wohnform“<br />
(stationäre Einrichtung), müssen sie von diesem Geld an die Träger der Einrichtung die Kosten für ihre<br />
Unterbringung und Verpflegung entsprechend ihrer vertraglichen Verpflichtungen zahlen.<br />
Dies setzt natürlich voraus, dass die Leistungsbezieher über ein eigenes Konto verfügen, was bislang<br />
vielfach nicht der Fall war.<br />
362 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1725<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Die Trennung von Fachleistung Eingliederungshilfe und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts<br />
kann zudem dazu führen, dass künftig verschiedene Träger für die Leistungsgewährung örtlich und<br />
sachlich zuständig sind.<br />
Ein Auseinanderfallen der sachlichen Zuständigkeit war bislang durch die Regelung in § 97 Abs. 4 SGB XII,<br />
die entsprechend auch für die örtliche galt (BSG, Urt. v. 6.12.2018 – B 8 SO 9/18 R) vermieden worden.<br />
Eine vergleichbare „Verklammerungsnorm“ für die sachliche Zuständigkeit existiert logischerweise<br />
schon deshalb nicht, weil für die Sozialhilfe und die Eingliederungshilfe verschiedene Behörden zuständig<br />
sind und die Zuständigkeit durch die Länder festgelegt wird (§ 94 SGB IX i.V.m. dem Landesrecht).<br />
Die örtliche Zuständigkeit für die Fachleistung Eingliederungshilfe beurteilt sich nach § 98 SGB IX,<br />
die für die Sozialhilfeleistungen grds. nach § 98 Abs. 1 bis 5 SGB XII. Allerdings verklammert § 98<br />
Abs. 6 SGB XII beide Regelungsbereiche: Werden sowohl Leistungen der Eingliederungshilfe als auch<br />
existenzsichernde Sozialhilfeleistungen bezogen, beurteilt sich die örtliche Zuständigkeit dafür nach<br />
den für die örtliche Zuständigkeit für die Eingliederungshilfeleistungen geltenden Regelungen in § 98<br />
SGB IX.<br />
Hinweis:<br />
Nach § 98 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist für die Eingliederungshilfe örtlich zuständig der Träger, in dessen Bereich<br />
die leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 98 Abs. 4 SGB IX) im Zeitpunkt der<br />
ersten Antragstellung nach § 108 Abs. 1 SGB IX hat oder in den letzten zwei Monaten vor den Leistungen<br />
einer Betreuung über Tag und Nacht zuletzt gehabt hat. Dieser Träger ist auch örtlich zuständig für<br />
die existenzsichernden Sozialhilfeleistungen (§ 98 Abs. 6 SGB XII). Die sachliche Zuständigkeit, also die<br />
Frage, ob ein örtlicher oder überörtlicher Träger zuständig ist, kann jedoch differieren. Künftig können<br />
also zwei Träger für die Leistungen zuständig sein.<br />
Die geänderte Struktur kann auch in der Sache nicht ohne Ausnahmen bleiben. Folgendes sieht das<br />
Gesetz vor:<br />
• Die neue Struktur wurde für den in § 134 SGB IX bezeichneten Personenkreis (minderjährige<br />
Leistungsberechtigte, die sich in einer stationären Einrichtung befinden [„Betreuung über Tag und<br />
Nacht“] bzw. volljährige Leistungsberechtigte, die Leistungen zur schulischen Ausbildung nach § 134<br />
Abs. 4 SGB IX erhalten) nicht übernommen, sondern es wurde am bisherigen System der Pauschalen<br />
festgehalten. Daher bedurfte es der Regelung in § 27c SGB XII, um den Leistungsberechtigten Beträge<br />
zur individuellen Verfügung zukommen zu lassen.<br />
• Die formale Gleichstellung der Bedarfe behinderter und nichtbehinderter Menschen für den Lebensunterhalt<br />
macht weitere Ausnahmeregelungen im Zusammenhang mit der gemeinschaftlichen<br />
Mittagsverpflegung in Werkstätten für behinderte Menschen, bei anderen Leistungsanbietern (§ 60<br />
SGB IX) und vergleichbaren anderen tagesstrukturierenden Maßnahmen notwendig. Durch § 113<br />
Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 42b Abs. 2 SGB XII wird der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)<br />
Rechnung getragen, wonach die Leistung für das Mittagessen in einer Werkstatt für behinderte<br />
Menschen Teil der Eingliederungshilfe und damit nicht der Hilfe zum Lebensunterhalt zuzuordnen<br />
ist (vgl. BSG, Urt. v. 9.12.2008 – B 8/9b SO 10/<strong>07</strong> R). § 42b Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGB XII führt insoweit<br />
einen pauschalierten Mehrbedarf ein, orientiert am Warenwert für den Einkauf der erforderlichen<br />
Lebensmittel. Ausgehend von den Werten der Sozialversicherungsentgeltverordnung für <strong>2020</strong><br />
beläuft sich der Wert für das Mittagessen monatlich auf 102 €; dieser Betrag ist als Mehrbedarf zu<br />
leisten (vgl. § 42b Abs. 2 S. 3 SGB XII). Da es sich aber bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung<br />
um einen Teil der sog. Fachleistung handelt, ordnet § 113 Abs. 4 SGB IX konsequenterweise an, dass<br />
die sachlichen, personellen und betriebsnotwendigen Aufwendungen zur Erbringung dieser Leistung<br />
als Leistung der sozialen Teilhabe zu übernehmen sind.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 363
Fach 18, Seite 1726<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
• Nach dem derzeitigen gesetzlichen Konzept führt dieser Mehrbedarf allerdings dazu, dass sich die<br />
Menschen, die in der Werkstatt o.Ä. ihr Mittagessen einnehmen, finanziell deutlich besser stellen<br />
dürften als nach der alten Rechtslage. Denn bislang wurde, weil Kosten für das Mittagessen auch im<br />
Regelbedarf eingerechnet wurden, ein entsprechender Abzug beim Regelbedarf vorgenommen, d.h.<br />
die behinderten Menschen hatten unter dem Strich nicht mehr Geld zur Verfügung. Selbst wenn ein<br />
Abzug vom Regelbedarf weiter praktiziert würde (dagegen könnte allerdings schon sprechen, dass<br />
nach § 42b Abs. 1 SGB XII in Abs. 2 nur Bedarfe aufgeführt sind, die gerade nicht vom Regelbedarf<br />
abgedeckt seien), bliebe allerdings im Umfang des Mehrbedarfs ein Plus beim behinderten Menschen.<br />
• Weitere Folgeprobleme dieser strukturellen Änderung kristallisierten sich bereits vor Inkrafttreten<br />
der Änderungen zum 1.1.<strong>2020</strong> heraus. Denn bis 31.12.2019 haben die Träger der Sozialhilfe<br />
für die Bezieher von Eingliederungshilfeleistungen in stationären Einrichtungen regelmäßig deren<br />
Renten auf sich übergeleitet, weil sie als Einkommen des Hilfebeziehers leistungsmindernd zu berücksichtigen<br />
waren; die Rentenüberleitung vereinfachte insoweit das Verfahren und diente der<br />
Realisierung des Erstattungsanspruchs des nachrangig verpflichteten Sozialhilfeträgers gegenüber<br />
dem Träger der Rentenversicherung (§ 104 Abs. 1 SGB X). An dieser Rentenüberleitung konnten<br />
die Träger der Eingliederungshilfe ab 1.1.<strong>2020</strong> nicht festhalten, weil jede leistungsberechtigte Person<br />
an die Einrichtung die Kosten für den Lebensunterhalt und das Wohnen zu zahlen hat und<br />
keine vollständige „Übernahme“ aller Aufwendungen mehr durch den Sozialleistungsträger erfolgt.<br />
Da seit April 2004 Rentenzahlungen für den laufenden Monat nicht mehr zum Monatsanfang,<br />
sondern am Monatsende erfolgen, wäre mit dem Monat der Umstellung eine einmalige Finanzierungslücke<br />
entstanden, weil für den laufenden Monat zwar ein Bedarf besteht, dieser aber erst<br />
zum Monatsende (mit der Rentenzahlung) gedeckt werden könnte.<br />
• Der Gesetzgeber hat erkannt, dass diese „Rentenlücke“ eine Vielzahl von Leistungsberechtigten<br />
betrifft und zu unbilligen Härten führen würde. Um verwaltungsaufwändige Lösungen, wie z.B.<br />
die flächendeckende Vergabe von Überbrückungsdarlehen, zu vermeiden, ist mit dem Gesetz zur<br />
Änderung des SGB IX und des SGB XII vom 30.11.2019 (BGBl I, S. 1948 ff.) in § 140 SGB XII eine<br />
Übergangsregelung geschaffen worden.<br />
Hinweis:<br />
§ 140 SGB XII führt dazu, dass die Bezieher von Eingliederungshilfeleistungen und Renten für den<br />
Umstellungsmonat ihre Rente nicht zur Deckung ihres existenziellen Bedarfs nach dem 3./4. Kapitel<br />
des SGB XII einzusetzen haben, d.h. es findet in diesem Monat keine Berücksichtigung der Rente als<br />
Einkommen nach § 82 SGB XII statt.<br />
c) Unterkunft und Heizung<br />
§ 42a SGB XII regelt die Bedarfe für Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung im Alter und bei<br />
Erwerbsminderung als Teil des notwendigen Lebensunterhalts zur Sicherung des Existenzminimums<br />
gem. § 27a Abs. 1 S. 1 SGB XII. Für Bezieher von Eingliederungshilfe, die in stationären Einrichtungen<br />
(sog. besonderen Wohnformen) leben, enthalten § 42a Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 5 und 6 SGB XII<br />
Sonderregelungen, die auch für Bezieher von Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII gelten, die in<br />
einer besonderen Wohnform leben (§ 35 Abs. 5 S. 1 SGB XII).<br />
§ 42a Abs. 5 S. 1 SGB XII berücksichtigt als Bedarfe für die Unterkunft die tatsächlichen Aufwendungen,<br />
soweit sie angemessen sind. Sie gelten als angemessen, wenn sie die Höhe der<br />
durchschnittlichen angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Warmmiete von Einpersonenhaushalten<br />
am Ort der Einrichtung nicht überschreiten (§ 42a Abs. 5 S. 3 SGB XII). Das Gesetz<br />
differenziert insoweit zwischen Aufwendungen für den persönlichen Wohnraum (Nr. 1), Zuschlägen<br />
für Voll- oder Teilmöblierung (Nr. 2) sowie den Aufwendungen für die Gemeinschaftsräume nach<br />
364 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1727<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
einem Anteil, der sich aus der für die Nutzung der Gemeinschaftsräume vorgesehenen Anzahl an<br />
Personen ergibt (Nr. 3). Zwischen der leistungsberechtigten Person und dem die Unterkunft überlassenden<br />
Leistungserbringer ist ein Vertrag über die Überlassung von Wohnraum zu schließen.<br />
Soweit sich der Leistungserbringer zugleich auch zur Erbringung von Pflege- oder Betreuungsleistungen<br />
verpflichtet, ist das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) weiterhin anwendbar<br />
(vgl. § 1 WBVG). Ansonsten gelten die §§ 549 ff. BGB. Vertraglich zu vereinbaren sind auch die in § 42a<br />
Abs. 5 S. 4 SGB XII benannten Zusatzkosten.<br />
Eine Durchbrechung der Trennung zwischen existenzsichernden Lebensunterhalts- und den Fachleistungen<br />
findet sich jedoch in § 42a Abs. 6 SGB XII: Denn übersteigen die tatsächlichen Aufwendungen<br />
die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 %, umfassen die Fachleistungen (also die Eingliederungshilfe)<br />
diesen Aufwand (§ 42a Abs. 6 S. 2 SGB XII). Diese Leistungen sind vom Eingliederungshilfeträger zu<br />
übernehmen (§ 113 Abs. 5 SGB IX).<br />
Praxistipp:<br />
Im Fall der die Angemessenheitsgrenze um mehr als 25 % übersteigenden Aufwendungen für die Kosten<br />
der Unterkunft ist ein Antrag auf Übernahme dieser Kosten beim Träger der Eingliederungshilfe zu<br />
stellen. Da die Regelungen über die Zuständigkeit für die Fachleistung Eingliederungshilfe und die<br />
existenzsichernden Leistungen nicht identisch sind, können unterschiedliche Träger zuständig sein.<br />
Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass die übersteigenden Kosten „automatisch“<br />
vom Eingliederungshilfeträger übernommen werden.<br />
4. Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen<br />
Nach § 19 Abs. 3 SGB XII in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung (a.F.) wurden Leistungen der<br />
Eingliederungshilfe nur gewährt, soweit der leistungsberechtigten Person und ihren nicht getrennt<br />
lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern die Aufbringung der Mittel aus ihrem Einkommen und<br />
Vermögen nach Maßgabe der §§ 85 ff., 90 SGB XII nicht zumutbar war. Nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII<br />
in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung waren lediglich „kleinere Barbeträge“ oder sonstige Geldwerte als<br />
Vermögen geschützt; diese beliefen sich nach § 1 der VO zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9<br />
SGB IX a.F. auf 2.600 € für den Leistungsberechtigten selbst und 256 € für jede Person, die vom<br />
Leistungsberechtigten überwiegend unterhalten worden ist bzw. 614 € zusätzlich für den Ehegatten<br />
oder Lebenspartner. Weiteres Vermögen war nur dann nicht zu berücksichtigen, wenn dessen Einsatz<br />
eine Härte bedeuten würde (§ 90 Abs. 3 S. 1 SGB XII), was für Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel<br />
(also z.B. Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege) insb. dann der Fall war, soweit eine angemessene<br />
Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert<br />
wurde (§ 90 Abs. 3 S. 2 SGB XII). Diese Regelungen führten dazu, dass behinderte Menschen,<br />
die Leistungen der Eingliederungshilfe benötigten, faktisch kein relevantes Vermögen ansparen<br />
konnten und auch mit dem behinderten Menschen zusammenlebende Ehe- oder Lebenspartner mit<br />
ihrem Einkommen und Vermögen für die Deckung behinderungsbedingter Aufwendungen aufzukommen<br />
hatten. Das dauerhafte Angewiesensein auf existenzsichernde Leistungen auch im Alter<br />
war damit vorprogrammiert.<br />
Seit 1.1.<strong>2020</strong> nimmt das Gesetz für den Begriff des Einkommens auf die Regelungen des Steuerrechts<br />
Bezug (§ 135 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 2 Abs. 2 EStG) und sieht vor, dass von der leistungsberechtigten Person<br />
ein Beitrag zu den Aufwendungen (des Eingliederungshilfeträgers für die Fachleistungen) zu erbringen<br />
ist, wenn das Einkommen einen bestimmten Wert (abhängig von der Art des Einkommens eine<br />
Prozentzahl x der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV) übersteigt (§ 136 Abs. 2 SGB IX). Die<br />
Bezugsgröße für die alten Bundesländer beträgt seit 1.1.<strong>2020</strong> 38.220 €, für die neuen Bundesländer<br />
36.120 €.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 365
Fach 18, Seite 1728<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
Daraus ergeben sich folgende Abstufungen:<br />
Ein Beitrag zu den Aufwendungen ist aufzubringen,<br />
• wenn Einkommen überwiegend aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder selbstständigen<br />
Tätigkeit erzielt wird und 32.487 €/ 30.702 € übersteigt,<br />
• wenn Einkommen aus einer nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erzielt wird und<br />
28.665 €/27.090 € übersteigt,<br />
• wenn Renteneinkünfte erzielt werden und diese 22.932 €/21.672 € übersteigen oder<br />
• bei anderen Einkunftsarten, wenn diese 28.665 €/27.090 € übersteigen.<br />
Anders als man annehmen könnte, ist auch für die leistungsberechtigte Person nicht der den Freibetrag<br />
übersteigende Betrag vollständig einzusetzen, sondern nur 2 % als monatlicher Beitrag<br />
aufzubringen. Der aufzubringende Betrag ist von der Leistung abzuziehen (§ 137 Abs. 3 SGB IX),<br />
d.h. es gilt das sog. Nettoprinzip, das bis 31.12.2019 für die Leistungserbringung in stationären<br />
Einrichtungen nicht gegolten hat (vgl. § 92 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F.). Dadurch, dass seit 1.1.<strong>2020</strong> bei der<br />
Leistungserbringung nicht mehr danach unterschieden wird, ob Leistungen in ambulanter, teil- oder<br />
vollstationärer Form erbracht werden (dazu unter 2), ist diese Anpassung an die sonstige Form der<br />
Leistungserbringung konsequent.<br />
Für die Lebens- und Ehepartner sowie Partner einer nichtehelichen Gemeinschaft, die über Einkommen<br />
unterhalb des so für die leistungsberechtigte Person ermittelten Betrags verfügen, erhöht sich der<br />
Freibetrag um weitere 10 %; bei Einkommen oberhalb dieses Betrags entfällt dieser – weitere –<br />
Freibetrag (es findet also auch dann keine Berücksichtigung des Einkommens statt) und es erhöht sich<br />
nur für jedes unterhaltsberechtigte Kind der Freibetrag der leistungsberechtigten Person um weitere<br />
5 %. Dies führt im Ergebnis zu einer weitreichenden Freistellung des Partnereinkommens!<br />
Unverändert sind ohne Einkommenseinsatz allerdings zu erbringen (§ 138 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 SGB IX):<br />
heilpädagogische Leistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX (entspricht § 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB XII a.F.),<br />
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 SGB XII<br />
a.F.), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 und 7 SGB XII a.F.), Leistungen bei<br />
der Hilfe zu einer Schulbildung nach § 112 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XII a.F.),<br />
Leistungen zur schulischen Ausbildung für einen Beruf nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX, in besonderen<br />
Ausbildungsstätten für behinderte Menschen über Tag und Nacht erbrachte Leistungen (§ 92 Abs. 2<br />
S. 1 Nr. 4 SGB XII a.F.), Leistungen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten nach § 113 Abs. 1<br />
Nr. 5 SGB IX zur Vorbereitung auf die Teilhabe am Arbeitsleben (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 8 SGB XII),<br />
Teilhabeleistungen für Bildung für noch nicht eingeschulte Kinder, welche die für sie erreichbare<br />
Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen sollen (§ 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB XII a.F.; zu den<br />
Leistungsgruppen im Einzelnen unter 4). Neu eingefügt wurde § 138 Abs. 1 Nr. 8 SGB IX: Danach ist ein<br />
Beitrag zu den Aufwendungen grds. nicht aufzubringen, wenn gleichzeitig Leistungen für den<br />
Lebensunterhalt nach dem SGB II oder SGB XII bzw. § 27a BVG erbracht werden. In diesen Fällen kann<br />
davon ausgegangen werden, dass Bedürftigkeit vorliegt und daher Einkommen allenfalls unterhalb der<br />
genannten Einkommensgrenzen erzielt wird.<br />
Mit der Überführung der Eingliederungshilfe in das SGB IX wurde zudem das System der Vermögensberücksichtigung<br />
gänzlich neu geordnet. Seit dem 1.1.<strong>2020</strong> ist Vermögen für die Fachleistung<br />
Eingliederungshilfe bis zu einem Betrag von 150 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV<br />
(s.o.), das entspricht derzeit 57.330 €, von der Verwertung geschützt. Damit hat der Gesetzgeber –<br />
zusammen mit der dargestellten verbesserten Situation bei der Berücksichtigung von Einkommen –<br />
zumindest teilweise den berechtigten Belangen behinderter Menschen Rechnung getragen, sich trotz<br />
366 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1729<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
der „Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem des SGB XII“ aber für die Beibehaltung der<br />
Einkommens- und Vermögensabhängigkeit der Teilhabeleistungen entschieden. Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz<br />
vom 30.11.2019 (vgl. oben zu I) wurde die Regelung um eine Härteklausel<br />
ergänzt.<br />
5. Die einzelnen Leistungsgruppen der Eingliederungshilfe<br />
a) Allgemeines<br />
Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind ab 1.1.<strong>2020</strong> in § 102 Abs. 1 SGB IX aufgeführt. Die in Teil 1 des<br />
SGB IX (§§ 42 ff. SGB IX) benannten und damit für alle Rehabilitationsträger maßgeblichen Inhalte der<br />
jeweiligen Leistungen werden für die Eingliederungshilfe z.T. speziell ausgeformt (§§ 109, 110 i.V.m. § 42<br />
ff. SGB IX – Leistungen zur medizinischen Rehabilitation; §§ 111 i.V.m. 49 ff SGB IX – Leistungen zur<br />
Teilhabe am Arbeitsleben; §§ 112 i.V.m. 75 SGB IX – Leistungen zur Teilhabe an Bildung; §§ 113 ff.<br />
i.V.m. 76 ff SGB IX – Leistungen zur Sozialen Teilhabe). Die bereits zum 1.1.2018 erfolgte Ersetzung der<br />
„Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ durch „Leistungen zur Teilhabe an Bildung“ und<br />
„Leistungen zur sozialen Teilhabe“ (vgl. § 5 Nr. 4 und 5 SGB IX) soll nach dem Willen des Gesetzgebers nur<br />
der Klarstellung dienen und keinesfalls zu einer Leistungsausweitung führen (BT-Drucks 18/9522 S. 196,<br />
228, 285).<br />
b) Teilhabe an Bildung<br />
§ 112 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe an Bildung) erfasst im Wesentlichen den Regelungsgehalt des § 54<br />
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung sowie der §§ 12 und 9 Eingliederungshilfe-<br />
VO (Schulbildung bzw. Hilfsmittel); seit 1.1.2018 gibt auch § 29 Abs. 1 Nr. 2a SGB I Aufschluss über<br />
mögliche Leistungen zur Teilhabe an Bildung. In der Rechtspraxis wie auch im Gesetzgebungsverfahren<br />
war insb. seitens der Sozialhilfeträger in Frage gestellt worden, ob die Einführung dieser Leistung das<br />
Ziel, die – vorrangige – Verantwortung für inklusive Bildung beim (zuständigen) Schulträger zu verorten,<br />
nicht konterkariere (vgl. z.B. Ausschuss-Drucks 18[11]799 v. 4.11.2016, S. 265; 18[11]801 v. 4.11.2016, S. 55). Da<br />
die Leistung zur Teilhabe an Bildung weder von anderen Rehabilitationsträgern vorrangig zu erbringen<br />
ist, noch das System einer „inklusiven Bildung“ überall funktioniert, ist die Befürchtung, die Träger der<br />
Eingliederungshilfe werden in diesem Bereich zu „Ausfallbürgen“, nicht unberechtigt (vgl. dazu nur die<br />
umfangreiche Rechtsprechung der Sozialgerichte zu den Kosten für die Schulbegleitung). Vorschläge im<br />
Gesetzgebungsverfahren, z.B. den Träger der Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit als<br />
– vorrangige – Reha-Träger vorzusehen (vgl. nur BR-Drucks 428-16[B], S. 8 f; Ausschuss-Drucks 18[11]<br />
712), scheiterten jedoch.<br />
In der Sache ist auf zwei – i.S.d. behinderten Menschen – erfreuliche Punkte hinzuweisen: § 112 Abs. 1<br />
S. 2 SGB IX n.F. macht klar, dass Leistungen zur Teilhabe an Bildung auch solche zur Unterstützung<br />
schulischer Ganztagsangebote in offener Form einschließen, die unter Aufsicht und Verantwortung<br />
der Schule ausgeführt werden. Die Frage, ob auch für die Nachmittagsbetreuung in der Schule ein<br />
Schulbegleiter als eine vom Einkommens- und Vermögenseinsatz unabhängige Leistung zur Teilhabe<br />
an Bildung oder (nur) als nicht privilegierte Leistung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in<br />
Anspruch genommen werden kann (vgl. dazu nur BSG, Urt. v. 6.12.2018 – B 8 SO 7/17 R u. B 8 SO 4/17<br />
R), dürfte damit seit <strong>2020</strong> weniger streitanfällig sein und für die betroffenen Eltern und Kinder<br />
Rechtssicherheit bringen.<br />
Erfreulich ist zudem, dass auch die Förderung eines Masterstudiums im Anschluss an ein Bachelorstudium<br />
ermöglicht wird. Den Begriff der „hochschulischen Weiterbildung“ will der Gesetzgeber sehr<br />
allgemein verstanden wissen. Jedenfalls nach der Gesetzesbegründung soll gleichermaßen die Finanzierung<br />
einer Promotion mit Mitteln der Eingliederungshilfe als Leistung zur Teilhabe an Bildung<br />
möglich sein, falls dies „in begründeten Einzelfällen“ zur Erreichung des Berufsziels erforderlich ist<br />
(BT-Drucks 18/9522, S. 284). Dies war bislang in der Praxis nicht unumstritten (vgl. BSG, Urt. v. 24.2.2016<br />
– B 8 SO 18/14 R).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 367
Fach 18, Seite 1730<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
c) Leistungen zur sozialen Teilhabe<br />
Dem gesetzgeberischen Ziel der Präzisierung der „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“<br />
folgend, führt § 113 Abs. 2 SGB IX regelbeispielhaft („insbesondere“) die Leistungen zur sozialen Teilhabe<br />
auf. Dies bedeutet im Grundsatz, dass auch andere Leistungen unter diese Leistungskategorie fallen<br />
können.<br />
Aufgeführt sind:<br />
• Leistungen für Wohnraum,<br />
• Assistenzleistungen,<br />
• Heilpädagogische Leistungen,<br />
• Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie,<br />
• Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten,<br />
• Leistungen zur Förderung der Verständigung,<br />
• Leistungen zur Mobilität,<br />
• Hilfsmittel,<br />
• Besuchsbeihilfen.<br />
Die in Nr. 1 bis 8 aufgeführten Leistungen sind mit den in § 76 Abs. 2 SGB IX für alle Reha-Träger<br />
geltenden Leistungstatbeständen identisch und bestimmen sich nach den §§ 77 bis 84 SGB IX (§ 113<br />
Abs. 2 SGB IX); ergänzt wird der Leistungskatalog durch die Besuchsbeihilfen nach Nr. 9. Eine für die<br />
Bezieher von Mobilitätsleistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX nachteilige Regelung speziell für die<br />
Eingliederungshilfe findet sich in § 114 Nr. 1 SGB IX: Als Leistung zur Teilhabe am Leben in der<br />
Gemeinschaft besteht ein Anspruch nur dann, wenn der behinderte Mensch ständig auf die Nutzung<br />
des Fahrzeugs angewiesen ist. Dies hatte das BSG zur insoweit auslegungsbedürftigen Rechtslage bis<br />
31.12.2019 gerade anders entschieden (BSG, Urt. v. 8.3.2017 – B 8 SO 2/16 R). Noch offen ist allerdings,<br />
was unter einer „ständigen“ Nutzung zu verstehen sein kann.<br />
d) Teilhabe an Arbeit/Leistungen zur Beschäftigung<br />
Nicht zuletzt aufgrund der Kritik des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen<br />
bei den Vereinten Nationen in dessen „Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht<br />
Deutschlands“ vom 13.5.2015 (abrufbar unter www.institut-fuer-menschenrechte.de) hinsichtlich<br />
der „Segregation auf dem Arbeitsmarkt“ und des Umstandes, dass „segregierte Werkstätten für behinderte<br />
Menschen weder auf den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten noch diesen Übergang fördern“<br />
(Art. 27 Nr. 49) stand auch die Arbeitsmarktsituation für behinderte Menschen, sei es in oder<br />
außerhalb von Werkstätten, im Fokus des Gesetzgebers. Neben der Förderung von Modellprojekten<br />
(§ 11 SGB IX), die den Vorrang von Leistungen zur Teilhabe und die Sicherung der Erwerbsfähigkeit<br />
(§§ 9, 10 SGB IX) vor der Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen stärken sollen,<br />
war insb. gefordert worden, den Übergang von der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu<br />
erleichtern, aber auch eine bislang nicht gegebene Rückkehrmöglichkeit vom ersten Arbeitsmarkt in<br />
die Werkstatt einzuräumen, um mehr Flexibilität bei der Gestaltung der Erwerbstätigkeit behinderter<br />
Menschen zu schaffen (vgl. nur Ausschuss-Drucks 18[11]803, S. 236). Letzteres ist mit § 220 Abs. 3<br />
SGB IX bereits zum 1.1.2018 Gesetz geworden.<br />
Der Katalog der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben als Leistung der Eingliederungshilfe umfasst in<br />
§ 111 Abs. 1 SGB IX die ganze Spannbreite der Einsatzmöglichkeiten behinderter Menschen zur Erbringung<br />
einer Tätigkeit: Leistungen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten für behinderte Menschen,<br />
Leistungen bei anderen Leistungsanbietern (§ 60 SGB IX) und das Budget für Arbeit bei privaten und<br />
öffentlichen Arbeitgebern (§ 61 SGB IX). All diese Leistungen sind im Übrigen ohne einen Kostenbeitrag<br />
des behinderten Menschen zu erbringen (§ 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX).<br />
368 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1731<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Das im Beteiligungsverfahren zum BTHG geforderte „Budget für Ausbildung“ hat der Gesetzgeber des<br />
BTHG nicht realisiert; es ist erst durch das Gesetz zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger in<br />
der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe vom 10.12.2019 mit Wirkung vom 1.1.<strong>2020</strong> eingeführt<br />
worden (BGBl I 2019, S. 3135). Danach erhalten Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf<br />
Leistungen nach § 57 SGB IX (also im Eingangs- und Berufsbildungsbereich) haben und denen von<br />
einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Ausbildungsverhältnis<br />
in einem anerkannten Ausbildungsberuf oder in einem Ausbildungsgang nach § 66 BBiG oder § 42m<br />
HwO angeboten wird, mit Abschluss des Vertrags über dieses Ausbildungsverhältnis als Leistungen<br />
zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Budget für Ausbildung. Leistungsträger sind allerdings nicht die<br />
Träger der Eingliederungshilfe, sondern ist vorrangig die Bundesagentur für Arbeit (§ 61a Abs. 1 S. 2<br />
i.V.m. § 63 Abs. 1, 3 SGB IX).<br />
e) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation<br />
Die Leistungen der medizinischen Rehabilitation entsprechen im Umfang und der Art ihrer Erbringung<br />
nach wie vor im Wesentlichen den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (§§ 109, 110<br />
SGB IX).<br />
6. Wunsch- und Wahlrecht<br />
Der Träger der Eingliederungshilfe hat bei der Beurteilung, wie der individuelle Bedarf gedeckt wird,<br />
keine Alleinentscheidungskompetenz. Vielmehr normierte bereits § 9 Abs. 2 und 3 SGB XII auch für den<br />
Bereich der Eingliederungshilfe ein Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten, das sich im<br />
Wesentlichen auf die Gestaltung der Hilfegewährung (Art und Maß der Leistungserbringung sowie<br />
Auswahl der Leistungsart) richtete.<br />
Was die Form der Leistungserbringung anbelangt, gibt es weiterhin die Möglichkeit, Leistungen der<br />
Eingliederungshilfe in der Form eines Persönlichen Budgets zu erbringen (§ 105 Abs. 4 i.V.m. § 29<br />
SGB IX). Anders als bislang kann das persönliche Budget aber nicht mehr nur als „trägerübergreifende<br />
Komplexleistung“ (§ 29 Abs. 1 S. 3 SGB IX), sondern nach § 29 Abs. 1 S. 4 SGB IX auch nicht<br />
trägerübergreifend von einem einzelnen Leistungsträger erbracht werden.<br />
Nach § 105 Abs. 3 SGB IX können die Träger mit Zustimmung des Leistungsberechtigten Leistungen<br />
zur sozialen Teilhabe allerdings auch in Form einer pauschalen Geldleistung erbringen. Möglich wird<br />
dies sein (vgl. § 116 Abs. 1 SGB IX) für Leistungen zur Assistenz, zur Förderung der Verständigung und<br />
zur Beförderung. Nicht ganz einfach erscheint allerdings die Abgrenzung zur Leistungserbringung in<br />
Form eines persönlichen Budgets. Denn Abgrenzungskriterien hierzu enthält weder das Gesetz noch<br />
die Gesetzesbegründung. Darin ist zwar ausgeführt (vgl. BT-Drucks 18/9522, S. 280), dass die mit der<br />
pauschalen Geldleistung eingekaufte Leistung nicht von einem Leistungsanbieter ausgewählt werden<br />
muss, mit dem Vereinbarungen bestehen. Allerdings kann aus § 125 Abs. 3 SGB IX unproblematisch<br />
der Rückschluss gezogen werden, dass es eine Auswahlpflicht bezogen auf vertragsgebundene<br />
Anbieter auch beim Budget nicht gibt. Die Regelung dient erkennbar lediglich der Verwaltungsvereinfachung<br />
und soll – vermutlich – den aufwändigen Abschluss von Zielvereinbarungen, Kontrollen<br />
der Mittelverwendung und Buchführung durch den behinderten Menschen zu vermeiden helfen.<br />
Dieser erhält z.B. für die Mobilität einen Geldbetrag x und kann ihn dann zweckentsprechend<br />
verwenden, ohne im Einzelnen darüber Rechnung legen zu müssen. Der pauschale Geldbetrag wird<br />
sich damit aller Wahrscheinlichkeit nach nur für kleinere „Budgets“ eignen.<br />
Das Wunsch- und Wahlrecht der behinderten Menschen bei der Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen<br />
ist trotz der Personen- und nicht Einrichtungsorientierung von Leistungen auch<br />
künftig beschränkt. Es findet seine Grenzen in § 104 SGB IX, der in seinem Abs. 1 zunächst den<br />
Grundsatz wiederholt, dass sich die Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Besonderheiten des<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 1.4.<strong>2020</strong> 369
Fach 18, Seite 1732<br />
Neuerungen in der Eingliederungshilfe<br />
Sozialrecht<br />
Einzelfalls bestimmen (Gesichtspunkte wie z.B. das persönliche Umfeld der leistungsberechtigten<br />
Person werden besonders erwähnt) und nach Abs. 2 S. 1 den Wünschen des Leistungsberechtigten zu<br />
entsprechen ist, soweit die Wünsche „angemessen“ sind. Unabhängig von der Frage, ob Wünsche<br />
überhaupt mit dem Verdikt der Unangemessenheit versehen werden können – jeder darf sich grds.<br />
alles wünschen – steckt dahinter, wie sich aus der Vermutungsregelung in Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und 2<br />
deutlich ergibt, eine wirtschaftliche Sichtweise. Als unangemessen gilt ein Wunsch (gesetzliche<br />
Fiktion ohne Möglichkeit, diese zu widerlegen), wenn und soweit die Höhe der Kosten die einer<br />
vergleichbaren Leistung vertragsgebundener Leistungserbringer unverhältnismäßig übersteigt, wenn<br />
der Bedarf auch dadurch gedeckt werden kann. Anders als bisher setzt der Mehrkostenvorbehalt also<br />
nicht mehr an der Form der Leistungserbringung an (ambulant, stationär, teilstationär); entscheidend<br />
ist allein, welche Kosten für vertragsgebundene Leistungserbringer, sei es für stationäre, teilstationäre,<br />
ambulante oder sonstige Leistungsformen, zur Deckung der Bedarfe entstünden. Eine Ausnahme<br />
sieht das Gesetz allerdings vor: Ist eine von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichende<br />
Leistungsgestaltung nicht zumutbar, ist ein Kostenvergleich nicht durchzuführen.<br />
Speziell für die mit der Wahl der Wohnform verbundenen Kosten sieht § 104 Abs. 3 SGB IX –<br />
abweichend vom ursprünglichen Gesetzentwurf und eingeführt nach Beschlussempfehlungen des<br />
Ausschusses für Arbeit und Soziales (vgl. BT-Drucks 18/10523, S. 4, 61 ff.) – eine eigene Regelung vor:<br />
Bestehen nach den persönlichen, familiären und örtlichen Verhältnissen der vom Hilfebedürftigen<br />
gewählten Wohnform keine Bedenken, dass der bestehende Bedarf nicht gedeckt werden kann, dann<br />
ist der gewünschten Wohnform – außerhalb von „besonderen Wohnformen“ (gemeint ist die bisher<br />
als stationäre Unterbringung bezeichnete Wohnform) –„der Vorzug zu geben“, wenn dies von der<br />
leistungsberechtigten Person gewünscht wird. Die dafür erforderlichen Assistenzleistungen (§ 113<br />
Abs. 2 Nr. 2 SGB IX) sind, wenn dies die leistungsberechtigte Person wünscht, in Bezug auf die<br />
Gestaltung persönlicher Beziehungen und die persönliche Lebensplanung nicht gemeinsam zu<br />
erbringen (§ 116 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX).<br />
Mit dieser Sonderregelung zum Kostenvergleich bei unterschiedlichen Wohnformen wird auch auf<br />
dieser Ebene für die Eingliederungshilfe die Abkehr von der einrichtungsbezogenen Leistungserbringung<br />
vollzogen. Für die Betroffenen positiv ist zudem die Berücksichtigung ihres Wunsch- und<br />
Wahlrechts auch in Bezug auf die Form der Leistungserbringung, d.h. wahlweise gemeinsam mit<br />
anderen (§ 116 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX, sog. Pool-Lösung) oder individuell. Dies bedeutet in der Praxis, dass<br />
sich der Träger der Eingliederungshilfe z.B. nicht auf den Standpunkt stellen kann, mehrere behinderte<br />
Menschen müssten ihre Ausflüge oder Einkäufe abstimmen, damit sie gemeinsam durch nur eine<br />
Assistenzperson begleitet werden müssen. Es steht den behinderten Menschen vielmehr frei, über die<br />
Art der Gestaltung ihrer persönlichen Lebensplanung autonom und frei von Kostenerwägungen zu<br />
entscheiden. Was es allerdings bedeutet, dass der Wohnform „der Vorzug“ zu geben ist, bleibt offen. Ist<br />
eine bindende Entscheidung gemeint, wenn die Voraussetzungen vorliegen, oder hat der Träger nach<br />
pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden? Auch die Ausführungen in der Ausschussbegründung<br />
(S. 62) helfen nicht weiter, wenn auch vieles dafür sprechen dürfte, dass beim Vorliegen der übrigen<br />
Voraussetzungen eine bindende Entscheidung für eine Leistung in der vom behinderten Menschen<br />
gewählten Form zu erfolgen hat.<br />
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