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Ausgabe <strong>152</strong><br />
2010<br />
Herausgegeben von der<br />
Naturhistorischen Gesellschaft Hannover
<strong>Naturhistorica</strong><br />
Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
Ausgabe <strong>152</strong><br />
Hannover · Germany · 2010<br />
ISSN 1868-0828<br />
www.<strong>Naturhistorica</strong>.de<br />
Herausgeber<br />
Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />
Redaktion<br />
Dieter Schulz<br />
Lektorat<br />
Stefan Koenemann (Zoologie)<br />
Hansjörg Küster (Botanik und Ökologie)<br />
Albert Melber (Zoologie)<br />
Annette Richter (Paläontologie)<br />
Design, Satz<br />
Matthias Winter, vemion.de, Hannover<br />
Umschlagbild Blue holes © Thomas M. Iliffe<br />
Foto S. 1 Seeigel © Pauline S Mills, iStockphoto.com<br />
© Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />
Gesellschaft zur Pflege der Naturwissenschaften<br />
Willy-Brandt-Allee 5<br />
30169 Hannover<br />
Germany<br />
E-Mail: info@N-G-H.org<br />
www.N-G-H.org
<strong>Naturhistorica</strong><br />
Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover<br />
<strong>152</strong>·2010<br />
dieter schulz<br />
Vorwort<br />
5<br />
torben stemme, Gerd Bicker, steffen hartzsch, stefan Koenemann<br />
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
sind remipedia primitive crustaceen<br />
oder schwimmende insekten?<br />
7<br />
Marco Neiber<br />
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
Beobachtungen zur Parasitierung und Mortalität der ilex-Minierfliege<br />
Phytomyza ilicis curtis 1846 (diptera, agromycidae)<br />
29<br />
ingo Geestmann<br />
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
45<br />
carsten Brauckmann, elke Gröning<br />
Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />
63<br />
anna-dinah eßer<br />
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungsschlüssel<br />
für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
69<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
4<br />
heiko steinke<br />
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
vergleich des fossilen irregulären seeigels Nucleolites mit<br />
dem rezenten herzseeigel Echinocardium cordatum<br />
113<br />
Marijke taverne<br />
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem Oberen Jura<br />
Hannovers<br />
schädelelemente und osteoderme der „sammlung struckmann“<br />
153<br />
Joachim haßfurther, frank-dieter Busch<br />
Bericht über die Marokko-Exkursion 2009 der Naturistorischen<br />
Gesellschaft Hannover<br />
24. oktober 2009 bis 7. November 2009<br />
179<br />
dieter schulz<br />
Rückblick auf den Festakt am 17.12.2009<br />
195<br />
Die Naturhistorische Gesellschaft<br />
Hannover<br />
197<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
5<br />
Vorwort<br />
Mit der vorliegenden <strong>Naturhistorica</strong><br />
führen wir die Tradition fort, jungen Menschen<br />
eine Plattform für die Veröffentlichung<br />
ihrer Diplom-, Master- und Bachelor-Arbeiten<br />
zu bieten. Dieses Mal sind es<br />
gleich fünf Artikel, die von jungen Autoren<br />
verfasst wurden. Drei paläontologische Arbeiten,<br />
die durch die Forschung an Sammlungsstücken<br />
des Landesmuseums Hannover<br />
entstanden sind, liegen im Trend<br />
vieler Museen weltweit, die sich in Zeiten<br />
knapper finanzieller Mittel auf die eigenen<br />
Sammlungen konzentrieren.<br />
Anna-Dinah Eßer hat sich mit Halswirbeln<br />
von Carnivoren (Fleischfressern)<br />
beschäftigt und nach gründlichen Studien<br />
einen Bestimmungsschlüssel erstellt, mit<br />
dem Halswirbelknochen (auch fossile) einer<br />
bestimmten Tierart zugeordnet werden<br />
können. Jeder, der schon einen Bestimmungsschlüssel<br />
erstellt hat, kennt den<br />
erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand, der<br />
dafür erforderlich ist.<br />
Auch die Forschungsarbeiten an Exponaten<br />
der „Sammlung Struckmann“<br />
werden fortgeführt. So untersucht Heiko<br />
Steinke fossile irreguläre Seeigel und<br />
kommt zu dem Ergebnis, dass alle Fundstücke<br />
einer Gattung, nämlich Nucleolites,<br />
zuzuordnen sind. Im zweiten Teil der Arbeit<br />
vergleicht er Nucleolites mit dem rezenten<br />
Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />
aus der Nordsee.<br />
Marijke Taverne kann nach gründlichen<br />
Untersuchungen der Schädelelemente<br />
und Osteoderme eines Meereskrokodils –<br />
ebenfalls aus der „Sammlung Struckmann<br />
“ – diese ausschließlich der Gattung<br />
Steneosaurus zuordnen.<br />
Eine weitere paläontologische Arbeit,<br />
von Carsten Brauckmann und Elke Gröning,<br />
beschreibt die wenigen bisher aufgefundenen<br />
fossilen Reste von Insekten aus<br />
dem Oberen Jura in Norddeutschland.<br />
Ingo Geestmann hat die Vegetation eines<br />
Hainbuchen-Niederwaldes an der Leine<br />
untersucht. Wird dieser Waldtyp mit<br />
seiner einzigartigen Vegetation nicht unter<br />
Schutz gestellt, verschwindet er in absehbarer<br />
Zeit, da es die Bewirtschaftungsform<br />
heute nicht mehr gibt.<br />
Viele haben wohl schon die unschönen<br />
bräunlich-gelben Fraßspuren an den<br />
Foto: © Arven – Fotolia.com<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
6 <br />
Blättern der Stechpalme gesehen und sich<br />
gefragt, wer der Verursacher ist. Marco<br />
Thomas Neiber liefert die Antwort. Er hat<br />
sich nicht nur mit der Minierfliege selbst<br />
und den durch sie verursachten Schäden<br />
beschäftigt, sondern auch mit ihrer Parasitierung<br />
und Mortalität.<br />
Immer wieder gibt es Überraschungen<br />
durch die Entdeckung neuer Tier- und<br />
Pflanzenarten. Torben Stemme versucht,<br />
mit immunhistochemischen Methoden die<br />
Evolution der rätselhaften Grottenkrebse<br />
zu klären und kommt zu dem Schluss, dass<br />
es möglicherweise doch eher schwimmende<br />
Insekten als primitive Krebse sind.<br />
Ein kurz gefasster Beitrag über die Marokko-Exkursion<br />
2009 und ein Rückblick<br />
auf den Festakt zum Jubiläumsband 150<br />
am 17.12.2009 informieren über zusätzliche<br />
Aktivitäten der Naturhistorischen Gesellschaft<br />
Hannover.<br />
Dieter Schulz<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
7<br />
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
Sind Remipedia primitive Crustaceen oder<br />
schwimmende Insekten?<br />
Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch,<br />
Stefan Koenemann<br />
Foto: Thomas M. Iliffe<br />
Zusammenfassung<br />
Zu den erst seit den frühen 80er Jahren<br />
bekannten Grottenkrebsen Remipedia<br />
Yager 1981 wurden seit ihrer Entdeckung<br />
zahlreiche Theorien bezüglich ihrer Abstammungsverhältnisse<br />
postuliert. So sind<br />
Hypothesen von einer basalen Stellung<br />
innerhalb der Crustacea über eine Verbindung<br />
zu verschiedenen niederen und<br />
höheren Krebsen bis hin zu einer nahen<br />
Verwandtschaft mit Hexa poda bekannt.<br />
In diesem Artikel werden die neuesten Erkenntnisse<br />
auf diesem Gebiet präsentiert.<br />
Des Weiteren wird ein relativ neuer Ansatz<br />
zur Lösung der Verwandtschaftsbeziehungen<br />
vorgestellt. Bei dieser als Neurophylogenie<br />
bezeichneten Disziplin werden<br />
Merkmale der Neuroanatomie und Neuroentwicklungsbiologie<br />
analysiert. Ein spezieller<br />
Merkmalkomplex ist die Morphologie<br />
und Verteilung von serotonergen Zellen im<br />
Bauchmark der Arthropoda, welcher mit<br />
Hilfe der Immunhistochemie dargestellt<br />
werden kann. Hier wird die Methode der<br />
Immunhistochemie vorgestellt und erste<br />
Ergebnisse zum serotonergen System der<br />
Remipedia präsentiert.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
8 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Abb. 1 fotos einiger arten der remipedia (nicht<br />
maßstabsgetreu). a: Cryptocorynetes haptodiscus.<br />
B: Speleonectes tulumensis. c: Godzilliognomus<br />
frondosus. fotos thomas M. iliffe.<br />
Einleitung<br />
Remipedia<br />
Die Remipedia zählen zu den bemerkenswertesten<br />
zoologischen Neufunden<br />
der letzten 30 Jahre. Während einer Tauchexpedition<br />
auf den Bahamas wurden 1979<br />
erstmals Individuen dieser bis dahin unbekannten<br />
Gruppe von Gliederfüßern (Arthropoda)<br />
entdeckt und als eine neue Klasse<br />
der Crustacea beschrieben (Yager 1981).<br />
Nach dieser Entdeckung wurden und werden<br />
immer wieder neue Arten gefunden,<br />
sodass mittlerweile 24 gesicherte Arten<br />
aus drei Familien bekannt sind (Tab. 1).<br />
Darüber hinaus liegen Exemplare von<br />
circa fünf unbeschriebenen Arten vor<br />
(Abb. 1). Zuletzt wurde die Art Speleonectes<br />
atlantida Koenemann et al. 2009b beschrieben.<br />
Alle rezenten Remipedien werden<br />
der Ordnung Nectiopoda Schram<br />
1986 zugeteilt. Die Nectiopoda wiederum<br />
sind in drei Familien unterteilt. Die Godzilliidae<br />
Schram et al. 1986 umfassen die<br />
drei Gattungen Godzillius, Godzilliognomus<br />
und Pleomothra. Die Familie Speleonectidae<br />
Yager 1981 enthält vier Gattungen:<br />
Tab. 1 die taxonomische einteilung der remipedia in familien und Gattungen und die anzahl der rezenten<br />
arten pro Gattung.<br />
Familie Gattung Anzahl rezenter Arten<br />
Godzilliidae Godzillius Schram et al. 1986 Monotypisch<br />
Godzilliognomus Yager 1989 2<br />
Pleomothra Yager 1989 2<br />
Speleonectidae Speleonectes Yager 1981 12<br />
Lasionectes Yager & Schram 1986 2<br />
Cryptocorynetes Yager 1987 3<br />
Kaloketos Koenemann et al. 2004 Monotypisch<br />
Micropacteridae Micropacter Koenemann et al. 2007a Monotypisch<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
9<br />
Speleonectes, Lasionectes, Cryptocorynetes und<br />
Kaloketos. Außerdem wurde von Koenemann<br />
et al. (2007a) eine neue Familie, die<br />
Micropacteridae, beschrieben.<br />
Das Hauptverbreitungsgebiet der Remipedien<br />
liegt in den Höhlensystemen<br />
der Karibik. Außerdem gibt es einzelne,<br />
offenbar isolierte Fundstellen auf den<br />
Kanarischen Inseln (Lanzarote) und in<br />
West-Australien (Abb. 2C). Der Körper<br />
der hermaphroditischen (zwittrigen)<br />
Remipedia ist in einen Kopf- und einen<br />
lang gestreckten Rumpfbereich gegliedert<br />
(Abb. 2 A, B), der aus bis zu 42 gleichförmigen<br />
Segmenten bestehen kann (Koenemann<br />
et al. 2006). Im adulten Zustand erreichen<br />
kleine Arten eine Länge von ca.<br />
9 mm, bei großen Arten können es bis<br />
zu 45 mm sein. Remipedia besitzen weder<br />
Pigmente noch Augen, es handelt sich<br />
um obligatorische Grottenkrebse. Alle bekannten<br />
Arten besiedeln sogenannte anchialine<br />
Höhlensysteme (Schram et al. 1986)<br />
(Abb. 3), welche in der Karibik gemeinhin<br />
Abb. 2 A: Foto eines lebenden Exemplars der<br />
Art Speleonectes tanumekes (unveröffentlichtes<br />
Original). B: Habitus-Zeichnung von Speleonectes<br />
parabenjamini; dorsale Ansicht (aus Koenemann<br />
et al. 2006). C: Weltweite Verbreitung der rezenten<br />
Remipedia; jedes Symbol repräsentiert Höhlen, in<br />
denen Remipedia gefunden wurden.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
10 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Abb. 3 Aufnahme während der Lanzarote-Expedition<br />
2008 im Lavatunnel Atlantida, bei der die<br />
neue Art Speleonectes atlantida gefunden wurde<br />
(Koene mann et al. 2009b). Die Ausrüstung der<br />
Taucher verdeutlicht den immensen Aufwand,<br />
diese Höhlen zu untersuchen. Foto Jill Heinerth.<br />
auch als Blue Holes bezeichnet werden.<br />
Der Begriff „anchialin“, erstmals erwähnt<br />
von Holthuis (1973), wurde 1986 von<br />
Stock et al. neu definiert. Demnach bestehen<br />
anchialine Habitate aus halinen Wasserkörpern,<br />
normalerweise mit einer eingeschränkten<br />
Exposition zur Oberfläche und<br />
stets vorhandenen, mehr oder weniger stark<br />
ausgeprägten Verbindungen zum Meer,<br />
wobei sie merklich marinen aber auch terrestrischen<br />
Einflüssen unterliegen. Remipedia<br />
finden sich ausschließlich unterhalb<br />
der Sprungschicht, welche sich zwischen<br />
Salz- und Süßwasser aufgrund der Dichteunterschiede<br />
ausbildet (Halokline).<br />
Aufgrund der späten Entdeckung dieser<br />
Krebsgruppe und dem nur schwer zugänglichen<br />
Lebensraum sind einige Aspekte<br />
zur Biologie der Remipedia noch<br />
unbekannt. Beispielsweise ist relativ wenig<br />
über die Ökologie und das Verhalten dieser<br />
Krebse untersucht worden. Die Embryonalentwicklung<br />
wurde erst vor drei Jahren<br />
beschrieben, nachdem erstmals Nauplius-<br />
Larven auf der Bahamas-Insel Abaco gefunden<br />
wurden (Koenemann et al. 2007b,<br />
2009a). Bezüglich des Nervensystems der<br />
Remipedia liegen bisher nur Studien zur<br />
Gehirnanatomie vor (Fanenbruck et al.<br />
2004; Fanenbruck & Harzsch 2005). Untersuchungen<br />
der ventralen Nervenkette,<br />
auch Bauchmark genannt, fehlen bis zum<br />
heutigen Tag (allgemeine Erläuterungen<br />
zum Nervensystem der Arthropoda siehe<br />
„Exkurs“).<br />
Ebenso sind die genauen Verwandtschaftsbeziehungen<br />
der Remipedia innerhalb<br />
der Arthropoda noch umstritten.<br />
Mittlerweile sind zahlreiche Theorien zur<br />
Stellung der Remipedia postuliert worden.<br />
Diese werden in diesem Artikel vorgestellt<br />
und im Rahmen der neuesten Erkenntnisse<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
11<br />
Exkurs: Nervensystem der Arthropoda<br />
Trotz einfacher Bauweise befähigt das<br />
Nervensystem der Arthropoda zu verschiedenen,<br />
zum Teil komplexen Sinnesleistungen.<br />
Es lässt sich einteilen in das<br />
enterische (ENS), das periphere (PNS)<br />
und das zentrale Nervensystem (ZNS).<br />
Das ENS reguliert alle Verhaltensmuster,<br />
welche mit der Nahrungsaufnahme,<br />
Verdauung und Ausscheidung assoziiert<br />
sind. Bei der Europäischen Wanderheuschrecke<br />
Locusta migratoria und dem Tabakschwärmer<br />
Manduca sexta wird die<br />
Häutung ebenfalls vom ENS beeinflusst,<br />
wobei Luft verschluckt wird, um die alte<br />
Cuticula zu sprengen (Ayali 2004). Über<br />
das PNS werden externe Reize aus der<br />
Umgebung des Tieres, aber auch interne<br />
Informationen des Körpers zum<br />
ZNS gesandt (Kandel et al. 2000). Das<br />
PNS ist über Nervenbahnen mit dem<br />
ZNS verbunden. Das ZNS besteht aus<br />
dem dorsal gelegenen Gehirn, welches<br />
mit der ventral liegenden Nervenkette,<br />
auch Bauchmark genannt, über paarige<br />
circumoesophageale Konnektive verbunden<br />
ist. Gehirn und Bauchmark sind<br />
segmentierte Strukturen, wobei die segmentalen<br />
Ganglien über paarige longitudinale<br />
Konnektive in Verbindung stehen.<br />
Die Ganglien setzen sich zusammen<br />
aus zwei bilateralsymmetrischen Hemiganglien,<br />
welche durch Kommissuren<br />
verbunden sind (Reichert 2000). Diese<br />
Form des ZNS bezeichnet man auch als<br />
Strickleiternervensystem.<br />
Die Ganglien des Bauchmarks sorgen<br />
für eine Innervierung der Körpersegmente.<br />
Bei hoch entwickelten Invertebraten<br />
sind die Ganglien in eine Rinde<br />
aus Zellkörpern und einen sogenannten<br />
Neuropilkern unterteilt (Reichert 2000).<br />
Als Zellkörper wird der Teil der Nervenzelle<br />
(Neuron) benannt, in dem sich der<br />
Zellkern und weitere wichtige Organellen<br />
(z. B. Mitochondrien, Golgikörper, endoplasmatisches<br />
Reticulum) befinden.<br />
Als Neuropil bezeichnet man spezielle<br />
Bereiche im Nervensystem, in denen<br />
keine Zellkörper vorkommen, sondern<br />
nur die als Neuriten bezeichneten Zellfortsätze<br />
der Nervenzellen. Je nach Anzahl<br />
dieser vom Zellkörper ausgehenden<br />
Zellfortsätze lassen sich Nervenzellen in<br />
monopolare, bipolare oder sogar multipolare<br />
Neurone einteilen.<br />
Vom Bauchmark werden über die in<br />
die Peripherie ziehenden Nervenfasern<br />
die Körperanhänge und Organe des jeweiligen<br />
Segments innerviert. Gleichzeitig<br />
werden aus der Peripherie sensorische<br />
Eingänge erhalten und verarbeitet.<br />
Außerdem werden Fasern aus jedem<br />
Ganglion über die Konnektive in andere<br />
Segmente und in das Gehirn projiziert<br />
(Kandel et al. 2000).<br />
Die Informationsübertragung zwischen<br />
einzelnen Neuronen findet an speziellen<br />
Strukturen statt, den sogenannten<br />
Synapsen. Man unterscheidet zwei<br />
Typen: Zum einen die elektrische zum<br />
anderen die chemische Synapse (Reichert<br />
2000; Kandel et al. 2000). Bei der<br />
chemischen Synapse dienen Neurotransmitter<br />
als Botenstoffe, um die Information<br />
von einer Nervenzelle zur anderen<br />
weiter zu leiten. Diese Botenstoffe lassen<br />
sich in niedermolekularen Transmitter<br />
und Neuropeptide einteilen. Zur ersten<br />
Klasse gehört der in dieser Arbeit untersuchte<br />
Neurotransmitter Serotonin.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
12 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
diskutiert. Hierbei wird ein relativ neuer<br />
Ansatz zur Lösung der phylogenetischen<br />
Beziehungen gewählt. Am Beispiel serotonerger<br />
Zellen im Nervensystem der Remipedia<br />
wird auf diese Weise ein spezieller<br />
Merkmalskomplex zur Evaluierung der<br />
Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb<br />
der Arthropoda verwendet.<br />
Myriochelata ist wiederum per Definition<br />
nicht mit der Verwandtschaft Mandibeln<br />
tragender Arthropoden, den Mandibulata<br />
(erstmals bei Snodgrass 1935), bestehend<br />
aus Myriapoda, Crustacea und Hexapoda,<br />
vereinbar (Abb. 4).<br />
Phylogenie der Gliederfüßer und<br />
Remipedia<br />
Die Verwandtschaftsverhältnisse (Phylogenie)<br />
innerhalb der Arthropoda werden<br />
seit dem 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert<br />
(z. B. Edgecombe 2010; Jenner 2010;<br />
Koenemann et al. 2010; Regier et al. 2010).<br />
Die traditionellen Vergleiche morphologischer<br />
Merkmale oder verschiedener Baupläne<br />
werden seit einigen Jahrzehnten<br />
durch molekulare Studien ergänzt. Hierbei<br />
werden molekulare Sequenzdaten der Taxa<br />
verglichen, also die Abfolge der Grundbausteine<br />
(Nukleotide) der DNA beziehungsweise<br />
RNA oder die Aminosäureabfolge<br />
der Proteine.<br />
Die orthodoxe Auffassung eines gemeinsamen<br />
Ursprungs Tracheen-atmender<br />
Arthropoden, den Tracheata (Abb. 4),<br />
erstmals erwähnt bei Haeckel (1866) und<br />
später neu definiert von Pocock (1893a, b),<br />
gilt heute weitgehend als überholt, und ist<br />
durch neue Hypothesen zur Arthropoda-<br />
Phylogenie ersetzt worden. So wurde das<br />
Konzept der Pancrustacea (u. a. Friedrich<br />
& Tautz 1995, 2001; Regier & Shultz<br />
1997) vorgeschlagen, bei dem die Hexapoda<br />
und Crustacea zu Schwestergruppen<br />
(oft unter gegenseitigem Ausschluss einiger<br />
Vertreter dieser beiden Gruppen) vereinigt<br />
werden. Ein weiteres Konzept postuliert<br />
eine enge Verwandtschaft der Myriapoda<br />
und Chelicerata, genannt Paradoxopoda<br />
(Mallat et al. 2004) beziehungsweise Myriochelata<br />
(Pisani et al. 2004). Ein Taxon<br />
A<br />
B<br />
C<br />
Abb. 4 Verschiedene Hypothesen zur Phylogenie<br />
der Arthropoda. A: Im Tracheata-Konzept sind<br />
Myriapoda und Hexapoda Schwestergruppen. B:<br />
Beim Pancrustacea-Konzept stehen die Crustacea<br />
und Hexapoda in einer Klade. Zu beiden Theorien<br />
ist das Taxon Mandibulata kompatibel. C:<br />
Im Myriochelata-Konzept bilden Chelicerata und<br />
Myriapoda sowie Crustacea und Hexapoda jeweils<br />
Schwestergruppen. Modifiziert nach Westheide &<br />
Rieger 2007.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
13<br />
A<br />
B<br />
Abb. 5 Phylogenetische Bäume der Analysen von<br />
88 Arthropoden-Taxa anhand der DNA-Marker COI,<br />
16S und 18S aus Koenemnann et al (2010). Remipedia<br />
bilden eine Klade mit Cephalocarida, welche<br />
wiederum in einem Schwestergruppenverhältnis zu<br />
basalen Hexapoden (A) beziehungsweise Malacostraca<br />
(B) stehen. Der schwarze Punkt markiert die<br />
Pancrustacea-Klade.<br />
Bei Vergleichen morphologischer Merkmale<br />
wurden Remipedia aufgrund ihres<br />
außergewöhnlichen Bauplans häufig als<br />
primitive Krebsgruppe angesehen oder<br />
fungierten z. B. a priori als Außengruppe in<br />
phylogenetischen Analysen (Schram 1986;<br />
Ax 1999; Wills 1997). Diese theoretischen<br />
Vorannahmen konnten allerdings bislang<br />
nicht überzeugend untermauert werden.<br />
Mehrere umfangreiche phylogenetische<br />
Analysen der Arthropoda/Metazoa scheinen<br />
einer basalen Stellung der Remipedia<br />
zu widersprechen (Schram & Koenemann<br />
2004; Giribet et al. 2001; Shultz & Regier<br />
2000; Regier et al. 2008, 2010; Spears &<br />
Abele 1997; Koenemann et al. 2010).<br />
Neuere phylogenetische Studien zur<br />
Stellung der Remipedia innerhalb der Arthropoda<br />
sprechen für eine Verwandtschaft<br />
zu höher entwickelten Crustacea (Malacostraca)<br />
beziehungsweise Hexapoda. So<br />
wurden aufgrund von Vergleichen der Gehirnstrukturen<br />
Ähnlichkeiten zu Malacostraca<br />
und Hexapoda vermutet (Fanenbruck<br />
et al. 2004; Fanenbruck & Harzsch 2005).<br />
Dies wird durch Gemeinsamkeiten in der<br />
Entwicklung und der Antennenmorphologie<br />
unterstützt (Koenemann et al. 2009a).<br />
Molekulare Vergleiche von Sequenzen des<br />
Blutfarbstoffs Hämocyanin, welcher dem<br />
Sauerstofftransport bei bestimmten Invertebraten<br />
dient, ergaben überraschend viele<br />
Gemeinsamkeiten zwischen Remipedia<br />
und Hexapoda (Ertas et al. 2009).<br />
Aktuelle molekulare Studien, welche<br />
die zurzeit umfangreichsten auf dem Gebiet<br />
der Arthropoda-Phylogenie darstellen<br />
(Koenemann et al. 2010; Regier et al. 2008,<br />
2010), zeigen ein Schwestergruppenverhältnis<br />
von Remipedia zu Cephalocarida.<br />
Die Schwester-Taxa zu dieser phylogenetischen<br />
Gruppierung wiederum sind basale<br />
Hexapoda. Somit scheint sich die Vermutung<br />
zu erhärten, dass die Remipedia keine<br />
primitive Krebsgruppe sind, sondern mit<br />
den höheren Krebsen oder sogar Hexapoda<br />
in Verbindung gebracht werden müssen<br />
(zusammengefasst in Abb. 5).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
14 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Serotonin-immunreaktive Neurone<br />
als phylogenetisches Merkmal<br />
Es sind weitere Untersuchungen erforderlich,<br />
um zusätzliche Hinweise auf die<br />
genauen Abstammungsverhältnisse zu erhalten.<br />
Alternative Herangehensweisen<br />
zur Klärung der Arthropoden-Phylogenie<br />
sind von großer Wichtigkeit, da sie neue<br />
Impulse in diesem Zusammenhang geben<br />
können. Ein spezieller, in diesem Artikel<br />
beschriebener Ansatz hierfür ist der Vergleich<br />
von Merkmalen aus den Bereichen<br />
der Neuroanatomie und Neuroentwicklungsbiologie.<br />
Die Neurophylogenie betrachtet<br />
diese Merkmale in einem phylogenetischen<br />
Kontext (Harzsch 2002).<br />
Die Idee ist nicht neu. Schon zu Beginn<br />
des 20. Jahrhunderts begannen Holmgren<br />
(1916) und Hanström (1928) die Gehirnarchitektur<br />
der Arthropoda zur Lösung<br />
der Phylogenie heranzuziehen. Im Laufe<br />
der letzten Jahre hat dieses Feld viel Aufmerksamkeit<br />
erfahren. Neben einer Vielzahl<br />
von untersuchten Merkmalkomplexen<br />
(zusammengefasst in Harzsch 2006) wurde<br />
auch die Verteilung serotonerger Nervenzellen<br />
im Bauchmark der Crustacea in einem<br />
phylogenetischen Kontext untersucht<br />
(Harzsch & Waloszek 2000).<br />
Das biogene Monoamin Serotonin<br />
(5-Hydroxytryptamin) gilt seit seiner Entdeckung<br />
Mitte des 20. Jahrhunderts (Rapport<br />
et al. 1948) als eine der am weitesten<br />
verbreiteten Substanzen im Tierreich. Sowohl<br />
im Nervensystem als auch in nichtneuronalem<br />
Gewebe konnte es bei einer<br />
Vielzahl von Invertebraten nachgewiesen<br />
werden. Die Funktion von Serotonin<br />
im Nervensystem der Invertebraten<br />
ist vielfältig. So konnte in diesem Zusammenhang<br />
unter anderem ein Einfluss auf<br />
das Aggressionsverhalten, Flug-, beziehungsweise<br />
Schwimmverhalten sowie die<br />
Lernfähigkeit und circadiane Rhythmik<br />
verschiedener Tiergruppen gezeigt werden<br />
(Kravitz 1988; Bicker & Menzel 1989).<br />
Diese funktionelle Vielfältigkeit des Serotonins<br />
und das Vorkommen in allen Bereichen<br />
des Tierreichs deuten auf ein frühes<br />
Auftreten von Serotonin in der Stammesentwicklung<br />
hin. Dies gilt besonders für<br />
seine Funktion als Botenstoff, weshalb es<br />
vermutlich schon in sehr ursprünglichen<br />
Nervensystemen als Neurotransmitter fungierte<br />
(Hay-Schmidt 2000).<br />
Die Serotonin-immunreaktiven Neurone<br />
des Bauchmarks eignen sich aufgrund<br />
verschiedener Eigenschaften für phylogenetische<br />
Untersuchungen. Zum einen<br />
wurde das serotonerge System in vielen<br />
Taxa der Arthropoda untersucht, somit ist<br />
eine relativ hohe Datendichte vorhanden.<br />
Zum anderen ist die Anzahl serotonerger<br />
Nervenzellen im Bauchmark gering, wodurch<br />
sie individuell identifizierbar und so<br />
leichter zu vergleichen sind. Beispielsweise<br />
besitzt das Bauchmark des Flusskrebses<br />
Procambarus clarkii nur ungefähr 30 serotonerge<br />
Zellkörper (Real & Czternasty<br />
1990). Des Weiteren weisen die Neurite<br />
dieser Serotonin-immunreaktiven Nervenzellen<br />
eine individuelle Morphologie auf,<br />
sodass jede dieser Zellen gut identifizierbar<br />
ist (Harzsch & Waloszek 2000).<br />
Abb. 6 Darstellung der direkten und indirekten<br />
Methode zur Immundetektion. Epitope (gelb,<br />
hellblau, rot) des AG (blau) werden vom primären<br />
AK (schwarz) erkannt. Die AK binden spezifisch<br />
an diese Epitope (spezifisches Epitop in dieser<br />
Darstellung rot). Bei der direkten Methode ist der<br />
Primär-AK mit Fluorochromen konjugiert (grün).<br />
Bei der indirekten Methode binden konjugierte<br />
Sekundär-AK (grau) an den Primär-AK (modifiziert<br />
nach Luttmann et al. 2009).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
15<br />
Methoden<br />
Immunhistochemie<br />
Die Immunhistochemie, auch Immunzytologie,<br />
ist ein seit Jahrzehnten gebräuchliches<br />
Standardverfahren in vielen Gebieten<br />
der Naturwissenschaften. Gekoppelt wird<br />
diese Methode mit der so genannten Immunfluoreszenztechnik.<br />
Hierbei werden<br />
die Antikörper (AK) mit Fluorochromen<br />
markiert, welche bei der späteren Auswertung<br />
am Mikroskop durch monochromatisches<br />
Licht angeregt werden, je nach<br />
Fluorochrom aber Licht unterschiedlicher<br />
Wellenlänge emittieren. Die AK binden an<br />
bestimmte Strukturen (Epitope) auf dem<br />
Zielmolekül (Antigen; AG), in diesem Fall<br />
Serotonin. Man unterscheidet im Allgemeinen<br />
zwischen zwei Möglichkeiten zum<br />
Nachweis der gewünschten Substanz: der<br />
direkten und der indirekten AG-AK-Reaktion.<br />
Bei der direkten Methode ist der<br />
Primär-AK bereits mit Fluorochromen<br />
markiert, bei der indirekten werden weitere<br />
AK (Sekundär- beziehungsweise Tertiärreagenzien)<br />
eingeschaltet, welche mit den<br />
Fluorochromen markiert sind (Abb. 6).<br />
Der Vorteil der indirekten Methode ist<br />
eine Verstärkung des Signals, begründet<br />
durch eine erhöhte Anzahl an Fluorochrom-Molekülen<br />
pro Primär-AK-AG-<br />
Bindung, da mehrere Sekundär-AK an einen<br />
Primär-AK binden, welche jeweils mit<br />
Fluorochromen konjugiert sind. Nachteile<br />
sind der größere Zeitaufwand durch weitere<br />
Inkubationsschritte und die Möglichkeit<br />
einer erhöhten Hintergrundfärbung.<br />
Zu den gebräuchlichsten Fluorochromen<br />
zählen Carbocyanin 3 und Alexa Fluor<br />
488. Aufgrund der unterschiedlichen<br />
Eigenschaften der verschiedenen Fluorochrome<br />
sind Doppelfärbungen möglich.<br />
Hierbei werden mehrere AK, welche<br />
mit unterschiedlichen Fluorochromen<br />
konjugiert sind, gegen verschiedene AG<br />
eingesetzt. Im Folgenden wird eine Doppelfärbung<br />
von Serotonin und Synapsin<br />
erläutert. Synapsine sind spezielle Proteine<br />
des präsynaptischen Kompartiments,<br />
welche die Neurotransmittervesikel an<br />
Komponenten des Zytoskeletts verankern<br />
können. Des Weiteren findet der<br />
Fluoreszenz-Farbstoff 4‘,6-Diamidino-2-<br />
phenylindol (DAPI) Verwendung. Dieser<br />
bindet spezifisch an DNA-Moleküle und<br />
erlaubt eine Detektion von Zellkernen und<br />
somit Zellkörpern. Durch eine Kopplung<br />
von Synapsin- und Zellkernfärbung lassen<br />
sich Zellkörper-Regionen und Neuropil-<br />
Regionen unterscheiden, was bei der Orientierung<br />
im Gewebe von Nutzen ist.<br />
In Tabelle 2 ist ein Standard-Protokoll<br />
der Immunhistochemie zur Detektion<br />
von Serotonin und Synapsin, sowie<br />
zur Fluoreszenzmarkierung der Zellkerne<br />
dargestellt. Anhand dieses Protokolls,<br />
bei dem die indirekte Methode verwendet<br />
wird, werden im Folgenden alle wichtigen<br />
Schritte erläutert. Generell ist es empfehlenswert,<br />
allen Pufferlösungen 0,5 % Natriumazid<br />
hinzuzufügen. Dies ist eine etablierte<br />
Methode, um eine Verunreinigung<br />
der Puffer durch Mikroorganismen zu vermeiden.<br />
Natriumazid stört beim Elektronentransport<br />
in der Atmungskette, indem<br />
das aktive Zentrum bestimmter Enzyme<br />
irreversibel blockiert wird.<br />
Fixierung<br />
Die Fixierung mit 4 % Paraformaldehyd<br />
(PFA) hat zwei entscheidende Funktionen.<br />
Zum einen wird ein spezieller Serotonin-<br />
Aldehyd-Komplex hergestellt, welchen der<br />
Serotonin-AK benötigt, um überhaupt an<br />
das Antigen anbinden zu können. Zum<br />
anderen wird so für eine Verknüpfung von<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
16 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Proteinen im Gewebe gesorgt. Das Gewebe<br />
wird konserviert und gehärtet, wodurch<br />
alle makromolekularen Strukturen an Ort<br />
und Stelle bleiben. Dabei werden Proteine<br />
mehr oder weniger stark denaturiert und<br />
über Quervernetzung verbunden. Dies ist<br />
ein kritischer Schritt, da auch das zu untersuchende<br />
Molekül nicht vor Denaturierung<br />
geschützt ist. Somit kann es vorkommen,<br />
dass das AG durch das Fixativ<br />
in einem Grad denaturiert wird, woraufhin<br />
der AK das Epitop nicht mehr zu erkennen<br />
vermag. Als Fixativ zur Immundetektion<br />
von Serotonin hat sich 4 %iges PFA bewährt<br />
(Abb. 7). Nach entsprechender Inkubationszeit<br />
wird das Gewebe mindestens<br />
2 h bei mehrmaligem Lösungswechsel<br />
mit Phosphat gepufferter Salzlösung (PBS)<br />
gewaschen, um überschüssiges Fixativ aus<br />
dem Gewebe zu entfernen.<br />
Einbetten und Schneiden<br />
Die Einbettung der Individuen erfolgt<br />
in 4 % Agarose in destilliertem Wasser.<br />
Vor dem Einbetten in der noch etwa 50 °C<br />
Tab. 2 Protokoll der Immunhistochemie zur Detektion von Serotonin und Synapsin, sowie zur Fluoreszenzmarkierung<br />
der Zellkerne (modifiziert nach Stern et al. 2007). Erläuterungen: Aqua dest.: Destilliertes<br />
Wasser; Cy3: Carbocyanin 3; DABCO: Triethylendiamin; DAPI: 4',6-Diamidino-2-phenylindol; DSHB: Developmental<br />
Studies Hybridoma Bank; JIRL: Jackson Immuno Research Laboratories; min: Minute; MP: Molecular<br />
Probes; NHS: Nomalserum vom Pferd; PBS: Phosphat gepufferte Salzlösung; PFA: Paraformaldehyd;<br />
RT: Raumtemperatur; T: Temperatur; TX: Triton X-100; ü. N.: über Nacht.<br />
Schritt Chemikalien T Dauer<br />
Fixierung 4 % PFA 4 °C ü. N.<br />
Waschen 4-maliger Wechsel, PBS RT je 30 min<br />
Einbetten + Schneiden<br />
(Vibratom)<br />
Poly-L-Lysin; 4 % Agarose in Aqua dest.<br />
Permeabilisierung 0,3 % Saponin in PBS-TX 0,2 % RT 45 min<br />
Waschen 4-maliger Wechsel, PBS-TX 0,2 % RT je 30 min<br />
Blocken 5 % NHS in PBS-TX 0,2 % RT 180 min<br />
Primär-AK Rabbit-Anti-Serotonin (Sigma) 1:5000 +<br />
Mouse-Anti-Synapsin SYNORF1 (E. Buchner,<br />
Würzburg, DSHB)1:30 in Block-Lösung<br />
4 °C 2 Tage<br />
Waschen 4-maliger Wechsel, PBS-TX 0,2 % RT je 30 min<br />
Sekundär-AK Goat-Anti-Rabbit Cy3-konjugiert ( JIRL) 1:250 +<br />
Goat-Anti-Mouse (MP) Alexa Fluor 488-konjugiert<br />
1:250 + 1 µg/ml DAPI in Block-Lösung<br />
4 °C ü. N.<br />
Waschen 4-maliger Wechsel, PBS-TX 0,2 %<br />
letzter Wechsel PBS<br />
RT<br />
je 30 min<br />
Eindecken<br />
Mowiol + 25 mg/ml DABCO<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
17<br />
warmen Agarose wird das Gewebe mit<br />
Poly-L-Lysin inkubiert. Diese Behandlung<br />
stabilisiert die Verbindung von Gewebe<br />
und Einbettmedium aufgrund der<br />
guten adhäsiven Eigenschaften des Poly-L-Lysin.<br />
Nach einigen min wird überschüssiges<br />
Poly-L-Lysin entfernt, sodass<br />
nur ein kleiner Film das Präparat umgibt,<br />
und die Einbettung durchgeführt. Dabei<br />
werden die Präparate auf dem Boden<br />
eines Wägeschälchens ausgerichtet und<br />
mit der flüssigen Agarose überschichtet.<br />
Nach Aushärten wird der Agarose-Block<br />
mit eingeschlossener Probe mit einer herkömmlichen<br />
Rasierklinge getrimmt, in ein<br />
Vibratom eingespannt und umgeben von<br />
PBS geschnitten. Die Technik des Vibratomschneidens<br />
gilt als eine einfache und<br />
schnelle Methode, um Gewebeschnitte<br />
herzustellen. Hierbei wird eine Rasierklinge<br />
in wässrigem Medium (PBS) durch das<br />
Präparat geführt. Dabei vibriert die Klinge,<br />
wodurch sich eine saubere Schnittfläche<br />
ergibt, außerdem werden Scherkräfte<br />
durch geringe Stauchung des Präparates<br />
minimiert.<br />
Permeabilisierung<br />
Im folgenden Schritt werden die fertigen<br />
Schnitte mit 0,3 % Saponin in Phosphat<br />
gepufferter Salzlösung mit Triton X-100<br />
(PBS-TX) 0,2 % für mindestens 45 min<br />
inkubiert. Saponin ist ein von verschiedenen<br />
Pflanzenfamilien bekanntes Detergenz.<br />
Das hier verwendete Saponin wurde<br />
aus der Rinde des Seifenrinden-Baumes<br />
(Quillaja saponaria) gewonnen. Diese<br />
pflanzlichen Glykoside bilden in Wasser<br />
seifenartige Lösungen. Durch eine Reaktion<br />
der Saponine mit dem Cholesterol<br />
der Zellmembranen eukaryotischer Zellen<br />
kommt es zur Perforation der Membran.<br />
Dadurch wird dem AK das Eindringen in<br />
die Zelle erleichtert.<br />
Abb. 7 Ergebnisse von verschiedenen Fixierungen<br />
zur Serotonin- (rot) und Synapsin-Immundetektion<br />
(grün) (blau: Zellkernfärbung mit DAPI). Eine<br />
Fixierung mit AAF (85 % Eisessig, 10 % Formalin,<br />
5 % Ethanol) (A) sowie eine Vorfixierung mit 4 %<br />
PFA und Nachfixierung mit AAF (B) zeigen keine<br />
beziehungsweise schwache Färbungen. Das beste<br />
Ergebnis wird bei einer Fixierung mit 4 % PFA<br />
erzielt (C). Maßstab: 200 µm.<br />
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18 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Blockierung unspezifischer<br />
Antikörper-Bindungen<br />
Nach mehreren Wasch-Schritten mit<br />
PBS-TX 0,2 % für insgesamt mindestens<br />
2 h folgt die Überführung in 5 % NHS<br />
(Normalserum vom Pferd) in PBS-TX<br />
0,2 % über Nacht zur Blockierung unspezifischer<br />
AK-Bindungen. Durch den Vorgang<br />
des Blockierens soll die unspezifische<br />
Hintergrundfärbung so gering wie<br />
möglich gehalten werden. Auch wenn AK<br />
spezifisch an das AG binden, kommt es<br />
dennoch immer wieder zu unspezifischen<br />
Bindungen, welche zu einer falsch positiven<br />
Färbung führen. Häufigste Ursache<br />
hierfür ist die Tendenz von Proteinen, hydrophobe<br />
und auch elektrostatische Bindungen<br />
auszubilden. Um dem entgegenzuwirken,<br />
bietet man in der Blocklösung<br />
konkurrierende Proteine an. Hydrophobe<br />
Bindungen zwischen den Proteinen treten<br />
in wässriger Lösung insbesondere dann<br />
auf, wenn deren Grenzflächenspannung<br />
niedriger ist, als die des umgebenden Wassers.<br />
Triton X-100 als nichtionisches Detergenz<br />
verringert die Oberflächenspannung<br />
und reduziert so die Ausbildung von<br />
hydrophoben Bindungen (Luttmann et al.<br />
2009).<br />
Primär-Antikörper-Bindung<br />
Direkt im Anschluss nach Abnahme der<br />
Blocklösung werden die primären AK auf<br />
die Gewebeschnitte gegeben. Dieser bindet<br />
an das entsprechende AG (hier Serotonin<br />
beziehungsweise Synapsin). Hierbei<br />
ist zu beachten, dass eine ausgewogene<br />
Balance zwischen der Konzentration des<br />
AK und der Inkubationszeit beibehalten<br />
wird. Eine zu hohe Konzentration und/<br />
oder zu lange Inkubationszeit kann die<br />
Wahrscheinlichkeit von unspezifischer<br />
Abb. 8 Aufnahme eines Horizontalschnittes<br />
(60 μm) von den Ganglien des fünften bis siebten<br />
Thorakalsegmentes (T5-7) von Nebalia bipes.<br />
Pro Ganglion sind zwei zentral gelegene serotonerge<br />
Zellkörper zu beobachten (Sternchen)<br />
(Rot: Serotonin; Grün: Synapsin; Blau: Zellkernfärbung).<br />
Anterior ist links. Maßstab: 50 μm.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
19<br />
Hintergrundreaktion erhöhen, umgekehrt<br />
aber kann eine zu geringe Konzentration<br />
und/oder zu kurze Inkubation das spezifische<br />
Signal verringern.<br />
Sekundär-Antikörper-Bindung<br />
Nach erneuten Wasch-Schritten mit<br />
PBS-TX 0,2 % über mindestens 2 h werden<br />
die Proben mit sekundären AK über<br />
Nacht inkubiert. Wie oben erläutert sind<br />
die sekundären AK mit Fluorochromen<br />
gekoppelt und binden an den primären<br />
AK. Es ist Gleiches zu beachten wie bei<br />
der Primär-AK-Bindung. In dieser Lösung<br />
ist auch 1 μg/ml des Fluoreszenz-Farbstoffes<br />
DAPI enthalten. Um die Präparate vor<br />
dem Prozess des Ausbleichens zu schützen,<br />
werden die Schnitte während der Inkubation<br />
dunkel gelagert. Zum Abschluss erfolgt<br />
eine weitere Serie von Wasch-Schritten,<br />
ebenfalls über mindestens 2 h mit PBS-TX<br />
0,2 %. Der letzte Wasch-Schritt wird mit<br />
PBS durchgeführt.<br />
Eindecken<br />
Zum Schluss werden die Gewebeschnitte<br />
auf herkömmlichen Objekträgern in<br />
Mowiol eingedeckt. Mowiol eignet sich<br />
gut zum Eindecken, da es bei Raumtemperatur<br />
komplett aushärtet. Danach sind die<br />
Präparate theoretisch unbegrenzt haltbar.<br />
Ein Ausbleichen der Präparate – also eine<br />
irreversible Zerstörung der Fluorochrome,<br />
vor allem durch starken Lichteinfluss – ist<br />
nicht auszuschließen. Verringert wird das<br />
Ausbleichen durch Zugabe von Triethylendiamin<br />
(DABCO), welches dem Mowiol<br />
in einer Konzentration von 25 mg/<br />
ml hinzugegeben wird. Nach Aushärten<br />
des Mowiols (über Nacht, staubgeschützt<br />
bei Raumtemperatur) können die fertigen<br />
Präparate staubgeschützt, dunkel und trocken<br />
bei 4 °C nahezu unbegrenzt gelagert<br />
werden. In Abbildung 8 ist eine gut gelungene<br />
Beispielfärbung des Bauchmarks von<br />
Nebalia bipes (Malacostraca) abgebildet.<br />
Ergebnisse und Diskussion<br />
Das serotonerge System im<br />
Bauchmark der Pancrustacea<br />
In Bezug auf die Phylogenie der Arthropoda<br />
wurden mit Hilfe der oben erläuterten<br />
Methode der Immunhistochemie in<br />
verschiedenen Studien für das serotonerge<br />
System im Bauchmark Grundmuster für<br />
höhere Taxa postuliert (Harzsch & Waloszek<br />
2000; Harzsch 2003, 2004).<br />
Innerhalb der Pancrustacea liegen<br />
Grundmuster des serotonergen Systems<br />
für Entomostraca, Malacostraca, Zygentoma<br />
und Pterygota vor (Harzsch & Waloszek<br />
2000; Harzsch 2002, 2003). Generell<br />
bestehen diese Muster aus zwei Gruppen<br />
von maximal zwei Neuronen im anterioren<br />
und posterioren Teil der Hemiganglia<br />
(Abb. 9). Die Neurone dieser Zellpaare lassen<br />
sich individuell aufgrund ihrer Lage<br />
und Morphologie identifizieren und homologisieren.<br />
Die Grundmuster von Entomostraca,<br />
Malacostraca und Zygentoma<br />
zeigen eine gleiche Anzahl von Neuronen,<br />
nämlich zwei anteriore und zwei posteriore<br />
serotonerge Zellpaare (ASZ beziehungsweise<br />
PSZ). Unterschieden werden<br />
sie nur aufgrund ihrer Neuritenmorphologie.<br />
Jedes serotonerge Neuron der Entomostraca<br />
besitzt einen ipsilateralen und<br />
einen kontralateralen Neuriten, es handelt<br />
sich somit um bipolare Neurone. Bei Malacostraca<br />
zeigen die anterioren Zellkörper<br />
einen kontralateral wandernden Neuriten,<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
20 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Entomostraca Malacostraca Zygentoma Pterygota<br />
Abb. 9 Grundmuster des serotonergen<br />
Systems im Bauchmark<br />
von Großgruppen der Pancrustacea,<br />
dargestellt an einem Hemiganglion.<br />
Bei ungefüllten Neuronen ist eine<br />
Zugehörigkeit zum Grundmuster<br />
umstritten. Gestrichelte Linie der<br />
Hemiganglien stellt die Mittellinie<br />
dar. Anterior ist oben. Modifiziert<br />
nach Harzsch (2003).<br />
während die posterioren Zellkörper einen<br />
ipsilateralen Neuriten aufweisen. Bei Hexapoda<br />
wurden bisher basale Insekten (Zygentoma)<br />
und Fluginsekten (Pterygota)<br />
untersucht. In diesen Gruppen projizieren<br />
wiederum alle Neuriten nach kontralateral,<br />
wobei in Zygentoma je zwei ASZ und PSZ<br />
vorhanden sind. Bei den Pterygota zeigen<br />
sich nur im posterioren Bereich serotonerge<br />
Neurone. Neben den beiden PSZ ist ein<br />
zusätzliches Zellpaar im Grundmuster der<br />
Pterygota möglich, allerdings könnte dieses<br />
Zellpaar auch eine Apomorphie einzelner<br />
Pterygota sein (Harzsch 2003).<br />
Phylogenetische Überlegungen<br />
Vergleicht man nun diese Strukturmuster<br />
miteinander, finden sich innerhalb der<br />
Pancrustacea nur bei Entomostraca bipolare<br />
Neuronen. Malacostraca besitzen im<br />
Grundmuster lediglich monopolare Neuronen,<br />
allerdings wurden in dem Amerikanischen<br />
Hummer Homerus americanus<br />
(Beltz & Kravitz 1983) und in der Mauerassel<br />
Oniscus asellus (Thompson et al. 1994)<br />
in einzelnen Fällen Neurone nachgewiesen,<br />
bei denen sich ein primärer Neurit direkt<br />
nach dem Verlassen des Zellkörpers<br />
in einen kontralateral und einen ipsilateral<br />
projizierenden Ast aufspaltet. Bei H. americanus<br />
ist der ipsilaterale Neurit komplett<br />
vorhanden, während sich der zweite Neurit<br />
der Mittellinie annähert, diese aber nicht<br />
überquert. Dies könnte eine evolutionäre<br />
Transformation der bipolaren Neuronen<br />
bei Entomostraca in monopolare Neuronen<br />
bei Malacostraca bedeuten (Harzsch<br />
& Waloszek 2000). Hexapoda besitzen<br />
ausschließlich monopolare serotonerge<br />
Neuronen. Vergleiche zwischen Pancrustacea-Taxa<br />
mit monopolaren Neuronen im<br />
Strukturmuster zeigen, dass Hexapoda nur<br />
kontralaterale Projektionen ausbilden, wohingegen<br />
Malacostraca als einzige Gruppe<br />
ipsilaterale Projektionen besitzen.<br />
Vorläufige Ergebnisse zum Nervensystem<br />
der Remipedia zeigen wie erwartet ein<br />
Strickleiternervensystem. Eine Doppelfärbung<br />
von Synapsin und Zellkernen lässt<br />
die generelle Morphologie der Ganglien<br />
erkennen (Abb. 10). Neuropilregionen im<br />
Kern der Ganglien zeigen eine Synapsinpositive<br />
Immunreaktion. Die Zellkernfärbung<br />
mit DAPI lässt hingegen Zellen im<br />
äußeren Bereich der Ganglien erkennen.<br />
Aus Vorversuchen vermuten die Autoren,<br />
dass sich das serotonerge System der<br />
Remipedia aus einem ASZ und zwei PSZ<br />
zusammensetzt. Außerdem lassen sich in<br />
den meisten Fällen drei zentrale serotonerge<br />
Zellpaare (ZSZ) erkennen, deren Neuriten<br />
bisher nicht nachvollzogen werden<br />
konnten. Bei Zygentoma konnte ebenfalls<br />
ein ZSZ festgestellt werden. Somit besitzen<br />
lediglich Remipedia und basale Hexapoda<br />
ZSZ.<br />
Aufgrund dieser Beobachtungen für das<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
21<br />
Abb. 10 Synapsin-Immunfärbung (grün) und<br />
Fluoreszenzmarkierung der DNA (blau) eines<br />
Horizontalschnittes (60 μm) durch den Rumpf von<br />
Godzilliognomus frondosus. Das zentrale Neuropil<br />
ist umgeben von den Zellkörpern der Neurone. Anterior<br />
ist oben. Maßstab der Vergrößerung: 50 μm.<br />
serotonerge System der Pancrustacea (zusammengefasst<br />
in Tab. 3) lassen sich folgende<br />
Verwandtschaftsverhältnisse vermuten:<br />
Innerhalb der Pancrustacea stehen die<br />
Entomostraca als basales Taxon. In einem<br />
Schwestergruppenverhältnis dazu stehen<br />
die Malacostraca, welche wiederum einer<br />
Klade aus den Insecta (Zygentoma und<br />
Pterygota) und Remipedia gegenüberstehen<br />
(Abb. 11).<br />
Aufgrund dieser Beobachtungen lässt<br />
sich eine Ähnlichkeit in den Strukturmustern<br />
der Remipedia und Hexapoda<br />
erkennen. Weitere Ähnlichkeiten zeigen<br />
sich bei der Betrachtung der ZSZ. Remipedia<br />
besitzen meist drei ZSZ. Von der<br />
Lage her sind ähnliche Zellen bei Zygentoma<br />
gefunden worden (Harzsch 2002),<br />
allerdings nur ein Zellpaar. Eine Homologisierung<br />
dieser Neurone ist aber<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
22 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
Tab. 3 Zusammenfassung der Merkmale des serotonergen Systems im Bauchmark für die Großgruppen<br />
der Pancrustacea. Erläuterungen: Anz. ZP: Anzahl Zellpaare; ASZ: anteriore serotonerge Zellen; k. A.: keine<br />
Angabe; k. D.: keine Daten bekannt, da keine Zellkörper vorhanden; PSZ: posteriore serotonerge Zellen;<br />
ZSZ: zentrale serotonerge Zellen.<br />
Taxon Bipolare ASZ PSZ ZSZ<br />
Neurone Anz. Projektion Anz. Projektion Anz. Projektion<br />
ZP ZP ZP<br />
Zygentoma Nein 2 Kontralateral 2 Kontralateral 1 k. D.<br />
Pterygota Nein 0 k. A. 2 (3) Kontralateral 0 k. A.<br />
Malacostraca Nein 2 Kontralateral 2 Ipsilateral 0 k. A.<br />
Entomostraca Ja 2 Kontra-/Ipsilateral 2 Kontra-/Ipsilateral 0 k. A.<br />
unsicher, da die Projektionen der Neurite<br />
nicht bekannt sind. Bei alleiniger Betrachtung<br />
des serotonergen Systems im<br />
Bauchmark von Pancrustacea, bezogen<br />
auf die bestehenden Grundmuster, ist ein<br />
Schwestergruppenverhältnis von Remipedia<br />
und Hexapoda aufgrund gemeinsamer<br />
Merkmale wie konralaterale Projektionen<br />
der monopolaren PSZ und ASZ sowie das<br />
Vorhandensein von ZSZ möglich.<br />
Schlussfolgerungen<br />
Vor allem während der letzten 10 Jahre<br />
hat eine wachsende Anzahl phylogenetischer<br />
Analysen, die sich sowohl auf<br />
molekularbiologische Daten als auch<br />
morphologische Merkmale stützen, das<br />
Pancrustacea-Konzept untermauert (Abb.<br />
4), wobei eine enge Verwandtschaft zwischen<br />
Remipedia, Malacostraca und Hexapoda<br />
postuliert wurde (Moura & Christoffersen<br />
1996; Fanenbruck et al. 2004;<br />
Fanenbruck & Harzsch 2005; Ertas et al.<br />
2009; Regier et al. 2008, 2010; Koenemann<br />
et al. 2010). Diese Tendenz spiegelt<br />
sich auch in den bisherigen Ergebnissen<br />
zum serotonergen System der Arthropoda<br />
wieder, womit die ursprünglichen Theorien<br />
einer basalen Stellung der Remipedia<br />
immer weniger unterstützt wird und eine<br />
enge Verwandtschaft dieser Grottenkrebse<br />
mit den Insekten immer wahrscheinlicher<br />
wird.<br />
Allerdings handelt es sich bei den hier<br />
präsentierten Daten bezüglich der Remipedia<br />
um vorläufige Ergebnisse, weitere<br />
Versuche sind nötig. Des Weiteren müssen<br />
zusätzliche Taxa untersucht werden,<br />
um eine Phylogenie der Arthropoda mit<br />
Hilfe des serotonergen Systems zu bestätigen.<br />
Dazu zählen besonders Vertreter<br />
der Cephalocarida und basalen Hexapoda<br />
(Diplura, Protura, Collembola). Die Cephalocarida<br />
erscheinen in einer Vielzahl<br />
aktueller Untersuchungen als Schwestergruppe<br />
der Remipedia. Auch sind bisher<br />
keine Angaben zum serotonergen System<br />
basaler Hexapoden, wie Protura oder<br />
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Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
23<br />
Abb. 11 Hypothetisches Abstammungsverhältnis<br />
innerhalb der Pancrustacea aufgrund immunhistologischer<br />
Darstellungen zum serotonergen System<br />
im Bauchmark. Demnach bilden Remipedia und<br />
Insecta (Zygentoma und Pterygota) eine Schwestergruppe.<br />
Diplura, bekannt. Diese Gruppen könnten<br />
aber wichtige Daten zur weiteren Auflösung<br />
der Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb<br />
der Pancrustacea liefern. Die basalen<br />
Hexapoden sind ein wichtiges Taxon,<br />
um die Betrachtung der phylogenetischen<br />
Verhältnisse aufgrund von Merkmalen des<br />
serotonergen Systems zu vertiefen.<br />
Außerdem muss in nachfolgenden Studien<br />
die vermutete Homologie der einzelnen<br />
serotonergen Neurone nachgewiesen<br />
werden. Taghert & Goodman<br />
(1984) konnten durch detaillierte Studien<br />
zur Zellgenealogie belegen, dass alle serotonergen<br />
Neurone im Bauchmark der<br />
Heuschrecken Schistocerca americana und<br />
Melanoplus differentialis vom Neuroblasten<br />
7-3 gebildet werden. Aufgrund ihrer Position<br />
entsprechen diese serotonergen Neurone<br />
den PSZ innerhalb der oben beschriebenen<br />
Grundmuster. Allerdings wurde die<br />
Entstehung des serotonergen Systems bei<br />
anderen Pancrustacea mit Ausnahme von<br />
Drosophila (Schmid et al. 1999) nie über<br />
eine Markierung der Zellstammbäume<br />
nachgewiesen. Dies sollte in Zukunft unbedingt<br />
nachgeholt werden, um eindeutig<br />
zu klären, ob die serotonergen Neurone zu<br />
homologisieren sind.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
24 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />
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<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
25<br />
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<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
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London.<br />
Stern, Michael; Knipp, Sabine; Bicker, Gerd<br />
Glossar<br />
anchialine Habitate Bestehen aus salzhaltigen<br />
(halinen) Wasserkörpern, welche normalerweise<br />
eine eingeschränkte Exposition<br />
zur Oberfläche und stets vorhandene, mehr<br />
oder weniger stark ausgeprägte Verbindungen<br />
zum Meer besitzen, wobei sie merklich<br />
marinen, aber auch terrestrischen Einflüssen<br />
unterliegen.<br />
Antigen Substanz, die vom Immunsystem<br />
als fremd erkannt wird und meist eine Immunreaktion<br />
auslöst. Die Bezeichnung Antigen<br />
leitet sich von der Eigenschaft ab, die<br />
Bildung von Antikörpern auszulösen, die<br />
gegen genau diese Antigene gerichtet sind.<br />
Antikörper Antikörper (Immunglobuline)<br />
sind Proteine, die in Wirbeltieren als Reaktion<br />
auf bestimmte Stoffe, so genannte Antigene,<br />
gebildet werden. Antikörper stehen<br />
im Dienste des Immunsystems.<br />
Apomorphie Abgeleitetes Merkmal; evolutive<br />
Neuheit (ein in der Evolution „neu<br />
entwickeltes“ Merkmal).<br />
Arthropoda Gliederfüßer, bestehend aus<br />
Chelicerata (Kieferklauenträger), Myriapoda<br />
(Tausendfüßler), Crustacea (Krebstiere),<br />
Hexapoda (Sechsfüßer).<br />
Entomostraca Niedere Krebse, z. B. Ruderfußkrebse,<br />
Muschelkrebse.<br />
Epitop Der antikörperbindende Bereich<br />
eines Antigens.<br />
Fluorochrome Moleküle, die Licht bestimmter<br />
Wellenlänge absorbieren und anschließend<br />
Licht größerer Wellenlänge und<br />
damit geringerer Energie emittieren.<br />
Hexapoda Sechsfüßer, bestehend aus Insekten,<br />
Doppelschwänzen, Beintastlern und<br />
Springschwänzen.<br />
Immundetektion Der Nachweis von Antigenen<br />
über antigenspezifische Antikörper.<br />
Immunfluoreszenztechnik Zusammenfassende<br />
Bezeichnung für Techniken, bei<br />
denen Fluorochrommarkierte Antikörper<br />
zur Detektion von Molekülen oder Strukturen,<br />
die Zellen oder sonstige Zielobjekte<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
27<br />
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and Caicos, B.W.I. – Proceedings of the Biological<br />
Society Washington 99: 65 – 70.<br />
charakterisieren, verwendet werden. Grob<br />
unterschieden werden direkte (Primärantikörper<br />
ist bereits markiert) und indirekte<br />
(Markierung an Sekundär- oder Tertiärreagenzien)<br />
Techniken.<br />
Invertebrata Wirbellose, z. B. Schwämme,<br />
Würmer, Weichtiere.<br />
ipsilateral Auf derselben Körperseite oder<br />
-hälfte gelegen.<br />
Klade Zweig(e) in einem Stammbaum.<br />
kontralateral Auf der entgegengesetzten<br />
Körperseite oder -hälfte gelegen.<br />
Malacostraca Höhere Krebse, z. B. Garnelen,<br />
Krabben, Hummer.<br />
Phylogenie Die Evolutionsgeschichte einer<br />
Art oder einer Artengruppe, besonders<br />
im Hinblick auf Abstammungslinien und<br />
die Beziehungen zwischen Großgruppen<br />
von Organismen. Die Neurophylogenie<br />
steht für eine Verknüpfung von neurobiologischen<br />
Fragestellungen mit evolutiven<br />
Aspekten.<br />
Serotonin Ein biogenes Amin, das als<br />
Gewebshormon und Neurotransmitter<br />
in zahlreichen Lebewesen nachgewiesen<br />
werden konnte und u. a. im Nervensystem,<br />
Herz-Kreislauf-System und im Blut<br />
vorkommt.<br />
Synapsine Spezielle Proteine des präsynaptischen<br />
Bereichs von Nervenzellen, welche<br />
die Neurotransmittervesikel an Komponenten<br />
des Zytoskeletts (Zellskelett) verankern<br />
können.<br />
Vibratom Gerät zur Anfertigung von Gewebeschnitten.<br />
Hierbei wird eine Rasierklinge<br />
in wässrigem Medium (PBS) durch<br />
das Präparat geführt. Dabei vibriert die<br />
Klinge, wodurch sich eine saubere Schnittfläche<br />
ergibt, außerdem werden Scherkräfte<br />
durch geringe Stauchung des Präparates<br />
minimiert.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
28<br />
Danksagungen<br />
Ein herzlicher Dank gilt Prof. Thomas<br />
M. Iliffe (Texas A&M University, Galveston,<br />
USA) und seinem Team für die Beschaffung<br />
der Remipedia, sowie allen Mitgliedern<br />
der beteiligten Arbeitsgruppen,<br />
speziell Jakob Krieger, Dipl.-Biol. Verena<br />
Rieger und Dr. Sabine Knipp. Der Arbeitsgruppe<br />
um Prof. Stefan Richter (Universität<br />
Rostock) gebührt Dank für anregende<br />
Gespräche und Diskussionen.<br />
Arbeit eingereicht: 06.04.2010<br />
Arbeit angenommen: 30.06.2010<br />
Anschriften der Verfasser:<br />
Torben Stemme,<br />
Prof. Dr. Stefan Koenemann<br />
Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />
Hannover, Institut für Tierökologie und<br />
Zellbiologie<br />
Bünteweg 17d<br />
30559 Hannover<br />
Prof. Dr. Gerd Bicker<br />
Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />
Hannover, Institut für Physiologie,<br />
Abteilung Zellbiologie<br />
Bischofsholer Damm 15<br />
30173 Hannover<br />
Prof. Dr. Steffen Harzsch<br />
Ernst-Moritz-Arndt-Universität<br />
Greifswald, Zoologisches Institut, Abteilung<br />
Cytologie und Evolutionsbiologie<br />
Johann-Sebastian-Bach-Straße 11/12<br />
17487 Greifswald<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
29<br />
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von<br />
Hannover<br />
Beobachtungen zur Parasitierung und Mortalität der<br />
Ilex-Mi nierfliege Phytomyza ilicis Curtis 1846 (Diptera,<br />
Agromyzidae)<br />
Marco Thomas Neiber<br />
Zusammenfassung<br />
Die Mortalitätsprofile der Larval- und<br />
Pupalstadien der Ilex-Minierfliege Phytomyza<br />
ilicis wurden an zwei Standorten<br />
im Stadtgebiet von Hannover (Tiergarten<br />
und Westfalenhof ) erstellt und miteinander<br />
verglichen. Insgesamt konnten drei parasitierende<br />
Hymenopteren nachgewiesen<br />
werden: Chrysocharis gemma, Sphegigaster<br />
pallicornis und Opius ilicis. Die Larvalmortalitäten<br />
an den beiden Standorten unterscheiden<br />
sich insbesondere bezüglich<br />
des Parasitierungsgrades voneinander. Für<br />
C. gemma konnte erstmals belegt werden,<br />
dass diese Art auch aus dem Puparium von<br />
P. ilicis schlüpfen kann.<br />
Summary<br />
Mortality profiles of the larval and pupal<br />
stages of the holly leaf-miner Phytomyza<br />
ilicis at two localities in the urban area<br />
of Hannover (Tiergarten and Westfalenhof<br />
) were compiled and compared with<br />
one another. A total of three parasitizing<br />
species of hymenoptera Chrysocharis gemma,<br />
Sphegigaster pallicornis and Opius ilicis<br />
could be detected. The causes of larval<br />
mortality differ particularly with regard to<br />
the level of parasitism. For the first time,<br />
eclosion of C. gemma out of a puparium of<br />
P. ilicis was documented.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
30 Marco Thomas Neiber<br />
Einleitung<br />
Die Ilex-Minierfliege Phytomyza ilicis<br />
Curtis 1846 (Diptera, Agromyzidae), deren<br />
Larven sich monophag vom Mesophyll<br />
der Blätter der Europäischen Stechpalme<br />
Ilex aquifolium L. (Aquifoliaceae)<br />
ernähren, ist Cameron (1939) zufolge der<br />
einzige Blattminenbildner an I. aquifolium<br />
in Europa. Das natürliche Verbreitungsgebiet<br />
der Europäischen Stechpalme I.<br />
aquifolium erstreckt sich im Norden von<br />
Skandinavien über Mittel- und Westeuropa<br />
einschließlich der Britischen Inseln<br />
bis auf die Iberische Halbinsel, nach Italien,<br />
Albanien und Griechenland. Ferner<br />
kommt sie auf Korsika, Sardinien und Sizilien<br />
sowie zerstreut in den nordwestafrikanischen<br />
Gebirgsregionen vor und wird in<br />
Teilen der USA und in Kanada kultiviert<br />
(Cameron 1939, Hultén & Fries 1986).<br />
P. ilicis kommt sowohl in natürlichen Beständen<br />
von I. aquifolium als auch in Pflanzungen<br />
in Parkanlagen und Gärten vor<br />
und folgt in ihrer Verbreitung dem Vorkommen<br />
ihrer Wirtspflanze, wobei nach<br />
Brewer & Gaston (2002) Nachweise aus<br />
den südlichen Teilen des Verbreitungsgebiets<br />
von I. aquifolium (mit Ausnahme von<br />
Zentralitalien) nur spärlich vorliegen.<br />
P. ilicis wurde als Untersuchungsobjekt<br />
in zahlreichen ökologischen Studien verwendet:<br />
Die Struktur des geographischen<br />
Verbreitungsgebiets wurde in einer Reihe<br />
von Arbeiten von Brewer & Gaston (2002,<br />
2003), Klok et al. (2003) und Gaston et al.<br />
(2004) untersucht, Arbeiten zu den natürlichen<br />
Feinden wurden von Heads &<br />
Lawton (1983a, b) durchgeführt und der<br />
Parasitoidkomplex wurde eingehend von<br />
Cameron (1939, 1941) und Busse (1953)<br />
beschrieben. Nach Cameron (1939), Lewis<br />
& Taylor (1967) und Glackin et al. (2006)<br />
lässt sich der Lebenszyklus und der Komplex<br />
natürlicher Feinde von P. ilicis in einfacher<br />
Weise untersuchen. Insbesondere<br />
lassen sich Spuren von Vogelfraß und Parasitierung<br />
der Larven und Puparien durch<br />
Untersuchung der Blattminen und Puparien<br />
eindeutig zuordnen. Ziel der vorliegenden<br />
Arbeit ist es zum einen, Mortalitätsprofile<br />
der Larvenstadien von P. ilicis<br />
an zwei Standorten im Stadtgebiet von<br />
Hannover zu erstellen und miteinander zu<br />
vergleichen und zum anderen, die Zusammensetzung<br />
des Parasitoidkomplexes zu<br />
bestimmen und mit den Angaben in der<br />
Literatur zur Verbreitung, Abundanz und<br />
zur Biologie der vorkommenden Arten zu<br />
vergleichen.<br />
Material und Methoden<br />
Systematik und Biologie von P. ilicis<br />
Die Ilex-Minierfliege wurde von J. Curtis<br />
in der Ausgabe des Gardner’s Chronicle<br />
vom 4. Juli 1846, S. 444 als Phytomyza ilicis<br />
wissenschaftlich beschrieben, aber bereits<br />
in R.-A. F. de Réaumurs drittem Band der<br />
Mémoires pour servir à l’Histoire des Insectes<br />
von 1737, S. 2 erwähnt. Die Nomenklatur<br />
von P. ilicis ist weitgehend stabil. Zeitweise<br />
wurde sie in der Gattung Chromatomyia<br />
Hardy, 1849 geführt, und als Synonym<br />
wird lediglich P. aquifolii angegeben, die<br />
von C. C. Goureau in den Annales de la Société<br />
Entomologique de France von 1851 beschrieben<br />
wurde (Hering 1927, Cameron<br />
1939).<br />
Die Biologie und die Morphologie der<br />
Eier, Larvenstadien, Puparien und Imagines<br />
von P. ilicis sowie die Struktur und<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
31<br />
Abb. 1 Entwicklungsstadien von Phytomyza ilicis<br />
im Jahresverlauf: Larvalstadien (rot), Puparien<br />
(blau), Imagines (grün) und Eier (hellblau), verändert<br />
nach Heads & Lawton (1983a). Die römischen<br />
Ziffern I – XII bezeichnen die Monate Januar bis<br />
Dezember.<br />
Entstehung der von den Larven verursachten<br />
Blattminen wurde eingehend von Miall<br />
& Taylor (1907), Cameron (1939), Lewis<br />
& Taylor (1967), Ellis (2000) und Dempewolf<br />
(2001) bearbeitet und beschrieben<br />
und soll hier nur kurz zusammengefasst<br />
werden. In Abb. 1 ist das Auftreten<br />
der einzelnen Lebensstadien im Jahresverlauf<br />
dargestellt. Die Imagines von P. ilicis<br />
(Abb. 2 A) treten etwa von Ende Mai bis<br />
Ende Juni auf. Die Eier werden einzeln<br />
von der weiblichen Imago mit dem Ovipositor<br />
in das primäre Xylem an der Basis<br />
der Mittelrippe oder den hinteren Teil<br />
des Stiels an der Unterseite der frisch ausgetriebenen<br />
Blätter von I. aquifolium abgelegt.<br />
Der Zeitraum der Eiablage ist auf den<br />
Monat Juni beschränkt. Der Ort der Eiablage<br />
bleibt am Blatt als gut sichtbare Narbe<br />
erkennbar (Abb. 2 B). Wenige Tage nach<br />
der Eiablage schlüpft die Larve von P. ilicis<br />
und frisst sich im Inneren der Mittelrippe<br />
in Richtung der Blattspitze. Nach der<br />
ersten Häutung verlässt die Larve die Mittelrippe<br />
etwa im Dezember und beginnt<br />
die mittlere (manchmal auch die obere)<br />
Schicht des dreischichtigen Palisadenparenchyms<br />
zu fressen. Nach der zweiten<br />
Häutung der Larve, die im Zeitraum von<br />
Januar bis März stattfindet, erhöht sich ihre<br />
Nahrungsaufnahme deutlich und eine charakteristische,<br />
gelblich gefärbte Platzmine<br />
wird auf der Blattoberseite sichtbar (Abb.<br />
2 C, E). Der rötliche, meist im Zentrum<br />
der Mine gelegene Fleck kennzeichnet den<br />
Ort, an dem sich die Faeces der Larve akkumulieren.<br />
Gelegentlich ist auch eine Minenbildung<br />
auf der Blattunterseite zu beobachten.<br />
Dabei frisst die Larve ein sehr<br />
kleines Loch in die unterste Schicht des<br />
Palisadenparenchyms und wechselt in das<br />
darunter liegende Schwammparenchym.<br />
Die Mine auf der Blattunterseite ist farblich<br />
nicht von ihrer Umgebung abgesetzt,<br />
aber trotzdem durch eine Aufwölbung der<br />
unteren Epidermis gut zu erkennen (Abb.<br />
2 D, F). Bevor sich die Larve etwa Ende<br />
März bis Anfang April verpuppt, frisst sie<br />
das unter der Epidermis gelegene Gewebe<br />
in der Art weg, dass von außen eine kleine,<br />
ovale, fensterartige Struktur sichtbar wird,<br />
wendet sich mit der Ventralseite der Außenseite<br />
des Blattes zu und durchbricht die<br />
Epidermis und Cuticula während der Verpuppung<br />
mit ihren beiden vorderen Spiracularhörnern.<br />
Beim Schlüpfen der Imago<br />
aus dem Puparium etwa Mitte bis Ende<br />
Mai entsteht eine charakteristische halbkreisförmige<br />
Öffnung, die in ihrer Ausdehnung<br />
der von der Larve angelegten fensterartigen<br />
Struktur entspricht und mit einem<br />
Deckel versehen ist, der teils aus der Hülle<br />
des Pupariums und teils aus der Epidermis<br />
des Blattes besteht (Abb. 3 A).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
32 Marco Thomas Neiber<br />
Abb. 2 A: Imago der Ilex-Minierfliege Phytomyza<br />
ilicis auf einem Blatt der Europäischen Stechpalme<br />
Ilex aquifolium, der Wirtspflanze der Larven;<br />
B: Ovipositionsnarbe an der Mittelrippe eines<br />
Blattes von I. aquifolium; C – F: von Larven von<br />
P. ilicis verursachte Blattminen; C und E: auf der<br />
Oberseite; D und F: auf der Unterseite eines<br />
Blattes von I. aquifolium.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
33<br />
Abb. 3 A: Ausflugöffnung von Phytomyza ilicis in<br />
der Epidermis von Ilex aquifolium; B: eine durch<br />
Gewebe von I. aquifolium in einem frühen Stadium<br />
verfüllte Mine von P. ilicis; C: Puppe von Chrysocharis<br />
gemma und abgestorbene Larve von P. ilicis<br />
in einer aufpräparierten Blattmine;<br />
D: von Sphegigaster pallicornis parasitiertes Puparium<br />
von P. ilicis; E: Junge Puppe von S. pallicornis<br />
aus einem Puparium von P. ilicis; F: Fraßspur<br />
einer Blaumeise an einer Blattmine von P. ilicis;<br />
G: Ausflugöffnung von S. pallicornis.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
34 Marco Thomas Neiber<br />
Untersuchungsgebiet und<br />
Probennahme<br />
Es wurden zwei unterschiedliche Standorte<br />
von I. aquifolium im Stadtgebiet von<br />
Hannover für die Untersuchung ausgewählt,<br />
die im Mai 2009 mit P. ilicis infiziert<br />
waren und etwa 2 km von einander entfernt<br />
sind. Der erste Standort (Standort I)<br />
befindet sich im Tiergarten Hannover, einem<br />
ca. 113 ha großen Areal im Stadtteil<br />
Kirchrode. Die einzigen Exemplare von I.<br />
aquifolium im Tiergarten Hannover stehen<br />
innerhalb der Umzäunung der als Naturdenkmal<br />
ausgewiesenen Tiergarteneiche<br />
in der Nähe des Haupteingangs. Der<br />
zweite Standort, der botanische Garten auf<br />
dem zur Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />
gehörenden Gelände des Westfalenhofs<br />
(Standort II) liegt ebenfalls im hannoverschen<br />
Stadtteil Kirchrode. Auf dem Gelände<br />
des Westfalenhofs stehen zahlreiche<br />
Exemplare von I. aquifolium. Für die Probennahme<br />
wurden Sträucher an drei Stellen<br />
(Standorte IIa, IIb, IIc) auf dem Gelände<br />
ausgewählt, die mit P. ilicis infiziert<br />
waren. Die Probennahme erfolgte im Zeitraum<br />
vom 6. bis 8. Mai 2009. Hierbei wurden<br />
am Standort I von insgesamt 3 Exemplaren<br />
einer stachelblättrigen Varietät von<br />
I. aquifolium 65 minierte Blätter gesammelt<br />
(von Bodennähe bis in etwa 2,5 m Höhe),<br />
die im Vorjahr von den Pflanzen gebildet<br />
worden waren. Da die Blätter von I. aquifolium<br />
über mehrere Jahre an der Pflanze<br />
bleiben, kann man die Blätter aus dem<br />
Vorjahr nur an den Markierungen an den<br />
Zweigen erkennen, die durch den jährlichen<br />
Sprosszuwachs entstehen, d. h. sie<br />
entsprechen jenen Blättern, die sich zwischen<br />
der letzten derartigen Markierung<br />
und den auch farblich unterschiedlichen<br />
im Frühjahr 2009 neu gebildeten Blättern<br />
befinden. In gleicher Weise wurden<br />
die Blätter von den anderen Standorten<br />
gesammelt und zur weiteren Untersuchung<br />
ins Labor gebracht: am Standort IIa von 3<br />
Exemplaren von I. aquifolium (stachelblättrige<br />
Varietät) insgesamt 46 minierte Blätter,<br />
am Standort IIb von einem Exemplar<br />
von I. aquifolium (unbestachelte Varietät)<br />
102 minierte Blätter und am Standort IIc<br />
von zwei Exemplaren von I. aquifolium (einem<br />
stachelblättrigen und einem unbestachelten)<br />
insgesamt 91 minierte Blätter.<br />
Untersuchung der Blattminen und<br />
Datenerhebung<br />
Während der Zeit, die eine Population<br />
von P. ilicis als Larve oder Puppe innerhalb<br />
der Blätter von I. aquifolium verbringt, ist<br />
sie einer Reihe von potenziellen Mortalitätsfaktoren<br />
ausgesetzt, die weitestgehend<br />
sequenzieller Natur sind und von Cameron<br />
(1939, 1941), Lewis & Taylor (1967)<br />
und Heads & Lawton (1983a) gut dokumentiert<br />
wurden. Sie lassen sich in sechs<br />
Klassen (M 0<br />
– M 5<br />
) einteilen: Die Klasse<br />
M 0<br />
bzw. die Klasse M 1<br />
fasst alle unspezifischen<br />
Todesursachen der Eier und des ersten<br />
Larvenstadiums bzw. des zweiten und<br />
dritten Larvenstadiums von P. ilicis zusammen,<br />
die Klasse M 2<br />
entspricht den Fällen<br />
von Parasitierung der Larven durch die<br />
Erzwespe Chrysocharis gemma (Hymenoptera,<br />
Eulophidae; Walker 1839), die Klasse<br />
M 3<br />
enthält die Fälle, die sich auf den<br />
Beutefang von Vögeln zurückführen lassen,<br />
die Klasse M 4<br />
die Fälle von Parasitierung<br />
der Puppen von P. ilicis durch mindestens<br />
acht verschiedene Hymenopteren aus den<br />
Familien Eulophidae, Pteromalidae, Braconidae<br />
und Tetracampidae, und die Klasse<br />
M 3<br />
fasst alle unspezifischen Todesursachen<br />
der Puppen von P. ilicis zusammen.<br />
Die Gründe für die Mortalität der Larven<br />
bzw. Puppen lassen sich alle mit Ausnahme<br />
der Klasse M 0<br />
durch Dissektion der<br />
Blattminen am Ende des Lebenszyklus<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
35<br />
von P. ilicis ermitteln. Zudem kann die Anzahl<br />
der in ein Blatt abgelegten Eier anhand<br />
der Anzahl der Ovipositionsnarben<br />
an der Mittelrippe auf der Unterseite des<br />
Blattes (Abb. 2 B) bestimmt werden. Auch<br />
die Anzahl der erfolgreich geschlüpften<br />
Imagines lässt sich anhand der charakteristischen<br />
halbkreisförmigen und bedeckelten<br />
Öffnung (Abb. 3 A) bestimmen, die die<br />
Imago beim Verlassen des Blattes hinterlässt.<br />
Für die Auswertung wurden für jeden<br />
der Standorte folgende Daten erhoben:<br />
1. Gesamtzahl der Ovipositionsnarben<br />
(OV),<br />
2. Gesamtzahlen der Todesfälle<br />
für jede der Klassen M 0<br />
bis M 5<br />
und<br />
3. Gesamtzahl der erfolgreich<br />
geschlüpften Imagines (E) und<br />
Anzahl der erfolgreich geschlüpften<br />
Imagines aus nur an der Blattoberseite<br />
(Eo) bzw. beidseitig (Eb)<br />
ausgebildeten Minen.<br />
Die Klassen M 0<br />
und M 1<br />
:<br />
Unspezifische Larvensterblichkeit<br />
Die Gründe für unspezifische Todesursachen<br />
der Eier und Larvenstadien von<br />
P. ilicis sind vielfältig. Fälle, die zur Klasse<br />
M 0<br />
zu rechnen sind, lassen sich am Blatt<br />
nur schwer feststellen, da P. ilicis die Zeit<br />
als Ei und das erste Larvenstadium im Inneren<br />
der Mittelrippe verbringt. Eine einfache<br />
Möglichkeit die Anzahl der zu dieser<br />
Klasse gehörenden Todesfälle dennoch zu<br />
bestimmen, besteht darin, von der Gesamtzahl<br />
der abgelegten Eier die Summe der<br />
Anzahl der erfolgreich geschlüpften Imagines<br />
und aller bestimmbaren Todesfälle<br />
abzuziehen. Todesursachen in dieser Klasse<br />
sind nach Heads & Lawton (1983a), Brewer<br />
& Gaston (2003) und Eber (2004) vor<br />
allem auf intraspezifische Konkurrenz, Infektionen<br />
der Larven durch Mikroorganismen<br />
wie Pilze, Bakterien oder Viren und<br />
Abwehrreaktionen der Wirtspflanze (Abb.<br />
3 B) zurückzuführen. Todesursachen der<br />
Klasse M 1<br />
erkennt man daran, dass die Minen<br />
in der Regel klein und äußerlich unbeschädigt<br />
sind. Öffnet man sie vorsichtig<br />
mit einer spitzen Pinzette, ist eine derartige<br />
Mine entweder leer oder enthält nach<br />
Glackin et al. (2006) nur Überreste der abgestorbenen<br />
Larve. Die Mine kann auch<br />
von sekundär gebildetem, hartem Pflanzengewebe<br />
ausgefüllt sein. Neben den<br />
oben genannten Gründen für die Todesursachen<br />
der Larven im ersten Stadium<br />
kommen nach Brewer & Gaston (2003) in<br />
der Klasse M 1<br />
als weiterer Grund ungünstige<br />
klimatische Verhältnisse während der<br />
Überwinterung in Frage.<br />
Die Klassen M 2<br />
und M 4<br />
: Parasitoide<br />
Nach Cameron (1939, 1941) und Eber<br />
et al. (2001) besteht der Parasitoidkomplex<br />
von P. ilicis aus insgesamt 10 Arten in Europa:<br />
Chalcidoidea:<br />
Eulophidae:<br />
1. Chrysocharis gemma (Walker 1839)<br />
2. Chrysocharis pubicornis (Zetterstedt<br />
1838) = Chrysocharis syma (Walker<br />
1839)<br />
3. Pentiobius metallicus (Nees 1834)<br />
= Pleurotropis amyntas (Walker 1839)<br />
4. Closterocerus trifasciatus (Westwood<br />
1833)<br />
Tetracampidae:<br />
5. Epiclerus aff. nomocerus (Masi 1934)<br />
= Tetracampe aff. nemocera (Masi<br />
1934)<br />
Pteromalidae:<br />
6. Sphegigaster pallicornis (Spinola<br />
1808) = Sphegigaster flavicornis<br />
(Walker 1833)<br />
7. Cyrtogaster vulgaris (Walker 1833)<br />
8. Mesopolobus aff. amaenus (Walker<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
36 Marco Thomas Neiber<br />
1834) = Eutelus aff. dilectus (Walker<br />
1834)<br />
Ichneumonoidea:<br />
Braconidae:<br />
9. Opius ilicis (Nixon 1939)<br />
10. Dacnusa maculata (Goureau 1851)<br />
Die Nomenklatur wurde Rosen (1958),<br />
Fischer (1962, 1997), Askew (1965),<br />
Bouçek & Askew (1968) und Hansson<br />
(1985, 1994) folgend aktualisiert und die<br />
Namen in Cameron (1939), falls abweichend,<br />
hinzugefügt. Nach Cameron (1939)<br />
schließen alle aufgelisteten Arten ihren<br />
Entwicklungszyklus innerhalb des Pupariums<br />
von P. ilicis ab, mit Ausnahme von C.<br />
gemma, die ihre Entwicklung in der Larve<br />
von P. ilicis vollendet. Außer P. metallicus,<br />
die hyperparasitische Tendenzen zeigt,<br />
sind alle Arten primäre Parasiten von P.<br />
ilicis, die sich in zwei Hauptgruppen einteilen<br />
lassen. Die erste Gruppe umfasst z.<br />
B. die Eulophiden C. gemma, C. pubicornis,<br />
P. metallicus, die alle endoparasitisch leben,<br />
wohingegen die Vertreter der zweiten<br />
Gruppe, die Pteromaliden S. pallicornis und<br />
C. vulgaris sich ektoparasitisch von der<br />
Puppe von P. ilicis ernähren. Opius ilicis<br />
nimmt insofern eine Sonderstellung ein,<br />
indem sich die Art als Endoparasit in der<br />
Larve von P. ilicis bis zu einer bestimmten<br />
Größe entwickelt, dann eine Diapause<br />
durchläuft, um erst in der Fliegenpuppe<br />
ihre Larvenentwicklung abzuschließen,<br />
siehe Cameron (1941).<br />
Nach Glackin et al. (2006) lassen sich<br />
Fälle von Parasitierung eindeutig durch<br />
Dissektion der Blattminen zuordnen.<br />
Weist die Mine äußerlich eine runde Öffnung<br />
auf (Abb. 3 G), die nicht der charakteristischen<br />
Ausflugöffnung von P.<br />
ilicis entspricht, kann von einer Parasitierung<br />
ausgegangen werden. Öffnet man die<br />
Mine, enthält sie in diesem Fall entweder<br />
die eingetrockneten Überreste der Fliegenlarve<br />
und/oder frei in der Mine liegende<br />
glänzend schwarze Stücke einer Hymenopteren-Puppe<br />
(Klasse M 2<br />
) oder ein Puparium<br />
von P. ilicis, in dem sich die Bruchstücke<br />
einer Hymenopteren-Puppe befinden<br />
(Klasse M 4<br />
). Gibt es keine wie oben beschriebene<br />
Öffnung an der Mine, findet<br />
sich entweder eine Hymenopteren-Larve<br />
oder -Puppe (Abb. 3 C) sowie die Überreste<br />
der Larve von P. ilicis in ihrem Inneren<br />
(Klasse M 2<br />
) oder Hymenopteren-Larven<br />
oder -Puppen innerhalb des Pupariums<br />
(Abb. 3 D, E) von P. ilicis (Klasse M 4<br />
).<br />
Falls Hymenopteren-Larven oder -Puppen<br />
frei in der Mine bzw. in den Puparien<br />
von P. ilicis lagen, wurden die Hymenopteren-Larven<br />
oder -Puppen bzw. die diese<br />
enthaltenden Puparien zur Aufzucht in<br />
Schnappdeckelgläschen überführt und für<br />
die spätere Zuordnung nummeriert. In Fällen,<br />
bei denen es zum Schlupf der Imagines<br />
der parasitierenden Hymenopteren kam,<br />
wurde mittels der Schlüssel in Cameron<br />
(1939), Askew (1965) und Hansson (1985)<br />
die jeweilige Art und das Geschlecht bestimmt<br />
sowie der Schlupftag festgehalten.<br />
Falls die Puppe oder die Larve abgestorben<br />
war, wurde mittels der Schlüssel in Cameron<br />
(1939) zumindest versucht, eine Artzuordnung<br />
vorzunehmen.<br />
Die Klasse M 3<br />
: Fraßdruck durch Vögel<br />
Es ist bekannt, dass vor allem die Blaumeise<br />
Cyanistes caeruleus (Linnaeus 1758)<br />
(= Parus caeruleus Linnaeus 1758) die Larven<br />
von P. ilicis frisst (Owen 1975, Heads<br />
& Lawton 1983b). Nach Glackin et al.<br />
(2006) hinterlässt die Blaumeise charakteristische<br />
Fraßspuren an den Blattminen<br />
von I. aquifolium in Form eines V-förmigen<br />
Spalts (Abb. 3 F), so dass alle Minen die<br />
diesen Spalt aufweisen, der Klasse M 3<br />
zugeordnet<br />
werden können.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
37<br />
Die Klasse M 5<br />
: Unspezifische Puppensterblichkeit<br />
Fälle, die dieser Klasse zuzuordnen sind,<br />
lassen sich nur erkennen, wenn man die<br />
Mine mit einer spitzen Pinzette öffnet.<br />
Das Puparium enthält nach Glackin et al.<br />
(2006) keinerlei Anzeichen einer Parasitierung<br />
(Hymenopteren-Larve oder Überreste<br />
einer Hymenopteren-Puppe). Die<br />
Oberfläche ist oft stumpf und unregelmäßig<br />
braun gefärbt und/oder eingedrückt<br />
oder enthält Überreste einer abgestorbenen<br />
Fliege oder Fliegen-Puppe.<br />
Datenanalyse<br />
Demographische Daten<br />
Nach Brewer & Gaston (2003) sind die<br />
einzelnen Gründe für die Larven- und<br />
Puppensterblichkeit sequenzieller Natur.<br />
Daher ergibt sich die Gesamtzahl der Individuen,<br />
die einer bestimmten Todesursache<br />
M i<br />
(i = 0, …, 5) erliegen, aus der Formel<br />
wobei OV die Anzahl abgelegter Eier, E<br />
die Anzahl erfolgreich geschlüpfter Imagines<br />
und M j<br />
(j = 0, …, i–1) jeweils die Anzahl<br />
der Individuen bezeichnet, die einer<br />
vorangegangenen Todesursache erlegen<br />
sind.<br />
Neben der tatsächlichen Mortalitätsrate<br />
für eine bestimmte Todesursache (MT i<br />
, i =<br />
0, …, 5) an einem Standort<br />
wurde auch die apparente Mortalitätsrate<br />
(MS i<br />
, i = 0,…,5)<br />
berechnet (Bellows et al. 1992). Die<br />
Schlupfrate (SR) ergibt sich als Quotient<br />
aus der Anzahl erfolgreich geschlüpfter<br />
Imagines (E) von P. ilicis und der Gesamtzahl<br />
abgelegter Eier (OV). Ferner wurde<br />
der Anteil erfolgreich geschlüpfter Imagines<br />
aus oberseitig (Eo) bzw. beidseitig (Eb)<br />
angelegten Minen bestimmt.<br />
Analyse der Zusammensetzung des<br />
Parasitoidkomplexes<br />
Für jeden der Standorte wurde die prozentuale<br />
Zusammensetzung des Parasitoidkomplexes<br />
ermittelt. Zudem wurde festgehalten,<br />
ob die unter Laborbedingungen<br />
aufgezogenen Imagines aus einem Puparium<br />
oder aus einer frei in der Mine von<br />
P. ilicis liegenden Hymenopteren-Puppe<br />
geschlüpft waren. Die prozentualen Anteile<br />
der Geschlechter der einzelnen Arten<br />
für alle Standorte zusammen wurden<br />
bestimmt. Um zu überprüfen, ob es Unterschiede<br />
im Schlupfzeitpunkt bei den<br />
einzelnen Geschlechtern einer Art gab,<br />
wurde der Median über die Schlupftage<br />
für Männchen und Weibchen einer Art für<br />
alle Standorte zusammengenommen berechnet.<br />
Ergebnisse<br />
Mortalitätsprofile<br />
Die Ergebnisse der Untersuchung der<br />
Mortalitätsprofile sind in Tab. 1 und Abb.<br />
4 zusammenfassend dargestellt. Fälle von<br />
unbestimmter Sterblichkeit der Eier und<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
38 Marco Thomas Neiber<br />
Abb. 4 Grafische Darstellung der Mortalitätsprofile<br />
(Mortalitätsklassen M 0<br />
bis M 5<br />
und Anteil erfolgreich<br />
geschlüpfter Imagines E) der Larval- und<br />
Pupalstadien von Phytomyza ilicis am Standort I:<br />
Tiergarten (links) und am Standort II: Westfalenhof<br />
(rechts). M 0<br />
: unspezifische Todesursachen der<br />
Eier und des ersten Larvenstadiums (z. B. durch<br />
bakterielle Infektionen), M 1<br />
: unspezifische Todesursachen<br />
des zweiten und dritten Larvenstadiums,<br />
M 2<br />
: Parasitierung der Larven durch die Erzwespe<br />
Chrysocharis gemma, M 3<br />
: Beutefang durch Vögel,<br />
M 4<br />
: Parasitierung der Puppen, M 5<br />
: unspezifische<br />
Todesursachen der Puppen.<br />
des ersten Larvenstadiums (Klasse M 0<br />
)<br />
waren am Standort I mit 5 % am geringsten.<br />
Am Standort II lag der Wert für die<br />
hierher gehörenden Todesursachen mit<br />
durchschnittlich 26 % (12 % bis 36 % an<br />
den Unterstandorten) deutlich höher. Der<br />
Anteil der Todesursachen, die der Klasse<br />
M 1<br />
zugeordnet wurden, lag zwischen<br />
< 0,5 % (Standort IIb) und 14 % (Standort<br />
IIa). Am Standort I lag dieser Wert bei<br />
5 % und am Standort II durchschnittlich<br />
bei 7 %. Parasitierung der Larven (Klasse<br />
M 2<br />
) konnte am Standort I nicht festgestellt<br />
werden, wohingegen dieser Wert<br />
am Standort II durchschnittlich 17 % (8 %<br />
bis 19 % an den Unterstandorten) betrug.<br />
Mit 58 % war der Fraßdruck durch Vögel<br />
(Klasse M 3<br />
) am Standort I die Haupttodesursachen<br />
der Larvenstadien von P. ilicis.<br />
Am Standort II mit durchschnittlich<br />
26 % (10 % bis 24 %) hingegen insgesamt<br />
nur an zweiter Stelle. Auch die Parasitierung<br />
der Puparien (Klasse M 4<br />
) von P. ilicis<br />
spielte mit 1 % am Standort I nur eine untergeordnete<br />
Rolle (es wurde nur ein Fall<br />
von Puppenparasitierung festgestellt).<br />
Am Standort II war die Parasitierung<br />
der Puparien mit durchschnittlich 12 %<br />
(7 % bis 14 % an den Unterstandorten) an<br />
insgesamt dritter Stelle der Todesursachen.<br />
Unbestimmte Sterblichkeit der Puparien<br />
war mit 2 % bis 5 % an allen Standorten<br />
etwa auf gleichem Niveau. Die Schlupfrate<br />
(SR) lag am Standort I bei 24 % und<br />
am Standort II durchschnittlich bei 27 %.<br />
Brewer & Gaston (2003) geben für Norddeutschland<br />
einen Wert für die Erfolgsrate<br />
von etwa 45 % bis 50 % an. Dieser Wert<br />
wurde an keinem der Standorte erreicht,<br />
nur der Wert von 40 % am Unterstandort<br />
IIc erreichte fast diesen Bereich.<br />
Die apparenten Mortalitätsraten wurden<br />
für jede Klasse berechnet und mit den Angaben<br />
in Brewer & Gaston (2003) verglichen.<br />
Für die Klassen M 0<br />
und M 1<br />
zusammen<br />
lag der Wert am Standort I bei 0,12<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
39<br />
Tab. 1 Tatsächliche (MT) und apparente Mortalitätsraten (MS) für die Todesursachen in den Klassen M 0<br />
bis M 5<br />
sowie die Schlupfrate (SR) und Anteile erfolgreich geschlüpfter Imagines aus oberseitig bzw. beidseitig<br />
angelegter Minen für die Standorte I und II insgesamt sowie für die Unterstandorte IIa–c (n: Anzahl<br />
der untersuchten minierten Blätter an jedem Standort, N: Anzahl der in die jeweilige Klasse eingeordneten<br />
Fälle, OV: Oviposition, E: erfolgreich geschlüpfte Imagines von P. ilicis sowie Eo bzw. Eb: erfolgreich<br />
geschlüpfte Imagines von P. ilicis aus nur oberseitig bzw. beidseitig ausgebildeten Blattminen).<br />
Standort<br />
n<br />
OV<br />
M0<br />
M1<br />
M2<br />
M3<br />
M4<br />
M5<br />
E<br />
Eo<br />
Eb<br />
N<br />
73<br />
4<br />
5<br />
0<br />
42<br />
1<br />
4<br />
17<br />
11<br />
6<br />
I<br />
65<br />
MT<br />
–<br />
0,05<br />
0,07<br />
0<br />
0,58<br />
0,01<br />
0,05<br />
SR<br />
0,24<br />
65 %<br />
35 %<br />
MS<br />
–<br />
0,05<br />
0,07<br />
0<br />
0,65<br />
0,04<br />
0,19<br />
N<br />
55<br />
13<br />
8<br />
6<br />
13<br />
4<br />
1<br />
10<br />
6<br />
4<br />
IIa<br />
46<br />
MT<br />
–<br />
0,24<br />
0,14<br />
0,11<br />
0,24<br />
0,07<br />
0,02<br />
SR<br />
0,18<br />
60 %<br />
40 %<br />
MS<br />
–<br />
0,24<br />
0,19<br />
0,18<br />
0,46<br />
0,27<br />
0,01<br />
N<br />
184<br />
66<br />
1<br />
15<br />
32<br />
25<br />
7<br />
38<br />
27<br />
11<br />
IIb<br />
102<br />
MT<br />
–<br />
0,36<br />
0<br />
0,08<br />
0,17<br />
0,14<br />
0,04<br />
SR<br />
0,21<br />
71 %<br />
29 %<br />
MS<br />
–<br />
0,36<br />
0 01<br />
0,13<br />
0,31<br />
0,36<br />
0,16<br />
N<br />
109<br />
13<br />
5<br />
21<br />
11<br />
13<br />
2<br />
44<br />
28<br />
16<br />
IIc<br />
91<br />
MT<br />
–<br />
0,12<br />
0,05<br />
0,19<br />
0,10<br />
0,12<br />
0,02<br />
SR<br />
0,21<br />
64 %<br />
36 %<br />
MS<br />
–<br />
0,12<br />
0,05<br />
0,23<br />
0,16<br />
0,22<br />
0,04<br />
N<br />
348<br />
92<br />
14<br />
42<br />
56<br />
42<br />
10<br />
92<br />
61<br />
31<br />
II (gesamt)<br />
239<br />
MT<br />
–<br />
0,26<br />
0,04<br />
0,12<br />
0,16<br />
0,12<br />
0,03<br />
SR<br />
0,27<br />
66 %<br />
34 %<br />
MS<br />
–<br />
0,26<br />
0,05<br />
0,17<br />
0,28<br />
0,29<br />
0,10<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
40 Marco Thomas Neiber<br />
und am Standort II insgesamt bei 0,31<br />
(0,17 bis 0,43 an den Unterstandorten).<br />
Der Wert am Standort I lag damit kaum<br />
unterhalb der in Brewer & Gaston (2003)<br />
für Norddeutschland angegebenen Werte<br />
von 0.15 bis 0.25. Der Wert für den Unterstandort<br />
IIc lag innerhalb dieses Bereichs,<br />
wohingegen die Werte für die Unterstandorte<br />
IIa und IIb mit 0,43 und 0,37<br />
erheblich darüber lagen. Für die Klasse M 2<br />
wurden Werte zwischen 0 am Standort I<br />
und 0,23 am Unterstandort IIc ermittelt.<br />
Für diese Klasse geben Brewer & Gaston<br />
(2003) für den norddeutschen Raum Werte<br />
von weniger als 0,10 an und für die Klasse<br />
M 3<br />
Werte von weniger als 0,15. Insbesondere<br />
der Wert von 0,65 für die Klasse M 3<br />
am Standort I lag erheblich über diesem<br />
Wert, aber auch die Werte für die Unterstandorte<br />
von Standort II lagen mit 0,46,<br />
0,31 und 0,16 größtenteils deutlich höher.<br />
Für die Klasse M 4<br />
geben Brewer & Gaston<br />
(2003) Werte von etwa 0,20 bis 0,30<br />
an. Die am Standort II ermittelten Werte<br />
für diese Klasse befanden sich mit 0,22 bis<br />
0,36 etwa in diesem Bereich, der Wert am<br />
Standort I hingegen mit 0,01 sehr deutlich<br />
darunter. Die Werte für die Klasse<br />
M 5<br />
war am Standort I mit 0,19 fast doppelt<br />
so hoch wie insgesamt am Standort<br />
II mit 0,10 (0,01 bis 0,16 an den Unterstandorten).<br />
Das Verhältnis von erfolgreich<br />
geschlüpften Imagines von P. ilicis aus nur<br />
oberseitig angelegten Minen und erfolgreich<br />
geschlüpften Imagines aus beidseitig<br />
angelegten Minen wurde an allen (Unter)-<br />
Standorten mit etwa 3:2 ermittelt.<br />
Zusammensetzung des<br />
Parasitoidkomplexes<br />
Zum Zeitpunkt der Probennahme vom<br />
6. bis 8. Mai 2009 war der überwiegende<br />
Teil der Fliegen bereits geschlüpft, nur eine<br />
Imago von P. ilicis schlüpfte noch am 10.<br />
Mai 2009 im Labor. Im Gegensatz hierzu<br />
war zum Zeitpunkt der Probennahme<br />
noch keine parasitierende Hymenoptere<br />
geschlüpft. Es wurden insgesamt 85 Fälle<br />
von Parasitierung festgestellt. In 79 Fällen<br />
schlüpften die Imagines im Labor, in den<br />
übrigen 6 Fällen war entweder die Larve<br />
oder die Puppe unter Laborbedingungen<br />
abgestorben. Die Imagines, Puppen und<br />
Larven konnten drei parasitierenden Arten<br />
zugeordnet werden: Chrysocharis gemma,<br />
Sphegigaster pallicornis und Opius ilicis.<br />
Am Standort I wurde ein Exemplar von<br />
S. pallicornis festgestellt. Vertreter anderer<br />
Spezies konnten nicht nachgewiesen werden.<br />
Am Unterstandort IIa wurden 10 Fälle<br />
von Parasitierung festgestellt, wobei C.<br />
gemma mit 6 Individuen (60 %) die häufigste<br />
Art war, gefolgt von S. pallicornis mit<br />
4 Exemplaren (40 %). Am Unterstandort<br />
IIb kamen C. gemma, S. pallicornis und<br />
O. ilicis im Verhältnis 25:15:0 (62,5 % :<br />
37,5 % : 0 %) und am Unterstandort IIc<br />
im Verhältnis 28:4:2 (82,4 % : 11,8 % :<br />
5,8 %) vor. Für den Standort II ergab sich<br />
somit insgesamt eine Verteilung der drei<br />
Arten im Verhältnis 59:23:2 (70,2 % :<br />
27,4 % : 2,4 %).<br />
Von 56 der insgesamt 59 nachgewiesenen<br />
Individuen von C. gemma konnte<br />
das Geschlecht bestimmt werden,<br />
wobei 20 (35,7 %) Männchen und 36<br />
(64,3 %) Weibchen waren. Von S. pallicornis<br />
waren 9 (42,8 %) Individuen männlichen<br />
und 12 (57,2 %) weiblichen Geschlechts.<br />
Bei zwei Individuen war die<br />
Bestimmung des Geschlechts nicht möglich.<br />
Die einzigen beiden Exemplare von<br />
O. ilicis waren Männchen. Die Imagines<br />
von C. gemma schlüpften im Labor über einen<br />
Zeitraum von 22 Tagen vom 8. bis 29.<br />
Mai 2009. Nach 10 Tagen waren 50 % der<br />
Männchen und nach 14 Tagen 50 % der<br />
Weibchen geschlüpft. Die Imagines von<br />
S. pallicornis schlüpften über einen<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
41<br />
Abb. 5 Imago von A: Opius ilicis, Männchen;<br />
B: Sphegigaster pallicornis, Weibchen;<br />
C: S. pallicornis, Männchen; D: Chrysocharis gemma,<br />
Weibchen; E: C. gemma, Männchen.<br />
Zeitraum von 12 Tagen vom 14. bis 25.<br />
Mai 2009. 50 % der Männchen waren nach<br />
4 Tagen und 50 % der Weibchen nach 6<br />
Tagen geschlüpft.<br />
C. gemma wird ausdrücklich als Endoparasit<br />
ausschließlich der Larven von P.<br />
ilicis genannt (Cameron 1939, Eber et al.<br />
2001, Brewer & Gaston 2003, Eber 2004,<br />
Gaston et al. 2004). Abweichend hiervon<br />
wurde in dieser Studie festgestellt, dass 19<br />
(32,2 %) der insgesamt 59 Individuen aus<br />
den Puparien von P. ilicis geschlüpft waren<br />
und nicht aus frei in der Mine liegenden<br />
Puppen. Sowohl S. pallicornis als auch O.<br />
ilicis schlüpften in allen Fällen aus den Puparien<br />
von P. ilicis.<br />
Für C. gemma wurde ein Geschlechterverhältnis<br />
von etwa einem Männchen auf<br />
zwei Weibchen ermittelt. Dies entspricht<br />
etwa dem von Cameron (1939) ermittelten<br />
Verhältnis. Allerdings sind die hier ermittelten<br />
Werte aufgrund der geringen Stichprobengröße<br />
nur bedingt aussagekräftig<br />
und zeigen eher eine Momentaufnahme.<br />
Dass die Männchen von C. gemma im Median<br />
einige Tage vor den Weibchen schlüpfen,<br />
stimmt ebenfalls mit den von Cameron<br />
(1939) gefundenen Resultaten überein.<br />
Trotz der noch kleineren Stichprobe für<br />
S. pallicornis geht bei dieser Art die Tendenz<br />
eher in Richtung einer Gleichverteilung<br />
der Geschlechter, und ebenso wie bei<br />
C. gemma schlüpfen die Männchen etwas<br />
früher. Das frühere Schlüpfen der Männchen<br />
ist insofern sinnvoll, als dass so sichergestellt<br />
ist, dass nach dem Schlüpfen<br />
der Weibchen bereits genügend erwachsene<br />
Männchen vorhanden sind, um die<br />
Weibchen zu begatten.<br />
Diskussion<br />
An beiden Standorten entwickelte sich<br />
etwa jede vierte Larve von P. ilicis zu einer<br />
Imago. Dass dieser Wert unter dem<br />
von Brewer & Gaston (2003) angegebenen<br />
Wert liegt, kann zum einen durch natürliche<br />
Schwankungen in verschiedenen<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
42 Marco Thomas Neiber<br />
Jahren und an verschiedenen Standorten,<br />
aber auch durch Unterschiede in der Qualität<br />
der Wirtspflanzen oder des Standortes<br />
der Wirtspflanzen erklärt werden. Anhand<br />
der Daten in dieser Studie ist zu erkennen,<br />
dass standörtliche Schwankungen bereits<br />
bei verhältnismäßig eng beieinander liegenden<br />
Standorten auf dem Westfalenhof<br />
vorkommen (Tab. 1 und Abb. 4). Auffällig<br />
ist vor allem, vergleicht man die Mortalitätsprofile<br />
an den Standorten I und II<br />
insgesamt, dass sich die Anteile der Todesursachen<br />
an diesen Standorten deutlich<br />
unterscheiden. So ist am Standort I mit<br />
über 50 % die Haupttodesursache Fraßdruck<br />
durch Vögel, wohingegen am Standort<br />
II dieser Wert bei nur etwa 25 % liegt.<br />
Der Unterschied ist dadurch zu erklären,<br />
dass im Tiergarten Hannover künstliche<br />
Nistmöglichkeiten für Meisen und andere<br />
Vogelarten geschaffen werden und dadurch<br />
die Vogelpopulation höher ist als auf dem<br />
Gelände des Westfalenhofs, wo keine intensive<br />
Vogelhege betrieben wird. Da P. ilicis<br />
in ihrer Entwicklung unbedingt auf ihre<br />
Wirtspflanze angewiesen ist, ist zu erwarten<br />
das sich die Mortalitätsprofile der Larven<br />
von P. ilicis an lokal isolierten Standorten<br />
von I. aquifolium, die aber von P. ilicis<br />
infiziert sind, gegenüber Standorten mit<br />
höherer Individuenzahl von I. aquifolium<br />
deutlich unterscheiden. Als lokal isolierte<br />
Standorte von I. aquifolium werden an dieser<br />
Stelle solche Standorte bezeichnet, in<br />
deren näherer Umgebung keine weiteren<br />
Exemplare von I. aquifolium vorkommen.<br />
Insbesondere kann angenommen werden,<br />
dass die Abundanz von parasitierenden<br />
Hymenopteren an lokal isolierten Standorten<br />
erheblich geringer und die Anzahl der<br />
vorkommenden Arten an solchen Standorten<br />
tendenziell geringer ist, weil zum einen<br />
das Nahrungsangebot eingeschränkt und<br />
zum anderen parasitierende Arten Schwierigkeiten<br />
haben dürften, sich zu etablieren,<br />
wenn nur eine kleine und zudem isolierte<br />
Population von Wirtsorganismen vorhanden<br />
ist. Diese Annahmen vorausgesetzt,<br />
sind die Unterschiede bei den Parasitierungsraten<br />
an den Standorten I und II erklärbar.<br />
Da die Individuen von I. aquifolium<br />
am Standort I die einzigen ihrer Art im<br />
Tiergarten Hannover sind, lässt sich dieser<br />
Standort als lokal isoliert ansehen, wohingegen<br />
die Population von I. aquifolium auf<br />
dem Gelände des Westfalenhofs wegen der<br />
höheren Individuenzahl und der weiter gestreuten<br />
Verbreitung auf dem Gelände und<br />
der näheren Umgebung nicht als lokal isoliert<br />
angesehen werden kann. Dass nur S.<br />
pallicornis am Standort I nachgewiesen<br />
werden konnte, heißt nicht, dass die anderen,<br />
am Standort II gefundenen Parasiten<br />
von P. ilicis (C. gemma und O. ilicis) dort<br />
nicht vorkommen, dass ihre Abundanz<br />
aber deutlich geringer ist als am Standort<br />
II. Die Häufigkeit der am Standort II gefundenen<br />
Parasiten stimmt mit den von<br />
Cameron (1939) gefundenen Häufigkeiten<br />
überein. C. gemma ist die häufigste Art,<br />
gefolgt von S. pallicornis und dem seltenen<br />
Parasiten O. ilicis.<br />
Am Standort II konnte erstmals nachgewiesen<br />
werden, dass C. gemma, im Gegensatz<br />
zu den Angaben in Cameron (1939)<br />
kein reiner Larvenparasit ist, sondern auch<br />
aus den Puparien von P. ilicis schlüpfen<br />
kann. Eine Erklärung hierfür ist, dass C.<br />
gemma die Larve von P. ilicis erst zu einem<br />
relativ späten Zeitpunkt infizieren und diese<br />
sich noch verpuppen konnte bevor sie<br />
von C. gemma abgetötet wurde.<br />
Das Verhältnis der aus nur oberseitig<br />
ausgebildeten Minen geschlüpften Imagines<br />
von P. ilicis zu dem aus beidseitig ausgebildeten<br />
Minen geschlüpften Imagines<br />
stimmt mit den Angaben in Ellis (2000),<br />
der in einer Mehrheit der Fälle eine beidseitig<br />
ausgebildete Mine vorfand, nicht<br />
überein. Bezüglich dieser Beobachtung<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
43<br />
kann an dieser Stelle nur festgehalten werden,<br />
dass die Ausbildung von rein oberseitigen<br />
Minen und beidseitig ausgebildeten<br />
größeren Schwankungen unterliegt.<br />
Denkbar ist, dass es zur Ausbildung einer<br />
beidseitigen Mine kommt, wenn es für die<br />
Larve einfacher ist in das Schwammparenchym<br />
des Blattes von I. aquifolium einzudringen<br />
als die Fläche der oberseitigen<br />
Mine zu vergrößern.<br />
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Danksagungen<br />
Ich möchte Prof. Dr. Hansjörg Küster<br />
und insbesondere Dr. Albert Melber für<br />
die Einführung in den Themenkreis und<br />
für Anregungen und Diskussionen während<br />
der Durchführung der vorliegenden<br />
Untersuchung, danken.<br />
Arbeit eingereicht: 21.01.2010<br />
Arbeit angenommen: 30.04.2010<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Marco Thomas Neiber<br />
Birkenweg 2<br />
31319 Sehnde<br />
E-Mail: mneiber@hotmail.de<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
45<br />
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes<br />
bei Wittenburg<br />
Ingo Geestmann<br />
Zusammenfassung<br />
Bei Wittenburg, das zur Gemeinde Elze<br />
im Landkreis Hildesheim im südlichen<br />
Niedersachsen gehört, wurde untersucht,<br />
welche Pflanzenarten in einem kaum noch<br />
genutzten Hainbuchen-Niederwald vorkommen.<br />
In insgesamt zwanzig Vegetationsaufnahmen<br />
nach Braun-Blanquet<br />
fanden sich 52 Arten, von denen zehn in<br />
Niedersachsen auf der Roten Liste stehen.<br />
Sechs dieser Arten kommen typischerweise<br />
weiter südlich vor und finden sich in<br />
Wittenburg an ihrer nördlichen Verbreitungsgrenze.<br />
Sie verdeutlichen somit die<br />
besonderen Standortbedingungen, die ein<br />
Niederwald bietet. Insbesondere sein nutzungsbedingt<br />
lichtes Blätterdach unterscheidet<br />
ihn von den Buchenwäldern, aus<br />
denen er durch anthropogene Nutzung<br />
hervorgegangen ist. Die Zeigerwerte nach<br />
Ellenberg der vor Ort gefundenen Arten<br />
in Kombination mit den ökologischen<br />
Gruppen nach Hofmeister entsprechen<br />
den Bedingungen des hohen Lichteinfalls<br />
im Wald und zeigen, dass es sich um einen<br />
mittelfeuchten Standort mit kalkreichem,<br />
neutralem bis leicht saurem Boden<br />
mit guter Mineralstoffversorgung handelt.<br />
Der Wald hat einen ausgeprägten Frühjahrs-Geophyten-Aspekt,<br />
der vor allen<br />
Dingen durch ein massenhaftes Auftreten<br />
von Buschwindröschen (Anemone nemorosa)<br />
und Gelben Windröschen (Anemone<br />
ranunculoides) geprägt ist. Ohne eine Fortsetzung<br />
und gegebenenfalls Intensivierung<br />
der Nutzung droht der Standort für etliche<br />
Pflanzenarten verloren zu gehen. Die<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
46 Ingo Geestmann<br />
Erarbeitung eines ökonomisch sinnvollen<br />
Nutzungsplans scheint deshalb angebracht<br />
und sollte vorangetrieben werden.<br />
Abstract<br />
Next to Wittenburg (near Elze, administrative<br />
district of Hildesheim, southern<br />
Lower Saxony) a research was conducted<br />
to ascertain which plant species occur in a<br />
hardly used hornbeam coppice. In twenty<br />
vegetation plots according to Braun-Blanquet,<br />
52 species were found, of which ten<br />
are on the Red List of Endangered Plant<br />
Species in Lower Saxony. Six species typically<br />
occur in more southerly regions and<br />
are found in Wittenburg at their northern<br />
limit. They are adapted to the special conditions<br />
of a coppice. Especially its light canopy<br />
sets it apart from beech groves, from<br />
which it emerged by human impact. The<br />
indicator values of the local plant species<br />
according to Ellenberg in combination<br />
with the ecological groups according to<br />
Hofmeister demonstrate the high amount<br />
of light in the coppice. Its soil is lightly humid,<br />
rich in lime, neutral or slightly acid<br />
and rich in nutrients. The coppice shows<br />
a distinctive spring-time geophyte aspect,<br />
mainly consisting of the copious occurrence<br />
of Anemone nemorosa and Anemone<br />
ranunculoides. Without a continued and,<br />
if applicable, intensified management, the<br />
present aspect of this special woodland will<br />
be lost as a habitat of many plant species.<br />
Therefore the development of an economically<br />
reasonable plan for a coppice management<br />
should be developed.<br />
Einleitung<br />
Niederwaldwirtschaft ist eine heute nur<br />
noch selten praktizierte, traditionelle Form<br />
der Waldnutzung, bei der eine Verjüngung<br />
der Bäume nicht über Sämlinge, sondern<br />
über Stockausschlag erfolgt. Alle 15 bis 25<br />
Jahre wurden die Wälder hierzu „auf den<br />
Stock gesetzt“, d. h. vollständig abgeschlagen.<br />
Das auf diese Weise gewonnene Holz<br />
nutzte man vornehmlich als Brennmaterial.<br />
Diese Form der Nutzung begünstigt<br />
Baum arten mit hohem Stockausschlagvermögen,<br />
z. B. Hainbuche, Ahorn, Esche,<br />
Linde und Eiche. Arten mit geringerem<br />
Regenerationsvermögen wie die Rotbuche<br />
(Fagus sylvatica) werden hingegen zurückgedrängt<br />
und können dauerhaft nur bei<br />
sehr langen Umtriebszeiten von über 30<br />
Jahren überleben. Weil in diesen Wäldern<br />
gewonnenes Holz nur bedingt zum Bauen<br />
verwendet werden konnte (z. B. Gefachflechtwerke<br />
in Fachwerkhäusern (Pott<br />
1996)), ging man ab dem Mittelalter dazu<br />
über, einzelne Kernwüchse aus dem kurzfristigen<br />
Umtrieb herauszunehmen. Die<br />
sogenannten Überhälter ließen sich gut<br />
im Haus- oder Schiffbau verwenden. Vorzugsweise<br />
nutzte man hierzu Eichen, die<br />
ein besonders stabiles und beständiges<br />
Holz liefern. Die Eicheln älterer Bäume<br />
dienten der Schweinemast (Härdtle et al.<br />
2004).<br />
Durch die extensive Niederwaldwirtschaft<br />
kam es in den Kalkbereichen der<br />
Mittelgebirge und an südexponierten<br />
Steilhängen mit Kalkschottern zu einer<br />
Verdrängung natürlicher Buchenwälder<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
47<br />
Abb. 1 lage des untersuchten hainbuchen-<br />
Niederwaldes bei Wittenburg.<br />
zugunsten von Eichen-Hainbuchen-Niederwäldern.<br />
Tatsächlich sind diese thermophilen<br />
Buschwälder in den nördlichen<br />
Mittelgebirgen ausschließlich aus degradierten<br />
Buchenwäldern hervorgegangen<br />
(Pott 1996).<br />
Niederwälder sind durch die Form der<br />
Nutzung besonders licht und beherbergen<br />
neben typischen Buchenwaldarten<br />
wie Waldmeister (Galium odoratum) viele<br />
thermophile und z. T. seltene Arten (z. B.<br />
Lilium martagon; Pott 1996). Diese Untersuchung<br />
soll klären, welche Arten in einem<br />
Hainbuchen-Niederwald vorkommen. Mit<br />
diesen Daten wird dann unter Berücksichtigung<br />
der derzeitigen Nutzung ein Ausblick<br />
zur zukünftigen Entwicklung des<br />
Waldes versucht. Des Weiteren soll mit<br />
Hilfe der Zeigerwerte nach Ellenberg et<br />
al. (2001) sowie der ökologischen Gruppen<br />
nach Hofmeister (1997) der Standort ökologisch<br />
charakterisiert werden.<br />
Material und Methoden<br />
Die Untersuchung fand im südlichen<br />
Niedersachsen in einem Hainbuchenwald<br />
bei Wittenburg statt, das zur Gemeinde<br />
Elze im westlichen Landkreis Hildesheim<br />
gehört. Der Hainbuchenwald liegt<br />
nahe dem Ortsausgang von Wittenburg in<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
48 Ingo Geestmann<br />
Abb. 2 Übersicht der Probestellen im Niederwald<br />
bei Wittenburg und Grundvorkommen (mit mindestens<br />
3 vertretern) der einzelnen ökologischen<br />
Gruppen (vergleiche abb. 9).<br />
Gr. 11 Buschwindröschen-Gruppe<br />
Gr. 12 Goldnessel-Gruppe<br />
Gr. 13 Bingelkraut-Gruppe<br />
Gr. 14 hexenkraut-Gruppe<br />
Richtung Boitzum (Abb. 1) auf der Finie,<br />
einem Höhenzug, der sich von der Barenburg<br />
im Osterwald bis zum Schloss Marienburg<br />
erstreckt, und ist leicht südexponiert.<br />
Von West nach Ost hat der Wald<br />
eine Länge von etwa 650 m und ist zwischen<br />
120 m und 260 m breit (Abb. 2). Er<br />
liegt etwa 140 m über Normalnull und ist<br />
von bewirtschafteten Feldern umgeben.<br />
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde<br />
er laut Besitzer Jörg Lehnhoff zum<br />
letzten Mal auf den Stock gesetzt. Seitdem<br />
beschränkt sich die Nutzung hauptsächlich<br />
auf die Entnahme von Kleinholz<br />
und die Beseitigung von Sturmschäden.<br />
Aus ökonomischen Gründen werden nur<br />
noch einzelne Stämme herausgenommen,<br />
wenn diese „zu dicht“ beisammen stehen.<br />
Wie der Wald früher genutzt wurde, ist<br />
aus den Mitteilungen des Besitzers nicht<br />
zu erschließen; aus der entsprechenden<br />
Generation lebt heute niemand mehr. Ein<br />
besonders langsames Wachstum der Hainbuchen<br />
wird auf den kargen und steinigen<br />
Kalkstein-Boden zurückgeführt.<br />
In zwei Untersuchungsintervallen, vom<br />
21.04.2009 bis zum 01.05.2009 und vom<br />
09.06.2009 bis zum 19.06.2009, wurden<br />
insgesamt zwanzig Vegetationsaufnahmen<br />
an verschiedenen Stellen des Waldes<br />
durchgeführt. Fünf Aufnahmen fanden im<br />
ersten und fünfzehn im zweiten Zeitraum<br />
statt. Die Größe der Probeflächen betrug<br />
jeweils ca. 100 m² (10 m × 10 m). Sie wurden<br />
nach physiognomisch-struktureller<br />
Homogenität des Bestandes (Dierschke<br />
1994) ausgewählt, d. h., es wurde auf<br />
eine möglichst einheitliche Verteilung<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
49<br />
der Vegetation geachtet, und Flächen mit<br />
uneinheitlichen Lichtverhältnissen oder<br />
Hangneigungen gemieden. Auch Bereiche<br />
mit Wegen oder Trampelpfaden sowie der<br />
Waldrand wurden von den Vegetationsaufnahmen<br />
ausgeschlossen.<br />
Die Bestimmungen der sich im entsprechenden<br />
Areal befindenden Pflanzenarten<br />
erfolgte unter Zuhilfenahme einschlägiger<br />
Literatur (Schmeil & Fitschen 2006;<br />
Rothmaler 2007; Rothmaler 1999; Aichele<br />
& Golte-Bechtle 2005). Moose wurden<br />
nicht berücksichtigt. Im Feld nicht zu bestimmende<br />
Arten wurden fotografiert und/<br />
oder herbarisiert und später mit fachkundiger<br />
Hilfe bestimmt. Anschließend erfolgte<br />
die Abschätzung der Artmächtigkeit<br />
unter Verwendung der siebenteiligen Skala<br />
nach Braun-Blanquet. Die in Bezug auf<br />
die Individuenanzahl oft uneinheitlich und<br />
z. T. ungenau festgelegten Deckungsgrade<br />
„+“ und „r“ (Dierschke 1994; Hofmeister<br />
1997) wurden hier wie folgt verwendet:<br />
+ 5 oder mehr Individuen mit einem<br />
Deckungsgrad von insges. unter 1 %<br />
r weniger als 5 Individuen mit einem<br />
Deckungsgrad von insges. unter 1 %<br />
Sämtliche ermittelten Pflanzenarten<br />
wurden in einer Übersichtstabelle (Anhang<br />
Tab. 1) zusammengestellt. Den einzelnen<br />
Arten wurden die Zeigerwerte nach<br />
Ellenberg et al. (2001) und die jeweilige<br />
Vegetationsform zugeordnet, und deren<br />
Stetigkeit ermittelt. Zusätzlich wurden die<br />
Zeigerwerte für Licht (L), Bodenreaktion<br />
(R), Stickstoffversorgung (N) und Feuchtigkeit<br />
(F) angegeben. Parallel zu dieser<br />
Zuordnung wurde auch, wo es möglich<br />
war, mit den ökologischen Gruppen nach<br />
Hofmeister (1997) gearbeitet. Die Einordnung<br />
hängt eng mit diesen vier Werten<br />
zusammen. Aus den Zeigerwerten wurden<br />
die qualitativen Mittelwerte gewonnen,<br />
d. h., alle Arten wurden gleich gewichtet.<br />
Auch wenn sich die ermittelten Werte nur<br />
auf die Kraut- und die Strauchschicht beziehen,<br />
wurden die Phanerophyten mit<br />
einbezogen, weil sie ausnahmslos als juvenile<br />
Pflanzen vorkamen, auf die sich die<br />
L-Zahlen für Bäume beziehen (Ellenberg<br />
et al. 2001). Bei Pflanzen mit indifferentem<br />
oder ungeklärtem Verhalten in Bezug<br />
auf einzelne Zeigerwerte wurden die entsprechenden<br />
Werte für die Durchschnittsberechnung<br />
nicht berücksichtigt. Daraus<br />
ergibt sich, dass den Mittelwerten eine jeweils<br />
unterschiedliche Zahl von Einzelwerten<br />
zugrunde liegt.<br />
Zusätzlich wurde die phänologische<br />
Veränderung der Vegetation zwischen den<br />
beiden Untersuchungsintervallen betrachtet<br />
und hierzu die nach Braun-Blanquet<br />
ermittelten Deckungsgrade auf Basis der<br />
Lebensformzuordnung nach Ellenberg et<br />
al. (2001) für die beiden Zeiträume einzeln<br />
addiert und miteinander verglichen. Verwendung<br />
fanden die von Dierschke (1994)<br />
vorgeschlagenen Mittelwerte:<br />
Deckungsgrad Mittelwert<br />
r 0,1<br />
+ 0,5<br />
1 2,5<br />
2 15,0<br />
3 37,5<br />
4 62,5<br />
5 87,5<br />
Mit Verbreitungskarten des Bundesamts<br />
für Naturschutz (ermittelt mit dem<br />
FloraMap/CommonGis-Framework; floraweb.de)<br />
wurde schließlich untersucht,<br />
ob der Standort hinsichtlich der dort vorkommenden<br />
Arten lokale Besonderheiten<br />
aufweist. Hierbei wurden alle gefundenen<br />
Arten außer Taraxacum officinale agg. berücksichtigt.<br />
Für diese Artengruppe lag<br />
keine Verbreitungskarte vor.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
50 Ingo Geestmann<br />
Ergebnisse<br />
Pflanzenarten<br />
Abb. 3 Polygonatum multiforum.<br />
Abb. 4 Aquilegia vulgaris.<br />
Abb. 5 Lilium martagon.<br />
Die Baumschicht (B1) des Waldes wird<br />
fast ausschließlich von der Hainbuche<br />
(Carpinus betulus) gebildet. Nur vereinzelt<br />
und außerhalb der untersuchten Flächen<br />
kommt auch die Elsbeere (Sorbus<br />
torminalis) vor. Jeweils nur ein adultes Exemplar<br />
des Wilden Birnbaums (Pyrus pyraster)<br />
und der Trauben-Eiche (Quercus petraea)<br />
wächst im untersuchten Wald. In der<br />
Strauchschicht (Str.) findet man hauptsächlich<br />
Schwarzen Holunder (Sambucus<br />
nigra), Feld-Ahorn (Acer campestre), Schlehe<br />
(Prunus spinosa), Eingriffeligen Weißdorn<br />
(Crataegus monogyna), Traubeneiche<br />
(Quercus petraea) und Esche (Fraxinus<br />
excelsior). Gelegentlich kommen Waldgeißblatt<br />
(Lonicera periclymenum), Echte<br />
Brombeere (Rubus fruticosus) und Gemeine<br />
Hasel (Corylus avellana) vor. Selten bis<br />
sehr selten finden sich Spitz-Ahorn (Acer<br />
platanoides), Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus),<br />
Stachelbeere (Ribes uva-crispa),<br />
Feld-Rose (Rosa arvensis) und Jungwuchs<br />
der Elsbeere (Sorbus torminalis). Insgesamt<br />
konnten 52 Pflanzenarten festgestellt werden.<br />
Darüber hinaus gibt es an mindestens<br />
einer Stelle außerhalb der untersuchten<br />
Flächen ein Vorkommen der Vielblütigen<br />
Weißwurz (Polygonatum multiflorum;<br />
Abb. 3). Abgesehen von der Hainbuche<br />
sind Goldnessel (Lamiastrum galeobdolon),<br />
Buschwindröschen (Anemone nemorosa)<br />
und Waldveilchen (Viola reichenbachiana)<br />
in jeder Vegetationsaufnahme vorhanden.<br />
Eine Stetigkeit von 50 % oder mehr haben<br />
17 Arten, und 28 Arten zeigen eine<br />
Stetigkeit von mindestens 25 %. Die minimale<br />
Artenzahl einer einzelnen Vegetationsaufnahme<br />
liegt bei 14, die maximale<br />
bei 26. Mit Aquilegia vulgaris (Abb. 4),<br />
Lilium martagon (Abb. 5), Orchis mascula<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
51<br />
(Abb. 6) und Primula veris (Abb. 7) kommen<br />
am Standort vier nach Schmeil & Fitschen<br />
(2006) in Deutschland geschützte<br />
Arten vor. Die Echte Schlüsselblume (Primula<br />
veris) hat hierbei mit 75 % die höchste<br />
Stetigkeit. Türkenbundlilie (Lilium martagon)<br />
und Kuckucksknabenkraut (Orchis<br />
mascula) finden sich in 45 % bzw. 30 % der<br />
Flächen. Nur eine Untersuchungsfläche<br />
enthält die Gewöhnliche Akelei (Aquilegia<br />
vulgaris). Strauch- und Krautschicht<br />
(Kr.) haben eine heterogene Struktur; es<br />
gibt Bereiche mit dichter Vegetation und<br />
Bereiche mit nur wenig Bewuchs. Auch<br />
die Artenzusammensetzung variiert kleinflächig.<br />
Nach der Roten Liste gefährdeter<br />
Farn- und Blütenpflanzen in Niedersachsen<br />
und Bremen (Garve 2004) sind folgende<br />
Spezies, die in dem hier untersuchten<br />
Bestand vorkommen, gefährdet (sortiert<br />
nach Gefährdungskategorie):<br />
Gefährdungskategorie 1 – vom Aussterben<br />
bedroht:<br />
Orchis mascula<br />
Gefährdungskategorie 2 – stark gefährdet:<br />
Rosa arvensis<br />
Primula veris<br />
Gefährdungskategorie 3 – gefährdet:<br />
Aquilegia vulgaris<br />
Cynoglossum germanicum<br />
Lilium martagon<br />
Pyrus pyraster<br />
Viola mirabilis<br />
Gefährdungskategorie R – extrem selten:<br />
Hordelymus europaeus<br />
Viola hirta<br />
Die Hälfte der Vegetationsaufnahmen<br />
liegt an Standorten mit Hanglage. Diese<br />
sind generell südexponiert und haben eine<br />
Neigung von 2° bis 10°.<br />
Abb. 6 Orchis mascula.<br />
Abb. 7 Primula veris.<br />
Zeigerwerte<br />
Die Zeigerwerte sämtlicher Arten aus<br />
den zwanzig Vegetationsaufnahmen ergeben<br />
folgende qualitative Mittelwerte (die<br />
eingeklammerte Zahl gibt die Anzahl der<br />
zugrunde liegenden Einzelwerte an):<br />
Lichtzahl (L) 5,0 (46)<br />
Feuchtezahl (F) 5,0 (40)<br />
Reaktionszahl (R) 6,9 (35)<br />
Stickstoffzahl (N) 6,2 (41)<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
52 Ingo Geestmann<br />
Diese Mittelwerte charakterisieren den<br />
Wald als halbschattigen Standort mit mehr<br />
als 10 % relativer Beleuchtungsstärke und<br />
mittelfeuchtem Boden, der schwach sauer<br />
bis schwach basisch und eher stickstoffreich<br />
ist. Aus dem Zeigerwertspektrum in<br />
Abb. 8 lässt sich ein etwas differenzierteres<br />
Bild ableiten. Dargestellt sind die prozentualen<br />
Anteile der Zeigerwerte 1 bis 9<br />
(farblich markiert) für die Licht-, Feuchte-,<br />
Reaktions-, und Stickstoffzahl.<br />
Ökologische Gruppen<br />
Abb. 9 zeigt ein Ökogramm nach Hofmeister<br />
(1997). Auf der Abszisse ist die<br />
Bodenreaktion eingetragen. Links beginnend<br />
mit stark sauren Standorten reicht sie<br />
bis zu den basenreichen Böden. Die Ordinate<br />
zeigt die Feuchtigkeit des Standortes<br />
an und verläuft von oben nach unten von<br />
den trockenen über die frischen und feuchten<br />
bis zu den nassen Standorten. Die unterschiedlichen<br />
Grüntöne symbolisieren<br />
die Anzahl der gefundenen Arten, die der<br />
entsprechenden Gruppe zuzuordnen sind.<br />
Je dunkler der Farbton, desto mehr Vertreter<br />
der Gruppe wurden gefunden. Von<br />
hell nach dunkel sind das im Einzelnen<br />
eine, zwei, vier, fünf oder sechs Arten. Am<br />
häufigsten sind mit jeweils sechs Arten<br />
die Vertreter der Buschwindröschen- bzw.<br />
der Bingelkraut-Gruppe vorhanden. Danach<br />
folgt die Goldnessel-Gruppe mit fünf<br />
Arten. Die Hexenkraut- und die Brennnessel-Gruppe<br />
sind mit jeweils vier Arten<br />
vertreten. Von der Frauenfarn-Gruppe<br />
wurden zwei Arten gefunden und von der<br />
Wiesen-Schlüsselblumen-, Pfeifengrassowie<br />
Wald-Weidenröschen-Gruppe je<br />
Abb. 8 Zeigerwertspektrum; proportionaler Anteil<br />
der Zeigerwerte nach Ellenberg für Licht-, Feuchte-,<br />
Reaktions- und Stickstoffzahl. Die Farben symbolisieren<br />
die Zahlenwerte 1 bis 9.<br />
Lichtzahl Feuchtezahl Reaktionszahl<br />
Stickstoffzahl<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
53<br />
Abb. 9 Ökogramm, verändert nach Hofmeister<br />
(1997): farbige Flächen markieren vorhandene<br />
Gruppen, Farbton symbolisiert die Anzahl der in<br />
der Gruppe vorhandenen Arten. Je weiter rechts<br />
desto alkalischer und je weiter oben desto<br />
trockener der typische Standort von Vertretern<br />
dieser Gruppe. Sonderstandorte sind Bereiche,<br />
deren Artzusammensetzung primär von anderen<br />
Faktoren als Feuchtigkeit und pH-Wert bestimmt<br />
werden.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
54 Ingo Geestmann<br />
eine Art. Im Diagramm liegen die artenreichsten<br />
Gruppen im mäßig trockenen bis<br />
mäßig feuchten und mäßig sauren bis alkalischen<br />
Bereich an einem eher stickstoffreichen<br />
Standort.<br />
In Abb. 2 ist auch die Verteilung der<br />
Vorkommen der ökologischen Gruppen<br />
im untersuchten Wald dargestellt. Als<br />
Gruppenvorkommen wurde das gemeinsame<br />
Auftreten von mindestens drei Vertretern<br />
der jeweiligen ökologischen Gruppe<br />
gewertet. Dies war nur bei den relativ artenreich<br />
vertretenen Gruppen 11 (Buschwindröschen-Gruppe),<br />
12 (Goldnessel-<br />
Gruppe), 13 (Bingelkraut-Gruppe) und<br />
15 (Hexenkraut-Gruppe) der Fall. Im<br />
Folgenden ist mit „Vorkommen“ immer<br />
das Gruppenvorkommen bezeichnet<br />
und nicht das Vorhandensein einzelner<br />
Vertreter der Gruppe.<br />
Auch wenn Buschwindröschen im gesamten<br />
Wald zu finden sind, kommt die<br />
Buschwindröschen-Gruppe (Gruppe 11,<br />
gelb), bis auf eine Ausnahme im südwestlichen<br />
Ausläufer des Waldes, nur im östlichen<br />
Bereich vor.<br />
Am gleichmäßigsten ist die Goldnessel-<br />
Gruppe (Gruppe 12, grün) im Wald verteilt.<br />
Sie ist in fast allen Probeflächen mit<br />
mindestens drei Arten vertreten. Nur im<br />
östlichen Bereich des Waldes auf den Flächen<br />
9, 18 und 19, bei denen keine der<br />
ökologischen Gruppen ein Gruppenvorkommen<br />
zeigt, und auf der Fläche 6 ist sie<br />
nicht zu finden.<br />
Im zentralen und westlichen Bereich des<br />
Waldes liegt der Verteilungsschwerpunkt<br />
der Bingelkraut-Gruppe (Gruppe 13, rot),<br />
35<br />
30<br />
Deckungsgrad [%]<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
Vegetationsaufnahmen<br />
1 – 5<br />
Vegetationsaufnahmen<br />
6 – 20<br />
5<br />
0<br />
C G H N T Z<br />
Lebensform<br />
Abb. 10 Veränderung des Lebensformenspektrums<br />
zwischen den beiden Untersuchungsintervallen.<br />
Relevante Unterschiede nur bei den<br />
Geophyten; deutlicher Frühjahrs-Geophyten-Aspekt.<br />
C: krautiger Chamaephyt (Überdauerungsorgane<br />
unterhalb der Schneehöhe)<br />
G: Geophyt (Überdauerungsorgane unterirdisch)<br />
H: Hemikryptophyt (Überdauerungsorgane an der<br />
Erdorberfläche)<br />
N: Nanophaneropyt (Überdauerungsorgane ober halb<br />
der Schneehöhe; niedrige Bäume und Sträucher)<br />
T: Therophyt (kurzlebige Pflanzen, die als Samen<br />
überdauern)<br />
Z: holziger Chamephyt (hier: nur Efeu;<br />
Hedera helix)<br />
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Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
55<br />
wobei es noch ein Vorkommen im östlichen<br />
Bereich gibt. Außerdem kommt die<br />
Gruppe auf den Flächen 3 und 16 nicht<br />
vor, wodurch sich ein „Einschnitt“ zwischen<br />
dem zentralen und dem westlichen<br />
Vorkommen ergibt.<br />
Fast deckungsgleich mit dem Vorkommen<br />
der Bingelkraut-Gruppe ist die Verteilung<br />
der Hexenkraut-Gruppe (Gruppe<br />
15, blau, vgl. Abb. 2). Sie ist im zentralen<br />
Bereich auf zwei weiteren Flächen vertreten<br />
(5, 11) und kommt im östlichen Teil<br />
auf der Fläche 6 vor, ist aber sonst fast immer<br />
zusammen mit der Gruppe 13 zu finden<br />
und weist auch den zuvor beschriebenen<br />
„Einschnitt“ auf.<br />
Andere offensichtliche Gruppenkombinationen<br />
sind nicht auszumachen. Vor allen<br />
Dingen die gleichmäßige Verteilung<br />
der Goldnessel-Gruppe legt nahe, dass sie<br />
nicht zwangsläufig an das Vorkommen anderer<br />
Gruppen gekoppelt ist.<br />
Lebensformenspektrum<br />
Die phänologischen Veränderungen<br />
zwischen den Untersuchungsintervallen<br />
sind in Abb. 10 zusammenfassend dargestellt.<br />
Auf der Abszisse sind die unterschiedlichen<br />
Lebensformen aufgetragen<br />
(siehe Legende). Die Darstellung bezieht<br />
sich ausschließlich auf die Bodenvegetation,<br />
weshalb Phanerophyten nicht mit dargestellt<br />
sind. Bei Arten mit zwei zugeordneten<br />
Lebensformen (z. B. Hedera helix)<br />
wurde die am Standort häufiger vorkommende<br />
gewählt. Im Zweifel wurde die erste<br />
Zuordnung verwendet.<br />
Der deutlichste Unterschied ist bei den<br />
Geophyten zu erkennen. Sie weisen während<br />
des ersten Untersuchungsintervalls<br />
einen durchschnittlichen Deckungsgrad<br />
von über 30 % auf, wohingegen dieser im<br />
Verlauf des zweiten deutlich unter 5 %<br />
liegt. Die zweite wesentliche Abweichung<br />
liegt bei den holzigen Chamaephyten vor.<br />
Während der ersten Vegetationsaufnahmen<br />
noch unter 2,5 % liegend, steigt der<br />
mittlere Deckungsgrad später auf über<br />
10 %. Kleinere Unterschiede gibt es auch<br />
bei den krautigen Chamaephyten, den<br />
Hemikryptophyten und den Nanophanerophyten,<br />
wobei die ersten beiden im ersten<br />
Zeitraum und die letzteren im zweiten<br />
einen höheren Deckungsgrad aufweisen.<br />
Insbesondere bei den Geophyten zeigen<br />
sich deutliche phänologische Unterschiede<br />
zwischen den Untersuchungszeiträumen.<br />
Verbreitungskarten<br />
Die Auswertung der Verbreitungskarten<br />
zeigt, dass für einzelne Arten der Fundort<br />
nahe an oder auf der nördlichen Verbreitungsgrenze<br />
liegt. Am deutlichsten ist das<br />
bei Cynoglossum germanicum (Abb. 11) zu<br />
erkennen. Das Vorkommen in Deutschland<br />
ist ohnehin auf relativ wenige Bereiche<br />
beschränkt, von denen der untersuchte<br />
Standort einer der nördlichsten ist. Auch<br />
Lilium martagon (Abb. 12) kommt bis<br />
auf wenige hauptsächlich östlich liegende<br />
Ausnahmen nicht weiter nördlich vor.<br />
Rosa arvensis (Abb. 13) liegt ebenfalls sehr<br />
nah an der Verbreitungsgrenze nach Norden<br />
und wurde zudem in dem untersuchten<br />
Bereich zum letzten Mal vor 1950 gefunden.<br />
Sorbus torminalis (Abb. 14) kommt<br />
im Norden Deutschlands nur in einigen<br />
östlichen Regionen vor und liegt im untersuchten<br />
Gebiet direkt auf der nördlichen<br />
Ausbreitungsgrenze. Viola hirta (Abb.<br />
15) ist nur im geringen Maße weiter nordwestlich<br />
verbreitet und Viola mirabilis fast<br />
ausschließlich weiter südlich. Pyrus pyraster<br />
(Abb. 16) kommt zwar auch weiter nördlich<br />
vor, wobei die Art im Westen deutlich<br />
seltener ist als im Osten. Sie wurde aber in<br />
dem untersuchten Areal bisher nicht dokumentiert.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
56 Ingo Geestmann<br />
Cynoglossum germanicum Lilium martagon Rosa arvensis<br />
Sorbus torminalis Viola hirta Pyrus pyraster<br />
Abb. 11 –16 verbreitungskarten des Bundesamts<br />
für Naturschutz; zur besseren lesbarkeit vom<br />
verfasser grafisch bearbeitet, so dass alle verbreitungsareale<br />
einheitlich gefärbt sind. angaben über<br />
die Zeiträume der funde sind somit nicht mehr<br />
enthalten. das schwarze Kästchen markiert den<br />
Bereich, in dem der untersuchte Wald liegt. rot<br />
bedeutet, die jeweilige Pflanzenart wurde in dem<br />
entsprechenden areal gefunden.<br />
Diskussion<br />
Pflanzenarten<br />
Die Anzahl der gefundenen Arten erscheint<br />
ob der geringen Größe des Waldes<br />
recht hoch, wobei besonders der hohe Anteil<br />
gefährdeter Arten hervorzuheben ist.<br />
10 der 52 gefundenen Arten sind laut der<br />
Roten Liste gefährdeter Farn- und Blütenpflanzen<br />
in Niedersachsen und Bremen in<br />
ihrem Bestand bedroht, was einem Anteil<br />
von 19 % entspricht. Viele der gefundenen<br />
Arten werden durch die besonderen<br />
Wachstumsbedingungen in einem Hainbuchen-Niederwald,<br />
vor allen Dingen<br />
dem hohen Lichteinfall, begünstigt. Teilweise<br />
schaffen sogar erst die Niederwälder<br />
die Voraussetzung für ihre Existenz.<br />
Zu ihnen gehören Eingriffeliger Weißdorn<br />
(Crataegus monogyna), Wilder Birnbaum<br />
(Pyrus pyraster), Elsbeere (Sorbus torminalis),<br />
Wunderveilchen (Viola mirabilis),<br />
Türkenbundlilie (Lilium martagon) und<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
57<br />
Vielblütige Weißwurz (Polygonatum multiflorum).<br />
Typische Buchenwaldarten wie<br />
Waldmeister (Galium odoratum), Goldnessel<br />
(Lamiastrum galeobdolon), Buschwindröschen<br />
(Anemone nemorosa), Gelbes<br />
Windröschen (Anemone ranunculoides), Sanikel<br />
(Sanicula europaea) und Waldbingelkraut<br />
(Mercurialis perennis) zeigen die Verankerung<br />
des Waldes im Fagion, aus dem<br />
er hervorgegangen ist und in das er sich<br />
ohne fortgesetzte Nutzung allmählich wieder<br />
umformen würde (Pott 1993; 1996).<br />
Ein weiterer Faktor, der die Artenvielfalt<br />
positiv beeinflussen könnte, ist die vor<br />
Ort beobachtete strukturelle Heterogenität<br />
des Waldes. Durch den in Höhe und Deckungsgrad<br />
stark variierenden Unterwuchs<br />
können Pflanzenarten unterschiedlicher<br />
Standortpräferenzen auf engem Raum koexistieren.<br />
Zur Erhaltung der Besonderheiten des<br />
Standortes ist es notwendig, weiterhin<br />
Holz aus dem Wald zu entnehmen. Unter<br />
Umständen wäre sogar eine Intensivierung<br />
der derzeitigen Nutzung angeraten, also<br />
weniger eine Entnahme von Einzelstämmen,<br />
sondern vielmehr ein periodisches<br />
vollständiges Abschlagen von Teilflächen.<br />
Auf diese Weise könnte man die besondere<br />
Struktur des Waldes erhalten, ohne<br />
schwerwiegend in das Ökosystem einzugreifen.<br />
Zumindest für die meisten Pflanzenarten<br />
dürfte ein solcher Eingriff unproblematisch<br />
sein, weil sie entweder ohnehin<br />
an hellen Standorten vorkommen oder von<br />
einer höheren Beleuchtungsstärke nicht<br />
negativ beeinflusst werden.<br />
Zeigerwerte<br />
Auch wenn es sich bei den Zeigerwerten<br />
nach Ellenberg um ordinale Werte handelt,<br />
die mathematisch betrachtet nicht<br />
gemittelt werden dürfen, so ist dieses Vorgehen<br />
üblich, denn es bietet den Vorteil,<br />
die Werte vieler Arten zugleich zu erfassen,<br />
wodurch stark abweichende Einzelarten<br />
weniger stark ins Gewicht fallen. Beim<br />
Umgang mit Zeigerwerten ist stets zu bedenken,<br />
dass die Angaben nur Schwerpunkte<br />
des Vorkommens aufzeigen und<br />
die einzelne Pflanze durchaus außerhalb<br />
des durch den Zeigerwert charakterisierten<br />
Bereichs vorkommen kann. Davon abgesehen<br />
sagen die Zeigerwerte einer einzelnen<br />
Art für sich betrachtet nur wenig aus,<br />
denn sie beruhen auf Angaben zum ökologischen<br />
Verhalten von Pflanzensippen. Es<br />
handelt sich also bei ihnen nicht um Angaben<br />
zu den optimalen Wachstumsbedingungen,<br />
sondern vielmehr zum natürlichen<br />
Vorkommen unter dem Konkurrenzdruck<br />
eines langjährig etablierten Bestandes. Im<br />
vorliegenden Fall hatte der Bestand bereits<br />
mehrere Jahrzehnte Zeit, um sein heutiges<br />
Bestandsbild zu erreichen. Außerdem<br />
handelt es sich um eine artenreiche Pflanzengesellschaft,<br />
welche die Bildung der<br />
qualitativen Mittelwerte rechtfertigt bzw.<br />
notwendig macht. Insbesondere da sie mit<br />
dem Kuckucksknabenkraut (Orchis mascula)<br />
einen typischen „Einzelgänger“ und<br />
zugleich wertvollen Indikator sowie mit<br />
dem Waldbingelkraut (Mercurialis perennis)<br />
eine Art mit starker vegetativer Vermehrung<br />
enthält, erscheint die qualitative<br />
Herangehensweise als angemessen. Bei der<br />
quantitativen Methode, bei der die Pflanzenarten<br />
entsprechend ihrer Häufigkeit<br />
gewichtet werden, würden die erwähnten<br />
Beispiele zu sehr oder zu wenig in die Berechnung<br />
einbezogen werden (vgl. Ellenberg<br />
et al. 2001).<br />
Durch die qualitativen Mittelwerte erhält<br />
man eine erste Einschätzung des<br />
Standortes. Diese soll im Folgenden mit<br />
den Zeigerwertspektren verglichen und<br />
gegebenenfalls konkretisiert werden:<br />
Obwohl die mittlere Lichtzahl (mL)<br />
bei 5,0 liegt, haben über 35 % der Arten<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
58 Ingo Geestmann<br />
Licht-Werte von 6 oder höher. Es muss<br />
also mindestens 30 bis 40 % relative Beleuchtung<br />
vorliegen, sonst könnten die<br />
entsprechenden Pflanzen nicht vorkommen.<br />
Zwar gibt es auch etwa 40 % Arten<br />
mit einem Lichtwert von 4 oder geringer,<br />
doch können diese Pflanzen auch an helleren<br />
Standorten gedeihen. Diese Tatsache<br />
und das Fehlen von Tiefschattenpflanzen<br />
legen nahe, dass es im Wald wesentlich<br />
heller sein muss, als der Mittelwert der<br />
Lichtzahl suggeriert.<br />
Mit einem Wert von 5,0 entspricht die<br />
mittlere Feuchtezahl (mF) in etwa dem<br />
Feuchtewert der meisten Pflanzen. Gut 90<br />
% liegen im Bereich von 4 bis 6 und zeigen<br />
damit einen etwa mittelfeuchten Boden<br />
an. Trockenheits- und Feuchtezeiger sind<br />
kaum vorhanden und fallen deshalb nicht<br />
ins Gewicht.<br />
Im Bereich von +/– 1 der mittleren Reaktionszahl<br />
(mR) mit einem Wert von 6,9<br />
liegen etwa 95 % der Arten, was auf einen<br />
schwach sauren bis schwach basischen,<br />
kalkreichen Boden schließen lässt. Diese<br />
Einschätzung deckt sich mit den Angaben<br />
des Besitzers Jörg Lehnhoff zu dem (kalk-)<br />
steinigen Untergrund des Waldes. Abweichungen,<br />
wenn auch nur im geringen Umfang<br />
vorhanden, gibt es nur hin zum sauren<br />
Bereich mit den Werten 3 und 5. Der Anteil<br />
der Arten mit diesen Werten liegt jeweils<br />
unter 3 %, könnte aber auf eine Tendenz<br />
ins leicht saure Milieu hinweisen.<br />
Die gleichmäßige Verteilung über einen<br />
breiten Bereich macht es schwierig,<br />
die Aussagekraft der mittleren Stickstoffzahl<br />
(mN) mit einem Wert von 6,2 einzuschätzen.<br />
Außerdem gilt es zu bedenken,<br />
dass sich die Werte für die Stickstoffzahl<br />
auf eine Zeit beziehen, zu der es noch<br />
keine gesteigerte Mineralstickstoffimmision<br />
gab, also auf die Zeit vor 1970, weshalb<br />
sie nach Ellenberg et al. (2001) auch<br />
„nur als Versuch“ zu werten sind. Das<br />
häufige Vorkommen zweier Zeigerarten<br />
für ein gute Nährstoffversorgung, Gelbes<br />
Windröschen (Anemone ranunculoides)<br />
und Waldbingelkraut (Mercurialis perennis;<br />
Hofmeister 2005), kann jedoch als Hinweis<br />
auf einen stickstoffreichen Standort<br />
gewertet werden.<br />
Ökologische Gruppen<br />
Vergleicht man die auf den Zeigerwerten<br />
basierende Einschätzung des Standortes<br />
mit dem Ökogramm in Abb. 9, so erkennt<br />
man eine hohe Deckungsgleichheit<br />
der Aussagen. Die artenreichsten ökologischen<br />
Gruppen (Buschwindröschen-,<br />
Goldnessel-, Bingelkraut-, Hexenkrautund<br />
Brennnessel-Gruppe) liegen im mäßig<br />
sauren bis alkalischen Bereich, wobei<br />
die Buschwindröschen-Gruppe aufgrund<br />
ihrer weiten ökologischen Amplitude weniger<br />
stark gewichtet werden sollte. Daraus<br />
ergibt sich der Charakter eines mehr<br />
oder weniger neutralen Bodens mit einer<br />
leichten Tendenz zur Versauerung. In Bezug<br />
auf die Bodenfeuchtigkeit liegt der<br />
Schwerpunkt tendenziell eher bei frischen<br />
und mittelfeuchten als bei trockenen Böden.<br />
Alle artenreichen Gruppen, insbesondere<br />
jedoch die Goldnessel-, Bingelkrautund<br />
Brennnessel-Gruppe, weisen auf einen<br />
nährstoffreichen Boden hin (Hofmeister<br />
1997). Tatsächlich scheint der Boden also<br />
nicht „außergewöhnlich karg“ zu sein.<br />
Die gleichmäßige Verteilung des Gruppenvorkommens<br />
der Goldnessel-Gruppe<br />
(siehe Abb. 2) kann als ein Beleg für eine<br />
gleichmäßig hohe Nährstoffversorgung im<br />
gesamten Wald gewertet werden. Folglich<br />
liegen der weniger gleichmäßigen Verteilung<br />
der anderen Gruppen wahrscheinlich<br />
andere Faktoren zugrunde. Denkbar wären<br />
hier beispielsweise die Hanglage und die<br />
Feuchtigkeit der Standorte.<br />
Unter Berücksichtigung der generell<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
59<br />
südlichen Exposition ist beim Vergleich<br />
der Hanglage nur die Stärke der Inklination<br />
zu beachten. Am Beispiel der Buschwindröschen-Gruppe<br />
fällt auf, dass die<br />
Flächen der einzelnen Gruppenvorkommen<br />
eine sehr unterschiedliche Inklination<br />
aufweisen. Die Gruppe kommt sowohl auf<br />
Flächen mit den größten gemessenen Neigungen<br />
(Fläche 7: 10°, Fläche 14: 9°) als<br />
auch in komplett ebenen Bereichen (Flächen<br />
6, 8, 12 und 20) vor. Ähnliches gilt<br />
für die anderen Gruppen, jedoch mit weniger<br />
stark ausgeprägten Unterschieden. Es<br />
ist denkbar, dass die Buschwindröschen-<br />
Gruppe dank ihrer weiten ökologischen<br />
Amplitude (Hofmeister 1997) die extremeren<br />
Standorte besetzt und die anderen<br />
Gruppen eher auf den weniger steilen Flächen<br />
vorkommen. Aufgrund der geringen<br />
Anzahl der Probeflächen mit ausgeprägter<br />
Hanglage mit einer Inklination von ca.<br />
10° (nur Flächen 7 und 14) und der Tatsache,<br />
dass auch andere Gruppen an diesen<br />
Standorten vorkommen, lässt sich ein<br />
deutlicher Einfluss der Inklination auf das<br />
Vorkommen der einzelnen Gruppen nicht<br />
belegen.<br />
In Bezug auf die Feuchtigkeit weisen<br />
die häufigen Gruppen nur geringe Unterschiede<br />
bei ihrem schwerpunktmäßigen<br />
Vorkommen auf. Die Art mit der niedrigsten<br />
Feuchtezahl (Viola hirta mit F=3; einziger<br />
Vertreter der Gruppe 10, vgl. Abb.<br />
9) kommt hauptsächlich im östlichen Teil<br />
des Waldes und vereinzelt im zentralen<br />
Bereich vor, wohingegen sie im westlichen<br />
Teil gänzlich fehlt. Möglicherweise<br />
gibt es ein West-Ost-Gefälle der Feuchtigkeit<br />
mit nach Osten trockener werdendem<br />
Boden. Das hauptsächlich auf diesen<br />
Bereich begrenzte Gruppenvorkommen<br />
der Buschwindröschen-Gruppe könnte<br />
ein Resultat des Konkurrenzdrucks im<br />
mittleren und westlichen Bereich des Waldes<br />
sein. Die Gruppe könnte dadurch auf<br />
die trockeneren Flächen verdrängt worden<br />
sein, wo sie wegen ihrer weiten ökologischen<br />
Amplitude besser als die Bingelkraut-<br />
und die Hexenkraut-Gruppe<br />
bestehen kann.<br />
Lebensformenspektrum<br />
Abb. 10 illustriert sehr anschaulich den<br />
ausgeprägten Frühjahrs-Geophyten-Aspekt<br />
des untersuchten Hainbuchenwaldes.<br />
Kritisch zu betrachten ist allerdings, dass<br />
der Vergleich auf einer unterschiedlich hohen<br />
Anzahl von Vegetationsaufnahmen<br />
(fünf für das erste Untersuchungsintervall<br />
und fünfzehn für das zweite) beruht. Dadurch<br />
könnte der Unterschied etwas deutlicher<br />
aussehen, als er tatsächlich ist. Auch<br />
ist der gesamte Deckungsgrad während<br />
des zweiten Untersuchungsintervalls bei<br />
weitem nicht so niedrig, wie ihn das Diagramm<br />
darstellt. Diese verzerrte Darstellungsweise<br />
ist auf die Verwendung der im<br />
Ergebnisteil angesprochenen Mittelwerte<br />
zurückzuführen, denn viele der Deckungsgrade<br />
während der zweiten Aufnahmeperiode<br />
waren nach oben hin „grenzwertig“,<br />
d. h., sie lagen häufig knapp unter dem<br />
nächst höheren Deckungsgrad.<br />
Aus diesen Gründen können auch nur<br />
die Unterschiede bei den Geophyten und<br />
dem holzigen Chamaephyten (nur Hedera<br />
helix) als signifikant gewertet werden.<br />
Der Unterschied beim Deckungsgrad des<br />
Efeus ist allerdings eher von den unterschiedlichen<br />
Standorten und dem geringeren<br />
Probenumfang beeinflusst als phänologisch<br />
bedingt – an den ersten fünf<br />
Untersuchungsstellen wuchs deutlich weniger<br />
Efeu.<br />
Obwohl die absolute Größe des Unterschiedes<br />
beim Deckungsgrad also durchaus<br />
diskussionswürdig ist, ist er doch deutlich<br />
genug, um dem Wald einen Frühjahrs-<br />
Geophyten-Aspekt zuzuordnen. Diese<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
60 Ingo Geestmann<br />
Feststellung deckt sich auch mit dem subjektiven<br />
Eindruck während der Untersuchung.<br />
Bei zukünftigen Untersuchungen<br />
sollte allerdings von vornherein ein zeitlicher<br />
Vergleich der Vegetation mit einer<br />
gleich hohen Anzahl von Vegetationsaufnahmen<br />
eingeplant werden. Auch wäre<br />
es sicher aufschlussreich, dieselben Probeflächen<br />
zu zwei oder mehr verschiedenen<br />
Zeitpunkten zu untersuchen, um<br />
diese dann direkt vergleichen zu können.<br />
Des Weiteren erscheint es angebracht, bei<br />
„grenzwertigen“ Deckungsgraden schon<br />
während der Vegetationsaufnahme zu notieren,<br />
ob der prozentuale Deckungsgrad<br />
in der Nähe des nächst höheren oder niedrigeren<br />
Deckungsgradwertes liegt. Mit<br />
dieser Information könnte man die Mittelwerte<br />
entsprechend nach oben bzw. unten<br />
korrigieren, womit man die Verzerrungseffekte<br />
minimieren würde.<br />
Schlussbemerkung<br />
Hainbuchen-Niederwälder sind einzigartige<br />
Standorte, die eine hohe Artenzahl<br />
beherbergen und die Lebensgrundlage<br />
für viele geschützte Arten bieten. Ohne<br />
eine fortgesetzte Nutzung steht allerdings<br />
zu befürchten, dass sie sich nach und nach<br />
wieder in die Wälder umformen, aus denen<br />
sie erst durch den menschlichen Einfluss<br />
hervorgegangen sind. Allerdings gibt es<br />
ökonomische Bedenken auf Seiten der Besitzer,<br />
weshalb versucht werden sollte, eine<br />
wirtschaftlich sinnvolle Nutzungsform für<br />
Verbreitungskarten<br />
Es ist auffällig, dass sechs der sieben<br />
laut jeweiliger Verbreitungskarte in der<br />
Nähe der nördlichen Verbreitungsgrenze<br />
vorkommende Arten auf der Roten<br />
Liste gefährdeter Farn- und Blütenpflanzen<br />
in Niedersachsen und Bremen (Garve<br />
2004) stehen. Das sind zwei Drittel der am<br />
Standort wachsenden gefährdeten Arten.<br />
Es kommen also viele Arten vor, die sonst<br />
vorzugsweise im südlicheren Deutschland<br />
gedeihen. Diese Tatsache unterstreicht die<br />
ökologische Besonderheit dieses Waldes.<br />
Er ist ein Sonderstandort, der Arten einen<br />
Lebensraum bietet, die sonst kaum oder<br />
kaum noch in Niedersachsen vorkommen.<br />
Ohne solche Hainbuchen-Niederwälder<br />
ist es wahrscheinlich, dass zukünftig viele<br />
seltene Arten keine geeigneten Standorte<br />
mehr haben werden und ein Aussterben<br />
wahrscheinlicher wird.<br />
diese Wälder zu erarbeiten. Denkbar wäre<br />
hier z. B. eine Nutzung des Holzes als<br />
nachwachsendes natürliches Heizmaterial<br />
in Holzpellet- oder Hackschnitzelheizungen.<br />
Dadurch erhielte man einerseits einen<br />
CO 2<br />
-neutralen Energieträger und würde<br />
andererseits den Wald davor bewahren, zu<br />
dicht zu werden. Ohne eine solche Möglichkeit<br />
ist ein langfristiges Fortbestehen<br />
der Hainbuchen-Niederwälder sehr unwahrscheinlich.<br />
Literatur<br />
Aichele, Dietmar; Golte-Bechtle, Marianne<br />
(2005): Was blüht denn da? – Stuttgart.<br />
Dierschke, Hartmut (1994): Pflanzensoziologie.<br />
– Stuttgart.<br />
Ellenberg, Heinz; Weber, Heinrich E.; Düll,<br />
Ruprecht; Wirth, Volkmar; Werner,<br />
Willy; Paulißen, Dirk (2001): Zeigerwerte<br />
von Pflanzen in Mitteleuropa. – Göttingen.<br />
Garve, Eckhard (2004): Rote Liste gefährdeter<br />
Farn- und Blütenpflanzen in Niedersachsen<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />
61<br />
und Bremen. 5. Fassung vom 1.3.2004. –<br />
Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen<br />
1/04, Hannover.<br />
Härdtle, Werner; Ewald, Jörg; Hölzel, Norbert<br />
(2004): Wälder des Tieflandes und der<br />
Mittelgebirge. – Stuttgart.<br />
Hofmeister, Heinrich (1997): Lebensraum<br />
Wald. – Berlin.<br />
Hofmeister, Heinrich (2005): Natur und Landschaft<br />
im Landkreis Hildesheim: Hildesheimer<br />
und Calenberger Börde. – Hildesheim.<br />
Pott, Richard (1993): Farbatlas Waldlandschaften.<br />
– Stuttgart.<br />
Pott, Richard (1996): Biotoptypen. – Stuttgart.<br />
Rothmaler, Werner (1999): Exkursionsflora<br />
von Deutschland. Band 2, Gefäßpflanzen:<br />
Grundband. – Berlin.<br />
Rothmaler, Werner (2007): Exkursionsflora<br />
von Deutschland. Band 3, Gefäßpflanzen:<br />
Atlasband. – München.<br />
Schmeil, Otto; Fitschen, Jost (2006): Flora von<br />
Deutschland und angrenzender Länder. –<br />
Wiebelsheim.<br />
Abbildungsquellen<br />
Abb 1: GeoContent GmbH und OpenStreet-<br />
Map.de; abgeändert.<br />
Abb. 2: GeoContent GmbH.<br />
Abb. 9: Hofmeister (1997); verändert.<br />
Abbildung 3 – 8, 10: Ingo Geestmann.<br />
Abbildung 11 – 16: FloraMap Framework,<br />
floraweb.de (2009); verändert.<br />
Danksagung<br />
Diese Arbeit ging aus einer Bachelorarbeit<br />
am Institut für Geobotanik der<br />
Leibniz Universität Hannover hervor. Ich<br />
danke Prof. Dr. Hansjörg Küster, der die<br />
Untersuchung dieses Hainbuchenwaldes<br />
anregte und mich bei der Durchführung<br />
betreut hat, sowie Dr. Ansgar Hoppe und<br />
Prof. Dr. Joachim Hüppe für ihre Hilfe bei<br />
der Bestimmung strittiger Arten. Außerdem<br />
danke ich Familie Lehnhoff für ihre<br />
freundliche und bereitwillige Auskunft, sowie<br />
Steffen Wenig von der GeoContent<br />
GmbH für die Bereitstellung des Luftbildes<br />
von Wittenburg.<br />
Arbeit eingereicht: 25.10.2009<br />
Arbeit angenommen: 17.05.2010<br />
Anschrift des Verfassers:<br />
Ingo Geestmann B. Sc.<br />
Fritz-Haber-Straße 14<br />
28357 Bremen<br />
E-Mail: ingo.geestmann@googlemail.com<br />
Anhang Tab. 1 Artmächtigkeit nach Braun-Blanquet.<br />
Artname<br />
Probestelle<br />
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20<br />
B1 Carpinus betulus 4 4 4 4 4 3 4 4 4 3 4 3 3 4 4 3 4 4 3 4<br />
Pyrus pyraster 1<br />
Quercus petraea 3<br />
Str. Acer campestre r r + r r + + r r r + + + r r +<br />
Acer platanoides r r r<br />
Acer pseudoplatanus<br />
r<br />
Carpinus betulus r + r r + + r r + + +<br />
Corylus avellana r r r r<br />
Crataegus monogyna r r r r r + r r + + + + 1 + + + + r<br />
Fraxinus excelsior + + r r + r r r r + r<br />
Lonicera periclymenum r r r r r +<br />
Prunus spinosa r r r r r + r r + r r r<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
62<br />
Artname<br />
Probestelle<br />
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20<br />
Quercus petraea r r r r r r r r<br />
Ribes uva-crispa<br />
r<br />
Rosa arvensis r r r<br />
Rubus fruticosus agg. r r r r +<br />
Sambucus nigra r + + r + + + 1 + 1 1 + + 1 + r 1 1<br />
Sorbus torminalis r r r<br />
Kr. Alliaria petiolata r r + r<br />
Anemone nemorosa 2 2 2 2 2 1 + + + 1 + + r r r r + r r r<br />
Anemone ranunculoides 2 2 2 2 2 + + + + 1 + + r r r + r<br />
Aquilegia vulgaris<br />
r<br />
Arctium lappa<br />
r<br />
Arum maculatum r r<br />
Carpinus betulus + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />
Chaerophyllum bulbosum r r r r<br />
Chaerophyllum temulum r + r r r r r<br />
Circaea lutetiana r r + + r + r r r + + r<br />
Cynoglossum germanicum<br />
r<br />
Dactylis polygama r r + r r r<br />
Fragaria vesca r r r<br />
Galium aparine<br />
r<br />
Galium odoratum 1 1 1 + + + + r 1 + +<br />
Geranium robertianum r r r + + r +<br />
Geum urbanum r + 1 + + r + 1 r 1 + + + + + + + + 1<br />
Hedera helix 1 1 2 1 2 3 2 1 2 3 1 2<br />
Hordelymus europaeus<br />
r<br />
Lamiastrum galeobdolon 1 + 1 + + + + 1 + + 1 + + + + + + + 1 +<br />
Lilium martagon r r 1 + + + r + +<br />
Melica uniflora + + 1 + 1 + + + + + + 1 r<br />
Mercurialis perennis r + + r 1 +<br />
Orchis mascula r r r r r r<br />
Phyteuma spicatum r r<br />
Poa nemoralis<br />
r<br />
Potentilla anserina<br />
r<br />
Primula veris + r + 1 + + r + + r + + + + +<br />
Ranunculus auricomus agg. + + r r r r r r r r r r r r r +<br />
Sanicula europaea r + +<br />
Stellaria holostea + + r<br />
Taraxacum officinale agg. r r<br />
Urtica dioica<br />
r<br />
Vicia sepium r + + r 1 + + + r +<br />
Viola hirta + + r + + r + +<br />
Viola mirabilis r + r r<br />
Viola reichenbachiana 1 + + + + 1 + + + + 1 + + + + + + + + +<br />
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63<br />
Insekten aus dem Ober-Jura in<br />
Norddeutschland<br />
Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />
Zusammenfassung<br />
Insektenreste aus dem Ober-Jura in<br />
Norddeutschland sind außerordentlich selten.<br />
Bisher sind nur fünf isolierte Flügel<br />
bekannt; sie stammen aus Ablagerungen<br />
des „Kimmeridge“ (im Sinne der für Nordwest-Deutschland<br />
gebräuchlichen lithostratigraphischen<br />
Terminologie). Vier davon<br />
sind Flügeldecken (Elytrae) von Käfern<br />
(Coleoptera): Hyperomima sp. Schultka<br />
1991 und drei unbestimmbare Funde; das<br />
fünfte Exemplar ist eine Halbdecke (Hemielytra)<br />
der Wasserwanze (Hemiptera:<br />
Nepomorpha: Belostomatidae) Nettelstedtia<br />
breitkreutzi Popov, Rust & Brauckmann<br />
2000. Die wenigen Fundstellen<br />
beschränken sich auf das Wiehengebirge<br />
(Hille-Oberlübbe und Nettelstedt; nordöstliches<br />
Nordrhein-Westfalen) und den<br />
Raum Oker (Steinbruch im Langenberg,<br />
nördliches Harzvorland, Niedersachsen).<br />
Summary<br />
Late Jurassic insect remains are still extremely<br />
rare in northern Germany. Up to<br />
now only five isolated wings have been recorded<br />
from “Kimmeridgian” deposits (as<br />
used in the German lithostratigraphical<br />
terminology). Four of them are elytrae<br />
of beetles (Coleoptera): Hyperomima sp.<br />
Schultka 1991 and three indeterminable<br />
specimens; the fifth specimen is a hemielytra<br />
of the water-bug (Hemiptera:<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
64 Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />
Nepomorpha: Belostomatidae) Nettelstedtia<br />
breitkreutzi Popov, Rust & Brauckmann<br />
2000. The few collecting sites<br />
are restricted to the Wiehengebirge<br />
(Hille-Oberlübbe and Nettelstedt; northeastern<br />
North Rhine-Westphalia) as well<br />
as to the Okerregion (Langenberg quarry,<br />
northern Harz foreland, Lower Saxony).<br />
Die Insektenreste<br />
Reste von Insekten aus dem Ober-Jura<br />
sind in Norddeutschland bislang außerordentlich<br />
selten. In älteren Gesamtübersichten<br />
wie zum Beispiel von Handlirsch<br />
(1906 – 1908; 1939) und von Hennig<br />
(1981) finden sich überhaupt keine Hinweise.<br />
Die ersten Nachweise lieferte Schultka<br />
(1991), der mit Hyperomima sp. und einem<br />
weiteren, nicht näher bestimmbaren<br />
Fund zwei Käfer-Flügeldecken (Elytren)<br />
beschrieb. Diese stammen aus dem Steinbruch<br />
der Firma Sudbrack (ehemals Steinbruch<br />
Petring) bei Hille-Oberlübbe im<br />
Wiehengebirge. Das Fundgebiet liegt somit<br />
im nordöstlichsten Bereich von Nordrhein-Westfalen,<br />
nahe der Grenze zu Niedersachsen.<br />
Das stratigraphische Alter der<br />
Elytren lässt sich etwa auf den unteren<br />
Grenzbereich des „Kimmeridge“ einengen.<br />
Zwei weitere Insektenreste sind wenige<br />
Jahre später von Popov et al. 2000<br />
Abb. 1 Käfer-Elytre: Hyperomima sp. Schultka 1991;<br />
Ober-Jura (etwa unterer Grenzbereich des „Kimmeridge“);<br />
Steinbruch der Firma Sudbrack (ehemals<br />
Steinbruch Petring) bei Hille-Oberlübbe, Wiehengebirge,<br />
nordöstliches Nordrhein-Westfalen;<br />
Länge = 5,6 mm (aus Schultka 1991).<br />
Abb. 2 Käfer-Elytre: Coleoptera, fam., gen. et<br />
sp. indet. Schultka 1991; Ober-Jura (etwa unterer<br />
Grenzbereich des „Kimmeridge“); Steinbruch der<br />
Firma Sudbrack (ehemals Steinbruch Petring) bei<br />
Hille-Oberlübbe, Wiehengebirge, nordöstliches<br />
Nordrhein-Westfalen; erhaltene Länge = 4,5 mm<br />
(aus Schultka 1991).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />
65<br />
beschrieben worden. Es handelt sich dabei<br />
um einen recht vollständig erhaltenen<br />
Vorderflügel (Hemielytre) einer Wasserwanze<br />
(= Nepomorpha), die den Namen<br />
Nettelstedtia breitkreutzi Popov, Rust &<br />
Brauckmann 2000 (Abb. 5 a, b) bekommen<br />
hat und zu den Riesenwasserwanzen<br />
(= Belostomatidae) gehört. Der zweite<br />
Fund ist wiederum eine nicht näher bestimmbare<br />
Käfer-Flügeldecke. Das Fund-<br />
Gebiet, der Steinbruch „Schwarze“ bei<br />
Nettelstedt, liegt ebenfalls im Wiehengebirge<br />
im Nordosten Nordrhein-Westfalens<br />
und ist nur etwa zwei Kilometer westlich<br />
vom oben genannten Steinbruch der Firma<br />
Sudbrack entfernt. Die Fundschicht ist<br />
jedoch ein wenig jünger und gehört dem<br />
„Mittel-Kimmeridge“ an.<br />
Nach Dathe (2003) leben die<br />
Belostomatidae auch heute noch mit derzeit<br />
146 Arten überwiegend in den Tropen<br />
und Subtropen in stehenden Binnengewässern.<br />
In die weitere Verwandtschaft – nämlich<br />
in die selbständige Familie Nepidae<br />
(= Skorpionswanzen) – gehören auch z. B.<br />
der einheimische Wasserskorpion Nepa rubra<br />
(natürlich kein echter Skorpion!) und<br />
die Stabwanze Ranatra linaris. Beide Arten<br />
sind nicht selten in langsam fließenden<br />
und schlammigen bzw. in stehenden seichten<br />
Binnengewässern zu finden. Sie leben<br />
räuberisch, indem sie am schlammigen Boden<br />
oder zwischen Pflanzen versteckt ihrer<br />
Beute auflauern, die aus anderen im Wasser<br />
lebenden Insekten, Wasserflöhen und<br />
dergleichen besteht; beim Wasserskorpion<br />
gehören auch Kaulquappen und Jungfische<br />
zum Nahrungsspektrum.<br />
Abb. 3 Käfer-Elytre: Coleoptera, fam., gen. et sp.<br />
indet. Brauckmann & Gröning 2007; Ober-Jura („Mittel-<br />
Kimmeridge“, Langenberg-Formation); Steinbruch<br />
im Langenberg bei Oker, nördlicher Harzrand, Niedersachsen;<br />
Länge = 4,6 mm (aus Brauckmann &<br />
Gröning 2007). Links Fotografie, rechts Zeichnung.<br />
1 mm<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
66 Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />
Abb. 4 Käfer-Elytre: Coleoptera, fam., gen. et<br />
sp. indet. Popov, Rust & Brauckmann 2000; Ober-Jura<br />
(„Mittel-Kimmeridge“); Steinbruch „Schwarze“<br />
bei Nettelstedt, Wiehengebirge, nordöstliches<br />
Nordrhein-Westfalen; erhaltene Länge = 2,0 mm<br />
(aus Popov et al. 2000).<br />
Abb. 5 Hemielytre einer Wasserwanze: Nettelstedtia<br />
breitkreutzi Popov, Rust & Brauckmann 2000; Ober-<br />
Jura („Mittel-Kimmeridge“); Steinbruch „Schwarze“<br />
bei Nettelstedt, Wiehengebirge, nordöstliches<br />
Nordrhein-Westfalen; erhaltene Länge = 9,0 mm.<br />
a) Zeichnung mit Farbverteilung;<br />
b) Interpretation des Geäders; C = Costa,<br />
Sc = Subcosta, R+M = Radius + Media, Cu = Cubitus<br />
(aus Popov et al. 2000).<br />
a)<br />
b)<br />
1 mm<br />
1 mm<br />
Der erste Nachweis von Insekten aus<br />
dem Ober-Jura in Niedersachsen ist abermals<br />
eine nicht näher bestimmbare Käfer-Flügeldecke<br />
(Abb. 3 a, b) aus dem<br />
„Mittel-Kimmeridge“ im Steinbruch am<br />
Langenberg bei Oker und somit aus dem<br />
unmittelbar nördlich an den Harz anschließenden<br />
Harzvorland. Beschrieben<br />
wurde der Fund von Brauckmann & Gröning<br />
(2007) unter „Offener Nomenklatur“<br />
als Coleoptera, fam., gen. et sp. indet. Da<br />
im Langenberg-Profil auch Pflanzenfossilien<br />
vorkommen, sind künftig auch weitere<br />
Insekten zu erwarten: Eine Lage im<br />
jüngeren, mehr terrestrisch beeinflussten<br />
Profil-Abschnitt führt sogar größere zusammenhängende<br />
Pflanzenreste (Karl et<br />
al. 2008: Abb. 1), auf denen aufsitzend Insekten<br />
leicht mit eingedriftet worden sein<br />
können.<br />
Literatur<br />
Brauckmann, Carsten; Gröning, Elke (2007):<br />
A first record of Insecta from the Late Jurassic<br />
sequence of the Langenberg near Oker,<br />
Lower Saxony. – Clausthaler Geowissenschaften,<br />
6: 45–48. – Clausthal-Zellerfeld.<br />
Dathe, Holger H. [Hrsg.] (2003): 5. Teil: Insecta.<br />
– In: Kaestner, Alfred [Begründer]:<br />
Lehrbuch der Speziellen Zoologie, Band I:<br />
Wirbellose Tiere. – Heidelberg, Berlin.<br />
Handlirsch, Anton (1906–1908): Die fossilen<br />
Insekten und die Phylogenie der rezenten<br />
Formen. Ein Handbuch für Paläontologen<br />
und Zoologen. – Leipzig.<br />
Handlirsch, Anton (1939): Neue Untersuchungen<br />
über die fossilen Insekten mit Ergänzungen<br />
und Nachträgen sowie Ausblicken<br />
auf phylogenetische, palaeogeographische<br />
und allgemein biologische Probleme. 2. Teil.<br />
– Annalen des Naturhistorischen Museums<br />
in Wien, 49: 1–240. – Wien.<br />
Hennig, Willi (1981): Insect Phylogeny. –<br />
Chichester/New York/Brisbane/Toronto.<br />
Karl, Hans-Volker; Gröning, Elke; Brauckmann,<br />
Carsten; Knötschke, Nils (2008):<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />
67<br />
First remains of the head of Steneosaurus<br />
(Crocodylomorpha: Teleosauridae) from the<br />
Late Jurassic of Oker (Lower Saxony, Germany).<br />
– Studia Geologica Salmanticensia,<br />
44 (2): 187. – 201; Salamanca.<br />
Popov, Yuri A.; Rust, Jes; Brauckmann, Carsten<br />
(2000): Insektenreste (Hemiptera: Belostomatidae;<br />
Coleoptera) aus dem Ober-Jura<br />
(„Kimmeridge“) von Nettelstedt (Wiehengebirge,<br />
NW-Deutschland). – Neues Jahrbuch<br />
für Geologie und Paläontologie Monatshefte,<br />
2000 (2): 83–92. – Stuttgart.<br />
Schultka, Stephan (1991): Beiträge zur oberjurassischen<br />
Flora des Wiehengebirges. – Geologie<br />
und Paläontologie in Westfalen, 19:<br />
55–93. – Münster/Westfalen.<br />
Arbeit eingereicht: 08.06.2010<br />
Arbeit angenommen: 02.07.2010<br />
Anschrift der Verfasser:<br />
Prof. Dr. Carsten Brauckmann<br />
Dr. Elke Gröning<br />
Institut für Geologie und Paläontologie<br />
Technische Universität Clausthal<br />
Leibnizstraße 10<br />
D-38678 Clausthal-Zellerfeld<br />
E-Mail:<br />
carsten.brauckmann@tu-clausthal.de<br />
elke.groening@tu-clausthal.de<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
68<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
69<br />
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungsschlüssel<br />
für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
Anna-Dinah Eßer<br />
Vorwort<br />
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Vorstellung<br />
eines Bestimmungsschlüssels für<br />
Halswirbel einiger Carnivorenspezies, anhand<br />
dessen fossile und rezente Knochenfunde<br />
zugeordnet werden können. Der<br />
Schlüssel richtet sich an interessierte Archäozoologen,<br />
Hobbypaläontologen, Studenten<br />
der Geologie sowie Zoologie und<br />
Fachkundler. Mit Hilfe dieses Schlüssels<br />
wurden Wirbel aus der Quartärsammlung<br />
des Niedersächsischen Landesmuseums<br />
Hannover (NLMH) bestimmt.<br />
Einleitung<br />
Lage- und Richtungsbezeichnungen<br />
Zum besseren Verständnis wird hier<br />
eine kurze Einführung in Lage- und Richtungsbezeichnungen<br />
am Tierkörper gegeben.<br />
Bei der groben Lagebeschreibung von<br />
Teilen des Körperstammes werden Begriffe<br />
wie dorsal (rückenwärts), ventral<br />
(bauchwärts), cranial (kopfwärts, im vorderen<br />
Körperteil, vor einer anderen Struktur<br />
liegend) und caudal (schwanzwärts, im<br />
hinteren Körperteil, hinter einer anderen<br />
Struktur) verwendet (Abb. 1). Diese lassen<br />
sich miteinander kombinieren, um die<br />
Beschreibung zu präzisieren (craniodorsal,<br />
caudoventral usw.) (Nickel et al. 1992).<br />
Weitere Begriffe, die im Bestimmungsschlüssel<br />
verwendet werden, sind medial<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
70 Anna-Dinah Eßer<br />
Verwendete Abkürzungen<br />
art. = articularis/ articulares<br />
bzw. = beziehungsweise<br />
C. = Canis (l. = lupus)<br />
ca. = circa<br />
caud./caudd. = caudalis/caudales<br />
(Singular/Plural)<br />
cd. = caudal, Richtung Schwanz<br />
weisend<br />
cr. = cranial, Richtung Kopf weisend<br />
cran./crann. = cranialis/craniales<br />
(Singular/Plural)<br />
For./Forr. = Foramen/Foramina<br />
(Singluar/Plural)<br />
P. = Panthera<br />
Proc./Procc. = Processus/Processus<br />
(Singular/Plural)<br />
sp. = species<br />
tr. = transversus<br />
V. = Vulpes<br />
z. T. = zum Teil<br />
Erläuterungen zu den Abbildungen<br />
Soweit nicht anders angegeben, wurden die<br />
Abbildungen von der Autorin erstellt. Die<br />
Schemazeichnungen der Wirbel basieren auf<br />
der Grundlage von Canis-lupus (Wolf)-Wirbeln.<br />
Pfeile ohne weiteren Bezug weisen nach cranial.<br />
Die Größe der Skala beträgt, wenn vorhanden,<br />
1 cm.<br />
(in der Mitte, Mittelebene) bzw. median<br />
(mittig), lateral (seitlich, außenseitig, neben<br />
dem Median liegend), craniad (in Richtung<br />
des Kopfes) und caudad (in Richtung<br />
des Schwanzes). Dextral bezeichnet die<br />
rechte, sinistral die linke Körperseite (erweitert<br />
nach Nickel et al. 1992, König &<br />
Liebich 2001).<br />
Die Wirbelsäule der Säugetiere<br />
Trotz der Unterschiede, die durch Bewegungsmuster<br />
und Körperhaltungen entstehen,<br />
sind die Wirbelsäulen aller Säugetiere<br />
homolog (van Valen 1982, Roth 1984).<br />
Die Bereiche der Wirbelsäule lassen sich<br />
anhand ihrer jeweils spezifischen Morphologie<br />
relativ gut unterscheiden. Jede Tierart<br />
hat eine festgelegte Anzahl an Wirbeln in<br />
den einzelnen Bereichen, allerdings können<br />
auch interindividuelle Variationen auftreten<br />
(Salomon et al. 2005).<br />
Alle Säugetiere besitzen sieben Halswirbel.<br />
Bei Giraffen sind sie entsprechend verlängert,<br />
bei vielen aquatisch lebenden Säugetieren<br />
wie beispielsweise Walen dagegen<br />
stark verkürzt.<br />
Abb. 1 Richtungsbezeichnungen.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
71<br />
Die anderen Wirbelsäulenbereiche können<br />
in ihrer Wirbelanzahl selbst intraspezifisch<br />
stark voneinander abweichen. So<br />
besitzen Haushunde 12 bis 14 Brustwirbel<br />
und sechs bis sieben Lendenwirbel. Besonders<br />
auffallend ist der Unterschied jedoch<br />
interspezifisch (Herre & Röhrs 1990).<br />
Eine Veränderung der Wirbelzahl bei<br />
Haustieren ist mit gezielter Züchtung von<br />
Tieren mit erhöhter Wirbelanzahl zu erklären.<br />
Doch auch bei Wildformen ist die<br />
Anzahl der Thorakal-, Lumbal- und Caudalwirbel<br />
variabel (Nickel et al. 1954; Herre<br />
& Röhrs 1990).<br />
Eine Studie aus dem Jahr 2005 belegt,<br />
dass die Wirbelanzahl schon früh in<br />
der Entwicklung der Säugetiere festgelegt<br />
wurde. Die Wirbelformel könnte allerdings<br />
spezifisch für verschiedene Abstammungslinien<br />
sein. Einen Hinweis hierauf fanden<br />
die Autoren bei der Anzahl der Thorakolumbalwirbel,<br />
die bei den Carnivoren im<br />
Regelfall 20 beträgt, während es bei den<br />
meisten anderen plazentalen Säugetieren<br />
19 sind. Eine weitere Ausnahme bilden einige<br />
hominoide Affenarten (Hylobatidae<br />
und Pongidae), die 17 oder 18 Wirbel im<br />
Thorakolumbarbereich besitzen (Narita &<br />
Kuratani 2005).<br />
Die bei Säugetieren konstante Anzahl<br />
von sieben Halswirbeln ist auf eine<br />
Kombination der an der Entwicklung<br />
der Wirbelsäule beteiligten Hox-Gene<br />
und der Entwicklung des Nervensystems<br />
zurückzuführen (Galis 1999). Er postuliert,<br />
dass eine Abweichung von der festgelegten<br />
Anzahl bei Säugetieren ein erhöhtes<br />
Risiko für die Ausbildung von neuronalen<br />
Problemen, Totgeburten und „early childhood<br />
cancer“ birgt.<br />
Bei aller intra- und interspezifischer Variation<br />
und den Veränderungen der Wirbelform<br />
im Verlauf der Wirbelsäule liegt<br />
dennoch jedem Wirbel der gleiche Bauplan<br />
zu Grunde. Sie gehören zu den Ossa<br />
brevia, den kompakten, kurzen Knochen.<br />
Die ausfüllende Substantia spongiosa wird<br />
von der Substantia compacta ummantelt<br />
(König & Liebich 2001). Sie besitzen keine<br />
einheitliche Markhöhle (Michel et al.<br />
1986).<br />
Ein Wirbel kann grob in drei Bereiche<br />
unterteilt werden: den Körper, den darüber<br />
liegenden Neuralbogen und die Fortsätze.<br />
Der Wirbelkörper (Corpus vertebrae, Abb.<br />
2; 3) ist mehr oder weniger zylindrisch bis<br />
dreiseitig-prismatisch geformt und bildet<br />
den Grundstock des Wirbels. Darauf<br />
aufbauend bildet der Wirbelbogen (Arcus<br />
vertebrae, Abb. 2; 15) einen Durchlass für<br />
das Rückenmark. Wirbelfortsätze (Processus<br />
vertebrae, Abb. 2; 9 – 14) bilden Ansatzpunkte<br />
für Muskulatur und Sehnen und<br />
sind, je nach Wirbelposition, unterschiedlich<br />
ausgeprägt (Nickel et al. 1954).<br />
Wie von Nickel et al. (1954) und bei König<br />
& Liebich (2001) beschrieben bilden<br />
jeweils die Facies articulares craniales bzw.<br />
Wirbel – anatomische Synonyme aus Medizin, Tiermedizin, Paläontologie und Zoologie<br />
Verwendeter Begriff<br />
Synonym<br />
Arcus vertebrae<br />
Arcus neuralis / Neuralbogen<br />
Facies articulares craniales Caput vertebrae<br />
Foramen intervertebrale<br />
For. intervertebrale laterale<br />
Foramen vertebrale<br />
Foramen vertebrae<br />
Proccessus articulares cran./caud. Prä-bzw. Postzygapophyse<br />
Processus spinalis<br />
Processus spinosus<br />
Substantia compacta<br />
Substantia corticalis / Corticalis<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
72 Anna-Dinah Eßer<br />
Abb. 2 Halbschema eines Wirbels. Ansicht craniolateral.<br />
Nach Nickel et al. 1992. 1 Crista ventralis;<br />
2 Extremitas cranialis/Facies articularis cranialis;<br />
3 Corpus vertebrae; 4 Crista dorsalis; 5 Venenlöcher;<br />
6 Incisura vertebralis cranialis; 7 Foramen<br />
vertebrale; 8 Incisura vertebralis caudalis;<br />
9 Processus transversus; 10 Processus mammilares;<br />
11 Processus accessorius; 12 Processus<br />
articulares craniales; 13 Processus articulares caudales;<br />
14 Processus spinalis ; 15 Arcus vertebrae.<br />
caudales die Enden der Wirbelkörper. Sie<br />
sitzen den Extremitas craniales bzw. caudales<br />
auf und bilden eine konvexe (F. art .cran.<br />
bzw. Caput vertebrae) bzw. konkave (F. art.<br />
caud. bzw. Fossa vertebrae) Artikulationsfläche<br />
(Abb. 2; 2). Zwischen den Wirbeln<br />
sitzen knorpelige Scheiben, die Disci intervertebrales<br />
genannt werden (Nickel et al.<br />
1954; König & Liebich 2001). Der Raum<br />
zwischen den Wirbeln ist unterschiedlich<br />
breit und wird als Spatium interarticulare<br />
bezeichnet (Salomon et al. 2004). Der dorsal<br />
über dem Wirbelkörper stehende Arcus<br />
vertebrae ist durch zwei „Füßchen“ (Pediculi<br />
arcus vertebrae) mit diesem verbunden.<br />
Zwischen diesen Knochenteilen befindet<br />
sich das Wirbelloch (Foramen vertebrale<br />
Abb. 2; 7) (Salomon et al. 2004).<br />
Die Foramina vertebrale bilden insgesamt<br />
den Wirbelkanal (Canalis vertebralis),<br />
durch den das Rückenmark verläuft<br />
(Nickel et al. 1954). Dieses wird von Hüllen<br />
geschützt und von Segmentalnerven,<br />
Blutgefäßen, Bändern, Fett und lockerem<br />
Bindegewebe umgeben (König & Liebich<br />
2001). Der Wirbelkanal ist im Bereich des<br />
ersten und zweiten Halswirbels am größten.<br />
An der Hals-Brustgrenze und im Lendengebiet<br />
weist er Lumenerweiterungen<br />
auf, die den Verdickungen des Rückenmarkes<br />
Platz bieten. Caudal verjüngt sich<br />
der Kanal allmählich, bis er in den ersten<br />
(Nickel et al. 1954) bzw. in den fünften<br />
bis siebten Schwanzwirbeln (Michel et al.<br />
1986) endet.<br />
Dorsal auf dem Wirbelkörper verläuft<br />
eine Crista dorsalis (Bandleiste, Abb 2; 4),<br />
die beidseitig durch Längsrinnen begrenzt<br />
wird. In diesen liegen Blutgefäße, die<br />
durch Gefäßkanäle (Venenlöcher, Abb. 2;<br />
5) auf die Ventralseite des Wirbels führen<br />
können. Hier befindet sich die Crista ventralis,<br />
die regional unterschiedlich stark ausgeprägt<br />
ist (Abb. 2; 1) (Nickel et al. 1954).<br />
Die Pediculi arcus vertebrae besitzen an<br />
ihrer Basis sowohl cranial als auch caudal<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
73<br />
Einkerbungen, die Incisura vertebralis cranialis<br />
bzw. caudalis (Abb. 2; 6, 8). Bei aufeinander<br />
folgenden Wirbeln bilden sie das<br />
Zwischenwirbelloch (Foramen intervertebrale),<br />
durch das Gefäße laufen (Salomon et<br />
al. 2004).<br />
Die Fortsätze sind in den verschiedenen<br />
Wirbelsäulenabschnitten unterschiedlich<br />
ausgebildet. In der Medianen des Wirbelbogens<br />
sitzt der Dornfortsatz (Processus<br />
spinalis), der im Verlauf der Halswirbelsäule<br />
an Länge zunimmt (Abb. 2; 14). Der<br />
längste Dornfortsatz ist bei den vorderen<br />
Thorakalwirbeln zu finden. Hier sind die<br />
Procc. spinales caudad ausgerichtet. Im Verlauf<br />
der Wirbelsäule wird der Dornfortsatz<br />
niedriger und steiler, bis er bei einem bestimmten<br />
Wirbel nahezu senkrecht nach<br />
dorsal zeigt (Vertebra anticlinalis, griech.<br />
antiklinein = dagegen neigend). An diesem<br />
Punkt wechselt die Neigung die Richtung,<br />
sie zeigt darauf folgend mehr oder weniger<br />
stark nach cranial und die Dornfortsätze<br />
werden wieder höher (Nickel et al. 1992)<br />
(Abb. 3). Die Ausprägung dieser Merkmale<br />
ist artspezifisch und kann erheblichen<br />
Abweichungen unterliegen (z. B. beim<br />
Braunbär Ursus arctos L. und dem afrikanischen<br />
Nashorn Diceros bicornis L. tritt<br />
keine Antikline auf; die Lumbalwirbel<br />
zeigen ebenfalls mehr oder weniger stark<br />
nach caudal, s. Slijper 1949). Laut Slijper<br />
dienen die Dornfortsätze als Muskelhebelarme,<br />
was auch ihre Ausrichtung erklärt.<br />
Der geringste Materialaufwand mit dem<br />
größten Nutzen als Ansatzstelle für einen<br />
oder mehrere Muskeln entscheidet über<br />
die Richtung, in die der Dornfortsatz zeigt.<br />
Dies erklärt auch die so genannte Antikline<br />
und den diaphragmatischen Wirbel<br />
(Slijper 1946).<br />
Die Unterscheidung der Antikline und<br />
des diaphragmatischen Wirbels ist nicht<br />
immer eindeutig. Giebel (1853, 1900)<br />
benutzte laut Gottlieb und Slijper den<br />
Namen „diaphragmatischer Wirbel“ für<br />
den Wirbel, an dem der Dornfortsatz<br />
senkrecht nach dorsal zeigt und sich die<br />
Ausrichtung der Dornfortsätze ändert (s.<br />
Gottlieb 1915 und Slijper 1946). Die gleiche<br />
Definition benutzen auch Nickel et al.<br />
in der Ausgabe ihres Anatomiebuches von<br />
1954. König und Liebich geben den Brustwirbel<br />
in senkrechter Stellung („bei Hunden<br />
der zehnte, bei Schwein und Ziege<br />
der 12., beim Rind der 13. und beim Pferd<br />
der 16.“) als diaphragmatischen Wirbel<br />
an, ohne weitere Erklärungen hinzuzufügen<br />
(König & Liebich 2001 S. 81). Hierbei<br />
ist nicht ganz klar, ob sie sich auf die zuvor<br />
angesprochene Stellung des Dornfortsatzes<br />
beziehen oder tatsächlich auf die Neigung<br />
des Wirbelkörpers.<br />
Laut Gottlieb (1915) ist die Antikline<br />
(oder der antiklinische Wirbel) und der<br />
diaphragmatische Wirbel nicht gleichzusetzen.<br />
Nach Gottlieb zeigt sich die Antikline<br />
nicht nur in den Dornfortsätzen,<br />
sondern auch am Wirbelkörper und ist<br />
nicht in allen Arten vorhanden. Bei den<br />
Carnivoren zeigt sie sich deutlich als Richtungswechsel<br />
der Neigung der Dornfortsätze.<br />
Aber die Position des Wirbels, an<br />
dem diese Antikline in Erscheinung tritt,<br />
ist intraspezifisch unterschiedlich. Die tatsächliche<br />
Antikline kann auch zwischen<br />
zwei Wirbeln liegen, muss aber nicht an<br />
der gleichen Position auftreten wie der so<br />
genannte diaphragmatische Wirbel (Gottlieb<br />
1915). Slijper schreibt, dass ein diaphragmatischer<br />
Wirbel auch bei Tieren<br />
auftritt, die keine Antikline besitzen. Der<br />
diaphragmatische Wirbel bezeichnet laut<br />
Slijper (1946) die Position, an der die Facies<br />
articulares craniales tangential, die Facies<br />
articulares caudales aber radial stehen (Slijper<br />
1946).<br />
Dieser Definition folgen auch Hildebrand<br />
und Goslow: „Antiklin wird ein<br />
Brustwirbel genannt, dessen senkrecht<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
74 Anna-Dinah Eßer<br />
Abb. 3 Antikliner und diaphragmatischer Wirbel.<br />
Beispiel. (SaNr. 33513); Pfeil = Richtung cranial;<br />
Maßstab 1 cm.<br />
zur Längsachse ausgerichteter Dornfortsatz<br />
den Übergang zwischen nach hinten<br />
und nach vorn gerichteten Dornfortsätzen<br />
darstellt“ (Hildebrand & Goslow 2003, S.<br />
647). Außerdem definieren sie den diaphragmatischen<br />
Wirbel als „[…] Thorakalwirbel<br />
mit meist nach oben gerichteten<br />
Präzygapophysen, aber mit lateral gerichteten<br />
Postzygapophysen […]“ (Hildebrand<br />
& Goslow 2003, S. 676) (Abb.3).<br />
Abhängig von der Position des Wirbels<br />
treten weitere Fortsätze jeweils paarweise<br />
auf.<br />
An der Basis des Arcus vertebrae befindet<br />
sich lateral je ein Querfortsatz (Processus<br />
transversus, Abb. 2; 9). An ihrer Basis<br />
liegt das Foramen transversarium. Aneinandergereiht<br />
bilden die Forr. transversaria<br />
den Querfortsatzkanal (Canalis transversarius<br />
in der 1954er-Ausgabe des Nickel<br />
et al.). Dieser erreicht am sechsten Halswirbel<br />
seine größte Ausdehnung und dient<br />
u. a. der Aufnahme der Wirbelarterie (Nickel<br />
et al. 1954, 1992).<br />
Die Wirbelbögen aufeinander folgender<br />
Wirbel sind über die Processus articulares<br />
craniales und caudales miteinander gelenkig<br />
verbunden (Abb. 2; 12, 13). Diese Gelenkfortsätze<br />
sitzen lateral neben dem Processus<br />
spinalis (Nickel et al. 1992). Zwischen<br />
dem Proc. articularis und dem Proc. transversus<br />
liegt der Processus mammilaris, der so<br />
genannte Zitzenfortsatz (Abb. 2; 10). Er<br />
kommt nur an den Thorakal- und Lumbalwirbeln<br />
vor und verändert im Verlauf der<br />
Wirbelsäule seine Position. Bis zum diaphragmatischen<br />
Wirbel (bzw. dem antiklinen<br />
Wirbel nach der Definition von Hildebrand<br />
und Goslow 2003) liegen sie neben<br />
den Querfortsätzen, nähern sich lendenwärts<br />
aber den Gelenkfortsätzen und verschmelzen<br />
mit diesen zu Procc. mammiloarticulares<br />
(Nickel et al. 1954). Carnivoren<br />
tragen an den letzten Thorakal- und allen<br />
Lumbalwirbeln zusätzlich noch caudal gerichtete<br />
Hilfsfortsätze (Procc. accessorii Abb<br />
2; 11). Im Verlauf der Wirbelsäule rücken<br />
sie von dicht bei den Querfortsätzen sitzend<br />
immer mehr den Wirbelbogen hinauf.<br />
Auch Schweine tragen an den letzten<br />
Brustwirbeln Hilfsfortsätze (Nickel et al.<br />
1954).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
75<br />
Die Halswirbel<br />
(Vertebrae cervicales)<br />
Der erste Halswirbel unterscheidet sich<br />
deutlich von den anderen Wirbeln (Abb.<br />
4).<br />
Er besteht aus zwei breiten Querfortsätzen<br />
(oder Flügeln, Alae atlantis Abb. 4; 1)<br />
und besitzt keinen Wirbelkörper. Der Arcus<br />
dorsalis (Abb 4; 2) und der Arcus ventralis<br />
(Abb. 4; 7) verbinden die Flügel miteinander.<br />
An diesen beiden Bogenteilen befindet<br />
sich jeweils medial ein kleiner Fortsatz, das<br />
Tuberculum dorsale bzw. ventrale (Abb. 4; 12<br />
bzw. 8). Der Verbindungsbereich des dorsalen<br />
und ventralen Bogens wird als Massa<br />
lateralis (Seitenteil) bezeichnet (Salomon<br />
et al. 2005). Die Ventralseite der lateral<br />
vom Seitenteil abgehenden Atlasflügel ist<br />
bei den Carnivoren zu einer eher flachen<br />
Grube (Fossa atlantis) vertieft. An der Basis<br />
der Alae atlantis befindet sich im cranialen<br />
Teil bei den Carnivoren kein Flügelloch<br />
(Foramen alare) wie bei den meisten<br />
anderen Säugetieren, sondern lediglich ein<br />
nicht geschlossener Einschnitt (Incisura<br />
alaris Abb. 4; 3). Medial der Incisura liegt<br />
das Foramen vertebrale laterale (Abb. 4; 6),<br />
das eine Verbindung zum Wirbelkanal<br />
(Foramen vertebrale, Abb. 4; 5) hat. Ungefähr<br />
in der Mitte der Flügel liegt auf beiden<br />
Seiten ein For. transversarium, welches<br />
bei den Wiederkäuern nicht vorhanden ist<br />
(Salomon et al. 2005) (Abb. 4; 4).<br />
Die Verbindung zum Kopf bilden die<br />
Foveae articulares craniales, zwei tiefe Aushöhlungen<br />
cranial (Abb. 4; 10). Diese gelenkige<br />
Verbindung ermöglicht Nickbewegungen,<br />
gibt aber kaum seitlichen<br />
Spielraum (Salomon et al. 2005). Caudal<br />
befinden sich flache Foveae articulares caudales<br />
zur gelenkigen Verbindung mit dem<br />
nachfolgenden Axis (Abb. 4; 11). Diese<br />
Gelenkfläche setzt sich auch auf der<br />
Abb. 4 Verschiedene Ansichten des Atlas.<br />
Von links nach rechts und oben nach unten: Dorsalansicht,<br />
Cranioventrale Ansicht, Caudalansicht.<br />
1 Alae atlantis; 2 Arcus dorsalis; 3 Incisura alaris;<br />
4 For. transversarium; 5 For.vertebrale; 6 Foramen<br />
vertebrale laterale; 7 Arcus ventralis; 8 Tuberculum<br />
ventralis; 9 Fovea dentis; 10 Foveae articulares<br />
craniales; 11 Foveae articulares caudales;<br />
12 Tuberculum dorsalis.<br />
dorsalen Seite des Tuberculum ventralis als<br />
Fovea dentis fort (Nickel et al. 1954) (Abb.<br />
4; 9).<br />
Der Axis ist ebenfalls leicht von allen anderen<br />
Wirbeln zu unterscheiden (Abb. 5).<br />
Er ist bei den Carnivoren der längste<br />
Halswirbel und trägt an seinem Corpus<br />
vertebrale Abb. 5; 3) den schon erwähnten<br />
Dens (Abb. 5; 1), der in situ in den Atlas<br />
hineinragt. Lateral und teilweise auch ventral<br />
des Zahns liegen die Facies bzw. Procc.<br />
articulares craniales (Nickel et al. 1954)<br />
(Abb. 5; 2).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
76 Anna-Dinah Eßer<br />
Abb. 5 Bezeichnungen des Axis. Lateralansicht.<br />
1 Dens epistopheus; 2 Facies articulares caudales;<br />
3 Corpus vertebrae; 4 Crista ventralis; 5 Facies<br />
terminalis caudalis; 6 Processus transversus;<br />
7 Incisura vertebralis caudalis; 8 Procc. articulares<br />
caudales; 9 Processus spinalis; 10 Incisura vertebralis<br />
cranialis.<br />
Der kammförmige Proc. spinalis ist bei<br />
den Carnivoren sehr gut ausgeprägt und<br />
ragt cranial und caudal über den Wirbelköper<br />
hinaus (Abb. 5; 9). Caudal an den Proc.<br />
spinalis schließen sich ventrad die Procc.<br />
articulares caudales an, die bei den Carnivoren<br />
nicht als eigenständige Fortsätze ausgebildet<br />
sind. Sie liegen ventrad unter dem<br />
Dornfortsatz (Nickel et al. 1954) (Abb. 5;<br />
8). Im Wirbelkörper befindet sich ventral<br />
eine Bandleiste mit Gefäßlöchern. Die<br />
Procc. transversus (Abb. 5; 6) besitzen nur<br />
einen caudalen Teil und sind schwach ausgebildet,<br />
im Gegensatz zu der sich deutlich<br />
vom Wirbelkörper abhebenden Crista ventralis<br />
(Abb. 5; 4) (Nickel et al. 1954; Salomon<br />
et al. 2005). Laut Nickel et al. überragt<br />
der Proc. transversus bei Hunden und<br />
Wiederkäuern die Facies terminalis caudalis<br />
(Abb. 5; 5). Carnivoren haben nicht nur<br />
eine Incisura vertebralis caudalis (Abb. 5; 7),<br />
sondern auch eine Incisura vertebralis cranialis<br />
(Abb. 5; 10) in arttypischer Ausbildung<br />
(Nickel et al. 1992).<br />
Die restlichen Halswirbel sind ebenfalls<br />
leicht von den anderen Wirbeln zu unterscheiden<br />
(Abb. 6). Ihre Bezeichnungen<br />
Abb. 6 Die Halswirbelsäule. Atlas, Axis, dritter bis<br />
siebter Halswirbel und die ersten zwei Brustwirbel.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
77<br />
folgen denen der caudad liegenden Wirbel;<br />
die Schemazeichnungen zeigen Thorakalund<br />
Lum bal wirbel, da hier die Merkmale<br />
besser zu erkennen sind (Abb. 7).<br />
Die Halswirbel haben relativ lange Körper<br />
(Abb. 7; 15), die sich bei den Haussäugetieren<br />
zum Ende der Halswirbelsäule<br />
(HWS) hin verkürzen (Nickel et al.<br />
1954). Die Procc. spinales (Abb. 7; 8) nehmen<br />
im Verlauf der HWS an Länge zu.<br />
Bei der Bezeichnung der teilweise sehr flachen<br />
Procc. spinales des dritten bis fünften<br />
Halswirbels treten Differenzen zwischen<br />
der älteren und der neueren Literatur auf.<br />
Während Nickel et al. (1954) hier von einem<br />
Tuberculum dorsale sprechen, wird<br />
diese Bezeichnung nicht nur bei Nickel<br />
et al. (1992) und König & Liebich (2001),<br />
sondern auch bei Salomon et al. (2005) für<br />
den caudal zeigenden Fortsatz am dorsalen<br />
Anteil des Proc. transversus verwendet. Der<br />
Dornfortsatz wird in der neueren Literatur<br />
auch beim dritten bis fünften Halswirbel<br />
als Proc. spinalis bezeichnet (König & Liebich<br />
2001; Salomon et al. 2005).<br />
Laut Salomon et al. entspricht der ventrale<br />
Anteil des Proc. transversus (Abb. 7; 4)<br />
einer Rippenanlage und wird deshalb auch<br />
als Pleurapophyse bezeichnet. Hier befindet<br />
sich am dritten bis fünften Halswirbel<br />
auch ein Tuberculum ventrale. Beim sechsten<br />
Halswirbel ist dieses zur Lamina ventralis<br />
verbreitert (Salomon et al. 2005). Nickel<br />
et al. (1954) bezeichnen diesen Teil<br />
als Proc. costarius (ventraler Anteil mit dem<br />
cranialen Ast, repräsentiert eine Rippenanlage)<br />
und Proc. transversus (dorsaler Anteil<br />
mit dem caudalen Ast) bzw. zusammengenommen<br />
als Processus costotransversarius.<br />
In den neueren Auflagen des Nickel et al.<br />
(z. B. 1992) findet sich diese Bezeichnung<br />
allerdings nicht mehr. In dieser Arbeit werden<br />
folglich die Bezeichnungen von Salomon<br />
et al. (2005) verwendet.<br />
Abb. 7 Bezeichnungen des dritten bis siebten<br />
Halswirbels sowie der Thorakal- und Lumbalwirbel.<br />
Lateral- bzw. Cranialansicht. 1 Extremitas cranialis;<br />
2 Arcus dorsalis; 3 Crista ventralis; 4 Procc. transversus;<br />
5 Procc. accessorius; 6 Facies articulares<br />
craniales; 7 Procc. mammilares; 8 Proc. spinales;<br />
9 Foramen vertebrale; 10 Procc. articulares caudales;<br />
11 Facies articulares caudales; 12 Incisura<br />
alaris cranialis; 13 Incisura alaris caudalis;<br />
14 Extremitas caudalis; 15 Corpus vertebrae; 16 Fovea<br />
costales craniales; 17 Fovea costales caudales.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
78 Anna-Dinah Eßer<br />
Die Gliederung des Querfortsatzes geschieht<br />
durch ein basal liegendes Foramen<br />
transversarium, das zusammen mit den<br />
Forr. transversaria der anderen Halswirbel<br />
einen Kanal bildet, durch den die Blutgefäße<br />
und der Nervus vertebralis verlaufen<br />
(Salomon et al. 2005). Vom dritten bis<br />
fünften Halswirbel ist eine deutliche Crista<br />
ventralis (Abb. 7; 3) ausgebildet, die beim<br />
sechsten Halswirbel artspezifisch nur noch<br />
wenig oder gar nicht mehr vorhanden ist<br />
(König & Liebich 2001). Die Extremitas<br />
craniales bzw. caudales sind bei den Carnivoren,<br />
im Gegensatz zu vielen anderen<br />
Säugetieren, nicht besonders stark halbkugelförmig<br />
ausgebildet (König & Liebich<br />
2001) (Abb. 7; 1, 14). Die Gelenkfortsätze<br />
weisen cranial nach dorsal, caudal dagegen<br />
nach ventral und sind annähernd horizontal<br />
gestellt. Die Incisura vertebrae craniales<br />
bzw. caudales (Abb. 7; 12, 13) sind tief und<br />
bilden weite For. intervertebralia (Salomon<br />
et al. 2005).<br />
Der siebte Halswirbel bildet den Übergang<br />
zu den Thorakalwirbeln und unterscheidet<br />
sich stärker von den vorhergehenden<br />
Wirbeln. Sein Körper ist deutlich<br />
kürzer und seine kurzen Querfortsätze zeigen<br />
nur den caudalen Ast. Er trägt meist<br />
eine Fovea costalis caudalis (Abb. 7; 17) zur<br />
Aufnahme des ersten Rippenköpfchens<br />
und hat einen höheren Dornfortsatz als die<br />
anderen Halswirbel. In vielen Fällen fehlt<br />
ihm das Foramen transversarium (Nickel et<br />
al. 1954).<br />
Unterschiede in der Morphologie<br />
der Wirbel<br />
In ihrer Studie von 1997 konnten<br />
O’Higgins et al. bei dem Vergleich von<br />
Inzuchtmäusen und Menschen eine Art<br />
Reihenfolge in der Entwicklung von morphologischen<br />
Unterschieden an den Wirbeln<br />
nachweisen. Einige Merkmale, wie<br />
beispielsweise die Dimensionen des Neuralkanales,<br />
zeigten kaum intra- und interspezifische<br />
Unterschiede, was darin begründet<br />
liegt, dass ihre Entwicklung in<br />
erster Linie durch Hox-Gene festgelegt<br />
ist. Andere Merkmale, wie z. B. die Länge<br />
des Dornfortsatzes und die Tiefe des<br />
Wirbelkörpers, werden zusätzlich durch<br />
andere genetische und umweltbedingte<br />
Faktoren beeinflusst. Dies führt zu einer<br />
größeren inter- und intraspezifischen Variation<br />
(O’Higgins et al. 1997). Als umweltbedingte<br />
Faktoren sind z. B. Lebensweise,<br />
Ernährungsbedingungen, Verletzungen<br />
und Alterserscheinungen in Betracht zu<br />
ziehen.<br />
Für Ratten ist erwiesen, dass die Wirbelkörper<br />
verschiedener Körperabschnitte<br />
unterschiedlich schnell wachsen und Differenzen<br />
in der relativen Wirbellänge zwischen<br />
adulten und juvenilen Ratten bestehen.<br />
Bei neonatalen Ratten nimmt sie bis<br />
zur Mitte der thorakalen Region zu, caudad<br />
ab. Bei adulten Ratten nimmt die Wirbellänge<br />
tendenziell caudad zu (Bergmann<br />
et al. 2006). Auch einen Sexualdimorphismus<br />
konnten Bergmann et al. (2006) bei<br />
den Ratten belegen; die Männchen hatten<br />
generell längere Wirbel als die weiblichen<br />
Tiere. Dieser Befund war altersunabhängig.<br />
Die Ursache dieses Wachstumsunterschiedes<br />
liegt in der Kombination des<br />
Einflusses von entwickungsbiologischen,<br />
funktionellen und genetischen Faktoren.<br />
Rotfüchse beispielsweise scheinen geschlechtsabhängig<br />
mit Veränderungen ihrer<br />
Körpergröße und Masse auf Populationsdichten<br />
zu reagieren, wobei Männchen<br />
immer größer und schwerer sind als Weibchen.<br />
Das Alter der Tiere spielt hierbei keine<br />
signifikante Rolle. Weibliche Tiere reagierten<br />
im Untersuchungsgebiet nicht mit<br />
Gewichtsabweichungen auf unterschiedliche<br />
Populationsdichten, sondern nur mit<br />
leichten Größenveränderungen (Cavallini<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
79<br />
1995). Zudem ist für den atlantischen Aal<br />
(Anguilla rostrata) ein Geschlechtsdimorphismus<br />
nachgewiesen, der auch die Zahl<br />
der Wirbel beeinflusst. Adulte Männchen<br />
besitzen 109 bis 117 Wirbel, während die<br />
Weibchen 116 bis 124 Wirbel aufweisen<br />
(Castle 1976).<br />
Einige Studien beschäftigen sich mit den<br />
morphologischen Unterschieden am Skelett<br />
von unterschiedlichen Tierarten. Bei<br />
Haushunden zeigt beispielsweise die Form<br />
der Scapulae Rassenunterschiede. Das Metapodium<br />
ist bei Haushunden verhältnismäßig<br />
kürzer als bei Wölfen, und Schädelproportionen<br />
verschieben sich vom Wolf<br />
zum Haushund deutlich in verschiedenen<br />
Bereichen, vor allem im Bereich des Gesichtsschädels.<br />
Hierfür erfolgte eine mosaikartige<br />
Umgestaltung. Die Veränderung<br />
von Einzelmerkmalen spielt eine große<br />
Rolle. Haustiere besitzen insgesamt gesehen<br />
massigere Knochen als die Wildform;<br />
allerdings zeigen sie einen undifferenzierteren<br />
Feinbau (Herre & Röhrs 1990).<br />
An 114 Wolfsschädeln untersuchten<br />
Sumiński & Kobryn (1980) die Möglichkeit,<br />
anhand morphologischer Merkmale<br />
männliche von weiblichen Tieren zu unterscheiden.<br />
Das Ergebnis der Studie zeigt<br />
einen geringen Geschlechtsdimorphismus,<br />
der sich auch bei verschiedenen Altersklassen<br />
kaum stärker ausprägt. Männliche<br />
Tiere besitzen im Allgemeinen einen größeren<br />
Schädel als die Wölfinnen, die dafür<br />
eine größere Dimensionsvariabilität besitzen.<br />
Auch ein allgemeiner Unterschied im<br />
Wachstum wurde festgestellt: während die<br />
Weibchen mit 2 Jahren die Merkmale eines<br />
ausgewachsenen Tieres zeigten, war<br />
dies bei Männchen erst mit 4 Jahren der<br />
Fall (Sumiński & Kobryn 1980).<br />
Durch die Untersuchung von 145 europäischen<br />
Wolfs- und 165 Hundeschädeln<br />
großwüchsiger Rassen konnte Sumiński<br />
(1975) sechs Unterschiede zwischen<br />
Wolfs- und Hundeschädeln feststellen.<br />
Anhand dieser Werte konnte er eine Zuordnung<br />
zu den unterschiedlichen Arten<br />
vornehmen. Allerdings räumte er ein,<br />
dass die Methode zoogeographisch eingeschränkt<br />
und bei außereuropäischen Wölfen<br />
weniger Erfolg haben könnte. Laut<br />
Kostadinov et al. (2006) gibt es rassetypische<br />
Unterschiede in der Form bzw. Ausprägung<br />
der Fossa temporalis (Schläfengrube)<br />
im Schädel von Hunden. In dieser<br />
Studie wurden allerdings nur 28 Schädel<br />
von insgesamt 22 reinblütigen und 6 nichtidentifizierten<br />
Hunden untersucht, die z. T.<br />
extrem unterschiedlichen Rassen angehörten<br />
(Pitbull, Dackel, Französische Bulldogge,<br />
Zwergpinscher, Collie, Labrador,<br />
Deutscher Schäferhund, Kaukasischer Ovcharka<br />
und Shar Planinet).<br />
Wild- und Zootiere können sich erheblich<br />
im Verhalten und in morphologischen<br />
Merkmalen voneinander unterscheiden,<br />
wobei z. T. das eine aus dem anderen resultiert.<br />
Trut et al. (2006) zeigten beispielsweise<br />
in ihrer Studie einen Einfluss des<br />
Verhaltens von zahmen und aggressiven<br />
Füchsen einer Fuchsfarm auf ihre Morphologie.<br />
Die Basis für diesen Zusammenhang<br />
ist in den Genen zu suchen. Eine<br />
Studie von O’Regan & Kitchener (2005)<br />
beschäftigt sich mit den Effekten von Gefangenschaft<br />
auf unterschiedliche Wild-,<br />
Zoo- und Haustiere. Die unterschiedliche<br />
Ernährung von Zoo- und Wildtieren<br />
hat oftmals ein stärkeres oder früheres<br />
Größenwachstum der Zootiere gegenüber<br />
ihren wildlebenden Artgenossen zur<br />
Folge. Der Unterschied in der Ernährung<br />
hat häufig auch negative Folgen für die<br />
Zootiere, die dann unter Knochenverdickungen,<br />
rachitischen Langknochen und<br />
Gebissfehlern leiden. Auch stereotypes<br />
Verhalten oder nicht artgerecht eingerichtete<br />
Käfige haben Einfluss auf die Morphologie<br />
der Tiere.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
80 Anna-Dinah Eßer<br />
Was zunächst als vorteilhaft erscheint,<br />
nämlich das erhöhte Maximalalter der Tiere<br />
in Gefangenschaft gegenüber dem von<br />
Wildtieren, kann ebenfalls Nachteile mit<br />
sich bringen. Bei vielen Zootieren sind in<br />
einem Alter, das Wildtiere normalerweise<br />
nicht erreichen, krankhafte Veränderungen<br />
an den Knochen festzustellen. Knorpel<br />
verknöchern (u. a. auch die Bandscheiben),<br />
Spondylosen und Osteoarthritis treten<br />
häufiger auf als bei Wildtieren. Eine artgerechtere<br />
Haltung, bei der die Tiere sich<br />
mehr bewegen und ihre Fähigkeiten nutzen<br />
können, scheint dem entgegenzuwirken<br />
(O’Regan & Kitchener 2005). Auch<br />
eine nicht artgerechte Ernährung kann u.<br />
a. zu Spondylosen bei Affen und Großkatzen<br />
führen (du Boulay 1972). Kolmstetter<br />
et al. (2000) bestätigen ferner, dass bei<br />
Großkatzen aus dem Zoo häufig degenerative<br />
Wirbelsäulenerkrankungen vorkommen.<br />
Systematik und Verbreitung der in<br />
der Studie untersuchten Tiere<br />
Innerhalb der Familie Caniformia bilden<br />
die Canidae die basale Gruppe (Li et al.<br />
2004). Wölfe (Canis lupus L.1758) haben<br />
einen direkten gemeinsamen Vorfahren<br />
mit dem Rothund (Cuon alpinus PALLAS<br />
1811). Füchse (Vulpes vulpes L. 1758) gehören<br />
einer anderen Linie an, sind jedoch<br />
auch mit den Vorgenannten verwandt<br />
(Ostrander & Wayne 2006).<br />
Hunde (Canis lupus familiares) stammen<br />
eindeutig von Wölfen ab. Allerdings steht<br />
zu vermuten, dass sie sich immer wieder<br />
mit Wölfen vermischt haben und nicht aus<br />
einer einzigen Population entstanden sind<br />
(Vila et al. 1999, 2005).<br />
Im archäologischen Material sind<br />
die frühen Hunde wahrscheinlich nicht<br />
von Wölfen zu unterscheiden, deshalb<br />
bleibt das archäologisch angenommene<br />
Domestikationsalter von Hunden mit<br />
15 000 Jahren eher fraglich (Ostrander<br />
& Wayne 2006). Wahrscheinlich erfolgte<br />
die Domestikation schon früher. Meinungen<br />
über Abstammungen und kulturgeschichtliche<br />
Schlüsse über Haushunde<br />
sind jedoch in den Bereich der Spekulation<br />
zu verweisen (Herre & Röhrs 1990). Die<br />
Variabilität (Farbe, Größe, Zahngröße und<br />
andere Merkmale) der Wölfe ist selbst in<br />
engen geographischen Gebieten groß. Sie<br />
haben auch heute noch ein großes Verbreitungsgebiet,<br />
bewohnen weite Gebiete der<br />
Nordhalbkugel in der Alten und Neuen<br />
Welt und kommen teilweise auch in tropischen<br />
Gebieten vor. Haushunde gibt es<br />
fast überall auf der Welt (Herre & Röhrs<br />
1990). Der Rothund, auch Dhole oder<br />
Rotwolf genannt, lebt heute bevorzugt in<br />
Lebensräumen mit dichter Vegetation vom<br />
südlichen Sibirien bis Indien und der Malaischen<br />
Halbinsel (Westheide & Rieger<br />
2004).<br />
Als Unterart des Grauwolfes (Canis lupus)<br />
ist bisher der Timberwolf (Canis lupus<br />
lycaon SCHREBER 1775) geführt worden.<br />
Neuere Studien (Kyle et al. 2006) legen allerdings<br />
nahe, den Timberwolf aufgrund<br />
morphologischer und genetischer Unterschiede<br />
als eigene Art zu führen (Canis lycaon).<br />
Rotfüchse (Vulpes vulpes) sind nahezu in<br />
ganz Europa (exkl. Balearen, Kreta, Zypern<br />
und Malta), Nordafrika, Asien bis Nordindien,<br />
Japan, Nordamerika bis Florida und<br />
Kalifornien beheimatet. In Australien wurden<br />
sie 1886 ausgesetzt (Westheide & Rieger<br />
2004).<br />
Wölfe und Haushunde erzeugen in der<br />
freien Wildbahn auch heute noch reproduktionsfähige<br />
Hybriden. Diese liegen in<br />
ihrem Phänotyp oftmals zwischen den beiden<br />
Ursprungsarten, können aber auf den<br />
ersten Blick auch für eine von beiden gehalten<br />
werden (Milenković et al. 2006).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
81<br />
Innerhalb der Katzenartigen (Feliformia)<br />
bildet der Luchs (Lynx lynx/Felis lynx<br />
L. 1758) eine basale Art. Seine Stammform<br />
spaltete sich vor ca. sechs Millionen<br />
Jahren ab ( Johnson & O’Brien 1997),<br />
während die größeren Katzen (Unterfamilie<br />
Pantherinae, Gattung Panthera) erst<br />
vor etwa ein bis zwei Millionen Jahren als<br />
monophyletische Gruppe auftraten (Li et<br />
al. 2004). Eurasische Luchse haben heute<br />
ein Verbreitungsgebiet von Skandinavien<br />
bis Ostasien, sind in Europa aber nur noch<br />
mit Restbeständen und wieder angesiedelten<br />
Populationen vertreten. Sie gehören zu<br />
den Felinae, den Kleinkatzen (Westheide<br />
& Rieger 2004). Der Puma (Puma concolor/Felis<br />
concolor L. 1771) gehört ebenfalls<br />
zu den Felinae und ist heutzutage wieder<br />
in vielen wenig besiedelten Gebieten Südund<br />
Nordamerikas verbreitet. Der gesamte<br />
panamerikanische Kontinent bildet seit<br />
mehreren hunderttausend Jahren seine<br />
Heimat (Culver 2000).<br />
Zu den Großkatzen (Pantherinae) dagegen<br />
zählt der Leopard (Panthera pardus<br />
L.1758). Er hat ein weites Verbreitungsgebiet,<br />
ist aber in fast allen Arealen zahlenmäßig<br />
nur noch schwach vertreten oder<br />
ausgerottet. Sein Lebensraum umfasste<br />
usprünglich Afrika (außer der Sahara),<br />
Arabien, Vorderasien, den Mittleren Osten,<br />
Indien und Südostasien inkl. Sri Lanka,<br />
Java, Sumatra, China, Korea bis Sibirien<br />
(Westheide & Rieger 2004).<br />
Der Dachs (Meles meles L.1758) gehört<br />
zu den Marderartigen (Mustelidae). Er bildet<br />
dort eine eigene Unterfamilie (Melinae)<br />
und ist ein Mitglied der Überfamilie<br />
der Hundeartigen (Canidae). Sein paläarktisches<br />
Verbreitungsgebiet ist groß, von<br />
England und Irland bis in den Vorderen<br />
Orient, Südchina und Japan findet man<br />
den omnivoren Grabespezialisten (Westheide<br />
& Rieger 2004).<br />
Bestimmung von Wirbeln<br />
Paläozoologische Forschungen nutzen<br />
morphometrische Messungen und den<br />
Vergleich mit rezenten Tieren, um zu einer<br />
Art- und womöglich auch Geschlechtsbestimmung<br />
zu kommen (z. B. Onar et<br />
al. 2005). Die Bestimmung von fossilen<br />
Exemplaren ist häufig kompliziert, da sie<br />
deformiert und beschädigt sein können<br />
(McShea 1993). Eine starke Fragmentierung<br />
und Unvollständigkeit der Fundstücke<br />
erschwert teilweise sogar die Zuordnung<br />
zu einer Familie.<br />
Viele Fundstellen sind nicht sehr ergiebig<br />
und liefern nur einen unvollständigen<br />
Einblick in die Fauna und Flora vergangener<br />
Zeiten. Andere dagegen, wie beispielsweise<br />
Untermaßfeld im südthüringischen<br />
Werratal, bieten durch ihre Fülle an Fossilien<br />
eine gute Übersicht über die in der<br />
entsprechenden Zeit im Einzugsgebiet lebenden<br />
Tiere.<br />
Die reiche Fossillagerstätte von Untermaßfeld<br />
(Alter: rund eine Million Jahre =<br />
Epi-Villafranchian) liefert nicht nur zahlreiche<br />
Knochen von Herbivoren, sondern<br />
2005 auch erstmals Beweise für die Existenz<br />
eines direkten Vorfahren (Puma pardoides)<br />
des heutigen Pumas in Deutschland.<br />
Neben dem Eurasischen Puma sind auch<br />
der Eurasische Jaguar (Panthera onca gobaszoegensis),<br />
ein Vorläufer des Nord- oder<br />
Eurasischen Luchses (Lynx issiodorensis<br />
spp.), Geparden (Acinonyx pardinensis pleistocaenicus)<br />
und zwei Vertreter der Säbelzahnkatzengruppe<br />
(Machairodontinae) im<br />
Fossilbefund von Untermaßfeld vertreten<br />
(Kahlke 2009). Laut v. Königswald (2007)<br />
war im Eem auch der Leopard (Panthera<br />
pardus) in Deutschland heimisch. Von dieser<br />
Raubkatze werden allerdings nur selten<br />
Fossilien gefunden.<br />
Dagegen ist der Fossilbericht für Canis<br />
lupus sp. nicht nur im Holozän, sondern<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
82 Anna-Dinah Eßer<br />
auch im Pleistozän vollständiger. Er ist<br />
in Europa erstmals im Mittelpleistozän<br />
nachzuweisen (Kurten 1968). Dachse (Meles<br />
meles) und Füchse (Vulpes vulpes) können<br />
ebenfalls mindestens seit dem Eem in<br />
Deutschland nachgewiesen werden, wobei<br />
es bei dem Fuchs während der letzten<br />
Eiszeit (Weichsel) eine Lücke im Fossilbericht<br />
gibt (v. Königswald 2007). Kahlke<br />
(1994) erwähnt auch den Rothund (Cuon<br />
alpinus) als Bestandteil der deutschen Fauna<br />
während der Weichseleiszeit.<br />
Neben den genannten Spezies sind im<br />
deutschen Fossilbericht (außer zahlreichen<br />
Herbivoren) auch verschiedene Marderartige,<br />
Wildkatzen, Braun- und Höhlenbären,<br />
Höhlenlöwen, Otter, Höhlenhyänen<br />
und Vielfraße vertreten (von Königswald<br />
2007).<br />
In der Quartärsammlung des Landesmuseums<br />
Hannover, Bereich „Leinekiese“,<br />
finden sich vielfältige Beispiele für die<br />
Schwierigkeiten, mit denen sich Paläozoologen<br />
bei der Bestimmung von Knochen<br />
konfrontiert sehen. Sie enthält über 3000<br />
disartikulierte Knochen und Knochenfragmente,<br />
die trotz ihrer z. T. erheblichen<br />
Beschädigung einen Einblick in die Lebensgemeinschaften<br />
des Leineeinzugsgebietes<br />
erlauben. Die Leinekiese in der Region<br />
Hannover beinhalten eine Mischung<br />
an Überresten von Tierarten des späteren<br />
Pleistozäns und des Holozäns. Die Arten<br />
spiegeln eine breite Diversität wider,<br />
die sich aus der Fauna Süddeutschlands<br />
und der spezialisierten Faunengesellschaft<br />
nordeuropäischer Gebiete zusammensetzt<br />
(nach Kahlke 1994).<br />
Die Bestimmung der Fundstücke mittels<br />
Bildatlanten (Schmidt 1967, Pales & Lambert<br />
1971 und France 2008) unterliegt gewissen<br />
Einschränkungen. Bilder bieten immer<br />
nur die Ansicht aus einer bestimmten<br />
Perspektive. Schattenwurf und künstlerische<br />
Interpretationen können Merkmale<br />
verdecken oder verzerren. Beschreibungen<br />
in Bild und Wort sind für Tiere, die<br />
der erfahrene Paläontologe schnell erkennt,<br />
oftmals selten. Man muss viele Publikationen<br />
durchforsten, z. T. aus dem vergangenen<br />
Jahrhundert, um zu einem bestimmten<br />
Tier oder Knochen wenigstens eine kurze<br />
Beschreibung zu finden. Knochen oder gar<br />
Knochenfragmente zu bestimmen erfordert<br />
viel Erfahrung.<br />
Mit einem Bestimmungsschlüssel wird<br />
die Bestimmung einfacher und nachvollziehbarer.<br />
Die Festlegung von beschreibenden<br />
Begriffen ist in der Archäozoologie<br />
noch nicht oder nur sehr eingeschränkt geschehen.<br />
Oftmals sind solche Beschreibungen<br />
auf eine Tiergruppe beschränkt, z. B.<br />
für den Raubsaurier Deinonychus antirrhopus<br />
(Ostrom 1969).<br />
Aus diesem Grund wird mit dieser Arbeit<br />
ein Ansatz für einen Bestimmungsschlüssel<br />
für Vertebratenknochen in der<br />
Art des „Brohmer“ (Fauna von Deutschland,<br />
Ein Bestimmungsbuch unserer heimischen<br />
Tierwelt) und „Schmeil/Fitschen“<br />
(Flora von Deutschland und angrenzender<br />
Länder) präsentiert. Beide Bücher bieten<br />
einen kurzen Überblick über grundlegende<br />
Unterscheidungsmerkmale zur<br />
Bestimmung und folgen dann den einzelnen<br />
Merkmalen zur Artbestimmung.<br />
Aufgrund der beschränkt zur Verfügung<br />
stehenden Zeit im Rahmen der Masterarbeit<br />
werden nur ein bestimmter Wirbeltyp<br />
(Halswirbel) und einige wenige Tierarten<br />
der Ordnung Carnivora behandelt.<br />
Es wird der Frage nachgegangen, ob<br />
ein solcher Schlüssel überhaupt möglich<br />
ist und worauf er aufbauen muss, damit er<br />
auch für fossile, oftmals nur schlecht erhaltene<br />
Wirbel anwendbar ist.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
83<br />
Material und Methoden<br />
Gegenstand der Studie sind die Wirbel<br />
von rezenten Feloidea und Canoidea. Insgesamt<br />
7 Arten und 2 Unterarten wurden<br />
auf ihre spezifische Morphologie untersucht.<br />
Mit Hilfe von Beschreibungen wurde<br />
ein Bestimmungsschlüssel für die einzelnen<br />
Wirbel erstellt. Messwerte nach v.<br />
d. Driesch (1976) ergänzen die Daten,<br />
wurden allerdings aufgrund der kleinen<br />
Probenmenge nicht morphometrisch oder<br />
mittels Diskriminanzanalysen ausgewertet,<br />
sondern nur für die Berechnung von Indices<br />
und einigen Graphen zur Veranschaulichung<br />
verwendet.<br />
Die Wirbelsäulen stammen aus der Rezentsammlung<br />
der Archäologisch-Zoologischen<br />
Arbeitsgruppe (AZA) der Christian-Albrechts-Universität<br />
Kiel. Die Arten<br />
wurden unter dem Gesichtspunkt ausgewählt,<br />
den zu erstellenden Schlüssel in der<br />
Leinekiese-Sammlung des NLMH anwenden<br />
zu können. Dementsprechend wurde<br />
auf die Größe und die grundlegende Form<br />
der Wirbelköper geachtet, weshalb kleinere<br />
und größere Feliden (z. B. Felis sylvestris,<br />
Panthera tigris), marine Raubtiere und<br />
verschiedene Bärenartige aus der Auswahl<br />
herausgenommen wurden. Eine Aufstellung<br />
der verwendeten Tiere findet sich in<br />
Tabelle 1.<br />
Um die Gefahr der Wertung einer individuellen<br />
Varianz als spezifisches Merkmal<br />
gering zu halten, wurden soweit möglich<br />
drei Individuen einer Art untersucht.<br />
Die Individuen wurden nach ihrem Alter<br />
und ihrer Geschlechtszugehörigkeit ausgesucht,<br />
allerdings mussten die Ansprüche<br />
teilweise den tatsächlichen Sammlungsbeständen<br />
der AZA Kiel angepasst werden.<br />
Die Wirbel stammen dementsprechend<br />
überwiegend von adulten Männchen<br />
(Alter von Canis lupus und Vulpes vulpes<br />
jeweils ca. drei Jahre). Es wurden aber auch<br />
vereinzelt weibliche Tiere herangezogen.<br />
Das Alter der Wölfe (Canis lupus) ist durch<br />
Dokumentation des Geburts- und Todeszeitpunktes<br />
bekannt, die Füchse (Vulpes<br />
vulpes) waren in der Vergangenheit Gegenstand<br />
einer Studie zur Altersbestimmung<br />
anhand der Reißzähne (Blohm 1984). Die<br />
restlichen Individuen wurden anhand des<br />
Zustandes ihrer Knochen (geschlossene<br />
Epiphysenfugen, keine deutlichen Abnutzungserscheinungen<br />
an Knochen und<br />
Zähnen) ausgewählt. Wo es möglich war,<br />
mehrere Individuen gleichen Alters und<br />
Geschlechtes einer Art für die Untersuchung<br />
heranzuziehen, wurden Tiere der<br />
gleichen oder einer ähnlichen Gewichtsklasse<br />
ausgewählt. Von zwei der drei Haushunde-Rassen<br />
(C. l. familiares), den größeren<br />
Feliden (P. pardus, Puma concolor) und<br />
Cuon alpinus konnte allerdings jeweils nur<br />
ein Individuum herangezogen werden; der<br />
Puma concolor ist als Jungtier einzustufen<br />
(Epiphysenfugen nicht geschlossen, Gelenkflächen<br />
bei der Präparation größtenteils<br />
abgefallen).<br />
Die Haushunde-Rassen wurden nach<br />
ihrer phänotypischen Ähnlichkeit (Größe,<br />
Körperbau) zum Wolf ausgewählt und verschiedene<br />
Nutzungsklassen (Ostrander &<br />
Wayne 2006) einbezogen. Der Grönländische<br />
Schlittenhund wird als basale Rasse<br />
angesehen und zeigt große genetische<br />
Ähnlichkeit zum Wolf, während Deutsche<br />
Schäferhunde einem anderen genetischen<br />
Cluster angehören (Parker & Ostrander<br />
2005). Jagdhunde konnten nicht in<br />
die Studie aufgenommen werden. Die im<br />
AZA Kiel vorhandenen zwei Deutsch-<br />
Kurzhaar-Exemplare (einzige dort vorhandene<br />
Jagdhunde-Rasse in entsprechender<br />
Größe) liegen nur ohne Geschlechtsangabe<br />
resp. mit starken osteologischen Veränderungen<br />
(Spondylosis deformans mit<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
84 Anna-Dinah Eßer<br />
Knochenwucherungen) vor.<br />
Die meisten in die Studie eingeschlossenen<br />
Tiere stammen aus Gefangenschaft<br />
(Zoo, Tierpark) respektive menschlicher<br />
Zucht (ausgenommen Vulpes vulpes, Puma<br />
concolor und Meles meles, die als Wildtiere<br />
erlegt wurden). Die Herkunft des Cuon alpinus<br />
(Rothund) ist unklar, ist aber in einem<br />
Zoo oder Tierpark zu vermuten.<br />
Um einen genaueren Vergleich zu ermöglichen<br />
und eine potentielle spätere<br />
Weiterbearbeitung und Ergänzung zu<br />
Tab. 1 Aufstellung der untersuchten Individuen und Arten;<br />
* = Gesamtlänge mit Schwanz [mm]; Zahlen ohne * = Gesamtlänge ohne Schwanz; (?) = keine Angabe, ob<br />
Gesamt- oder Kopf-Rumpf-Länge; + = ohne Fell; k. A. = keine Angaben; G. = geschossen<br />
SaNr<br />
AZA<br />
Art<br />
Geschl.<br />
Alter<br />
Kopf-<br />
Rumpf-<br />
Länge<br />
[mm]<br />
Gewicht<br />
[g]<br />
Herkunft<br />
31831 Canis lupus m 38 Monate 1720* 45800 Institut für Haustierkunde, Kiel<br />
18491 Canis lupus m 36 Monate 1180 30800 Tierpark Dähhölzli, Bern<br />
19960 Canis lupus m 32 Monate 1160 37000 I.f.H. Kiel<br />
33469 Cuon alpinus w adult 1340* 16200 G. im Raum Köln<br />
32019 Panthera pardus w adult 2010* 20000 Zoo Osnabrück<br />
B130 Puma concolor m juvenil k. A. k.A. G. in Amerika?<br />
15596 Vulpes vulpes m 35 Monate 680 5830 G. in Bargstedt<br />
17127 Vulpes vulpes m 33 Monate 730 7590 G. in Edewecht/Oldenburg<br />
6779 Vulpes vulpes m 35 Monate 1115* 5780+ G. in Pretz, Klosterförsterei<br />
32249 Meles meles m subadult-adult 860* 10500 G. in Fargau, Kreis Plön<br />
27304 Meles meles m adult 1020* 14300 G. in Schönkirchen, Kr. Plön<br />
25077 Meles meles m adult 930(?) 14500 G. in Salzau<br />
33513 Lynx lynx m adult 1080(?) 13340 Wildpark Schwarze Berge, HH<br />
21982 Lynx lynx w adult 1086* 19100 Tiergarten Neumünster<br />
32928 Lynx lynx w adult 1210* 16200 Wildpark Schwarze Berge, HH<br />
17913 C. l. lycaon m adult 1170 37700 k.A.<br />
19813 C. l. lycaon m adult 1280 47100 Tiergarten Augsburg<br />
8134 C. l. familiares m adult 1580* 58500 Grönland<br />
(Grönl. Schlittenhund)<br />
2018 C. l. familiares m adult k. A. k. A. Kiel<br />
(Howavart)<br />
21840 C. l. familiares m adult <strong>152</strong>0* 28100 Kiel<br />
(Schäferhund)<br />
21907 C. l. familiares<br />
(Schäferhund)<br />
m adult 1670* 37900 Kiel<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
85<br />
vereinfachen, wurden Messwerte nach<br />
den Richtlinien und Methoden von v. d.<br />
Driesch (1976) erhoben und ergänzt (Abb.<br />
8). Die Messungen wurden mit Hilfe einer<br />
Schieblehre (150 × 0,05 mm, ohne Herstellerangabe)<br />
vorgenommen. Von der<br />
Verwendung weiterer Hilfsmittel wurde<br />
abgesehen, um die Messungen für Archäozoologen<br />
im Feld mit einfachen Mitteln<br />
und zudem auch für Amateurpaläontologen<br />
nachvollziehbar zu gestalten. Es wurde<br />
wenn möglich immer die rechte Körperseite<br />
des Tieres vermessen.<br />
Soweit möglich, wird der Messschieber<br />
parallel zum Wirbelkörper gehalten, respektive<br />
auf den Wirbelkörper aufgelegt (z.<br />
B. bei der Vermessung der Höhe des Wirbelkörpers<br />
cr/cd). Bei der Messung der<br />
Höhe wird der ventrale Teil auf eine Linie<br />
gebracht und von dieser Position aus die<br />
Gesamthöhe inklusive des Dornfortsatzes<br />
vermessen. Sollte der Messschieber in seinen<br />
Maßen nicht ausreichen oder nicht an<br />
schwer zugängliche Stellen gelangen können,<br />
wird ein stabiler, gerader Gegenstand<br />
als Verlängerung zu Hilfe genommen.<br />
Dessen Dicke muss hinterher vom Messwert<br />
abgezogen werden. So lässt sich z. B.<br />
auch die Gesamthöhe eines Wirbels mit<br />
stark abgewinkeltem Dornfortsatz oder<br />
starkem Gefälle in der Ventralseite korrekt<br />
messen.<br />
Die Messungen wurden zweimal von<br />
der Autorin und einmal von einer Helferin<br />
(Sashima Läbe, Studentin der Geologie<br />
und Wirbeltierpaläontologie, jetzt Universität<br />
Bonn) nach den Vorgaben der Autorin<br />
vorgenommen. Abweichungen in den<br />
Messungen wurden größtenteils nur im<br />
Millimeterbereich festgestellt.<br />
Abweichungen von mehr als 1,3 mm<br />
wurden aus der Auswertung gestrichen,<br />
ebenso Werte, die aufgrund von Beschädigungen<br />
des Knochens oder morphologischer<br />
Veränderungen (wie Verwachsungen<br />
und/oder Fusion) nicht korrekt gemessen<br />
werden konnten. Durch diese Streichungen<br />
sollten grobe Fehlerwerte in den Medianen<br />
durch Falschmessungen vermieden<br />
werden. Die Mediane der Messungen an<br />
den einzelnen Tieren wurden für die Erstellung<br />
von Indices herangezogen. Diese<br />
Indices können zur Unterstützung bei der<br />
Zuordnung der Wirbel zu bestimmten Positionen<br />
bzw. der Zuordnung zu den Arten<br />
dienen.<br />
Das Skelett des Panthera pardus weist<br />
stellenweise osteologische Veränderungen<br />
(zerfressen wirkende Facies articulares und<br />
Knochenwucherungen) auf. Diese Veränderungen<br />
wurden bei den Messungen<br />
nicht mit eingeschlossen bzw. bei stärkerer<br />
Veränderung des Knochens wurde der<br />
Abb. 8 Beispiel für Messpunkte nach v. d. Driesch<br />
(1976); Lumbalwirbel, Aufsicht cranial<br />
Beispiel für die Messpunkte:<br />
BPtr – (größte) Breite der Processus transversi<br />
(exakt messbar, wenn Wirbel intakt).<br />
BF (cr/cd) – (größte) Breite der Facies terminalis<br />
cranialis (bei Thorakalwirbeln inklusive der Rippenansatzsstellen)<br />
bzw. caudalis (auf der Abbildung<br />
nicht sichtbar).<br />
HF (cr/cd) – (größte) Höhe der Facies terminalis<br />
cranialis bzw. caudalis (wegen Verwachsungen etc.<br />
häufig schwierig zu messen).<br />
H – (größte) Höhe.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
86 Anna-Dinah Eßer<br />
betroffene Messpunkt aus der Analyse herausgenommen.<br />
Die Fuchs- und Dachsskelette sind teilweise<br />
beschädigt. Ein Teil dieser Beschädigungen<br />
wurde durch Kugeln respektive<br />
Schrote verursacht, mit denen die Tiere<br />
erlegt wurden. Einige Wirbel eines Fuchses<br />
(Nummer 6779) wurden bei der Präparation<br />
nicht voneinander getrennt, so<br />
dass Messpunkte unberücksichtigt bleiben<br />
mussten.<br />
Bei der morphologischen Benennung<br />
der Wirbel wurden tiermedizinische Bezeichnungen<br />
verwendet. Die Beschreibungen<br />
für den Bestimmungsschlüssel wurden<br />
auf Begriffen aus der Botanik (Fitschen<br />
2002) aufgebaut und durch eigene Ideen<br />
ergänzt, da entsprechende genaue, einheitliche<br />
Beschreibungen aus der Tiermedizin<br />
und Zoologie fehlen (Zeichnungen der<br />
Beschreibungsbegriffe siehe Anhang).<br />
Die Quartärsammlung des<br />
Niedersächsischen Landesmuseums<br />
Hannover (NLMH)<br />
Die Quartärsammlung des NLMH besteht<br />
aus Knochen und Knochenfragmenten,<br />
die in Kiesen der Region Hannover<br />
gefunden wurden. Ein großer Teil dieser<br />
Knochen stammt aus den Leinekiesen<br />
der südlichen Leine-Aue. Die Zuordnung<br />
der Knochen zu einem bestimmten<br />
Stratum ist meist nicht möglich, da viele<br />
Stücke von Flüssen transportiert und dabei<br />
nicht nur beschädigt, sondern auch aus<br />
ihren ursprünglichen Lagerstätten herausgerissen<br />
und durcheinander gemischt wurden.<br />
Auch die Situation beim Fund trägt<br />
nicht zu einer Datierung bei, da die meisten<br />
Stücke aus Kieswerken stammen (z. B.<br />
Hemmingen und Koldingen), die mit Bagger<br />
und Saugschlauch den Kies abbauen.<br />
Dies macht eine Zuordnung zu einer bestimmten<br />
Schicht nahezu unmöglich. Es<br />
liegen keine kompletten Skelette vor und<br />
kaum Überreste von kleineren Tieren wie<br />
Hasen und Mardern. Auch Vogelknochen<br />
sind sehr rar in der Sammlung; zudem sind<br />
überhaupt keine Teile von Fischskeletten<br />
enthalten.<br />
Die Erhaltung der Knochen ist meist<br />
sehr schlecht. Aufgrund der vorhandenen<br />
Artbestimmungen und des Alters der Funde<br />
lässt sich dennoch eine grobe Zuordnung<br />
der Knochen in die Zeit zwischen<br />
dem Ende des Pleistozäns und dem Flandrischen<br />
Interglazial (rezent) vornehmen.<br />
Der größte Teil der Sammlung stammt<br />
von privaten Sammlern, die ihre Funde<br />
gestiftet haben. Besonders hervorzuheben<br />
sind hierbei Herr Weidehaus und Herr<br />
Kroll. Die Sammlung umfasst mehr als<br />
3000 Knochen von verschiedenen Arten,<br />
unterschiedlichen Altersstufen und anatomischen<br />
Positionen.<br />
Ergebnisse*<br />
Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />
sieben mit Hilfe eines Index<br />
Als Beispiel für die mit den Messwerten<br />
* Anmerkung: Für eine bessere Übersicht<br />
im Schlüssel werden ab hier nur noch die Artnamen<br />
kursiv geschrieben.<br />
erzielten Ergebnisse werden die Halswirbel<br />
drei bis sieben jeweils mit dem BFcr/<br />
HFcr Index (Breite der Facies articularis<br />
cranialis mal 100 geteilt durch die Höhe<br />
der Facies articulares cranialis; Bezeichnungen<br />
s. Abb. 8) angeführt. Es erfolgt<br />
eine Zuordnung zur Familie, zur Gattung<br />
und zur Art. Auf diese Weise lassen sich<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
87<br />
auch die anderen Messwerte bearbeiten, jedoch<br />
bietet der BFcr/HFcr-Index jeweils<br />
die deutlichsten Ergebnisse. Allen Indices<br />
und Messwerten ist gemein, dass sie<br />
teilweise deutliche Überschneidungen der<br />
Werte bei verschiedenen Familien, Gattungen<br />
oder Arten zeigen.<br />
Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />
sieben zur Familie<br />
Die Zuordnung zu den Familien mit<br />
Hilfe der Messwerte ist mit den Mittelwerten<br />
aller berechneten Indices zu erreichen.<br />
Am besten geeignet sind die Indices<br />
von BFcr/HFcr (Breite Facies articularis<br />
cranialis/Höhe Facies articularis cranialis)<br />
und BFcd/HFcd (Breite Facies articularis<br />
caudalis/Höhe Facies articularis caudalis),<br />
da diese Werte meist auch bei stark beschädigten<br />
Wirbeln messbar sind. Doch<br />
auch hier zeigen zumindest die minimalen<br />
und maximalen Werte der Indices der Familien<br />
Überschneidungen.<br />
Der BFcr/HFcr-Index zeigt bei den Canidae<br />
ein deutliches Gefälle im Verlauf der<br />
250<br />
Halswirbelsäule; das bedeutet, dass sich<br />
das Beiten/Höhen-Verhältnis der Facies<br />
articulares craniales vom dritten bis siebten<br />
Halswirbel ändert. Die Messwerte und<br />
deutlicher deren Mediane zeigen eine Abnahme<br />
der Breite und eine Zunahme der<br />
Höhe. Die Wirbelköpfe der Canidae werden<br />
folglich im Verlauf der Halswirbelsäule<br />
zwischen dem dritten und siebten Wirbel<br />
höher und schmaler.* Bei Musteliden<br />
und Feliden lässt sich dieser Trend nicht<br />
ablesen. Der Mittelwert des Index steigt<br />
bei den vermessenen Mustelidae zunächst<br />
am vierten Halswirbel leicht an, bevor er<br />
ebenso wie bei den Canidae abnimmt. Bei<br />
den Felidae nimmt der Mittelwert des Index<br />
dagegen beim vierten Halswirbel ab<br />
und steigt beim fünften Halswirbel nochmals<br />
an. Die Index-Mittelwerte des sechsten<br />
und siebten Halswirbels der Felidae<br />
* Die genauen Messwerte können von der<br />
Website www.N-G-H.org heruntergeladen<br />
werden.<br />
Abb. 9 Zuordnung der Halswirbel drei bis sieben<br />
zu den angegebenen Familien mit Hilfe des BFcr/<br />
HFcr-Index.<br />
Indexwerte<br />
200<br />
150<br />
100<br />
155,8<br />
142,7<br />
128,7<br />
116,6<br />
107,1<br />
188,1<br />
191,3<br />
181,7<br />
170,9<br />
156,2<br />
179,3<br />
172,3<br />
175,2<br />
161,6<br />
161,3<br />
50<br />
0<br />
3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />
Canidae Mustelidae Felidae<br />
Canoidea<br />
Feloidea<br />
Familie und Wirbelnummer<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
88 Anna-Dinah Eßer<br />
sind niedriger als die der anderen Wirbel,<br />
unterscheiden sich jedoch nur geringfügig<br />
voneinander, wobei der Mittelwert des<br />
siebten Halswirbels um 0,3 unter dem des<br />
sechsten liegt (s. Abb. 9).<br />
Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />
sieben zu einer Gattung<br />
Der BFcr/HFcr-Index zeigt bei allen<br />
Hundeartigen eine deutliche Abnahme<br />
im Verlauf der Halswirbelsäule. Bei<br />
den Katzenartigen ist dies nicht so deutlich<br />
der Fall. Der dritte, vierte und fünfte<br />
Halswirbel von Cuon (Rothund) und alle<br />
angegebenen Wirbel von Meles (Dachs)<br />
lassen sich in Bezug auf ihre Indexwerte<br />
nicht deutlich von den Feloidea trennen (s.<br />
Abb. 10). Cuon zeigt zudem eine Zunahme<br />
des Indexwertes am siebten im Vergleich<br />
zum sechsten Halswirbel, wie es auch<br />
beim Luchs (Lynx) der Fall ist. Auch die<br />
Indexwerte des dritten, vierten und fünften<br />
Halswirbels bei Canis (Wolf, Timberwolf<br />
und Haushunde) zeigen Überschneidungen<br />
mit den Werten der Feliden. Die<br />
Werte des Jaguars (Panthera) zeigen eine<br />
klare Abweichung zu den anderen Gattungen.<br />
Hier bleibt der Index und damit das<br />
Verhältnis der Breite zur Höhe der Facies<br />
articulares craniales im Verlauf der Wirbelsäule<br />
nahezu gleich (Abnahme um weniger<br />
als 1, s. Abb. 10). Auch die Gattung Puma<br />
zeigt einen deutlichen Unterschied zu den<br />
anderen Gattungen. Vom dritten bis fünften<br />
Halswirbel steigt der Indexwert BFcr/<br />
HFcr, um posterior stark abzufallen. Bei<br />
dem untersuchten Tier ist der fünfte Halswirbel<br />
somit der im Verhältnis breiteste<br />
(in Bezug auf Halswirbel drei bis sieben).<br />
Auch bei Vulpes scheint der fünfte Halswirbel<br />
verhältnismäßig breiter zu sein als<br />
der vierte.<br />
Abb. 10 Zuordnung der Halswirbel drei bis sieben<br />
zu den angegebenen Gattungen mit Hilfe des BFcr/<br />
HFcr-Index.<br />
250<br />
200<br />
150<br />
Indexwert<br />
100<br />
50<br />
0<br />
3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />
Canis Vulpes Cuon Meles Lynx Panthera Puma<br />
Canidae Mustelidae Felidae<br />
Canoidea<br />
Feloidea<br />
Gattung und Wirbelnummer<br />
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Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
89<br />
Auf eine Angabe der Indexwerte in der<br />
Abbildung wird verzichtet, um eine bessere<br />
Lesbarkeit zu gewährleisten.<br />
Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />
sieben zu einer Art<br />
Als Beispiel für die Zuordnung zu einer<br />
Art dienen wiederum die Mittelwerte<br />
des BFcr/HFcr-Index. In Kombination<br />
mit anderen Merkmalen ist es möglich,<br />
die Wirbel einer Position und einer Art<br />
zuzuordnen. Aufgrund vieler Überschneidungen<br />
der Werte gelingt dies jedoch allein<br />
anhand des Index nicht. Innerhalb der<br />
Gattungen lassen sich an den Mittelwerten<br />
der Indices Unterschiede feststellen.<br />
Die einzelnen Wirbel der Haushunde (C.<br />
l. familiares) heben sich deutlich voneinander<br />
und von den äquivalenten Wirbeln des<br />
Wolfes (C. lupus) und des Timberwolfes<br />
(C. l. lycaon) ab (Abb. 11).<br />
Alle weiteren Tiere (Vulpes vulpes =<br />
Fuchs, Cuon alpinus = Rothund, Meles meles<br />
= Dachs, Lynx lynx = Luchs, Panthera pardus<br />
= Jaguar, Puma concolor = Puma) zeigen<br />
das gleiche Bild wie bei der Zuordnung<br />
zur Gattung (Abb. 10), da jeweils nur ein<br />
Gattungsmitglied in die Studie einbezogen<br />
wurde. Die Facies articulares craniales des<br />
sechsten und siebten Wirbels des Jaguars<br />
(P. pardus) konnten aufgrund starker osteologischer<br />
Veränderungen nicht in die Analyse<br />
aufgenommen werden (z. B. Spondylose,<br />
Osteochondrose).<br />
Trennung auf der Artebene anhand<br />
des PL-Medians<br />
Nicht nur die Indices, sondern auch die<br />
Mediane der Messungen bzw. die Messwerte<br />
selbst lassen sich zur Unterstützung<br />
der Bestimmungen nutzen. Als Beispiel<br />
Abb. 11 Zuordnung der dritten bis siebten Halswirbel<br />
zu einer Art mit Hilfe des BFcr/HFcr-Index.<br />
250<br />
200<br />
150<br />
Indexwerte<br />
100<br />
50<br />
0<br />
3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />
C. lupus fam.<br />
Hovawart<br />
C. lupus fam. C. lupus fam.<br />
Schäferhund Schlittenhund<br />
C. lupus<br />
lycaon<br />
Canis lupus Vulpes vulpes Cuon alpinus Meles meles Lynx lynx Panthera<br />
pardus<br />
Puma<br />
concolor<br />
Canis Vulpes Cuon Meles Lynx Panthera Puma<br />
Canidae Mustelidae Felidae<br />
Canoidea<br />
Art, Wirbelnummer<br />
Feloidea<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
90 Anna-Dinah Eßer<br />
wird hier der Median der Physiologischen<br />
Länge des Wirbelkörpers (PL) aufgeführt.<br />
Die Länge der Cervicalwirbel<br />
Bei den dritten bis siebten Cervicalwirbeln<br />
lässt der PL-Median eine kontinuierliche<br />
Abnahme der Wirbelkörperlänge<br />
erkennen. Ausnahmen bilden hier die<br />
Dachse (Meles meles), deren siebter Halswirbel<br />
ungefähr gleich lang bleibt wie der<br />
sechste, und die größeren Katzen Panthera<br />
pardus ( Jaguar) und Puma concolor (Puma).<br />
Der Verlauf der Wirbellänge des Jaguars<br />
konnte nicht vollständig dokumentiert<br />
werden, da die Facies articularis der letzten<br />
Halswirbel osteologisch verändert sind,<br />
so dass eine exakte Messung der PL nicht<br />
möglich war. Bei diesem Tier ist der fünfte<br />
Halswirbel jedoch länger als der vierte.<br />
Beim Puma nimmt die Wirbellänge erst<br />
am sechsten Halswirbel nochmals zu, um<br />
am siebten Halswirbel wieder geringer zu<br />
werden (siehe Abb. 12).<br />
Zusammenfassung der mit Hilfe der<br />
Messwerte erzielten Ergebnisse<br />
Das Problem bei der Zuordnung von<br />
Wirbeln zu einer systematischen Gruppe<br />
oder zu einer Position innerhalb der Halswirbelsäule<br />
ist die Überschneidung der<br />
Werte. Minimalwerte der einen Gruppe<br />
überschneiden sich mit Maximalwerten einer<br />
anderen und lassen so keine signifikante<br />
Trennung zu. Es ist eine größere Stichprobe<br />
erforderlich, um signifikante Werte<br />
erreichen zu können.<br />
Bestimmungsschlüssel<br />
Traditionell erfolgt die Orientierung eines<br />
Wirbels mit der cranialen Seite nach<br />
links weisend, ventral zeigt nach unten.<br />
Anhand der Form der Enden des Corpus,<br />
den Facies terminalis, lässt sich im Allgemeinen<br />
die Ausrichtung der Wirbel recht<br />
Abb. 12 Mittelwerte des PL-Medians der dritten<br />
bis siebten Halswirbel auf Artebene.<br />
40<br />
35<br />
30<br />
Mittelwert [mm]<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />
C. lupus<br />
fam.<br />
C. lupus fam. C. lupus fam.<br />
Schäferhund Schlittenhund<br />
C. lupus<br />
lycaon<br />
Canis lupus<br />
Cuon<br />
alpinus<br />
Vulpes<br />
vulpes<br />
Meles meles Lynx lynx Panthera<br />
pardus<br />
Puma<br />
concolor<br />
Canis Cuon Vulpes Meles Lynx Panthera Puma<br />
Canidae Mustelidae Felidae<br />
Canoidea<br />
Art, Wirbelnummer<br />
Feloidea<br />
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Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
91<br />
gut bestimmen: Dorsal „offene“ (nach oben<br />
zeigende) Gelenkflächen (Facies articularis)<br />
liegen cranial, nach unten zeigende F.<br />
articularis nach caudal. Eine Variation bieten<br />
hier die Wirbel der Lendenwirbelsäule<br />
(Vertebrae lumbales), deren Facies cranial<br />
konvex nach oben geöffnet sind und caudal<br />
konkav zur Seite zeigen. Ventral („unten“)<br />
befindet sich oft eine Leiste, die Crista ventralis,<br />
niemals aber ein ausgeprägter Dornfortsatz.<br />
Dorsal („oben“) ist die Seite, die<br />
nur eine schmale Verbindung zum Corpus<br />
vertebrae hat und über dem Foramen vertebrale<br />
liegt (= Arcus vertebrae). Meist trägt<br />
sie einen mehr oder weniger ausgeprägten<br />
Dornfortsatz (Processus spinalis).<br />
Die Zuordnung zu einer bestimmten Art<br />
bzw. einem Wirbelsäulenabschnitt erfolgt<br />
nach der in der Paläozoologie gängigen<br />
Methode des „die-meisten-Treffer-sind<br />
das-wahrscheinlichste-Ergebnis“-Prinzips.<br />
Hat man beispielsweise sechs mögliche<br />
Ergebnisse und vier davon zeigen auf<br />
„Canoidea, Canis sp. und Canis lupus“, so<br />
ist davon auszugehen, dass Canis lupus<br />
das richtige Ergebnis ist. Aufgrund der<br />
beschränkten Anzahl von möglichen<br />
Bestim mungsmerkmalen und der nicht<br />
auszuschließenden Subjektivität kann<br />
kein Schlüssel erstellt werden, der nach<br />
der Merkmalsabfolge nur einen Schluss<br />
zulässt.<br />
Die Schlüssel richten sich hauptsächlich<br />
an Merkmalen aus, die auch bei beschädigten<br />
Wirbeln im Normalfall gut erhalten<br />
bleiben. Eine Ausnahme bildet die<br />
Form des Processus spinalis, der vor allem<br />
bei Umlagerung der Wirbel (z. B. durch<br />
Wasser oder Tiere) leicht beschädigt wird.<br />
Die Beschreibung seiner Form wird nur in<br />
Ausnahmefällen und zur Ergänzung der<br />
anderen Merkmale im Schlüssel angewendet.<br />
Erklärung der im Schlüssel verwendeten<br />
Symbole:<br />
√ = vorangegangene Aussage trifft zu<br />
X = Aussage trifft nicht zu<br />
= weiter mit bzw. deutet auf …<br />
♦ = weitere Unterscheidung des vorher<br />
genannten Merkmals<br />
+/– = annähernd, in etwa<br />
∅ = Durchmesser<br />
Eine Untergliederung (z. B. 4.1, 4.2, 4.2a)<br />
dient der Differenzierung eines Merkmals<br />
oder der Unterscheidung zweier sich<br />
ähnelnder Arten. Wird keine Angabe zum<br />
nächsten zu überprüfenden Merkmal gemacht<br />
(z. B. von Merkmal 2) 4.2), ist<br />
nach der Reihenfolge der Nennungen vorzugehen.<br />
Verwendete morphologische Bezeichnungen<br />
beziehen sich auf die Ausführungen<br />
im einleitenden Teil der Arbeit und<br />
sind auch im Glossar (Anhang) nachzuschlagen.<br />
Skizzen zu den beschreibenden<br />
Begriffen (wie halbnierenförmig) befinden<br />
sich ebenfalls im Anhang.<br />
Verwendete Abkürzungen im Schlüssel:<br />
V. = Vertebrales<br />
F. = Foramen<br />
Cran. bzw. crann. / caud. bzw. caudd. = Singular<br />
bzw. Plural von cranialis bzw. caudalis<br />
Proc. / Procc. = Singular / Plural von Processus<br />
LCDe/H-Index = Länge des Corpus, inklusive<br />
des Dens × 100 geteilt durch die<br />
Höhe des gesamten Wirbels<br />
Generell folgt der Schlüssel dem Mehrheitsprinzip.<br />
Je häufiger die Zuordnung zu<br />
einer Art erfolgt, desto wahrscheinlicher<br />
ist dies die korrekte Zuordnung. Dabei<br />
wird davon ausgegangen, dass alle Merkmale<br />
zunächst gleichwertig zu behandeln<br />
sind.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
92 Anna-Dinah Eßer<br />
Zuordnung zu den<br />
Wirbelsäulenabschnitten<br />
1) Wirbel ohne ventral liegendem Corpus,<br />
ohne Processus spinalis, mit Alae atlantis<br />
√ Atlas<br />
X alle anderen 2)<br />
2) Wirbel lang gestreckt mit durchgehendem<br />
Processus spinalis, cranial +/- spitz<br />
zulaufend, caudal breit mit Facies terminalis<br />
und F. articulares caud., Dens vorhanden<br />
√ Axis<br />
X V. cervicales (ohne Atlas/Axis),<br />
thoracales, lumbales, sacrales 3)<br />
3) Wirbel mit Rippenansatzstellen (Fovea<br />
costales crann. + caudd.)<br />
√ V. thoracales<br />
X V. cervicales, lumbales, sacrales 4)<br />
4) Wirbel mit mehrteiligem Aufbau auf<br />
Arcus dorsalis, meist mehrere Wirbel miteinander<br />
verschmolzen, Foramen vertebralis<br />
sehr flach, Procc. transversarii bilden<br />
breite Fläche neben Corpus (Sichtvergleich<br />
hier, ebenso wie bei Atlas und Axis,<br />
sinnvoll)<br />
√ V. sacrales<br />
X V. cervicales, V. lumbales 5),<br />
V. thoracales 3)<br />
5) Ausgeprägter Dornfortsatz (Processus<br />
spinalis), konvex/konkav geformte F. articulares<br />
crann./caudd., Processus transversarius<br />
+/- nach cranial gerichtet<br />
√ V. lumbales<br />
X V. cervicales 6), V. thoracales <br />
3)<br />
6) Wirbelbogen breit, flach, F. articulares<br />
crann./caudd. nach oben resp. unten<br />
zeigend, wenig bis gar keine Neigung, mit<br />
kleinem, nach caudal zeigendem oder ganz<br />
ohne Proc.transversus<br />
√ V. cervicales<br />
X V. lumbales 5), V. thoracales 3)<br />
7) Nichts von alledem<br />
potentiell Schwanzwirbel (V. caudales)<br />
Position innerhalb der Abschnitte<br />
Eine Positionsbestimmung ist innerhalb<br />
der drei sich ähnlich sehenden Halswirbel<br />
(Atlas, Axis und siebter. Halswirbel ausgenommen)<br />
bei den meisten Arten nicht<br />
einfach. Einige allgemeine Anmerkungen<br />
sollen deshalb hier bei der ersten Einordnung<br />
helfen, während die genaue Zuordnung<br />
zu einer Position innerhalb des<br />
Schlüssels für die Halswirbel durch die<br />
Zusammensetzung der Merkmale geschehen<br />
muss.<br />
Der dritte bis fünfte Halswirbel der Carnivora<br />
trägt normalerweise eine Crista<br />
ventralis (kann auch nur cranial oder caudal<br />
vorhanden sein), die bei dem sechsten<br />
und siebten Halswirbel nicht vorhanden<br />
ist. Der Dornfortsatz wird caudad länger,<br />
während die Wirbelkörper selbst kürzer<br />
werden. Die Procc. transversus werden<br />
vom dritten bis fünften Halswirbel deutlich<br />
breiter, der sechste Halswirbel besitzt<br />
plattenförmig verbreiterte Procc. transversus.<br />
Das Foramen transversarium wird im<br />
Verlauf der Halswirbelsäule breiter. Der<br />
siebte Halswirbel weist allerdings kein<br />
Foramen transversarium auf. Dieser Wirbel<br />
hebt sich in seiner Form deutlich von<br />
den anderen Wirbeln ab. Sein Körper ist<br />
sehr schmal und hat einen hohen Dornfortsatz,<br />
aber nur sehr kurze und schmale<br />
Procc. transversus. Bei einigen Arten trägt<br />
der siebte Halswirbel caudal Rippenartikulationsstellen.<br />
Schlüssel für die einzelnen<br />
Halswirbel<br />
Atlas<br />
1) Foramen alare vorhanden<br />
√ Dachs (Meles meles) oder Herbivore<br />
X Weiter mit 2)<br />
2) Foramen transversarium beginnt lateral<br />
neben Facies articulares caudales und tritt<br />
in der Ala atlantis wieder aus<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
93<br />
√ Feloidea 3), Mustelidae 1)<br />
X Canis, Vulpes 6)<br />
3) GL kleiner als 4 cm<br />
√ Lynx lynx, kleinere Katzenartige<br />
(Felis sylvestris z. B.) 5)<br />
X Größere Katzenartige 4)<br />
(evtl. besser durch Index, wegen<br />
Jungtieren)<br />
4) Arcus dorsalis deutlich mit spitzem<br />
Fortsatz caudal<br />
√ Puma concolor<br />
X Panthera pardus ( Überprüfung<br />
an anderen Exemplaren wäre notwendig!)<br />
4.1) Mündung des Foramen transversarium<br />
innen im Arcus dorsalis > 0,3 mm<br />
√ Puma concolor<br />
X Panthera pardus<br />
4.2) Arcus dorsalis cranial deutlich spitz<br />
eingekerbt<br />
√ Puma concolor<br />
X Panthera pardus<br />
4.3) Arcus dorsalis caudal mittig<br />
abgerundeter bis zugespitzter Fortsatz<br />
√ Panthera pardus<br />
X Puma concolor?<br />
Insgesamt ist 4.3 als wenig geeignetes<br />
Merkmal zu bezeichnen. Die Form des<br />
Fortsatzes kann von der physischen Verfassung<br />
abhängig sein und der Fortsatz<br />
selbst kann bei beschädigten Wirbeln<br />
fehlen.<br />
5) Alae atlantis cranial an den Spitzen tiefer<br />
gezogen als die Verbindungsstelle mit<br />
dem Corpus, z. T. nach medial eingebogen<br />
√ Felis sylvestris<br />
X +/– eine Höhe mit der<br />
Verbindung zum Corpus: Lynx lynx<br />
6) Bezieht sich auf Canoidea mit Ausnahme<br />
von Meles (Dachs):<br />
6.1) GL < 29 mm<br />
√ Vulpes vulpes oder kleiner<br />
Haushund<br />
X Größerer Canoidea<br />
6.2) Foramen transversarium ohne sichtbaren<br />
Durchtritt zum Inneren des Arcus<br />
dorsalis<br />
√ Cuon alpinus, weiteres Merkmal<br />
6.3e)<br />
X Alle anderen untersuchten<br />
Canoidea 6.3)<br />
6.3) Das Foramen transversarium:<br />
6.3a) Foramen transversarium deutlich<br />
durchgehend von lateral nach dorsal,<br />
∅ mehr als 4 mm, mit leicht cranial<br />
liegendem Foramen zur Innenseite des<br />
Wirbelkanals<br />
√ Canis lupus lycaon, Timberwolf<br />
X Andere, 6.3b, e)<br />
6.3b) Foramen transversarium durchgehend<br />
von lateral nach dorsal, bei Aufsicht<br />
von dorsal und ventral mehr oder<br />
weniger schmaler Durchgang sichtbar,<br />
leicht craniad liegendes Foramen zur<br />
Innenseite des Wirbelkanals<br />
√ Canis lupus familiares<br />
X Andere 6.3c, e)<br />
6.3c) Foramen transversarium durchgehend<br />
von lateral nach dorsal, Durchgang<br />
nur bei leichter Schräglage des<br />
Wirbels von lateral und dorsal sichtbar<br />
√ 6.3d)<br />
X 6.3 a, b, e)<br />
6.3d) Foramen transversarium leicht<br />
craniad liegend, langgezogen elliptisch;<br />
Foramen läuft zur Innenseite des Wirbelkanals<br />
√ Canis lupus (Grauwolf )<br />
(Ausnahme: 18491 sinistral)<br />
X Andere, 6.3e)<br />
6.3e) Foramen transversarium rund<br />
♦ Kein deutliches Foramen zur<br />
Wirbelkanalinnenseite <br />
Cuon alpinus<br />
♦ Kleines, aber deutliches Foramen<br />
zur Wirbelkanalinnenseite <br />
Vulpes vulpes<br />
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94 Anna-Dinah Eßer<br />
Axis<br />
1) Form der Facies articularis caudalis<br />
♦ Gestreckt fünfeckig Canoidea<br />
außer Meles meles und Cuon alpinus<br />
♦ Halbnierenförmig Lynx lynx,<br />
Meles meles und Panthera pardus<br />
♦ Gestreckt – sechseckig <br />
Cuon alpinus<br />
♦ Leicht gestreckt sechseckig <br />
Puma concolor<br />
Insgesamt kein verlässliches Merkmal;<br />
weiter mit 2)<br />
2) Beginn des Processus spinalis<br />
♦ +/– auf einer Linie mit dem Dens –<br />
leicht caudad des Dens Canoidea<br />
♦ Caudad – deutlich caudad des Dens<br />
Feloidea<br />
3) Ende des Processus spinalis caudal horizontal<br />
abfallend<br />
√ Canoidea außer Cuon alpinus,<br />
weiter mit 5)<br />
X Alle anderen<br />
3a) Mit einer Ausbeulung caudad <br />
√ Cuon alpinus<br />
3b) Spitz, nicht hochgezogen, craniad<br />
stark eingebuchtet √ <br />
Puma concolor<br />
3c) Ventrad abgerundet, craniad stark<br />
eingebuchtet √ Panthera pardus<br />
3d) Hochgezogen, spitz, craniad eingebuchtet<br />
√ Lynx lynx und Meles<br />
meles, weiter mit 4<br />
4) Crista ventralis durchgehend<br />
√ 4a)<br />
X 5)<br />
4a) Crista ventralis gut ausgeprägt<br />
√ Vulpes vulpes<br />
X 4b)<br />
4b) Crista ventralis wenig ausgeprägt<br />
√ Feloidea, weiter mit 2), 3)<br />
oder 7)<br />
5) Crista ventralis unterbrochen oder nur<br />
teilweise ausgeprägt<br />
√ Canoidea außer Vulpes vulpes,<br />
weiter mit 5a)<br />
X Feloidea und Vulpes vulpes<br />
(siehe 4a) und b)<br />
5a) Mittig unterbrochen, cranial und<br />
caudal stark ausgeprägt<br />
√ C. lupus sp., weiter mit 6)<br />
5b) Wenig ausgeprägt, caudal vorhanden<br />
√ Meles meles<br />
5c) Nicht ausgeprägt, aber cranial<br />
vorhanden<br />
√ Cuon alpinus<br />
6) Aufsicht auf den Processus spinales<br />
caudal<br />
♦ Stumpf weiter mit 6a)<br />
♦ Spitz, nicht gespalten Feloidea<br />
(weiter mit 7) und Meles meles<br />
6a) Gespalten √ Canis lupus<br />
familiaris<br />
X Canis lupus, C. lupus lycaon<br />
und Cuon alpinus<br />
7) Bei Feloidea: LCDe/H-Index unter 130<br />
√ Lynx lynx<br />
X Panthera pardus (+/– 130) und<br />
Puma concolor (+/– 132 beim juvenilen<br />
Tier)<br />
Der Axis der Canis lupus und der Canis<br />
lupus lycaon sind jeweils nicht eindeutig anhand<br />
der untersuchten morphologischen<br />
Merkmale und der Messwerte von der anderen<br />
Art zu trennen.<br />
Restliche Halswirbel<br />
(außer Atlas und Axis)<br />
3. Cervicalwirbel<br />
1) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />
√ Canoidea, weiter mit 2)<br />
X Feloidea und Meles meles,<br />
weiter mit 3)<br />
2) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />
und tailliert<br />
√ Canis sp. weiter mit 4)<br />
X Mit Ausbuchtung craniad<br />
√ Cuon alpinus<br />
X Vulpes vulpes<br />
3) Aufsicht Arcus vertebrae x-förmig<br />
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Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
95<br />
√ Meles meles<br />
X Eher quadratisch bis deutlich<br />
quadratisch Feloidea, weiter mit 4)<br />
4) Crista ventralis durchgehend<br />
√ Weiter mit 4a)<br />
X Tritt bei den untersuchten Tieren<br />
nicht auf<br />
4a) Gut ausgeprägt<br />
√ Vulpes vulpes<br />
X 4b)<br />
4b) Ausgeprägt<br />
√ Canis lupus familiaris, Canis<br />
lupus lycaon (caudad stärker)<br />
X 4c)<br />
4c) Vorhanden (= vorhanden, aber nicht<br />
auffällig deutlich oder schwach)<br />
√ Feloidea<br />
♦ Durchgehend Puma concolor,<br />
Lynx lynx; weiter mit 6)<br />
♦ Caudal zweigeteilt Panthera pardus<br />
X Weiter mit 4d)<br />
4d) Kaum vorhanden (= schwach)<br />
♦ Caudad stark, durchgehend Canis<br />
lupus<br />
♦ Caudad stärker und dreigeteilt <br />
Meles meles<br />
5) Form der Facies articularis caudalis<br />
gestreckt sechseckig<br />
√ Canis sp.(Vulpes: fünf- bis sechseckig),<br />
weiter mit 8)<br />
X Weiter mit 6)<br />
6) Form der Facies articularis caudalis<br />
halbnierenförmig<br />
√ Lynx lynx, Panthera pardus und<br />
Meles meles, weiter mit 6a)<br />
X Weiter mit 7)<br />
6a) Halbnierenförmig mit 2 Crista<br />
ventralis-Enden sichtbar<br />
√ Lynx lynx, Panthera pardus<br />
X Meles meles (mit 3 Crista<br />
ventralis-Enden)<br />
7) Form der Facies articularis caudalis<br />
gestreckt fünfeckig<br />
√ 7a)<br />
X Zurück zu 5) oder anderen Punkt<br />
wählen<br />
7a) Mit deutlichem Crista ventralis-<br />
Ende<br />
√ Vulpes vulpes (kann fünf- oder<br />
sechseckig erscheinen)<br />
X Weiter mit 7b)<br />
7b) Ohne sichtbares Crista ventralis-<br />
Ende<br />
√ Puma concolor<br />
X Zurück zu 5) oder anderen<br />
Punkt wählen<br />
8) Form Processus spinalis<br />
♦ Kaum vorhanden bis vorhanden, im<br />
Bogen durchgehend C .l .familiaris<br />
♦ Ausgeprägt, durchgehend, ab medial<br />
höherer Bogen C .l .lycaon<br />
♦ Ausgeprägt, durchgehend, gleichmäßiger<br />
Bogen Vulpes vulpes<br />
♦ Gut ausgeprägt, durchgehend, Bogen<br />
ca. medial am höchsten C. lupus<br />
♦ Schwach vorhanden, sehr niedriger<br />
Bogen durchgehend Cuon alpinus<br />
♦ Gut ausgeprägt, steigt gleichmäßig<br />
caudad an, abruptes Ende caudal <br />
Meles meles<br />
♦ Gut ausgeprägt, durchgehend, ab<br />
medial steiler Bogen Puma concolor<br />
(könnte beschädigt sein)<br />
♦ Gut bis sehr gut ausgeprägt,<br />
Haifischflossenartig ab kurz hinter<br />
cranial Lynx lynx<br />
♦ Wellenförmig, medial eingebuchtet,<br />
sonst ausgeprägt Panthera pardus,<br />
möglicherweise beschädigt<br />
Die Form des Processus spinalis kann irreführend<br />
sein (Beschädigungen leicht möglich,<br />
da fragil).<br />
4. Cervicalwirbel<br />
1) Aufsicht auf den Arcus vertebrae:<br />
rechteckig, deutlich tailliert<br />
√ Canis sp., Vulpes vulpes; weiter mit 2)<br />
X Alle anderen, weiter mit 1a)<br />
1a) Rechteckig mit Einbuchtung<br />
medial der Procc. articulares craniales<br />
√ Cuon alpinus<br />
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96 Anna-Dinah Eßer<br />
X Anders, weiter mit 1b)<br />
1b) Mehr oder weniger quadratisch<br />
bis trapezförmig<br />
√ Felidae<br />
X Weiter mit 1c)<br />
1c) Breit x-förmig<br />
√ Meles meles<br />
X Zurück zu 1) oder weiter mit 2)<br />
2) Merkmal der Processus articulares<br />
caudales<br />
2a) Deutlich dorsad hochgezogen<br />
√ Canis sp.<br />
X Weiter mit 2b)<br />
2b) Dorsad hochgezogen<br />
√ ulpes vulpes<br />
X Weiter mit 2c)<br />
2c) Wenig dorsad hochgezogen<br />
√ Cuon alpinus, Meles meles,<br />
Panthera pardus; weiter mit 3<br />
X Weiter mit 2d)<br />
2d) Annähernd flach<br />
√ Lynx lynx, Puma concolor<br />
X Zurück zu 2) oder weiter mit 3)<br />
3) Form und Ausprägung der Crista<br />
ventralis<br />
3a) Crista ist vorhanden, caudal<br />
dreigeteilt<br />
√ Meles meles<br />
X Alle anderen, weiter mit 3b)<br />
3b) Crista ist caudal zweigeteilt<br />
√ Cuon alpinus, Lynx lynx,<br />
Panthera pardus, Vulpes vulpes;<br />
♦ Crista ist gut ausgeprägt <br />
Vulpes vulpes<br />
♦ Crista ist vorhanden, nicht<br />
auffällig ausgebildet Lynx lynx,<br />
Panthera pardus<br />
♦ Crista ist kaum vorhanden <br />
Cuon alpinus<br />
X Weiter mit 3c)<br />
3c) Crista ist nicht geteilt, caudad stark,<br />
ansonsten nur gut ausgeprägt<br />
√ Canis sp.<br />
X Crista ist nicht geteilt, durchgehend<br />
vorhanden Puma concolor<br />
4) Form der Facies articulares craniales<br />
gestreckt fünf- bis sechseckig<br />
√ Canis sp.<br />
X Weiter mit 4a)<br />
4a) Form ist fünfeckig<br />
√ Cuon alpinus (oder Canis sp.)<br />
X Weiter mit 4b)<br />
4b) Form ist herzförmig<br />
√ Vulpes vulpes<br />
X Felidae, Meles meles, weiter<br />
mit 4c)<br />
4c) Form ist halbnierenförmig<br />
√ Puma concolor, Lynx lynx<br />
X Form ist nierenförmig <br />
Meles meles, Panthera pardus;<br />
weiter mit 5b)<br />
5) Form der Facies articulares caudales<br />
5a) Sechseckig mit einem deutlichem<br />
Crista ventralis-Ende<br />
√ Canis sp., manchmal Vulpes vulpes<br />
X Weiter mit 5b)<br />
5b) Sechseckig mit zwei deutlichen<br />
Crista ventralis-Enden<br />
√ Cuon alpinus, Vulpes vulpes<br />
X Weiter mit 5c)<br />
5c) Sechseckig ohne sichtbares Crista<br />
ventralis-Ende<br />
√ Puma concolor<br />
X Weiter mit 5c)<br />
5d) Halbnierenförmig mit zwei<br />
sichtbaren Crista ventralis-Enden<br />
√ Lynx lynx, Panthera pardus<br />
X Weiter mit 5d)<br />
5e) Halbnierenförmig mit drei<br />
sichtbaren Crista ventralis-Enden<br />
√ Meles meles<br />
X Zurück zu 5)<br />
5. Cervicalwirbel<br />
1) Aufsicht Arcus vertebrae<br />
1a) Rechteckig, tailliert-schmetterlingsförmig,<br />
lateral leicht hochgezogen<br />
√ Canis sp.<br />
X 1b<br />
1b) Rechteckig, tailliert, evtl. lateral<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
97<br />
leicht hochgezogen<br />
√ Vulpes, Cuon<br />
X 1c<br />
1c) Breit x-förmig<br />
√ Meles meles<br />
X 1d<br />
1d) Mehr oder weniger rechteckig,<br />
nicht tailliert<br />
√ Feloidea<br />
X Zurück zu 1a oder weiter mit 2<br />
2) Crista ventralis<br />
♦ Nicht vorhanden Cuon alpinus<br />
♦ Vorhanden, weiter mit 2a)<br />
2a) Wenig vorhanden, caudal breit<br />
√ Panthera pardus<br />
X Weiter mit 2b)<br />
2b) Schwach ausgeprägt, caudad<br />
dreigeteilt aber flach<br />
√ Meles meles, z. T. Vulpes vulpes 2c)<br />
X Weiter mit 2d)<br />
2c) Gut ausgeprägt, caudad zweigeteilt<br />
√ Vulpes vulpes<br />
X Weiter mit 2d)<br />
2d) Schwach ausgeprägt, caudad<br />
zweigeteilt<br />
√ Lynx lynx, evtl. auch Canis sp.<br />
weiter mit 2e)<br />
X Weiter mit 2e)<br />
2e) Ausgeprägt, caudad zweigeteilt<br />
√ Hovawart, Schäferhund, Wolf<br />
X Weiter mit 2f )<br />
2f ) Ausgeprägt, durchgehend ohne<br />
Teilung<br />
√ Canis sp., Puma concolor<br />
X Zurück zu 2) oder weiter mit 3)<br />
3) Form der Facies articularis cranialis annähernd<br />
rund<br />
♦ Mit 1 bis 2 Crista ventralis Canis sp.<br />
♦ Mit 3 Crista ventralis Vulpes vulpes<br />
♦ Ohne Crista ventralis Cuon alpinus<br />
X Weiter mit 3a)<br />
3a) Halbnierenförmig mit dreifacher<br />
Crista ventralis<br />
√ Meles meles<br />
X Feloidea<br />
3b) Breitelliptisch mit zweifacher<br />
Crista ventralis<br />
√ Lynx lynx<br />
X Weiter mit 3c)<br />
3c) Fünf- bis sechseckig ohne Crista<br />
ventralis<br />
√ Puma concolor<br />
Dieses Merkmal konnte für Panthera<br />
pardus aufgrund osteologisch nicht<br />
deutbarer Abweichungen am ausgeliehenen<br />
Originalmaterial nicht bearbeitet<br />
werden, weiter mit 4).<br />
4) Form der Facies articulares caudales<br />
fünfeckig bis herzförmig<br />
√ Canis sp.<br />
X Weiter mit 4a)<br />
4a) Herzförmig<br />
√ Vulpes vulpes<br />
X Weiter mit 4b)<br />
4b) Sechseckig<br />
√ Cuon alpinus<br />
X Weiter mit 4c)<br />
4c) Nierenförmig<br />
√ Meles meles, Panthera pardus,<br />
weiter mit 2)<br />
X Weiter mit 4d)<br />
4d) Halbnierenförmig<br />
√ Lynx lynx, Puma concolor, Cuon<br />
alpinus; weiter mit 2) oder 3)<br />
X Zurück zu 4 oder 1<br />
Die Spitze des Processus spinalis ist bei<br />
Vulpes und Panthera verbreitert bzw. höckerartig<br />
verdickt.<br />
6. Cervicalwirbel<br />
Beim sechsten und siebten Halswirbel ist<br />
eine Zuordnung aufgrund der dorsalen<br />
Form des Arcus dorsalis oder anderer zuvor<br />
benutzter Merkmale nicht mehr sicher<br />
möglich.<br />
1) Form und Ausprägung der Procc. art.<br />
caudd.: Mit Protuberanz dorsad<br />
√ Canidae und Mustelidae ohne<br />
Cuon alpinus<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
98 Anna-Dinah Eßer<br />
X Weiter mit 1a)<br />
1a) Annähernd flach<br />
√ Cuon alpinus, Panthera pardus<br />
X flach Felidae ohne Panthera<br />
pardus<br />
2) Form des Arcus dorsalis cranial (Negativform)<br />
ausgerandet<br />
√ Canis lupus familiares<br />
X Weiter mit 1a)<br />
2a) Abgerundet<br />
√ Canis lupus lycaon, Canis lupus,<br />
evtl. Cuon alpinus<br />
X Weiter mit 1b)<br />
2b) An den Ecken abgerundetes<br />
Quadrat<br />
√ Lynx lynx<br />
X Weiter mit 1c)<br />
2c) Zugespitzt<br />
√ Meles meles<br />
X Weiter mit 1d)<br />
2d) Trapezförmig<br />
√ Vulpes vulpes<br />
X Weiter mit 1e)<br />
2e) Ungefähr trapezförmig, mit durchhängender<br />
Längsseite<br />
√ Panthera pardus<br />
X 1f<br />
2f ) Ungefähr fünfeckig<br />
√ Puma concolor<br />
X Zurück zu 1) oder weiter mit 3)<br />
3) Form Arcus dorsalis caudal (Negativform)<br />
nahezu flach<br />
√ Lynx lynx<br />
X Weiter mit 3a)<br />
3a) Wellenförmig<br />
√ Puma concolor<br />
X Alle anderen, von V-förmig<br />
über spitz eingekerbt bis abgerundet;<br />
Keine sichere Zuordnung zu einer<br />
Gattung oder Art möglich<br />
4) Crista ventralis vorhanden, sichtbar und<br />
tastbar, durchgehend<br />
√ Vulpes vulpes, Felidae, Canis lupus<br />
lycaon<br />
X Weiter mit 4a)<br />
4a) Durchgehend, aber nur schwach vorhanden<br />
(wenig sichtbar, aber tastbar)<br />
√ Meles meles, Canis lupus familiares,<br />
Canis lupus, Cuon alpinus<br />
5) Facies articulares craniales :<br />
♦ Apfelförmig Canis sp.<br />
♦ Annähernd rund Cuon alpinus<br />
♦ Halbnierenförmig Felidae (für<br />
Panthera pardus kein Urteil möglich)<br />
♦ Nierenförmig Meles meles<br />
♦ Herzförmig Vulpes vulpes<br />
6) Facies articulares caudales annähernd<br />
rund<br />
√ Alle außer Meles meles (diese<br />
haben eine halbnierenförmige F. art.<br />
caud.)<br />
Die Spitze des Processus spinalis ist bei<br />
den Canoidea und Panthera pardus caudad<br />
verbreitert (lanzettlich, pfeil- oder löffelförmig),<br />
bei den anderen Felidae ist keine<br />
auffällige Verbreiterung festzustellen. Bei<br />
Meles meles kann die Spitze auch undifferenziert<br />
höckerig verdickt sein. Bei Puma<br />
concolor fällt die starke Biegung des Processus<br />
(konkav nach cranial, konvex nach<br />
caudal) auf.<br />
7. Cervicalwirbel<br />
1) Facies articulares craniales:<br />
♦ Herzförmig Canoidea ohne Meles<br />
meles und Cuon alpinus<br />
♦ Halbnierenförmig Meles meles,<br />
Lynx lynx<br />
♦ Apfelförmig bis rund Cuon alpinus<br />
♦ Ungefähr fünfeckig Puma concolor<br />
Für Panthera pardus kann keine Aussage<br />
getroffen werden.<br />
2) Facies articulares caudales:<br />
♦ mit deutlicher Rippenartikulationsfläche<br />
Meles meles, Puma concolor <br />
Form ist elliptisch 3)<br />
♦ Rippenartikulationsfläche vorhanden<br />
Canis lupus familiares, teilweise<br />
Vulpes vulpes (nicht Nr. 17217) 2a)<br />
♦ Keine Rippenartikulationsfläche <br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
99<br />
Alle anderen 2a)<br />
2a) Form der Facies:<br />
♦ Elliptisch Vulpes vulpes, Meles<br />
meles, Puma concolor<br />
♦ Rund bis annähernd elliptisch <br />
Canis sp., Cuon alpinus, Lynx lynx,<br />
Vulpes vulpes Nr. 17217<br />
3) Crista ventralis:<br />
♦ deutlich ausgebildet, durchgehend,<br />
caudal breiter werdend Vulpes vulpes<br />
♦ Wenig vorhanden, aber durchgehend<br />
Felidae, Meles meles, ein Canis lupus<br />
lycaon (Nr. 19813)<br />
♦ Nur cranial bis medial vorhanden,<br />
schwach ausgeprägt Canis lupus<br />
♦ Nur cranial vorhanden, schwach<br />
ausgeprägt Canis lupus familiares,<br />
Canis lupus lycaon (Nr. 17913)<br />
♦ Nicht vorhanden Cuon alpinus<br />
4) Form und Ausprägung der Processus<br />
articulares caudales:<br />
♦ Mit kleiner Protuberanz dorsal <br />
Canis sp.<br />
♦ Kleine Protuberanz dorsal Richtung<br />
medial Vulpes vulpes, Meles meles<br />
♦ Keine Protuberanz Lynx lynx,<br />
Panthera pardus<br />
♦ Nur eine Aufrauung dorsal Cuon<br />
alpinus, Puma concolor<br />
Anhand der anderen morphologischen<br />
Merkmale ist keine sichere Zuordnung<br />
möglich.<br />
Abb. 13 Atlas. SaNr. 1054 Dorsalansicht, Pfeil =<br />
Richtung cranial; Maßstab 1 cm.<br />
Abb. 14 Atlas. SaNr. 2483 Dorsalansicht, Pfeil =<br />
Richtung cranial; Maßstab 1 cm.<br />
Nachbestimmung der<br />
Sammlungsstücke<br />
Die in der Sammlung des NLMH enthaltenen<br />
Halswirbel von Carnivoren sind<br />
aufgrund der oben erwähnten taphonomischen<br />
Begleiterscheinungen des eiszeitlichen<br />
Kiestransports größtenteils stark beschädigt.<br />
• Atlas: SaNr. 1054 (Abb. 13), SaNr. 2483<br />
(Abb. 14)<br />
• Axis: SaNr. 293 (Abb. 15)<br />
• Restliche Halswirbel (Abb. 16): SaNr.<br />
5101, SaNr. 419, SaNr. 3100, SaNr.<br />
3101, SaNr. 3333<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
100 Anna-Dinah Eßer<br />
Abb. 15 Axis aus der Sammlung. SaNr. 293. Lateralansicht.<br />
Pfeil = Richtung cranial, Maßstab 1 cm.<br />
Bestimmungsschlüssel Atlas<br />
Messwerte, Indices<br />
Der Atlas mit der Sammlungsnummer<br />
2483 ist stark beschädigt. Die Messwerte<br />
erlauben aus diesem Grund keine Zuordnung.<br />
Der Atlas mit der SaNr. 1054 dagegen<br />
ist nahezu vollständig erhalten und hat nur<br />
leichte Beschädigungen an den Foveae articulares<br />
craniales. Die aus den Messwerten<br />
(Einzelmessung) errechneten Indices<br />
sind annähernd gleich denen der rezenten<br />
Schäferhunde. Der GLF/H (Gesamte<br />
Länge von der Facies articularis cranialis<br />
zur Facies articularis caudalis mal 100<br />
geteilt durch die Gesamthöhe) Indexwert<br />
liegt zwischen dem des Schäferhundes und<br />
des Hovawarts.<br />
SaNr. 1054<br />
1) Kein Foramen alare vorhanden.<br />
2) Foramen transversarium beginnt nicht<br />
lateral neben den Facies articulares caudales<br />
6.1) GL > 29 mm<br />
6.2) Foramen transversarium mit sichtbarem<br />
Durchtritt zum Inneren des Arcus<br />
dorsalis<br />
6.3a) Foramen transversarium im Durchmesser<br />
nicht größer als 4 mm<br />
6.3b) Foramen transversarium durchgehend<br />
von lateral nach dorsal, bei Aufsicht<br />
von dorsal und ventral mehr oder weniger<br />
schmaler Durchgang sichtbar, leicht cranial<br />
liegendes Foramen zur Innenseite des<br />
Wirbelkanals<br />
√ Canis lupus familiares<br />
SaNr. 2483<br />
1) Kein Foramen alare vorhanden<br />
2) Foramen transversarium beginnt nicht<br />
lateral neben den Facies articulares caudales<br />
6.1) GL > 29 mm, trotz Beschädigung<br />
deutlich länger<br />
6.2) Foramen transversarium mit sichtbarem<br />
Durchtritt zum Inneren des Arcus<br />
dorsalis<br />
6.3a) Foramen transversarium im Durchmesser<br />
nicht größer als 4 mm<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
101<br />
Abb. 16 Restliche Halswirbel aus der Sammlung.<br />
Dorsalansichten. A = Nr. 3101; B = Nr. 3100; C =<br />
Nr. 3333; D = Nr. 419; E = Nr. 421; Pfeil = Richtung<br />
cranial; Maßstab 1 cm.<br />
6.3c) Foramen transversarium durchgehend<br />
von lateral nach dorsal, Durchgang<br />
nur bei leichter Schräglage des Wirbels<br />
von lateral nach dorsal sichtbar<br />
6.3d) Foramen transversarium (von ventral<br />
gesehen) langgezogen elliptisch, Foramen<br />
zur Innenseite des Wirbelkanals<br />
√ Canis lupus<br />
Da die Ausmaße dieses Atlas nicht an<br />
die der adulten rezenten Wölfe heranreichen<br />
und die Facies articulares craniales<br />
und caudales stellenweise (ebenso wie die<br />
Substantia compacta an anderen Stellen)<br />
abgeplatzt ist, wäre es möglich, dass dieser<br />
Atlas zu einem Jungtier gehört.<br />
Zuordnung Axis, SaNr. 293<br />
Der Wert des SBV/LCDe-Index (kleinste<br />
Breite des Wirbelkörpers x 100 geteilt<br />
durch die Länge des Corpus inkl. des<br />
Dens, der einzige der hier zu berechnen<br />
ist, da der Knochen stark beschädigt ist)<br />
liegt mit 39,1 zwischen dem des Pumas<br />
(35,59) und des Timberwolfes (41,42).<br />
1) Die Form der Facies articularis caudalis<br />
ist gestreckt fünfeckig Canoidea<br />
2) Der Beginn des Processus spinalis liegt<br />
leicht caudad des Dens Canoidea<br />
3) Ende des Processus spinalis schwer zu<br />
beurteilen, da dorsaler Teil stark beschädigt<br />
4) Crista ventralis ist nicht durchgehend<br />
Canoidea<br />
5a) Crista ventralis ist mittig unterbrochen,<br />
cranial und caudal stark ausgeprägt<br />
Canis sp.<br />
6) Aufsicht auf den Processus spinalis caudal<br />
(von dorsal) ist 6a), gespalten<br />
√ Canis lupus familiares<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
102 Anna-Dinah Eßer<br />
Zuordnung Restliche Halswirbel<br />
Die Wirbel mit den Nummern 3100, 419,<br />
3101, 421 und 3333 wurden anhand des<br />
Verlaufes ihrer Crista ventralis und des<br />
Processus spinalis als 3. Halswirbel eingestuft.<br />
Als Bestimmungsbeispiel wird hier<br />
der Wirbel 3333 herangezogen.<br />
Sa.Nr. 3333<br />
Der BFcr/HFcr-Index des Wirbels 3333<br />
liegt mit 162,5 zwischen dem Hovawart<br />
(165,44) und dem Timberwolf (159,06).<br />
Der BFcd/HFcd-Index liegt mit 143,08<br />
zwischen dem Schäferhund (147,3) und<br />
dem Timberwolf (138,9).<br />
Der PL-Wert liegt mit 28,8 mm dem PL-<br />
Median des Schäferhundes am nächsten<br />
(29,05 mm).<br />
1) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />
√ Canoidea<br />
2) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />
und tailliert<br />
√ Canis sp<br />
4) Crista ventralis durchgehend<br />
√ Weiter mit 4a<br />
4a) Gut ausgeprägt<br />
X 4b<br />
4b) Ausgeprägt<br />
X 4c) X 4d<br />
4d) Kaum vorhanden (=schwach)<br />
Caudad stark, durchgehend Canis<br />
lupus<br />
5) Form der Facies articularis caudalis<br />
gestreckt sechseckig<br />
√ Canis sp.<br />
8) Form Processus spinalis<br />
♦ Kaum vorhanden bis vorhanden, im<br />
Bogen durchgehend C .l. familiaris<br />
♦ Gut ausgeprägt, durchgehend, Bogen<br />
ca. medial am höchsten C. lupus<br />
Schlecht zu beurteilen, da möglicherweise<br />
beschädigt. Die Form der<br />
Crista ventralis spricht eher für einen<br />
Wolf, die Messwerte eher für einen<br />
Haushund.<br />
Ergebnis: Canis sp.<br />
Ergebnisse der Nachbestimmung<br />
SaNr. 1054: Canis lupus familiares<br />
SaNr. 2483: Canis lupus<br />
SaNr. 293: Canis lupus familiares<br />
SaNr. 421: Canis lupus familiares (juvenil)<br />
SaNr. 3100: Canis lupus familiares<br />
SaNr. 419: Canis lupus<br />
SaNr. 3101: Canis lupus subadult oder<br />
kleinerer Haushund ohne Crista ventralis.<br />
SaNr. 3333: Canis sp<br />
Diskussion<br />
Die Erstellung des Schlüssels hat einige<br />
Fakten zu Tage gebracht, die nicht in den<br />
zu Rate gezogenen Anatomiebüchern erwähnt<br />
werden. Ein Beispiel hierfür ist die<br />
Unterscheidungsmöglichkeit von Canidae<br />
zu Felidae und Melinae anhand des Verlaufes<br />
des Foramen transversarium.<br />
Merkmale, die häufig zur Bestimmung<br />
herangezogen werden, wie z. B. die Alae<br />
atlantis, haben sich zur Bestimmung als<br />
ungeeignet herausgestellt. Sie sind ebenso<br />
wie die Form der Processus und die<br />
Ausprägung von Protuberanzen eher individual-<br />
und nicht speziesspezifisch. Ihr<br />
Aussehen scheint mit der individuellen<br />
„Fitness“ und Körperform zusammenzuhängen<br />
(Abb. 17). Abgesehen von der Abhängigkeit<br />
der Perspektive (wie auf Abb.<br />
17; Wolfswirbel = leicht dorsolaterale Ansicht,<br />
Wirbel in der Mitte des Bildes = dorsal)<br />
zeigen die Tiere z. B. unterschiedlich<br />
breite Wirbelbögen (z. B. Q, R) und unterschiedlich<br />
hohe Proccessus transversus<br />
(C–E).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
103<br />
Abb. 17 Dritter Cervicalwirbel, Aufsicht von dorsal.<br />
Beispiel der unterschiedlichen Ausprägungen<br />
von Merkmalen. A = Panthera pardus; B = Puma<br />
concolor; C - E = Lynx lynx; F = Cuon alpinus; G - I<br />
= Meles meles; J - L = Vulpes vulpes; M, N = C. l.<br />
familiares, Schäferhund; O = C. l. familiares, Hovawart;<br />
Q, R = C. l. lycaon; S - U = C. lupus. – Pfeil =<br />
Richtung cranial; Maßstab 1 cm.<br />
Bei der Zuordnung der Dachs-Wirbel<br />
traten bemerkenswerte Charakteristika<br />
zu Tage. Der in der aktuellen Systematik<br />
mit den Hundeartigen in eine Überfamilie<br />
gestellte Dachs weist häufig den Feloidea<br />
deutlich ähnlichere Charakteristika<br />
auf als hundeartige Merkmale. Die Autapomorphien,<br />
die er außerdem zeigt, sind<br />
weniger überraschend. Er hat nicht nur<br />
eine andere Ernährungsweise, sondern<br />
auch eine vollständig andere Lebensart<br />
als die Hundeartigen. Für die z. T. hohe<br />
Ähnlichkeit mit den Katzenartigen (beispielsweise<br />
die Form der Facies articulares<br />
caudales der Halswirbel, die häufig mit der<br />
der Katzenartigen übereinstimmt) hat sich<br />
jedoch noch keine Erklärung gefunden.<br />
Weitere osteologische Studien wären hier<br />
sinnvoll.<br />
Die Rassezuordnung der Wirbel von<br />
wolfsähnlichen Haushunderassen mit ungefähr<br />
gleicher Größe ist, soweit in dieser<br />
Studie ersichtlich, nahezu unmöglich.<br />
Die Morphologie der Wirbel gleicht sich<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
104 Anna-Dinah Eßer<br />
in vielen Charakteristika sehr und ist auch<br />
innerhalb der Rassen sehr verschieden.<br />
Eine Unterscheidung vom Wolf ist ebenfalls<br />
in vielen Fällen zumindest schwierig<br />
und fällt mit fossilen, abgerollten oder auf<br />
sonst eine Weise beschädigten Knochen<br />
noch schwerer. Dieses Ergebnis stimmt<br />
mit der Studie von Wayne (1986) überein,<br />
der anhand morphologischer Maße<br />
von Extremitätenknochen keinen signifikanten<br />
Unterschied zwischen Wolfsartigen<br />
Caniden und Haushunden gleicher Größe<br />
feststellen konnte. Hunde anderer Größen<br />
und stärker herausgezüchteten Formen als<br />
die untersuchten besitzen möglicherweise<br />
genügend eigenständige Charakteristika<br />
für eine Artbestimmung. Ein Chihuahua,<br />
Bernhardiner, Dackel oder eine Dogge<br />
sind vermutlich aufgrund der Größenunterschiede<br />
nicht so schwer vom Wolf oder<br />
untereinander zu unterscheiden. Allerdings<br />
wäre die Frage nach den genauen morphologischen<br />
Merkmalen sehr interessant. Für<br />
andere Skelettelemente wurden durchaus<br />
Variationen belegt, die eine Unterscheidung<br />
möglich machen (z. B. Schädel, Fossa<br />
temporalis; Kostadinov et al. 2006).<br />
Eine sichere Zuordnung von Canis lupus<br />
sp. zu Haushund oder Wolf wird weiterhin<br />
hauptsächlich von Schädelmerkmalen und<br />
vor allem dem allgemeinen Umfeld des<br />
Fundes abhängig sein. Sind an der Fundstelle<br />
Hinweise vorhanden, die auf eine<br />
enge Beziehung des gefundenen Tieres<br />
zum Menschen schließen lassen, liegt der<br />
Schluss nahe, dass es domestizierte Tiere<br />
waren. In Pompeji beispielsweise wurden<br />
diverse Überreste von Caniden gefunden<br />
und verschiedenen Haushundtypen zugeordnet<br />
(Zedda et al. 2006). Eine relativ<br />
sichere Bestimmung ist allerdings beim<br />
Cuon alpinus möglich, der sich in vielen<br />
Merkmalen nicht nur stark von den Katzen-,<br />
sondern auch von den Hundeartigen<br />
unterscheidet. Als Beispiel sei hier der<br />
Verlauf des Foramen transversarium beim<br />
Atlas, die caudale Form des Processus spinalis<br />
des Axis und das Fehlen oder die nur<br />
sehr schwache Ausprägung des Processus<br />
spinalis beim dritten bis fünften Halswirbel<br />
erwähnt.<br />
Der geringe Probenumfang und die geringe<br />
Diversität der in dieser Pilotstudie<br />
aufgenommenen Spezies stellen ein Problem<br />
dar. Es ist möglich, dass andere Arten<br />
ähnliche Merkmale aufweisen wie die der<br />
beschriebenen. Um diese Möglichkeit bzw.<br />
dieses Risiko auszuschließen, müssten viele<br />
Exemplare aller mit den Studienobjekten<br />
in näherer und weiterer Verwandtschaft<br />
stehenden Arten untersucht werden. Es<br />
ist zu hoffen, dass die vorliegende Arbeit<br />
nur der erste Schritt zu umfangreicheren,<br />
vollständigeren Schlüsseln darstellt. Durch<br />
eine unwillkürliche Wahl der zwei bzw.<br />
drei verschiedenen Individuen wird ein<br />
Einblick in die intraspezifische Diversität<br />
der Arten Wolf, Timberwolf, Schäferhund,<br />
Fuchs, Luchs und Dachs gewonnen. Um<br />
mittels der Messwerte oder der Beschreibungen<br />
einen exakten, objektiven Schlüssel<br />
erstellen zu können, müssten sehr viel<br />
mehr Exemplare unterschiedlicher Habitate,<br />
Fitnesszustände und Alterstufen untersucht<br />
werden. Trotz der nur geringen<br />
Verwendbarkeit der Messwerte in dieser<br />
Studie bilden sie eine Basis für weitere Studien.<br />
Durch die Erhöhung der Probenzahl<br />
könnten signifikante Unterschiede anhand<br />
der Messwerte herausgearbeitet werden.<br />
Einige der berechneten Indices, Miniund<br />
Maximalwerte geben zumindest Anhaltspunkte<br />
für die Bestimmung. Hierin<br />
rechtfertigt sich der hohe Zeitaufwand,<br />
der für die Messungen erforderlich war.<br />
Die Indices sind nützlich, um eine Zuordnung<br />
durch eine Bestimmung mit anderen<br />
Merkmalen zu unterstützen. Auch zeigen<br />
sie einige Merkmale auf, die ohne die Messungen<br />
und Berechnungen schwieriger zu<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
105<br />
entdecken wären. Ein Beispiel hierfür ist<br />
die Abnahme des Verhältnisses der Breite<br />
zur Höhe der Facies articulares craniales<br />
der Gattung Canis. Im Unterschied zu den<br />
anderen Gattungen verläuft diese Abnahme<br />
nahezu linear von cranial nach caudal,<br />
während bei den anderen Gattungen (Vulpes,<br />
Cuon, Lynx und Puma) einer der mittleren<br />
Halswirbel noch einmal ein deutlich<br />
verändertes Verhältnis zeigt. Auffällig ist<br />
die deutliche Verbreiterung der Facies articulares<br />
caudales des siebten Halswirbels,<br />
die bei allen Arten auftritt. Dieses Merkmal<br />
ist durch den Übergang zu den breiteren<br />
Brustwirbeln zu erklären und bildet<br />
einen guten Anhaltspunkt für die Zuordnung<br />
dieses Wirbels, wenn mehrere Halswirbel<br />
des gleichen Tieres vorliegen.<br />
Aufgrund der kleinen Stichprobe ist keine<br />
Aussage zu der Richtung der jeweiligen<br />
Abweichungen möglich, d. h., es ist nicht<br />
möglich zu entscheiden, ob der Maximalwert<br />
beispielsweise der Dachse ungewöhnlich<br />
hoch oder der Minimalwert besonders<br />
niedrig ist. Diese bei dem geringen Stichprobenumfang<br />
als „Ausreißer“ erscheinenden<br />
Proben (die sich in ihren Werten<br />
deutlich von denen anderer Tiere unterscheiden)<br />
verändern die Mittelwerte dahingehend,<br />
dass keine deutliche Trennung<br />
der Familien möglich ist. Dennoch bilden<br />
sie in Kombination mit anderen Werten<br />
und morphologischen Charakteristika einen<br />
Anhaltspunkt für die Bestimmung.<br />
Es ist davon auszugehen, dass Wildtiere<br />
mit mehr Bewegung und damit stärkerer<br />
Muskulatur und anderen Ernährungsmöglichkeiten<br />
sich zumindest in der<br />
Ausprägung der Merkmale von den Zootieren<br />
unterscheiden. Eine interessante<br />
Frage hierbei wäre, wie stark sich die<br />
Wirbel von Zootieren mit oder ohne Bewegungsmöglichkeiten<br />
und verschiedenen<br />
Ernährungsmethoden von denen wildlebender<br />
Tiere der gleichen Altersstufe unterscheiden<br />
und ob es möglicherweise charakteristische<br />
Merkmale gibt, die eine der<br />
Gruppen von den anderen unterscheidet.<br />
Die Schwierigkeiten eines Schlüssels für<br />
rezente und fossile Wirbel liegen nicht nur<br />
in der hohen intraspezifischen Variabilität,<br />
sondern auch in dem Beschädigungsgrad<br />
der fossilen Wirbel. Viele Werte können<br />
bei den Wirbeln der NLMH-Sammlung<br />
nicht gemessen werden, da die entsprechenden<br />
Bereiche beschädigt sind oder<br />
fehlen. Bei Fossilien aus Lagerstätten, in<br />
denen die Überreste gar nicht oder nur<br />
wenig bewegt wurden, ist dieses Problem<br />
zu vernachlässigen. Bei den Fundstücken<br />
aus den Leinekiesen ist es aber die Regel.<br />
Der Schlüssel ist deshalb so aufgebaut, dass<br />
auch stark beschädigte Wirbel möglichst<br />
sicher zugeordnet werden können. Dafür<br />
wurde auf die Einbeziehung sehr fragiler<br />
Wirbelbereiche weitestgehend verzichtet.<br />
Dies schränkt die Möglichkeiten ein,<br />
macht die Bestimmung allerdings auch sicherer,<br />
da diese Merkmale intraspezifisch<br />
oftmals variieren (z. B. Form der Processus<br />
transversales).<br />
Die vorliegende Arbeit zeigt, dass ein<br />
Schlüssel für die Bestimmung von carnivoren<br />
Halswirbeln möglich ist. Der vorliegende<br />
Bestimmungsschlüssel ist noch<br />
nicht ausgereift. Es sind einige Ergänzungen<br />
nötig, das Grundgerüst aber steht<br />
und führt bei der Bestimmung von Wirbeln<br />
verschiedener Carnivorenarten aus<br />
dem Holozän und späten Pleistozän unter<br />
Berücksichtigung der im Schlüssel enthaltenen<br />
und der im Fundgebiet zu erwartenden<br />
Arten zum Erfolg. Der Schlüssel<br />
bietet Möglichkeiten zur Erweiterung und<br />
Optimierung.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
106 Anna-Dinah Eßer<br />
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Danksagung<br />
Mein besonderer Dank geht an meine<br />
Betreuerinnen Frau Dr. Annette Richter<br />
und Frau Dr. Ute Radespiel, die sich auf<br />
dieses Unternehmen eingelassen und die<br />
Fortschritte jederzeit mit großem Interesse<br />
verfolgt haben. Frau Dr. Richter übernahm<br />
auch die Betreuung dieser Publikation.<br />
Herzlich bedanke ich mich hiermit auch<br />
bei der Master-Geologie- und Paläontologiestudentin<br />
Sashima Läbe (B. Sc.), die<br />
viele der Kontroll-Messungen durchgeführt<br />
und sich damit ehrenamtlich überaus<br />
intensiv eingebunden hat. Ohne die AZA<br />
(Archäologisch-Zoologische Arbeitsgruppe)<br />
Kiel und die NGH (Naturhistorische<br />
Gesellschaft Hannover) wäre diese Studie<br />
nicht möglich gewesen – die einen stellten<br />
das Material, die anderen die Möglichkeit,<br />
dieses Material nach Hannover zu bringen<br />
und es in ihrer Schriftenreihe einem breiten<br />
Publikum zugänglich machen zu können.<br />
Ein großes Dankeschön auch dafür.<br />
Dem NLMH (Niedersächsisches Landesmuseum<br />
Hannover) gilt mein Dank<br />
für die Überlassung des Arbeitsplatzes und<br />
der Gewährung des Zugangs zu der Quartärknochensammlung.<br />
Bei meiner Familie<br />
und meinen Freunden bedanke ich mich<br />
herzlich, sie haben mich während der Masterarbeit<br />
verpflegt, in jeder Weise unterstützt<br />
und mich gelegentlich in den Alltag<br />
zurückgeholt.<br />
Und, last but not least, sage ich meinem<br />
Freund Mario Hönemann für seine unendliche<br />
Geduld und seine Hilfe bei der<br />
Bildbearbeitung vielen Dank.<br />
Kurzfassung der Masterarbeit im Studiengang<br />
Animal biology and biomedical sciences,<br />
Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />
Hannover, in Kooperation mit dem Landesmuseum<br />
Hannover.<br />
Arbeit eingereicht: 28.06.2010<br />
Arbeit angenommen: 31.08.2010<br />
Korrespondenz: Dr. Annette Richter,<br />
Oberkustodin Geowissenschaften und<br />
Paläontologie, Landesmuseum Hannover;<br />
Willy-Brandt-Allee 5, 30169 Hannover;<br />
annette.richter@nlm-h.niedersachsen.de<br />
Anschrift der Verfasserin:<br />
Anna-Dinah Eßer<br />
Gießener Straße 79<br />
35415 Pohlheim<br />
DinahEsser@gmx.net<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
109<br />
Anhang<br />
Beschreibende Begriffe für Formen der Wirbel<br />
—————— Aufsicht von dorsal auf den Wirbelkörper ——————<br />
quadratisch rechteckig rechteckig tailliert<br />
schmetterlingsförmig X-förmig W-förmig<br />
—————— Negativform des Wirbelkörperrandes ——————<br />
trapezförmig<br />
trapezförmig mit durchhängender<br />
Längsseite<br />
flach<br />
—————— Aufsicht auf die F. articularis cran./caud. ——————<br />
wellenförmig V-förmig spitz eingekerbt<br />
apfelförmig herzförmig nierenförmig<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
110 Anna-Dinah Eßer<br />
halbnierenförmig fünfeckig gestreckt fünfeckig<br />
sechseckig gestreckt sechseckig breit elliptisch<br />
pfeilförmig<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
111<br />
Glossar<br />
Adult erwachsen<br />
Alae sacralis Kreuzbeinflügel<br />
Alae atlantis Atlasflügel (Pl.) (verbreiterte<br />
Processus)<br />
Antikliner Wirbel der Thorakalwirbel, an<br />
dem sich die Neigung der Procc. spinales<br />
ändert und der selbst nahezu senkrecht<br />
nach dorsal steht<br />
Arcus vertebrae Wirbelbogen<br />
Atlas 1. Halswirbel<br />
Autapomorphie ein abgeleitetes Merkmal,<br />
das nur bei einer Gruppe von Lebewesen<br />
im Laufe der Evolution aufgetreten ist;<br />
„Alleinstellungsmerkmal“<br />
Axis alt: Epistropheus; 2. Halswirbel<br />
Canalis vertebralis Wirbelkanal, verbreitert<br />
sich deutlich im Lendenwirbelbereich<br />
(Intumescentia lumbalis)<br />
Carnivora Fleischfresser<br />
Caudad zum Schwanz hin<br />
Caudal schwanzseitig<br />
Chorda dorsalis ursprünglicher stützender<br />
Knorpelstab<br />
Chordata Chordatiere<br />
Cervicalwirbel Halswirbel<br />
Corpus vertebrae Wirbelkörper<br />
Craniad zum Kopf hin<br />
Cranial kopfseitig<br />
Craniolateral Ansicht von cranial auf den<br />
rückenwärtigen Teil des Wirbels<br />
Crista ventralis Knochenleiste an der<br />
Ventralseite des Wirbelkörpers<br />
Dens „Zahn“ des Axis (knöchener Vorbau<br />
in Richtung des Kopfes)<br />
Diaphragmatischer Wirbel der Thorakalwirbel,<br />
an dem die Procc. art. cran. nach<br />
oben (dorsal), die der Procc. art. caud.<br />
jedoch lateral gerichtet sind<br />
Disartikulierte/ dislokalisierte Knochen<br />
Einzelfunde, die nicht im Verbund (z. B.<br />
Elle, Speiche, Oberarm) gefunden werden<br />
Disci intervertebrales Zwischenwirbelscheiben<br />
(„Bandscheiben“)<br />
Dorsad zum Rücken hin<br />
Dorsal rückenseitig<br />
Dorsolateral Ansicht von seitlich auf den<br />
rückenwärtigen Teil des Wirbels<br />
Eem letzte Warmzeit vor der heutigen<br />
(Holozän); Beginn vor ca. 126 000 Jahren,<br />
Ende vor ca. 115 000 Jahren; im Alpenraum<br />
auch als Riß/Würm-Interglazial<br />
bekannt<br />
Epiphysenfuge Wachstumsfuge zwischem<br />
dem End- und Mittelstück eines Röhrenknochens<br />
Epi-Villafranchian Phase im frühen Pleistozän<br />
Extremitas caudales Wirbelpfannen<br />
Extremitas craniales Wirbelköpfe<br />
Facies articulares … Gelenkfläche, oft mit<br />
entspr. Zusatz verwendet (cranial, caudal);<br />
meist für die Verbindungsstelle zweier<br />
Wirbel verwendet; dort auch als Facies terminales<br />
bezeichnet<br />
Facies dorsalis dorsale Fläche des Kreuzbeines<br />
Feloidea katzenartige, umfassen 7 rezente<br />
Familien<br />
Flandrisches Interglazial auch Flandrische<br />
Warmzeit oder Holozän genannt; derzeitige<br />
Warmzeit; seit ca. 10 000 Jahren bis<br />
heute<br />
Foramen Loch, Durchlass<br />
Foramen alare Flügelloch<br />
Foramen transversarium Loch in der Basis<br />
des Querfortsatzes der Halswirbel; bietet<br />
Durchlass für die Arteriae vertebrales sowie<br />
ihren Begleitvenen und Nervenfasern<br />
Foramen vertebrale laterale seitliches<br />
Wirbelloch<br />
Fossa atlantis Atlasgrube<br />
Fossa temporalis Schläfengrube<br />
Fovea dentis Einstülpung caudal des Atlas,<br />
trägt die Foveae articulares caudales<br />
Foveae articulares caudales caudale Gelenkflächen<br />
des Atlas<br />
Foveae articulares craniales craniale Gelenkflächen<br />
des Atlas<br />
Foveae costales Gelenkflächen zur Rippenartikulation<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
112<br />
Herbivor pflanzenfressend<br />
Holozän Flandrisches Interglazial;<br />
Warmzeit, seit ca. 10 000 Jahren<br />
Hox-Gene Gruppe von Genen, die wichtige<br />
Vorgänge während der Embryonalentwicklung<br />
steuern<br />
Incisura vertebralis cranialis/caudalis Einschnitt,<br />
der den Wirbelkörper vom Arcus<br />
dorsalis trennt; tritt statt eines Foramens<br />
auf<br />
Juvenil Jungtierstadium bis zum Erreichen<br />
der Geschlechtsreife<br />
Konkav nach innen gewölbt<br />
Konvex nach außen gewölbt<br />
Lamina ventralis ersetzt ab dem 6. Halswirbel<br />
das Tuberculum ventrale<br />
Lateral außen (seitlich)<br />
Lumbalwirbel Wirbel im Bereich der<br />
Lendenwirbelsäule<br />
Mediad zur Mitte hin<br />
Medial mittig<br />
Metapodium Mittelhand bzw. Mittelfuß<br />
Monophyletisch Gruppe von Organismen<br />
aus einem unmittelbaren gemeinsamen<br />
Vorfahren und allen seinen Nachfahren.<br />
Neonatal Neugeboren<br />
Omnivor allesfressend<br />
Ossa brevia kurze Knochen<br />
Osteoarthritis Entzündung des Knochens;<br />
Abbau des Gelenkknorpels, Veränderung<br />
der angrenzenden Knochenstrukturen<br />
Osteochondrose Veränderung des Bandscheibenknorpels,<br />
in dessem Zuge sich<br />
auch der knöcherne Teil des Wirbelkörpers<br />
verändert (erhöhte Knochendichte, Knochenwucherungen)<br />
Pleistozän „Eiszeit“, Erdzeitalter vor dem<br />
Holozän; Beginn vor ca. 2,6 Mio. Jahren,<br />
Ende vor ca. 10 000 Jahren<br />
PL Median Median der physiologischen<br />
Länge des Wirbelkörpers<br />
Pleurozentrum der kleinere Teil der heute<br />
bestehenden Wirbelkörper<br />
Processus accessorius Hilfsfortsatz, zwischen<br />
den P. transversus und P. articulares caudales,<br />
nur bei Schwein und Fleischfressern; bei<br />
Flfr. an den letzten V. thoracales und allen<br />
V. lumbales<br />
Processus articulares cranial/caudal Gelenkfortsätze<br />
kopfseitig/schwanzseitig<br />
Processus spinalis Dornfortsatz<br />
Processus transversus Querfortsätze, seitlich<br />
des Corpus vertebrae<br />
Processus vertebrae Wirbelfortsatz<br />
Scapula Schulterblatt<br />
Spondylose Sammelbegriff für degenerative<br />
Veränderungen an Wirbelkörpern (z. B.<br />
Wülste, Zacken, Erhebungen)<br />
Stratum Geologie: eine räumlich-zeitliche<br />
Gesteinsschicht<br />
Substantia spongiosa schwammartige<br />
Gerüststruktur des Knochens<br />
Substantia compacta dichter Knochen mantel<br />
Taphonomie, taphonomisch Wissenschaft<br />
von den Prozessen, die vom Tod bis zur<br />
abgeschlossenen Fossilierung auf ein<br />
Lebewesen einwirken (Verwesung, Transport<br />
etc.)<br />
Thorakalwirbel Wirbel im Bereich der<br />
Brust<br />
Tuberculum dorsale/ventrale eine erhabene,<br />
höcker- oder knötchenförmige Struktur;<br />
entweder dorsal (auf der Rückenwärts gewandten<br />
Seite) oder ventral (Bauchwärts)<br />
ventrad zum Bauch hin<br />
ventral bauchseitig<br />
Vertebra anticlinalis Antikliner Wirbel, diaphragmatischer<br />
Wirbel; der Brustwirbel, an<br />
dem der Dornfortsatz senkrecht nach dorsal<br />
zeigt. Hier ändert sich die Ausrichtung<br />
der Dornfortsätze.<br />
Vertebrae Wirbel (Pl.)<br />
Vertebrae cervicales Halswirbel<br />
Vertebrae lumbales Lendenwirbel<br />
Vertebrae sacrales Kreuzwirbel<br />
Vertebrae thoracales Brustwirbel<br />
Wirbelkanal Canalis vertebralis<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
113<br />
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
Vergleich des fossilen irregulären Seeigels Nucleolites mit<br />
dem rezenten Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />
Heiko Steinke<br />
© Pauline s Mills, istockphoto.com<br />
Zusammenfassung<br />
In der vorliegenden Arbeit werden<br />
oberjurassische, irreguläre Seeigel der Gattung<br />
Nucleo li tes (Ordnung: Cassiduloida,<br />
Familie: Nucleolitidae) der historischen<br />
„Sammlung Struckmann“ des Niedersächsi<br />
schen Landesmuseums Hannover<br />
(NLMH) hinsichtlich Größe, Größenverteilung,<br />
Morphologie und Fossilerhaltung<br />
beschrieben und biometrisch vermessen.<br />
Mithilfe dieser Messungen wird<br />
überprüft, ob sich die Sammlungsstücke<br />
in verschiedene Arten differenzieren lassen.<br />
Die Messergebnisse zei gen jedoch,<br />
dass es sich um Individuen derselben Art<br />
handelt. Zum Vergleich wird der rezente<br />
Nord see-Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />
(Ordnung: Spatangoida, Familie: Loveniidae)<br />
hinzugezogen und hin sichtlich<br />
Größe, Größenverteilung, Morphologie,<br />
Lebensweise und Lebensraum beschrieben<br />
und ausgewählte Coronen aus der<br />
„Sammlung Richter“ ebenfalls biometrisch<br />
vermessen. Anhand der Untersuchungen<br />
werden vorhandene Unter schiede und Gemeinsamkeiten<br />
in der Gestalt beider Arten<br />
herausgearbeitet und diskutiert. Weiterhin<br />
werden die Grö ßen verteilungen beider<br />
Gattungen dargestellt und diskutiert.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
114 Heiko Steinke<br />
Abstract<br />
In this bachelor-thesis, Late Jurassic irregular<br />
sea urchins of the genus Nucleolites<br />
(Order: Cassiduloida, Family: Nucleolitidae)<br />
are described with respect to size, size<br />
distribution, morphology and fossili sation.<br />
The samples were morphologically examined,<br />
using means of biometrical measuring.<br />
The fossils are part of the historical<br />
“Struckmann” collection of the “Niedersächsisches<br />
Landesmuseum Han nover”<br />
(Lower Saxonian State Museum Hannover).<br />
Using the measurement results, it is<br />
checked if the samples can be divided into<br />
different species. But the measurements<br />
show that the samples are individuals of<br />
only one species. For comparison, the recent<br />
North Sea heart urchin Echi nocardium<br />
cordatum (Order: Spatangoida, Family:<br />
Loveniidae) is studied with respect to size,<br />
size distribution, way of life and preferred<br />
habitat. The samples were also morphologically<br />
examined, using means of biometrical<br />
measurement. Using these data,<br />
existing differences and similarities in<br />
shape of both genera are elaborated and<br />
discussed. Their size distributions are illustrated<br />
and discussed, too.<br />
Ziel der Arbeit<br />
Ziel dieser Arbeit ist es, oberjurassische,<br />
irreguläre Seeigel der Gattung Nucleolites<br />
(Ordnung: Cassiduloida, Familie: Nucleolitidae)<br />
aus der historischen „Sammlung<br />
Struckmann“ des Niedersächsischen Landesmuseums<br />
Hannover morphometrisch<br />
zu vermessen und in Bezug auf Größe,<br />
Grö ßen verteilung, Morphologie und Fossilerhaltung<br />
zu untersuchen. Die Stücke<br />
stammen aus Fund lokali täten in Hannover<br />
und Umgebung. Des Weiteren wird<br />
unter Einbeziehung der sedimentologischen<br />
Befunde und der Be gleitfauna versucht,<br />
den Lebensraum von Nucleolites zu<br />
rekonstruie ren. Mit hilfe der biometri schen<br />
Vermessungen wird außerdem geprüft, ob<br />
sich hinter den nur als Gattung inventarisier<br />
ten Stücken nur eine oder möglicherweise<br />
mehr Arten verbergen. Als Beispiel<br />
eines rezenten, irregu lären Seeigels<br />
wird der Nordsee-Herzseeigel Echinocardium<br />
cordatum (Ordnung: Spatan goida,<br />
Familie: Love niidae) hinsichtlich Größe,<br />
Größenverteilung, Morphologie, Lebensweise<br />
und Lebens raum unter sucht und beschrieben.<br />
Weiterhin wird die Gestalt beider<br />
Gattungen verglichen und un tersucht,<br />
ob sich trotz unterschiedlicher Habitate<br />
eher unterschiedliche oder ähnliche Morphologien<br />
entwi ckelt haben.<br />
Material und Methoden<br />
Material<br />
Die bearbeiteten Nucleolites Exemplare<br />
gehören zur Sammlung des Niedersächsischen<br />
Landesmuseums Hannover<br />
und stammen ursprünglich aus der<br />
Privatsammlung von Carl Eberhard Friedrich<br />
Struckmann. Die Stücke wurden von<br />
Struckmann in der zweiten Hälfte des<br />
neunzehnten Jahrhunderts gesammelt. Die<br />
von Struckmann verwendete Gattungsbezeichnung<br />
Echinobrissus wird in diesem<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
115<br />
Text durch die derzeit valide Gattungsbezeichnung<br />
Nucleolites ersetzt (s. Synonymliste<br />
zu Nucleolites). Struckmann lebte von<br />
1833 bis 1898 und war landwirtschaftlicher<br />
Amtsrat der Stadt Hannover. Er war<br />
zeitlebens ein engagierter Hobbygeologe<br />
und -paläontologe und stand in reger Korrespondenz<br />
mit Wissenschaftlern europaweit.<br />
So finden sich noch heute Fundstücke<br />
Struckmanns, insbesondere Zähne<br />
von Meereskrokodilen des Oberjura, in<br />
naturkundlichen Museen in ganz Europa.<br />
Bevorzugte Grabungsstätten von Carl<br />
Struckmann waren der Kalksteinbruch am<br />
Lindener Berg im Dorf Linden, der Tönniesberg<br />
oder das Dorf Ahlem. Diese Orte<br />
gehörten zu Lebzeiten Struckmanns noch<br />
nicht zum Stadtgebiet von Hannover und<br />
waren ländlich geprägt. Mit zunehmender<br />
Industrialisierung wurden die Fundstellen<br />
jedoch überbaut und zäh len heute zum<br />
Stadtgebiet Hannovers. Damit sind sie für<br />
weitere geologische Untersu chungen nicht<br />
mehr bzw. nur noch bedingt zugänglich.<br />
Insofern können die Funde Struckmanns<br />
einen wichtigen Beitrag zum Verständnis<br />
der regionalen Geologie Hannovers<br />
leisten. Ein weiterer Teil der Sammlung<br />
stammt aus Lauenstein am Ith. Nach seinem<br />
Tod ging die Struckmann-Samm lung<br />
in den Besitz der Naturhistorischen Gesellschaft<br />
Hannover (NGH), dessen Mitglied<br />
er war, über und wurde 1906 mit der<br />
gesamten NGH-Sammlung in die Obhut<br />
des damaligen „Provinzial-Museums am<br />
Maschpark“, dem heutigen NLMH, übergeben.<br />
Der Erhaltungszustand der Stücke variiert,<br />
es sind sowohl Steinkerne vorhanden<br />
als auch Stücke mit Schalenerhaltung.<br />
Von den 94 untersuchten Exemplaren ist<br />
etwa ⅓ wenig bis gar nicht deformiert, der<br />
Rest weist ge ringe bis starke Deformationen<br />
auf. Am häufigsten sind die Gehäuse<br />
von der Rücken- zur Bauchseite hin<br />
eingedrückt („dorsoventral verformt“). Einige<br />
Exemplare sind auch seitlich oder<br />
entlang der Körperachse von vorn nach<br />
hinten ge quetscht.<br />
Die untersuchten 61 Echinocardium-<br />
Exemplare stammen aus der Privatsammlung<br />
von Frau Dr. Annette Richter, Oberkustodin<br />
der Sektion Geowissenschaften<br />
Abb. 1 Messstrecken bei Nucleolites.<br />
a) Oberseite mit l = max. Länge des Gehäuses,<br />
PB = Abstand Periprokt zu Hinterseite,<br />
Pp = Periprokt.<br />
b) Unterseite von Nucleolites<br />
mit b = max. Breite des Gehäuses, PV = Abstand<br />
Peristom zu Vorderseite, Ps = Peristom.<br />
c) Hinteransicht von Nucleolites mit h = max. Höhe<br />
des Gehäuses. Terminologie nach Ernst (1971).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
116 Heiko Steinke<br />
des NLMH. Die Echi nocardien wurden<br />
auf der Insel Langeoog in den Jahren<br />
1997 bis 2007, zumeist im Juni, am Sandstrand<br />
des Ostendes der Insel gesammelt.<br />
Die Stücke sind unterschiedlich erhalten:<br />
Es gibt von allen Gewebeanteilen befreite,<br />
stachellose Gehäuse aus allen Größenklassen,<br />
welche etwa ⅔ der Samm lung ausmachen.<br />
Diese Funde stammen meist aus<br />
dem Vordünenbereich, wohin sie verweht<br />
worden sind. Weiterhin gibt es Exemplare,<br />
bei denen das Stachelkleid noch ganz<br />
oder teilweise erhalten ist. Diese Exemplare<br />
stammen eher aus kleinen bis mittleren<br />
Größenklassen und wurden meist nach<br />
Sturmereignissen gefunden.<br />
Methoden<br />
Abb. 2 Messstrecken bei Echinocardium<br />
cordatum.<br />
a) Oberseite E. cordatum mit l = max. Länge<br />
und b = max. Breite des Gehäuses.<br />
b) Unterseite von E. cordatum<br />
mit PV = Abstand Peristom zu Vorderseite,<br />
Ps = Peristom.<br />
c) Hinteransicht von E. cordatum<br />
mit h = max. Höhe des Gehäuses, PB = Abstand<br />
Periprokt zu Unterseite, Pp = Periprokt.<br />
Terminologie nach Ernst (1971).<br />
Die Stücke beider Gattungen wurden<br />
eingehend makroskopisch begutachtet,<br />
bezüglich ihres Erhaltungszustandes bewertet,<br />
und anschließend mithilfe eines<br />
Messschiebers biomet risch vermessen. Die<br />
Messungen erfolgten in Anlehnung an<br />
eine Arbeit von G. Ernst (1971) an kreidezeitlichen,<br />
irregulären Seeigeln der Gattungen<br />
Offaster und Galeola. Dabei wurden<br />
die maximale Länge (l), die maximale Breite<br />
(b), die maximale Höhe (h), der Abstand<br />
des Peri stoms (Mund öffnung) zur Vorderseite<br />
inkl. der Peristomöffnung (PV) und<br />
der Abstand des Peri prokts (Afteröff nung)<br />
zur Rückseite inkl. der Periproktöffnung<br />
(PB) gemessen. Die Mess strecken sind<br />
den Abb. 1 (Nucleolites) und 2 (Echinocardium)<br />
zu entnehmen.<br />
Anhand der Länge wurden die Seeigel<br />
in Größenklassen eingeteilt, dabei erfolgte<br />
die Wahl der Klassenzahl nach der Formel<br />
K = 1 + 3,32 log(n), mit K = Klassenzahl<br />
und n = Anzahl der Stücke (Schönwiese<br />
2000). Daraus haben sich für Nucleolites<br />
8 Größenklas sen und für Echinocardium<br />
7 Größenklassen ergeben. Für die<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
117<br />
Untersuchungen zur Artunterschei dung<br />
bei Nucleolites wurden folgende Messwerte<br />
gegeneinander aufgetragen: Länge/Breite,<br />
Länge/Höhe, Länge/PV, Länge/PB sowie<br />
Breite/Höhe. Für die Darstellung der<br />
Morphologie von Nucleolites und Echinocardium<br />
wurden die Längenwerte beider<br />
Gattungen gegen die Breite (Länge/Breite)<br />
und die Längenwerte gegen die Höhe<br />
aufgetra gen (Länge/Höhe). Die Bearbeitung<br />
der Daten und Erstellung der Diagramme<br />
erfolgte mithilfe des Programms<br />
Microsoft Office Excel 2007. Mit einer<br />
Canon Digi talkamera des NLMH sind Fotos<br />
aus gewählter Exemplare beider Gattungen<br />
angefertigt worden. Die Fotos wurden<br />
mit den Program men Microsoft Office<br />
Picture Manager und Paint nachbearbeitet.<br />
Geologischer Rahmen<br />
Hannover liegt am südwestlichen Rand<br />
des Norddeutschen Tieflandes an der<br />
Grenze zu den Mittelgebirgen. Bedingt<br />
durch eine Decke aus quartären Lockersedimenten<br />
ist das Norddeutsche Tiefland<br />
durch geringe Reliefunterschiede<br />
gekennzeichnet, wobei in Niedersachsen<br />
Saale- und Elstereiszeit liche Moränen<br />
Erhebungen ausbilden. Als Teil der Mitteleuropäischen<br />
Senke bildete sich ab dem<br />
Perm, zur Zeit des Oberrotliegenden, das<br />
Südpermbecken heraus. Hier wurden während<br />
der Zech steinzeit mächtige Salzablagerungen<br />
gebildet. Salze beginnen unter<br />
großem Druck plastisch zu flie ßen<br />
und aufgrund ihres relativ geringen spezifischen<br />
Gewichts nach oben zu wandern.<br />
Bereits in der auf das Perm folgenden Trias<br />
begann der Aufstieg dieser Salze, vermutlich<br />
entlang im Untergrund bereits angelegter<br />
Störungszonen. Durch Halokinese<br />
(Salzaufstieg) bildeten sich Salzkissen und<br />
Mau ern, an deren Rändern überlagernde<br />
Gesteine mit aufgeschleppt wurden. Der<br />
Aufstieg der Salze setzte sich während der<br />
Jurazeit und darüber hinaus, z. T. bis in die<br />
Neuzeit, fort. Dadurch konnten auch die<br />
Sedimente des Kimmeridgium in Ahlem<br />
und am Lindener Berg vermutlich durch<br />
den Auf stieg des Benther Salzstocks an die<br />
Oberfläche gelangen (Henningsen & Katzung<br />
2006, Rothe 2006).<br />
Das Zeitalter des Jura umfasst eine Zeitspanne<br />
von ca. 58 Mio. Jahren: von etwa<br />
200 Mio. Jahren bis etwa 142 Mio. Jahren<br />
vor heute. Stratigraphisch ist der Jura<br />
in Unter-, Mittel- und Oberjura unterteilt,<br />
wobei z. T. in Deutschland auch noch die<br />
alten Bezeichnungen „Schwarzer Jura“ für<br />
den Unteren, „Brau ner Jura“ für den Mittleren<br />
und „Weißer Jura“ für den Oberen<br />
Jura gängig sind. Diese Be zeichnungen beschreiben<br />
die vorherrschenden Gesteinsfarben<br />
der jeweiligen Epoche. Auch die<br />
aus Großbritannien stammenden Begriffe<br />
Lias (Unterjura), Dogger (Mitteljura)<br />
und Malm (Oberjura) sind gebräuchlich.<br />
Die Epochen des Jura sind weiterhin in<br />
11 Stufen unterteilt, von denen das Kimmeridgium<br />
die mittlere Stufe des Oberjura<br />
darstellt. Das Kimmeridgium um fasst eine<br />
Zeitspanne von ca. 6,5 Mio. Jahren. Abbildung<br />
3 zeigt die stratigraphische Gliederung<br />
des Oberjura in Niedersachsen.<br />
Die Landmassenverteilung im Jura<br />
ist durch den Zerfall des im Karbon und<br />
Perm gebildeten Superkontinents Pangäa<br />
und der damit verbundenen Öffnung des<br />
Nord atlantiks geprägt. Das Meer konnte,<br />
sowohl von Norden her als auch von dem<br />
südöstlich gelegenen Tethys-Ozean (Vorläufer<br />
des Mittel meeres) kommend, Europa<br />
überfluten. Man unterscheidet dabei<br />
die alpine Entwicklung des Jura, die im<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
118 Heiko Steinke<br />
von der Tethys ge prägten südeuropäischen<br />
Raum ausgebildet ist, und die außeralpine<br />
Entwick lung in Nord- und Osteuropa.<br />
Das Klima im Jura war deutlich wärmer<br />
als heute, nach Angaben von Faupl (2000)<br />
betrug die Durchschnittstemperatur im<br />
Oberjura etwa 20 °C. Es konnte sich eine<br />
breite Warmzone um den Äquator entwickeln,<br />
in der sich auch Europa zu dieser<br />
Zeit befand (Abb. 4).<br />
Abb. 3 Stratigraphische Gliederung des Oberjura<br />
und der basalen Unterkreide in Niedersachsen.<br />
Die Stufe des Kimmeridgium ist rot umrandet.<br />
Aus dieser erdgeschichtlichen Zeit stammen die<br />
Nucleolites-Funde Struckmanns. Quelle: Landesamt<br />
für Bergbau, Energie und Geologie (2007).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
119<br />
Im Unterjura bestand eine Verbindung<br />
zwischen Tethysraum und dem Nordmeer,<br />
dabei wurden in Nordeuropa häufig dunkle,<br />
tonige Sedimente, sogenannte Schwarzschiefer<br />
(„Schwarzer Jura“), abgelagert, deren<br />
Mächtigkeit in Norddeutschland bis<br />
zu 1000 m beträgt. Bekannt ist vor allem<br />
der „Posidonienschiefer“, ein dunkler, bitumenreicher<br />
Mergel, der nach einer in ihm<br />
massenhaft auftretenden Muschel (früher<br />
zur Gattung „Posidonia“, heute jedoch zur<br />
Gattung „Steinmannia“ gezählt) benannt<br />
ist.<br />
Im mittleren Jura kam es im Bereich der<br />
heutigen Nordsee zu einer Aufwölbung<br />
der Erdkruste, die zur Heraushebung einer<br />
Landmasse in diesem Bereich führte.<br />
Eisenreiche Verwitterungsprodukte dieser<br />
Landmasse (Fennoskandische Hochzone),<br />
des London-Brabanter Massivs sowie<br />
der Rheinischen und Böhmischen Masse<br />
(Abb. 5) gelangten ins Meer und bildeten<br />
dort neben ty pisch braun gefärbten<br />
Sand-, Mergel- und Tonsteinen („Brauner<br />
Jura“) auch Eisenoolithe aus. Oolithe sind<br />
Sedimentgesteine, die aus kleinen Mineralkügelchen,<br />
den sogenannten Ooiden,<br />
bestehen. Diese Ooide entstehen durch<br />
Rotationsbewegungen im bewegten Flachwasser.<br />
Das Vordringen des Meeres auf Festlandsgebiete<br />
während der Jurazeit erreichte<br />
im Oberjura seinen Höhepunkt.<br />
Das Vindelizische Land, eine Landmasse<br />
im südosteuropäischen Raum zwischen<br />
Prag, Wien und München, die im Keuper<br />
die Tethys von Osteuropa abgetrennt<br />
hat, wird vollständig überflutet. Allerdings<br />
verbin den sich die Landmassen des<br />
London-Brabanter Massivs, der Rheinischen<br />
Masse und der Böh mischen Masse<br />
zur Mitteldeutschen Landschwelle. Diese<br />
trennt das Jurameer in Deutschland in<br />
ein nord- und süddeutsches Epikontinentalmeer.<br />
Die Kontinentverteilung im<br />
Oberjura zeigt Abb. 4, die paläogeographische<br />
Situation in Europa ist in Abb. 5<br />
zu sehen. Während in Norddeutsch land zu<br />
Abb. 4 Lage und Gestalt der Kontinente und<br />
Ozeane zur Zeit des Oberjura. Mitteleuropa (roter<br />
Kreis) lag zu dieser Zeit weitaus südlicher als<br />
heute und weite Teile waren vom Meer überflutet.<br />
Die Pole waren eisfrei, wie auch das weltweite<br />
Klima insgesamt deutlich wärmer war als heute.<br />
Verändert nach Blakey (2009). http://jan.ucc.nau.<br />
edu/~rcb7/150moll.jpg (02.04.2010)<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
120 Heiko Steinke<br />
Abb. 5 Paläogeographie Mitteleuropas im Oberjura.<br />
Das heutige Hannover war zu dieser Zeit von<br />
Wasser bedeckt, es wurden flachmarine Karbonate<br />
(Mauerstein-Signatur) und Tonsteine (gestrichelte<br />
Signatur) abgelagert. Gebiete ohne Signatur waren<br />
landfest. Verändert nach Faupl (2000).<br />
dieser Zeit Wechselfolgen von Kalk- und<br />
Mergelsteinen abgelagert werden (Abb.<br />
5), entstehen in den direkt mit der Tethys<br />
verbundenen süddeutschen Meeresgebieten<br />
ausgedehnte Riffkomplexe aus<br />
Kieselschwämmen. Aufgrund eines Rückganges<br />
des Meeresspie gels zum Ende des<br />
Oberjura, im Obertithon (Abb. 3), beginnen<br />
viele Bereiche Mitteleuropas wieder<br />
trockenzufallen (Faupl 2000).<br />
Einführung Stachelhäuter /Seeigel<br />
Stachelhäuter<br />
Der Stamm der Stachelhäuter (Echinodermata)<br />
wird rezent neben der Klasse<br />
der Seeigel (Echinoidea) noch durch 4<br />
weitere vertreten: die Klasse der Seelilien<br />
und Haarsterne (Crinoidea), die der Seewalzen<br />
(Holothurioidea), die der Seesterne<br />
(Asteroidea) und die Klasse der Schlangensterne<br />
(Ophiuridea). Echinoder men<br />
sind ausschließlich marine Organismen.<br />
Ursprüngliche Echinodermaten sind bereits<br />
aus dem Unter kam brium bekannt und<br />
gehören damit zu den ältesten bekannten<br />
Lebewesen. Diese frühen Stachelhäuter<br />
besaßen aber noch nicht die typische<br />
fünfstrahlige (pentamere) Radialsymmetrie<br />
der meisten heutigen Echinodermaten,<br />
welche sich im Laufe des Kambrium<br />
und des Unterordovi zium entwickelte.<br />
Im Ordovizium haben auch die heute noch<br />
existierenden Klassen ihren Ur sprung; sie<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
121<br />
überlebten das größte Aussterbeereignis<br />
der Erdgeschichte, dem vom Übergang<br />
des Zeitalters des Perm zur Trias fast 90%<br />
der marinen Organismen zum Opfer fielen.<br />
Andere Stachelhäuter-Gruppen, wie<br />
z. B. die Beutelstrahler (Cystoidea) oder<br />
die Knospenstrahler (Blastoidea), sterben<br />
bereits innerhalb des Paläozoi kum wieder<br />
aus (Ziegler 1998).<br />
Kennzeichnend für den Stamm der<br />
Gewichtsprozent MgCO3<br />
Abb. 6 Aufbau des Ambulakralsystems (Wassergefäßsystems)<br />
bei Stachelhäutern. Gut erkennbar<br />
ist die fünfstrahlige Symmetrie mit dem Ringkanal<br />
in der Mitte, von dem die Radialkanäle abzweigen<br />
sowie die Ambulakralfüßchen und der Steinkanal<br />
mit dem Hydroporus, über den das Ambulakralsystem<br />
mit der Außenwelt in Verbindung steht.<br />
Verändert nach Ziegler (1998).<br />
Wassertemperatur [°C]<br />
Abb. 7 Temperaturabhängigkeit des Mg-Anteils in<br />
Seeigelskeletten. Der Anteil an Magnesiumkarbonat<br />
in den Schalen der Seeigel nimmt mit steigender<br />
Wassertemperatur zu. Aus Etter (1994).<br />
überlappende Plattenanordnung<br />
mosaikartige Plattenanordnung<br />
a)<br />
Abb. 8 Anordnung der Skelettplatten bei Stachelhäutern.<br />
a) Dachziegelartige Plattenanordnung bei<br />
Agelacrinites (Devon – Karbon). Die überlappenden<br />
Skelettelemente verleihen dem Körper Flexibilität.<br />
b)<br />
b) Mosaikartige Plattenanordnung bei Echinus<br />
(Tertiär – rezent). Durch diese Anordnung wird dem<br />
Körper Stabilität verliehen. Aus Ziegler (1998).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
122 Heiko Steinke<br />
Ambulakralfeld (= Radius)<br />
A<br />
Interambulakralfeld<br />
(= Interradius)<br />
Ocellarplatten<br />
B<br />
E<br />
Genitalplatten<br />
Periprokt<br />
Madroporenplatte<br />
C<br />
a)<br />
D<br />
b)<br />
Abb. 9 Lage der Interambulakral- und Ambulakralfelder<br />
am Beispiel eines von oben betrachteten,<br />
stilisierten regulären Seeigels.<br />
a) Aus kleineren Platten bestehende Ambulakralfelder<br />
(A – E), dazwischenliegende, aus größeren<br />
Skelettplatten bestehende Interambulakralfelder.<br />
b) Ausschnittvergrößerung des Apikalfeldes mit<br />
den Ocellarplatten, den Genitalplatten sowie der<br />
Madroporenplatte und dem Periprokt. Verändert<br />
nach Westheide (1996).<br />
Echinodermaten ist eine dünne Haut, die<br />
das Stützskelett inklusive der Auswüchse,<br />
wie z. B. die Stacheln der Seeigel, überzieht.<br />
Ein weiteres gemeinsames Merkmal<br />
ist die oben bereits erwähnte pentamere<br />
Symmetrie. Diese ist äußerlich nicht immer<br />
gut zu erken nen, findet sich aber in allen<br />
Gruppen. Besonders deutlich wird diese<br />
Fünfstrahligkeit in dem allen Gruppen<br />
gemeinsamen Ambulakral- oder Wassergefäßsytem.<br />
Dieses – im Tierreich einmalige<br />
– Gefäß system bildet einen Ringkanal<br />
um die Mundöffnung der Tiere und<br />
verzweigt sich in 5 Seitenkanäle (Radialkanäle),<br />
die dann die Symmetrie der äußeren<br />
Gestalt der Tiere bestimmen. Von<br />
diesen Seiten kanälen zweigen wiederum<br />
kleine „Ambulakralfüßchen“ ab, die das<br />
Stützskelett durchstoßen und als Fortbewegungs-<br />
oder Atmungsorgane dienen<br />
(Abb. 6).<br />
Das Stützskelett besteht aus Kalzit (Kalziumkarbonat:<br />
CaCO 3<br />
) mit einem Magnesiumkarbonatanteil<br />
(MgCO 3<br />
) von 3 bis<br />
15 % (Ziegler 1998). Dabei steigt z. B. bei<br />
Seeigeln der Magnesiumanteil mit zunehmender<br />
Wassertemperatur (Etter 1994) an<br />
wie Abb. 7 zeigt.<br />
Das Skelett umschließt die Leibeshöhle<br />
(Coelom) der Stachelhäuter. Die Bereiche,<br />
die über den Radialkanälen (Abb. 6)<br />
liegen und in denen das Ambulakralsystem<br />
das Skelett durchdringt („Ambulakralfüßchen“),<br />
werden Ambu lakralfelder oder Radien<br />
genannt, die Zonen dazwischen Interambulakralfelder<br />
oder Inter radien (Abb. 9).<br />
Die einzelnen Skelettelemente sind maschenartig<br />
aus kleinen Kalkbälkchen aufgebaut.<br />
Dieses Maschengeflecht wird als<br />
Stereom bezeichnet. Die Hohlräume des<br />
Geflechts werden von Bindegewebs zellen<br />
ausgefüllt, die einzelne Skelettplatten<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
123<br />
miteinander verbinden. Überlappen sich<br />
diese Platten dachziegelartig, verleihen sie<br />
dem Körper Flexibilität, sind sie mosaikartig<br />
ohne Überlappung angeordnet, eher<br />
Stabilität (Abb. 8).<br />
Echinodermaten sind in der Regel getrenntgeschlechtlich,<br />
wobei keine ausgeprägten<br />
Unterschiede zwischen den<br />
Geschlechtern vorliegen (kein „Geschlechtsdimorphismus“).<br />
Eier und Samen<br />
werden ins Wasser abgegeben, wo sie<br />
sich vereinen. Aus den befruchteten Eiern<br />
wächst zunächst eine zweiseitig (bilateral)<br />
symmetrische Larve heran, die in der Wassersäule<br />
schwebend (plank tisch) lebt. Nach<br />
eini gen Wochen durchläuft die Larve eine<br />
Metamorphose, und es entwickelt sich die<br />
pentamere Sym metrie. Außerdem sinkt die<br />
Larve zu Boden und lebt fortan benthisch.<br />
Die Lar ven besitzen anfangs drei Leibeshöhlen:<br />
Aus der Mesocoel genannten Leibeshöhle<br />
entwickelt sich das Ambulakralsystem,<br />
aus der Metacoel genannten das<br />
Coelom der adulten Tiere. Eine dritte, das<br />
Protocoel, geht bei eini gen Gruppen verloren,<br />
bei den übrigen umgibt es den Steinkanal<br />
(Abb. 6), eine z. T. kalzifizierte Röhre,<br />
die den Ringkanal über eine Siebplatte<br />
(Madreporenplatte, Abb. 9) an der Coronenoberseite<br />
mit der Außenwelt verbindet<br />
und vermutlich dem Druckausgleich dient<br />
(Ziegler 1998).<br />
Seeigel<br />
Seeigel sind kleine bis mittelgroße Stachelhäuter<br />
mit einer meist rundlichen bis<br />
ovalen Skelettkapsel aus Kalzit, die Corona<br />
genannt wird. Der Mund liegt auf der<br />
Unterseite der Corona (Oralseite). Die<br />
Ambulakralfelder rei chen vom Mund bis<br />
zum Scheitelpunkt, der der Mundöffnung<br />
gegen überliegt.<br />
Die ersten Echinoideen erschienen<br />
bereits im mittleren Ordovizium, ihre<br />
eigentliche Blütezeit erlebten sie aber ab<br />
dem Mesozoikum.<br />
Man unterscheidet zwischen regulären<br />
(Regulares) und irregulären (Irregulares)<br />
Seeigeln. Die Irregulares erschienen erst<br />
im Unteren Jura. Während die Regulares<br />
eher an Hartsubstratböden angepasst sind,<br />
besiedeln die Irregulares bis heute Weichsubstratböden,<br />
in denen sie z. T. eingegraben<br />
leben. Die regulären Seeigel sind annähernd<br />
halbkugelförmig, mit eindeutig<br />
pentamerer Symme trie. Die Mundöffnung<br />
liegt auf der dem Substrat zugewandten<br />
Unterseite, der After liegt direkt ge genüber<br />
im Scheitelpunkt der Corona. Dadurch<br />
verläuft die Körperachse vertikal, und die<br />
Tiere haben keine defi nierte Vorder- oder<br />
Hinterseite. Es ist den Regulares somit<br />
möglich, bei der Fort bewegung die Richtung<br />
zu wechseln, ohne den Körper drehen<br />
zu müssen.<br />
Die irregulären Seeigel sind meist oval<br />
bis herzförmig, bei ihnen verblieb der<br />
Mund zwar auf der Unter seite, wanderte<br />
aber im Laufe der Stammesgeschichte in<br />
Richtung des vorderen Randes. Der After<br />
verlagerte sich innerhalb des hinteren<br />
Interradius aus dem Scheitelpunkt heraus<br />
nach hinten, z. T. so gar bis auf die Unterseite<br />
(Abb. 10). Dadurch ergibt sich eine<br />
sekundär ausgebildete Bilateralsymmetrie<br />
und die Seeigel haben eine definierte Vorder-<br />
und Hinterseite. Die Merkmalsänderungen<br />
bei der Entwicklung der Irregu lares<br />
zeigt Abb. 11.<br />
Der Aufbau des Ambulakralsystems<br />
bleibt jedoch fünfstrahlig. Zur besseren<br />
Orientierung werden die Ambulakralfelder<br />
der Echinoideen durchgehend mit den<br />
Buchstaben A – E benannt. Von oben gesehen<br />
ist A stets das Ambulakralfeld, das<br />
links neben der dorsal gelegenen Madreporenplatte<br />
(Abb. 9) liegt. Des Weiteren<br />
entspricht A immer dem Ambu lakralfeld,<br />
in dessen Richtung der Mund bei den<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
124 Heiko Steinke<br />
(a)<br />
(b)<br />
Abb. 10 Vergleich der Lage und Orientierung<br />
der Ambulakralfelder bei (a) regulären und (b)<br />
irregulären Seeigeln. Oberseiten weiß, Unterseiten<br />
punktiert. Mundöffnung (offener Kreis), Afteröffnung<br />
(Dreieck), Madreporenplatte (schwarzer<br />
Kreis). Die Entstehung der Bilateralsymmetrie aus<br />
der fünfstrahligen Radialsymmetrie ist unverkennbar.<br />
Verändert nach Ziegler (1998).<br />
Abb. 11 Veränderungen der Merkmale und Morphologie<br />
bei der Evolution der irregulären aus den<br />
regulären Seeigeln im Jura. Diese Veränderungen<br />
wurden durch einen Wechsel des besiedelten Substrats<br />
verursacht, vom Leben auf zum grabenden<br />
Leben im Sediment. Verändert nach Ziegler (1998).<br />
irregulären Seeigeln wanderte. Die anderen<br />
Ambu lakralfelder sind dann entgegen dem<br />
Uhrzeigersinn weiter mit B, C, D und E<br />
benannt (Abb. 10).<br />
Im Scheitelpunkt der Echinoideen befinden<br />
sich neben der Afteröffnung (nur<br />
bei den Regulares) auch noch fünf Genitalplatten<br />
in den Interradien (Abb. 9) und<br />
fünf sogenannte Ocellarplatten in den Radien.<br />
Eine der Genitalplatten ist siebartig<br />
perforiert und wird daher auch Sieb- oder<br />
Madreporenplatte genannt. Diese Gesamtkonstruktion<br />
wird Apikalfeld genannt und<br />
kann an hand der Plattenanordnung zur<br />
Art- oder Gattungsbestimmung herangezogen<br />
werden. Unterhalb der Genitalplatten<br />
befinden sich die Geschlechtsorgane<br />
(Gonaden) der Tiere. Über eine Öffnung<br />
in der Platte können Ei- oder Samenzellen<br />
abgelaicht werden. Bei den Irregulares<br />
ist meist die Gonade im hinteren Interambulakralfeld<br />
zurückgebildet, da der After in<br />
diese Richtung gewandert ist.<br />
Die Corona heute lebender Echinoideen<br />
besteht aus 20 Plattenreihen, jeweils 2<br />
pro Ambulakralfeld und Interambulakralfeld.<br />
Paläozoische Echinoideen besaßen<br />
z. T. mehr Plattenreihen, jedoch überleb ten<br />
nur solche mit 20 Reihen den Übergang<br />
zum Mesozoikum. Die Skelettplatten der<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
125<br />
Seeigel sind wie die aller Echinodermaten<br />
maschenartig aufgebaut. Die Hohlräume<br />
des Stereoms sind mit Kollagenfa sern gefüllt,<br />
die die Platten zusammenhalten. Einige<br />
irreguläre Seeigel, wie die Clypeasteroidea<br />
(u. a. „Sand-Dollars“), versteifen<br />
ihre stark abgeflachte Corona noch mit<br />
Querverstrebungen. Die Plat ten der Ambulakralfelder<br />
sind in der Regel kleiner als<br />
die der Interambulakralfelder (Abb. 9). Sie<br />
besitzen au ßerdem Poren, durch die die<br />
Ambulakralfüßchen hinausragen. Je nach<br />
Füßchentyp können ein oder zwei Poren<br />
vorhanden sein. Bei den irregulären Seeigeln<br />
können die Ambulakralfelder auf<br />
der Coronenoberseite sogenannte Petalodien<br />
bilden. Dabei werden die Ambulakralfelder<br />
vom Scheitel punkt aus breiter<br />
und zum Rand hin wieder schmaler. Es<br />
entsteht ein blütenblattähnliches Gebilde,<br />
wie Abb. 12 beispielhaft zeigt.<br />
Die Herzseeigel (Spatangoida) bilden<br />
auf der Coronenunterseite, direkt unter<br />
der Mundöffnung eine Art feste „Unterlippe“,<br />
das Labrum, aus. Irreguläre Seeigel<br />
der Ordnung Cassiduloida bilden um den<br />
Mund herum eine Art Trichter, der Floscelle<br />
genannt wird.<br />
Die Ambulakralfüßchen der Seeigel erfüllen<br />
verschiedene Aufgaben. Bei den regulären<br />
Echino ideen sitzen an der Mundseite<br />
meist Saugfüßchen, mit denen sich<br />
die Tiere fortbewegen können und ohne<br />
die ein Erklettern von Riffen oder Felsen<br />
nicht möglich wäre. An den Körperflanken<br />
sitzen meist Tastfüßchen, an der Oberseite<br />
Kiemenfüßchen. Diese sind gerade bei<br />
den Irregulares in den Petalodien konzentriert.<br />
Die grabenden Herzseeigel besitzen<br />
zusätzlich noch Kittfüßchen, diese sitzen<br />
auf der Oberseite im vorderen Radius und<br />
in der Afterregion und dienen dazu, beim<br />
Graben das Substrat zu stabilisieren. Die<br />
Kiemenfüßchen sind immer durch zwei<br />
Poren in den Ambulakralplatten mit dem<br />
Ambulakralsystem verbunden. Die Ambulakralflüssigkeit<br />
wird hydraulisch durch<br />
eine Pore in die Füß chen ge pumpt, kann<br />
dort schnell Sauerstoff aufnehmen und gelangt<br />
dann durch die zweite Pore in einer<br />
Art Kreislauf zurück in das Coelom. Dort<br />
wird der Sauerstoff wieder abgeben. Andere<br />
Füßchen typen können mit einer oder<br />
zwei Poren mit dem Ambulakralsystem<br />
verbunden sein.<br />
Abb. 12 Die Ambulakralfelder der irregulären<br />
Seeigel können auf der Oberseite des Gehäuses<br />
blütenblattartige Strukturen, die Petalodien, ausbilden.<br />
In diesen befinden sich hauptsächlich an<br />
Atmung angepasste Ambulakralfüßchen.<br />
a) Clypeasteroida (Clypeaster, Tertiär – rezent),<br />
b) Cassiduloida (Echinolampas),Tertiär – rezent),<br />
c) Spatangoida (Micraster, Kreidezeit). Verändert<br />
nach Ziegler (1998).<br />
Petalodium<br />
Petalodium<br />
a) b) c)<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
126 Heiko Steinke<br />
Primärstachel<br />
Pedicellarien<br />
Sekundärstacheln<br />
Abb. 13 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme<br />
eines Primärstachelansatzes bei einem<br />
regulären Seeigel. Die Sekundärstacheln schützen<br />
den Ansatz der Primärstacheln mit dazugehörigem<br />
Muskelapparat. Kleine Zangenapparate (Pedicellarien)<br />
dienen der Verteidigung und Reinigung.<br />
Verändert nach Boardman & Cheetham (1987).<br />
Abb. 14 Die „Laterne des Aristoteles“, der komplex<br />
aufgebaute Kiefer- und Kauapparat der regulären<br />
Seeigel. Erkennbar ist auch hier die fünfstrahlige<br />
Symmetrie. Zähne (1), Pyramide (2), Epiphyse<br />
(3), Rotula (4) und Kompass (5) sind Bestandteile<br />
des Kieferapparates. Aus Ziegler (1998).<br />
Wichtigstes äußeres Merkmal der Seeigel<br />
sind die Stacheln. Diese sind über<br />
ein Kugelgelenk mit der Corona verbunden<br />
und können mit einem Muskelapparat<br />
bewegt werden. Die Stacheln kön nen,<br />
abhängig von der Lebensweise der Arten,<br />
verschiedene Formen annehmen. Es sind<br />
schmale, lange und spitze, aber auch bauchige,<br />
abgerundete entwickelt. Aufgabe<br />
der Stacheln ist in erster Linie die Verteidigung,<br />
einige Seeigelarten bewegen sich<br />
auch mithilfe ihrer Stacheln fort. Neben<br />
den großen Primärsta cheln gibt es noch<br />
kleinere Sekundärstacheln, diese schützen<br />
z. B. die Muskulatur der Primärsta cheln,<br />
wie in Abb. 13 zu sehen ist.<br />
Bei einigen Arten tragen die Stachelspitzen<br />
Giftdrüsen. Die Stacheln der irregulären<br />
Echinoideen sind deutlich kleiner<br />
als die der regulären und häufig borstenartig.<br />
Dabei sind sie oft nach hinten orientiert<br />
und bilden ähnlich wie das Fellkleid<br />
bei Säugetieren einen „Strich“. Stacheln an<br />
der Körperunter seite sind bei ihnen schaufelartig<br />
verbreitert und dienen als Grabinstrumente.<br />
Da Saugfüße auf Weichsubstrat<br />
zur Fortbewegung nutzlos sind,<br />
bewegen sich irreguläre Seeigel nur mithilfe<br />
ihrer Stacheln fort. Die Herzseeigel<br />
besitzen zusätzlich sogenannte Fasciolen,<br />
Bänder auf der Oberseite und im Afterbereich,<br />
die mit wimpernbesetzten kleinen<br />
Stacheln (Clavulae) be stückt sind. Diese<br />
erzeugen Wasserströme, die der Sauerstoffversorgung<br />
oder der Entsorgung von<br />
Kot dienen.<br />
Zusätzliche Körperanhänge sind die Pedicellarien,<br />
kleine dreibackige Zangenapparate,<br />
die der Verteidigung und der Reinigung<br />
des Körpers dienen (Abb. 13). Bei<br />
einigen Arten sind auch die Pedicellarien<br />
mit Giftdrüsen ausgestattet.<br />
Der Kieferapparat der Seeigel wird<br />
nach Plinius dem Älteren (23 – 79 n. Chr.)<br />
„Laterne des Aristoteles“ genannt. Er ist<br />
wie das Ambulakralsystem fünfstrahlig<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
127<br />
angelegt und hat kräftige, kalzitische Zähne<br />
(Abb. 14). Bei den meisten irregulären<br />
Seeigeln sind die Kiefer zurückgebildet<br />
bzw. gar nicht mehr vorhanden. Oftmals<br />
sind sie im Jugendstadium noch existent,<br />
bilden sich aber bei den erwach senen Tieren<br />
wieder zurück.<br />
Reguläre Seeigel weiden mit ihren Zähnen<br />
den Meeresboden ab, wobei sie meist<br />
Allesfresser sind. Die Irregulares hingegen<br />
ha ben sich an kleinste Nahrungsteilchen<br />
angepasst. Mithilfe der Saug-oder Kittfüßchen<br />
sammeln sie pflanzliche und tierische<br />
Partikel auf und führen sie zum Mund. Die<br />
Herzseeigel schaben mithilfe ihres Labrums<br />
das Sediment ab und verdauen die<br />
ver wertbaren Anteile, der unverdauliche<br />
Rest wird wieder ausgeschieden (Ziegler<br />
1998).<br />
Der fossile, irreguläre Seeigel Nucleolites<br />
Systematik und Beschreibung<br />
Systematik nach Kier 1966:<br />
Stamm: ECHINODERMATA<br />
Klasse: ECHINOIDEA<br />
Unterklasse: EUECHINOIDEA<br />
Überordnung: ATELOSTOMATA<br />
Ordnung: CASSIDULOIDA<br />
Familie: Nucleolitidae<br />
Gattung: Nucleolites<br />
Verkürzte Synonym-Liste nach Kier 1966:<br />
Nucleolites LAMARCK 1801<br />
Nucleolites scutatus LAMARCK 1816;<br />
Echinobrissus GRAY 1825;<br />
Nucleolites cordatus GOLDFUSS 1826;<br />
Nucleolites subquadratus AGASSIZ 1839;<br />
Nucleolites gracilis AGASSIZ 1840;<br />
Nucleolites elongatus AGASSIZ 1840;<br />
Nucleolites amplus AGASSIZ 1847;<br />
Echinobrissus burgundiae COTTEAU 1871;<br />
Echinobrissus lorioli COTTEAU 1871;<br />
Echinobrissus humilis GAUTHIER 1875.<br />
Die Ordnung der Cassiduloida stellt eine<br />
der ursprünglichsten Gruppen der irregulären<br />
Seeigel dar und ist seit dem Oberen<br />
Unterjura bekannt. Einen besonders hohen<br />
Artenreichtum erlebte sie in der Erdneuzeit<br />
(Känozoikum), im Eozän. Kier (1966)<br />
berichtet im „Treatise On Invertebrate<br />
Paleontology“ von 500 bekannten Spezies<br />
in dieser Zeit. Seitdem hat die Anzahl<br />
der Arten allerdings wieder deutlich abgenommen,<br />
es sind heute nur noch sechzehn<br />
bekannt (Kier 1966, Ziegler 1998). Die Familie<br />
der Nucleolitidae ist seit dem Bajocium<br />
(Mitteljura) bekannt und überlebte<br />
bis ins Campan (Kier 1966). Nach Ziegler<br />
(1998) stammen die Cassiduloida von den<br />
Holectypoida ab (Abb. 22). Die Abstammung<br />
der Cassiduloida nach Kier (1966)<br />
zeigt Abb. 15.<br />
Frühe Cassiduloiden besitzen zwar bereits<br />
die sekundäre Bilateralsymmetrie der<br />
Irregularia, sind aber ansonsten noch nicht<br />
so stark abgeleitet wie spätere Gruppen<br />
(z. B. die Spatan goida) der irregulären Seeigel<br />
(Kier 1966, Ziegler 1998). Während<br />
die Evolution der Cassiduloida im Jura zunächst<br />
noch relativ langsam verläuft, findet<br />
in der Kreide eine deutlich schnellere<br />
Entwicklung statt (Ziegler 1998). Alle<br />
Ambulakralplat ten der jurassischen Cassiduloiden<br />
sind zweiporig, erst in der Kreide<br />
findet eine Differenzierung in ein- und<br />
zweiporige Bereiche statt (Kier 1966). Die<br />
Ambulakralfelder auf der Oberseite sind<br />
petaloid und bis zum Coronenrand ausgebildet<br />
(Abb. 12). Sie sind zum Rand hin offen.<br />
Im Laufe der Entwicklungsgeschichte<br />
der Cassiduloida erhöht sich deren Corona<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
128 Heiko Steinke<br />
Abb. 15 Stammesgeschichte der Ordnung<br />
Cassiduloida. Die Familie der Nucleolitidae (rot<br />
umrandet) erscheint im Mitteljura und stirbt zum<br />
Ende der Kreidezeit wieder aus. Nucleolites (gelbe<br />
Linie) ist seit dem Bajocium bekannt und überlebt<br />
bis ins Cenoman (Oberkreidezeit). Verändert nach<br />
Kier (1966).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
129<br />
und die Petalo dien be schränken sich auf<br />
den Mittelteil der Oberseite des Gehäuses.<br />
Diese Entwicklung zeigt Abb. 16.<br />
Ein weiteres gemeinsames Merkmal<br />
dieser Ordnung ist die Ausbildung einer<br />
sogenannten Floscelle, einer trichterförmigen<br />
Einbuchtung um die Mundöffnung<br />
(Peristom) herum (Ziegler 1998). Die<br />
Ambulakralfelder bilden innerhalb dieser<br />
Floscelle sogenannte Phyllodien aus,<br />
die um das Peristom eine Rosette bil den<br />
(Abb. 17). Die Phyllodien stellen, ähnlich<br />
wie die Petalodien, Bereiche mit angepassten<br />
Ambulakralfüßchen dar. Während<br />
in den Petalodien die Atemfüßchen sitzen,<br />
entwickeln sich in den Phyllodien zur<br />
Nahrungsaufnahme geeignete Füßchen<br />
(Kier 1966).<br />
Die ebenfalls in Abb. 17 gezeigten<br />
Bourrelets sind Ausbuchtungen der Interambulakralfelder,<br />
auf denen Stacheln<br />
zum Schutz des Peristoms sitzen (http://<br />
www.nhm.ac.uk/research-curation/<br />
research/projects/echinoid-directory/taxa/<br />
glossary.jsp?begins=B&showImageID=32,<br />
02.04.2010). Die Entwicklung der Phyllodien<br />
und Bourrelets vollzieht sich ebenfalls<br />
hauptsächlich während der Kreidezeit<br />
(Kier 1966).<br />
Die Rückbildung des Kieferapparates bei<br />
den irregulären Seeigeln ist bei den Cassiduloiden<br />
noch nicht vollständig vollzogen,<br />
zumindest bei Jungtieren ist der Kauapparat<br />
mit abgewandelten Zähnen noch vorhanden<br />
(Ziegler 1998).<br />
Die Afteröffnung ist bei frühen Cassiduloiden<br />
noch in Kontakt mit dem<br />
Scheitelpunkt, wandert aber im Laufe der<br />
Stammesentwicklung im hinteren Interambulakralfeld<br />
aus dem Scheitelpunkt<br />
he raus in Richtung des Hinterrandes der<br />
Corona (Kier 1966). Spätere Cassiduloida<br />
entwickeln unterschiedliche Stacheltypen<br />
auf Mund- und Oberseite, frühe<br />
Gattungen zeigen jedoch noch ähnlich<br />
Jura Kreide tertiär Quartär<br />
oberjura unterkreide oberkreide<br />
Mitteljura<br />
f<br />
e<br />
d<br />
c<br />
B<br />
a<br />
echinolampas<br />
Pliolampas<br />
Gitolampas<br />
Pygorhynchus<br />
Nucleolites<br />
clypeus<br />
Abb. 16 veränderung der lage der Petalodien bei<br />
den cassiduloida vom Mitteljura bis ins Quartär.<br />
der Bereich petaloid ausgebildeter ambulakralfelder<br />
(schattiert) verlagert sich von der Gehäuseoberseite<br />
(a) bis hin zu einer kleinen region im<br />
scheitelbereich (f). damit geht eine erhöhung der<br />
Gehäuse einher. Bereich nicht petaloider ambulakralfelder<br />
(schwarz). linke ansicht (a – f) Gehäuseoberseiten,<br />
vorderseite des tieres oben, rechte<br />
reihe (a – f) linke Gehäuseseite. Nach Kier (1966).<br />
ausgeprägte Stachelwarzen, was einen<br />
Hinweis auf gleiche Stacheltypen darstellt.<br />
Die Gestalt der Cassiduloida wandelt sich<br />
von eher rundlichen jurassischen Formen<br />
ab der frühen Kreide zu mehr ovalen Gehäusen<br />
(Kier 1966).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
130 Heiko Steinke<br />
bp =<br />
Buccal pore<br />
Phyllodium<br />
Bourrelet<br />
Mundöffnung<br />
Abb. 17 Rasterelektronenmikroskopische<br />
Aufnahme einer Floscelle der Cassiduloida, eine<br />
sternförmige, trichterartige Einbuchtung um die<br />
Mundöffnung. Sie vereinfacht die Nahrungsaufnahme.<br />
Die Phyllodien tragen Ambulakralfüßchen, die<br />
der Nahrungsaufnahme dienen. Bourrelets sind<br />
Ausbuchtungen der Interambulakralfelder mit Stacheln<br />
zum Schutz der Mundöffnung. Buccalporen<br />
sind vergrößerte Ambulakralporen mit Nahrungsfüßchen<br />
direkt an der Mundöffnung. Quelle: www.<br />
nhm.ac.uk/research-curation/research/projects/<br />
echinoid-directory/taxa/glossary.jsp (02.04.2010)<br />
Nucleolites war ein früher Cassiduloide<br />
und vom Bajocium (Mitteljura) bis zum<br />
Cenomanium (Unterkreide) in Europa<br />
und Nordafrika verbreitet (Kier 1966).<br />
Es handelt sich um kleine bis mittelgroße<br />
Echinoideen. Die vermessenen Coronen<br />
sind zwischen 10 und knapp 30 mm<br />
lang. Das Gehäuse ist rundlich bis oval,<br />
mit der größten Breite im hinteren Drittel<br />
der Corona. Das Peristom ist aus der<br />
Mitte der Unterseite in Richtung des vorderen<br />
Ambulakralfeldes zum Rand hin<br />
verschoben. Das Peri prokt befindet sich<br />
außerhalb des Scheitelpunktes im hinteren<br />
Interambulakralfeld, wobei unterhalb<br />
der Afteröffnung ein Kanal ausgebildet ist.<br />
Die Petalodien sind gering ausgeprägt und<br />
zum Körper rand hin geöffnet. Alle Ambulakralfelder<br />
sind doppelporig angelegt, des<br />
Weiteren sind keine Fasciolen ausgebildet.<br />
Die Stachelwarzen der Unter- und Oberseiten<br />
der Tiere sind ähn lich ausgebildet,<br />
was auf gleiche Stachelgrößen und -typen<br />
hinweist. Die Unterseite von Nucleolites ist<br />
nach innen gewölbt und bildet eine Floscelle.<br />
Die Nucleolites-Exemplare dieser Untersuchung<br />
stammen aus den Kalksedimenten<br />
des Kimmeridgium (Oberjura) von Hannover<br />
und Umgebung. Struckmann (1878)<br />
beschreibt die Gesteine als Wechselfolgen<br />
von gebankten, gelblichen bis grauen<br />
Kalk- und Mergelsteinen. Laut geologischer<br />
Stadtkarte von Hannover (Rohde<br />
& Becker-Platen 1998) handelt es sich<br />
um ge bankte Kalksteine mit eingeschalteten<br />
Mergelkalklagen. Weitere Gesteinsbeschreibungen<br />
finden sich bei Lepper &<br />
Richter (2008). Die von ihnen als „dichte<br />
graue Kalksteine“ und „gelblich-graue Dolomite“<br />
bezeichneten Steine des Beginenturms<br />
in Hannover stammen vermutlich<br />
zumindest teilweise aus den Kalksteinbrüchen<br />
am Lindener Berg und am Tönniesberg<br />
und damit ebenfalls aus Schichten des<br />
Kimmeridgium (Lepper & Richter 2008).<br />
Betrachtet man die paläogeographische<br />
Karte (Abb. 5) des Fundgebietes, so<br />
wird klar, dass es sich um ein küstenfernes<br />
karbonatisches Sedimentationssystem<br />
ohne Eintrag von terrestrischen Sedimenten<br />
gehandelt haben muss. Da die sedimentologischen<br />
Befunde keine Hinweise<br />
auf wellenverur sachte Strukturen liefern,<br />
kann man davon ausgehen, dass der Lebensraum<br />
von Nucleolites unterhalb der von<br />
Wellen erreichten Zone („Sturmwellenbasis“)<br />
lag. Als auf dem Sediment lebende<br />
Be gleit fauna von Nucleolites wurden in der<br />
Struckmann-Sammlung in der Hauptsache<br />
Armfüßer (Brachio poden, Ordnung:<br />
Terebratula), Schnecken (Gastropoda,<br />
Ordnungen: Nerinea, Natica) sowie einige<br />
reguläre Seeigel (z. B. Pseudodiadema)<br />
gefunden. Die im Sediment lebende Begleitfauna<br />
setzt sich neben weiteren irregulären<br />
Seeigeln der Gattung Pygurus in der<br />
Hauptsache aus Muscheln (Bivalvia) zusammen.<br />
Im Wesentlichen waren folgende<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
131<br />
Gat tungen vorhanden: Cyprina, Turacia<br />
und Lucina. Diese Bezeichnungen stammen<br />
allerdings noch aus den 1870er Jahren<br />
und sind daher veraltet. Sie bedürfen einer<br />
Revision.<br />
Da neben den Brachiopoden weitere filtrierende<br />
Organismen weitestgehend fehlen<br />
und diese in der Lage sind, auch längere<br />
Perioden ohne Nahrung zu überstehen<br />
(mündl. Mit teilung M. Krautter), kann<br />
man auf eine an schwebenden Nahrungspartikeln<br />
verarmte Wassersäule schließen.<br />
In diesem Milieu waren Sedimentfresser<br />
im Vorteil.<br />
Nach Kier (1966) geht eine zunehmende<br />
Eingrabtiefe mit verschiedenen Anpassungen<br />
bei den irregulären Seeigeln einher.<br />
Die zweiporige Ausbildung der Ambulakralfelder<br />
wird in der Re gel mit Atemfüßchen<br />
verbunden und beschränkt sich bei<br />
den Irregularia weitestgehend auf die Petalodien.<br />
Diese wandern mit zunehmender<br />
Eingrabtiefe immer weiter auf die Oberseite.<br />
Bei den Cassiduloida entwickeln sich<br />
die zweiporigen Ambulakralfelder im Bereich<br />
der Phyllodien in einporige, was als<br />
Anpassung an Saugfüßchen zum Nahrungserwerb<br />
gedeutet wird (Kier 1966).<br />
Die Stacheln verändern sich von Verteidigungswerkzeugen<br />
zu Grab- und Fortbewegungshilfen.<br />
Bei den besonders tief<br />
grabenden Spatangoida entwickeln sich<br />
Fasciolen mit bewimperten Stacheln, die<br />
Wasserströme erzeugen (Kier 1966).<br />
Bei Nucleolites sind viele dieser Anpassungen<br />
noch nicht vollzogen: Die Ambulakralfelder<br />
sind durchgängig zweiporig<br />
und die Petalodien ziehen sich bis zum<br />
Coronenrand hin. Die gleichförmig ausgebildeten<br />
Stachelwarzen deuten auf wenig<br />
differenzierte Stacheltypen. Des Weiteren<br />
sind keine Fasciolen ausgebildet. Aufgrund<br />
dieser Merkmale kann angenommen werden,<br />
dass Nucleo lites das Sediment oberflächennah<br />
durchwühlt hat.<br />
Beschreibung ausgewählter<br />
Sammlungsstücke<br />
Die für diese Beschreibungen ausgewählten<br />
Stücke stellen die am besten erhaltenen<br />
Exemplare der „Sammlung<br />
Struckmann“ dar. An ihnen lassen sich besonders<br />
Feinstrukturen und für Nucleolites<br />
typische Merkmale erkennen und aufzeigen.<br />
Der weitaus größere Teil der Sammlung<br />
ist weniger gut erhalten. Zwar zeigen<br />
einzelne Stücke immer wieder auch Teilerhaltung<br />
von feinen Strukturen, jedoch nie<br />
so vollständig wie die für diese Arbeit ausgewählten.<br />
Abb. 18 zeigt das Stück mit der Inventarnummer<br />
4141. Es stellt ein Beispiel<br />
für ein moderat deformiertes Nucleolites-<br />
Exemplar dar. Deutlich erkennbar sind die<br />
Bruchlinien (schwarze Pfeile) am rechten<br />
hinteren Rand der Corona. Trotz der<br />
Deformation sind die Skelettelemente gut<br />
erhalten und man kann die unterschiedlich<br />
großen, zweireihigen Kalzitplatten<br />
der Ambulakralfel der (roter Pfeil) und der<br />
Interambulakralfelder (grüner Pfeil) unterscheiden.<br />
Zudem ist der von Nucleolites<br />
ausgebil dete Analkanal (blauer Pfeil) deutlich<br />
zu erkennen.<br />
In Abb. 19 (Inv. Nr. 4136) ist sehr deutlich<br />
der für Nucleolites typische ovale Umriss<br />
mit der brei tes ten Stelle im hinteren<br />
Drittel der Corona zu erkennen, der<br />
durch die Einbuchtung des Anal kanals<br />
eine leicht herzförmige Form erhält. Gut<br />
erkennbar sind die zum Rand der Corona<br />
hin ge öffneten petaloiden Ambulakralfelder<br />
(schwarze Pfeile) mit leicht<br />
schlitzförmigen Doppelporen. Diese zweiporige<br />
Ausbildung ist auch in den Phyllodien<br />
(grüne Pfeile) zu sehen. Die in der<br />
trich terförmigen Floscelle liegende, nach<br />
vorn verschobene Mundöffnung ist durch<br />
die Verfüllung mit Sediment ebenfalls erkennbar.<br />
In der Vorderansicht (Abb. 19 b)<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
132 Heiko Steinke<br />
Abb. 19 Nucleolites-Exemplar der „Sammlung<br />
Struckmann“ (Inventarnummer NLMH 4136).<br />
a) Gehäuseoberseite mit Afteröffnung rechts.<br />
Doppelporig ausgebildete, zum Rand hin offene<br />
petaloide Ambulakralfelder (schwarze Pfeile).<br />
b) Vorderansicht. Stachelwarzen (schwarze Umrandung).<br />
c) Unterseite des Gehäuses. Ebenfalls<br />
doppelporig angelegte Phyllodien (grüne Pfeile).<br />
Deutlich sichtbare mit Sediment verfüllte Mundöffnung.<br />
In a) und c) wird der ovale, leicht herzförmige<br />
Umriss des Seeigels deutlich.<br />
Abb. 18 Nucleolites-Exemplar der „Sammlung<br />
Struckmann“ (Inventarnummer NLMH 4141), hinten<br />
rechts deformiert. a) Hinteransicht b) Gehäuseoberseite,<br />
der After liegt rechts. Bruchkanten der<br />
Deformation (schwarze Pfeile). Skelettplatten sind<br />
trotz Beschädigung gut erhalten. Größere Interambulkralplatten<br />
(grüner Pfeil), kleinere Ambulakralplatten<br />
(roter Pfeil), Analkanal (blaue Pfeile).<br />
a)<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
133<br />
Abb. 20 Nucleolites-exemplar der „sammlung<br />
struckmann“ (inventarnummer NlMh 4135). oberseite<br />
des Gehäuses mit afteröffnung rechts. auf<br />
der linken Gehäuseseite, unten rechts, fehlt ein<br />
teil der schale, der steinkern ist jedoch vollständig<br />
erhalten. eine der vier Genitalöffnungen, durch<br />
sedimentverfüllung gut zu erkennen (schwarzer<br />
Pfeil).<br />
Abb. 21 Natürlich gewachsene Kalzitkristalle<br />
(caco3) – tinafields, istockphoto.com.<br />
lassen sich auch hier, ähnlich wie bei Inv.<br />
Nr. 4141 (Abb. 18), die unterschiedlich<br />
großen Skelettplatten der Interambulakralia<br />
und der Ambulakralia un terscheiden.<br />
Zudem sind bei diesem Stück an einigen<br />
Stellen der Corona noch die Stachelwarzen<br />
erhalten, wie hier am Beispiel der Vorderansicht<br />
(schwarze Ellipse) ge zeigt wird.<br />
Sie zeigen überall dort, wo sie erkennbar<br />
sind, eine ähnliche Ausprägung bezüglich<br />
ihrer Form und Größe.<br />
Das Nucleolites-Exemplar mit der Inventarnummer<br />
4135 stellt mit 14,4 mm Länge<br />
eines der kleineren Stücke der Samm lung<br />
dar (Abb. 20). Hier fehlt auf der linken<br />
Körperseite ein Teil der Schale. Da der<br />
Steinkern jedoch vollständig erhalten und<br />
nicht deformiert ist, ist davon auszugehen,<br />
dass die Schale erst nach der Fossilisation<br />
zerstört wurde, vielleicht sogar bei der<br />
Aufsammlung durch Struckmann selbst.<br />
Einige der Bruchkanten reflektieren beim<br />
Drehen das Licht. Das ist ein Hinweis auf<br />
ebene Kristallflächen wie sie bei Einkristallen<br />
vorkommen. Einkristalle bilden ein<br />
homogenes Kristallgitter (Borchardt-Ott<br />
2002). Bei der Fossi lisation der porösen<br />
Skelettelemente (Stereom) werden diese<br />
nicht wie die Lei beshöhle durch Sediment<br />
verfüllt (hier Steinkernbildung!), vielmehr<br />
wachsen in den Hohlräumen kleine Kalzit-Einkristalle<br />
heran, die diese ausfüllen<br />
(Ziegler 1998). Abb. 21 zeigt beispielhaft<br />
Kalzit-Einkristalle.<br />
Im Scheitelpunkt der Corona sind<br />
zudem noch die Genitalöff nungen<br />
(schwarzer Pfeil, Abb. 20) in den Interambulakralfeldern<br />
zu sehen. Es sind nur 4<br />
Öffnungen vor handen. Die bei den regulären<br />
Seeigeln vor handene 5. Genitalöffnung<br />
ist bei den Irregularia durch die Verlagerung<br />
des Periprokts nicht mehr vorhanden.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
134 Heiko Steinke<br />
Der rezente Nordsee-Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />
Systematik und Beschreibung<br />
Systematik nach Fischer (1966):<br />
Stamm: ECHINODERMATA<br />
Klasse: ECHINOIDEA<br />
Unterklasse: EUECHINOIDEA<br />
Überordnung: ATELOSTOMATA<br />
Ordnung: SPATANGOIDA<br />
Unterordnung: MICRASTERINA<br />
Familie: Loveniidae<br />
Gattung: Echinocardium<br />
Art: Echinocardium cordatum<br />
Synonym-Liste nach Fischer (1966):<br />
Echinus cordatus PENNANT 1777,<br />
Echinocardium GRAY 1825,<br />
Amphidetus AGASSIZ 1836<br />
Die Ordnung Spatangoida umfasst die<br />
Herzseeigel als solche. Nach Angaben von<br />
Fischer (1966) ist die darin enthaltene<br />
Gattung Echinocardium seit dem Oligozän<br />
bekannt. Laut Au toren des Natural History<br />
Museum London (www.nhm.ac.uk/<br />
research-curation/research/projects/echinoid-directory/taxa/taxon.jsp?id=331,<br />
02.04.2010) erscheinen Echinocar dien ab<br />
dem frühen Miozän und die Art Echinocardium<br />
cordatum ab dem unteren Plio zän.<br />
Die Spa tangoiden bilden die am stärksten<br />
abgeleitete Gruppe unter den irregulären<br />
Seeigeln. Nach Ziegler (1998) entstanden<br />
sie in der Unterkreide aus den Disasteroida,<br />
die sich ihrerseits aus den Cassi duloida<br />
oder Holectypoida ableiten (Abb. 22). Die<br />
Disasteroida waren bereits, wie die heutigen<br />
Spatangoiden, kieferlos (Ziegler 1998).<br />
Fischer (1966) gibt neben dieser Variante<br />
noch die Möglichkeit eines gemeinsamen<br />
un terju rassischen Vorfahren der Cassiduloida<br />
und der Spatangoida an.<br />
Die Spatangoiden unterscheiden sich<br />
von anderen irregulären Seeigelgruppen<br />
Abb. 22 Stammesgeschichte der Hauptgruppen<br />
der Seeigel. Die Ordnung Spatangoida (gelb umrandet)<br />
entsteht in der unteren Kreidezeit, vermutlich<br />
aus den Disasteroida. Aus Ziegler (1998).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
135<br />
durch das abgewandelte, nicht petaloide<br />
vordere Ambulakralfeld mit ausgebildeten<br />
Kittfüßchen, welches sie nur mit den<br />
Holasteroida gemeinsam haben (Ziegler<br />
1998). Des Weiteren bildeten sich im<br />
Laufe der Entwicklungsgeschichte dieser<br />
Abb. 23 Benthische Lebensgemeinschaften in der<br />
Nordsee (Deutsche Bucht). E. cordatum (vertikal<br />
schraffiert) lebt bevorzugt in küstenfernen, eher<br />
schlickigen Sanden außerhalb des Wattbereichs<br />
(gepunktete Linie), ist aber auch in der Lage, Perioden<br />
ohne Wasserbedeckung zu überleben. Aus<br />
Ziegler (1986).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
136 Heiko Steinke<br />
Ordnung die Fasciolen mit den Clavulae,<br />
das sind kleine wimpernbesetzte Stacheln,<br />
die Was serströme erzeugen (s. u.). Die<br />
Micrasterina bilden dabei eine Subanalfasciole<br />
aus, der die Loveniidae noch eine<br />
Internfasciole hinzufügen (Fischer 1966).<br />
Bei Echinocardium cordatum handelt es<br />
sich um eine weltweit verbreitete Art mit<br />
Vorkommen in Westeuropa, im Mittelmeerraum,<br />
in Neuseeland, in Taiwan und<br />
in Japan (www.nhm.ac.uk/research-curation/research/projects/echinoid-directory/<br />
taxa/taxon.jsp?id=331, 02.04.2010). Neben<br />
Echinocardium cordatum sind noch 4 weitere<br />
re zente Arten bekannt sowie einige ausgestorbene.<br />
Echinocardien sind mittelgroße<br />
Seeigel: Die vermessenen Coronen sind<br />
zwi schen 20 und 50 mm lang. Goldschmid<br />
(1996) gibt als Maximalgröße eben falls 5<br />
cm an, Bromley (1990) hinge gen nur 4 cm,<br />
erwähnt dabei aber auch die Größenabhängigkeit<br />
vom bewohnten Substrat. Echinocardien<br />
sind auf das Leben in sandigen<br />
bis schlickigen Substraten angepasst und<br />
finden optimale Lebensbedingungen im<br />
Feinsand (Bromley 1990, Ziegler 1998).<br />
Dabei leben in sandigen Sedimenten größere<br />
Individuen als in schlickigen (Bromley<br />
1990). Neben dem Substrat hat auch<br />
der Salzgehalt Einfluss auf die Größe der<br />
Tiere: Bei geringen Salzge halten von 15 bis<br />
20 ‰ in der Ostsee sind die Individuen im<br />
Abb. 24 E.-cordatum-Exemplar (stachellos)<br />
der „Sammlung Richter“.<br />
a) Gehäuseoberseite, Vorderseite oben. Nicht<br />
petaloides, kanalartig eingewölbtes Ambulakralfeld<br />
A (schwarzer Pfeil). Petaloide Ambulakralfelder E<br />
und D (grüne Pfeile). Internfasciole (roter Pfeil).<br />
b) Gehäuseunterseite, Vorderseite oben. Bohnenförmig<br />
ausgebildete Mundöffnung mit Labrum<br />
(gelber Pfeil), Plastron (blauer Pfeil).<br />
c) Gehäusehinterseite, Oberseite oben. Subanalfasciole<br />
(rote Pfeil); Afteröffnung (violetter Pfeil).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
137<br />
Abb. 25 E.-cordatum-Exemplar (bestachelt)<br />
der „Sammlung Richter“.<br />
a) Gehäuseoberseite, Vorderseite rechts. Kräftige,<br />
lange Schopfstacheln (schwarzer Pfeil).<br />
b) Gehäuseunterseite, Vorderseite rechts.<br />
Schaufelförmige Plastronstacheln (roter Pfeil).<br />
Durchschnitt kleiner als die der Nord see,<br />
in der Salzgehalte von bis zu 35 ‰ vorherrschen<br />
(Ziegler 1998). Allgemein sind<br />
Echinocardien in Wasser tiefen von wenigen<br />
Metern bis in etwa 150 m beobachtet<br />
worden (Ziegler 1998). Doerjes & Reineck<br />
(1977) ha ben bei Arbeiten über die Mellum-Sandbank<br />
in der Nordsee Exemplare<br />
von Echinocardium cordatum in Bereichen<br />
der Bank gefunden, die bei Ebbe trockenfallen.<br />
Die Seeigel sind also in der Lage,<br />
auch im Gezeitenbe reich zu existie ren<br />
und Perioden ohne Wasserbedeckung zu<br />
überstehen. Echi nocardien können hohe<br />
Siedlungs dichten mit bis zu 80 Individuen<br />
pro qm erreichen (Ziegler 1998). Aufgrund<br />
des häufigen Auftre tens, besonders in küstenfernen,<br />
schlickigen Sanden, lässt sich in<br />
der Deutschen Bucht eine Echi nocardiumcordatum-Lebensgemeinschaft<br />
(Biozönose)<br />
defi nieren, wie Abb. 23 zeigt (Ziegler<br />
1986).<br />
Der Umriss der Tiere ist herzförmig mit<br />
der größten Breite etwa in der vorderen<br />
Hälfte der Co rona, wohingegen sich das<br />
Gehäuse zum hinteren Ende hin verjüngt<br />
(Abb. 24 und 25). Das Ambu lakralfeld A<br />
ist nicht petaloid und bildet vom Scheitelpunkt<br />
bis zum Vorderrand einen Kanal<br />
(Abb. 24 a, schwarzer Pfeil). Die restlichen<br />
Ambulakralfelder hingegen sind petaloid<br />
ausgebildet und leicht nach innen<br />
gewölbt (Abb. 24 a, grüne Pfeile). Auf der<br />
Coronenoberseite ist in nerhalb der Petalodien<br />
eine Internfasciole ausgebildet (Abb.<br />
24 a, roter Pfeil). Die Afteröff nung ist innerhalb<br />
des hinteren Interambulakralfeldes<br />
zum Coronenrand verschoben und zeigt<br />
nach hinten (Abb. 24 c, lila Pfeil).<br />
Unterhalb der Afteröffnung ist eine<br />
Subanalfasciole ausgebildet (Abb. 24 c,<br />
roter Pfeil). Die Mundöffnung befindet<br />
sich in Richtung des Ambulakralfeldes A<br />
im vorderen Drittel der Unterseite und<br />
ist bohnenförmig ausgebildet (Abb. 24 b),<br />
der Kieferapparat ist vollständig zu rückgebildet.<br />
An das unterhalb der Mundöffnung<br />
liegende, unterlippenartige Labrum<br />
schließt sich nach hinten das sogenannte<br />
Plastron an (Abb. 24 b, gelber Pfeil = Labrum;<br />
blauer Pfeil = Plast ron).<br />
Echinocardien bilden verschiedene Stacheltypen<br />
aus. Am Rand des vorderen Ambulakralfeldes<br />
befinden sich lange, dicke<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
138 Heiko Steinke<br />
Scheitel- oder Schopfstacheln (Abb. 25<br />
a, schwarzer Pfeil), auf dem Plastron und<br />
am Rand der danebenliegenden Interambulakralia<br />
sind schaufelförmige Stacheln<br />
ausgebildet (Abb. 25 b, roter Pfeil). In den<br />
Fasciolen wachsen kleine wimpernbesetzte<br />
Sta cheln, die Clavu lae genannt werden.<br />
Der Rest des Körpers ist mit weiteren<br />
haarartigen, nach hin ten orientierten Stacheln<br />
bedeckt. In Abb. 26 ist die Lage der<br />
unterschiedlichen, bei Echino cardium cordatum<br />
vorkommenden Stacheltypen dargestellt.<br />
In Sandböden graben sich Echinocardien<br />
bis zu 20 cm tief ein. In größeren Wassertiefen<br />
mit fei nerem Sediment (Schlick)<br />
ist die Eingrabtiefe geringer und liegt nur<br />
noch bei 3 bis 5 cm (Bromley 1990, Ziegler<br />
1998). Die Grabtechnik, mit der sich die<br />
Seeigel eingraben, wird als Schaufelkreisen<br />
bezeich net. Mithilfe der schaufelartig<br />
verbreiterten Seitenstacheln wird Sediment<br />
seitlich und nach oben befördert,<br />
wobei der Körper langsam einsinkt. Dabei<br />
werden die Schopfstacheln (Abb. 25) der<br />
Tiere mit einer Schleimabsonderung der<br />
Kittfüßchen, die sich am Vorderrand der<br />
Corona befinden, eingestrichen und gegen<br />
das Substrat gedrückt. Echinocardien<br />
besitzen ca. 70 dieser Kittfüßchen im Bereich<br />
des Ambulakralfeldes A (Kaestner<br />
1963). Durch den Schleim wird das Substrat<br />
verfestigt und der Atemgang bleibt<br />
frei. Bei horizontaler Fortbewegung innerhalb<br />
des Sediments lockern die vorderen<br />
Stacheln das Substrat und die Seitenstacheln<br />
des Tieres befördern es nach<br />
hinten. Die Plastronstacheln (Abb. 25)<br />
bringen die Echinocardien nach vorn. Dabei<br />
werden die Stacheln stets mit Schleim<br />
versorgt, der die Gangwände stabilisiert<br />
(Ziegler 1998). Diese Art des Grabens<br />
wird Rücktransport genannt. Es entsteht<br />
hinter dem Tier ein Stopfgefüge mit einer<br />
sogenannten „Meniskus-Struktur“ (Abb.<br />
27; Bromley 1990). Im Afterbereich sorgen<br />
ebenfalls Stacheln dafür, dass ein blind<br />
endender Abwasserkanal angelegt wird.<br />
Dieses geschieht auch mithilfe von substratstabilisierendem<br />
Schleim, der hier von<br />
Schutzstacheln der<br />
Ambulakralfelder<br />
Stacheln, die den Atemgang<br />
freihalten (Schopfstacheln)<br />
Seitenstacheln<br />
Schaufelstacheln<br />
Stacheln, die den<br />
Abwasserkanal freihalten<br />
Fortbewegungsstacheln des<br />
Plastrons (Plastronstacheln)<br />
Schutzstacheln der<br />
Ambulakralfelder<br />
Grabstacheln<br />
Schaufelstacheln<br />
Mundbereichsstacheln<br />
Abb. 26 E. cordatum bildet verschiedene Stacheltypen<br />
aus. Ihre Lage auf dem Gehäuse sowie die<br />
Funktionen sind dargestellt. Vorderseite rechts.<br />
Verändert nach Boardmen & Cheetham (1987).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
139<br />
Atemgang<br />
Aufgegebener<br />
verschlossener<br />
Atemgang<br />
Wohngang mit<br />
Abwasserkanal<br />
im Querschnitt<br />
Wohngang mit Abwasserkanal im Längsschnitt<br />
Abb. 27 E. cordatum<br />
im Wohngang. Grabrichtung<br />
nach links.<br />
Rechts im Bild ein verschlossener<br />
Atemgang,<br />
dieser kann 20 cm<br />
Länge erreichen. Hinter<br />
E. cordatum ist das<br />
Stopfgefüge des Ganges<br />
mit dem Abwasserkanal<br />
erkennbar. Rechts<br />
über E. cordatum Querschnitt<br />
des Stopfgefüges<br />
mit Abwasserkanal.<br />
Aus Bromley (1990).<br />
Abb. 28 Größenzunahme<br />
und Alter bei<br />
E. cordatum, Maximalalter<br />
7 bis 10 Jahre.<br />
Bis zum Alter von etwa<br />
7 Jahren ist ein deutliches<br />
Wachstum des<br />
Gehäuses festzustellen,<br />
ältere Tiere werden<br />
kaum noch größer.<br />
Verändert nach Ziegler<br />
(1998).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
140 Heiko Steinke<br />
ca. 6 Kitt füßchen gebildet wird (Kaestner<br />
1963). Mit dieser Art der Fortbewegung<br />
legt Echinocardium cordatum wenige Zentimeter<br />
pro Stunde zurück (Bromley 1990).<br />
Mit den Cla vulae der Fasciolen erzeugen<br />
die Tiere Wasserströme, die Frischwasser<br />
durch den Atemgang über die Petalodien<br />
mit den Kie menfüßchen spülen. Die Clavulae<br />
der Subanalfasciole verteilen Abwasser<br />
und Exkremente im Abwasserkanal.<br />
Der Atemgang bricht im sandigen Substrat<br />
nach einem Voranschrei ten von ca. 2<br />
bis 4 cm zusammen, im stärker schlammhaltigen<br />
Sediment kann er bis zu 10 cm<br />
Bewe gungslänge erhalten bleiben (Abb.<br />
27). Mithilfe der bis zu 30 cm langen Kittfüßchen<br />
wird dann ein neuer Atemschornstein<br />
zur Sedimentoberfläche hin konstruiert<br />
(Kaestner 1963).<br />
Echinocardien sind auf Kleinstlebewesen<br />
spezialisierte Allesfresser. In ihrem Darmtrakt<br />
fand man Diatomeen, Foramini feren,<br />
kleine Schnecken und Krebstierchen sowie<br />
Ringelwürmer. Mit ihren ca. 35 bis 40<br />
mit Saugnäpfen versehenen Mundfüßchen<br />
werden Nahrungsteilchen aufgenommen<br />
und zur Mundöffnung geführt. Weitere 4<br />
bis 6 für den Nahrungserwerb ausgebildete<br />
Füßchen auf dem vorderen Ambulakralfeld<br />
strecken sich durch den Atemkanal<br />
und tupfen Nahrungsbestand teile vom<br />
Mee resboden auf. Diese Bestandteile gelangen<br />
zusammen mit Detritus, der durch<br />
den Atemgang auf das Tier fällt, auf das<br />
vordere Ambulakralfeld, wo die Teilchen<br />
eingeschleimt und durch die Einbuchtung<br />
am Vorderrand der Corona (Abb. 24) auf<br />
die Unterseite transportiert werden. Mithilfe<br />
des Labrums werden diese Teile dann<br />
vom Gangboden abgeschabt. Der Darm<br />
eines Echinocardium cordatum kann etwa<br />
die Hälfte des Lebendgewichts an Sediment<br />
enthalten, dieser Inhalt wird etwa<br />
3-mal am Tag erneuert (Kaestner 1963,<br />
Bromley 1990).<br />
Echinocardien sind getrennt ge schlechtlich,<br />
ohne das ein Geschlechts di mor phismus<br />
ausgeprägt ist.<br />
Nach der Vereinigung der ins Wasser<br />
abgegebenen Samen- und Eizellen entwickelt<br />
sich eine planktisch lebende, bilateral<br />
symmetrische Larve (Echinopluteus).<br />
Nach etwa 4 Wochen durchläuft diese eine<br />
Metamor phose, während der sich die pentamere<br />
Symmetrie des Ambulakralsystems<br />
ausbildet. Der entste hende Seeigel sinkt zu<br />
Boden, wo er zukünftig im Sediment eingegraben<br />
lebt. Als erste Skelettteile entwickeln<br />
sich dabei die Apikalplatten mit<br />
den Genital- und Ocellarplatten. An deren<br />
Außenrand entstehen neue Skelettplatten,<br />
bereits gebildete werden Richtung Unterseite<br />
geschoben. In der Mundregion befinden<br />
sich also die ältesten gebildeten Platten.<br />
Je mehr Platten vorhanden sind, desto<br />
älter ist das Tier. Echinocardien werden ca.<br />
7 bis 10 Jahre alt und sind mit ungefähr einem<br />
Jahr geschlechts reif. Das Wachstum<br />
der Corona hält etwa bis zum 7. Lebensjahr<br />
an und lässt dann nach. Tiere (Abbildung<br />
28), die älter als 7 Jahre sind, werden<br />
kaum noch größer (Ziegler 1998).<br />
Aktuopaläontologische<br />
Betrachtungen<br />
Echinocardien verenden aus Altersgründen<br />
oder sie kommen durch Überschüttung<br />
mit Sediment oder durch Ausspülung zu<br />
Tode. Die bes ten Erhaltungsmöglichkeiten<br />
für ihre Coronen und Stacheln bestehen<br />
beim Verenden im Sedi ment, so fern dieses<br />
danach nicht umgelagert wird. Werden<br />
Tiere bei Sturmereignissen oder anderweitigen<br />
Sedimentumlagerungen überschüttet,<br />
versuchen sie sich aus dem Substrat heraus<br />
nach oben zu wühlen. Häufig sterben<br />
sie dabei und werden mit der Strömung<br />
verfrachtet. Ähn liches geschieht, wenn die<br />
Tiere durch Wellenaufarbeitung aus dem<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
141<br />
Sediment gespült werden. Erfolgt dies in<br />
Ufer nähe bzw. findet die Verfrachtung<br />
schnell statt, werden die Tiere komplett<br />
mit Stacheln ange spült. Um solche handelt<br />
es sich vermutlich bei den aufgesammelten<br />
bestachelten Exemplaren aus der<br />
„Sammlung Richter“. Im Flutsaum können<br />
sie zu Opfern von Möwen oder anderen<br />
Wasser vögeln werden. Intakte Gehäuse<br />
mitsamt Stacheln werden dort durch<br />
Wellenzer schlagung schnell zerstört. Verbleiben<br />
ausgespülte und verendete Individuen<br />
im Wasser, fallen die Stacheln durch<br />
rol lenden Transport der Coronen über den<br />
Meeresboden rasch ab und können mit der<br />
Strömung weitergetrieben werden. Gehäuse<br />
können je nach Wasserenergie länger<br />
erhalten bleiben. Auch die Schnelligkeit,<br />
mit der die Kollagenfasern, die die Skelettplatten<br />
zusammenhalten, verwesen, hat<br />
Einfluss darauf, über welchen Zeitraum ein<br />
Gehäuse komplett erhalten bleibt. Über<br />
kurz oder lang zerfallen aber auch die Gehäuse<br />
– meist entlang der Plattengrenzen.<br />
Angespülte, intakte Gehäuse trocknen<br />
durch die Sonne aus und können mit dem<br />
Wind landeinwärts in den nicht mehr von<br />
den Gezeiten beein flussten Rückstrandoder<br />
Vordünenbereich verfrachtet werden.<br />
Sofern sie nicht durch Mensch oder Tier<br />
zerstört werden, bleiben diese Panzer über<br />
längere Zeit intakt und können von Sediment<br />
überdeckt werden. Solcherart erhaltene<br />
Exemplare stellen einen Großteil der<br />
„Sammlung Richter“ dar. Ausgetrocknete<br />
Exemplare, die ins Wasser zurückgespült<br />
werden, können treibenderweise verfrachtet<br />
werden (Schäfer 1962).<br />
Ergebnisse<br />
Größe und Größenverteilung<br />
Die untersuchten Nucleolites-Exemplare<br />
unterscheiden sich von den Echinocardium-Exemplaren<br />
deutlich in der Größe.<br />
Bei Nucleolites liegen die vermessenen Coronen<br />
im Bereich zwischen knapp 10 und<br />
etwas über 30 mm, bei Echinocardium sind<br />
die Gehäuse zwischen ca. 20 und knapp 52<br />
mm groß. Damit sind die größten Exemplare<br />
von Echinocardium cordatum etwa<br />
1,7mal größer als die größten von Nucleolites.<br />
Die Aufsammlung der Nucleolites-Stücke<br />
durch Struckmann erfolgte an verschiedenen<br />
Lokalitäten. Sie stammen aus unterschiedlichen<br />
Horizonten. Die Einteilung<br />
der 90 ver messenen Nucleolites-Exemplare<br />
erfolgte nach Schönwiese (2000) in die folgendermaßen<br />
besetzten 8 Größenklassen:<br />
9 – 12 mm = 8,9 %,<br />
12 – 15 mm = 13,3 %<br />
15 – 18 mm = 14,4 %<br />
18 – 20 mm = 13,3 %<br />
20 – 22 mm = 26,7 %<br />
22 – 25 mm = 15,6 %<br />
25 – 28 mm = 4,4 %<br />
28 – 31 mm = 3,3 %.<br />
Diese Verteilung ist in Abb. 29 dargestellt.<br />
Die Echinocardium-Exemplare der<br />
„Sammlung Richter“ wurden vorwiegend<br />
am Nord- und Oststrand der Insel Langeoog<br />
über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren<br />
aufgesammelt. Die Sammlung erfolgte<br />
meist im Juni des jeweiligen Jahres. Die<br />
Einteilung der 61 vermessenen Exemplare<br />
erfolgte in 7 Größen klassen (Schönwiese<br />
2000), welche folgende prozentuale Verteilung<br />
besitzen:<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
30,00<br />
142 Heiko Steinke<br />
25,00<br />
20,00<br />
Nucleolites<br />
% 15,00<br />
30,00<br />
10,00<br />
25,00<br />
Nucleolites<br />
5,00<br />
20,00<br />
0,00<br />
% 15,00<br />
10,00<br />
Nucleolites<br />
5,00<br />
Klassen [mm]<br />
Abb. 29 Größenverteilung<br />
0,00<br />
der 90 vermessenen Nucleolites-Exemplare<br />
in Prozent.<br />
Abb. 29<br />
Die Einteilung in 8 Größenklassen<br />
erfolgte nach Schönwiese<br />
Klassen [mm]<br />
(2000).<br />
Abb. 29 35,00<br />
%<br />
%<br />
Abb. 30<br />
30,00<br />
25,00<br />
20,00<br />
35,00 15,00<br />
30,00 10,00<br />
25,00<br />
20,00<br />
15,00<br />
10,00<br />
5,00<br />
0,00<br />
Nucleolites<br />
Echinocardium<br />
Echinocardium<br />
Klassen [mm]<br />
Echinocardium cordatum<br />
Echinocardium cordatum<br />
Abb. 30 Größenverteilung<br />
der 61 vermessenen<br />
E.-cordatum-Exemplare in<br />
Prozent. Die Einteilung in 7<br />
Größenklassen erfolgte nach<br />
Schönwiese (2000).<br />
Klassen [mm]<br />
Abb. 30<br />
19 – 24 mm = 8,2 %<br />
24 – 28 mm = 22,9 %<br />
28 – 32 mm = 31,1 %<br />
32 – 37 mm = 6,6 %<br />
37 – 42 mm = 1,6 %<br />
42 – 47 mm = 14,8 %<br />
47 – 52 mm = 14,8 %.<br />
Das Säulendiagramm in Abb. 30 zeigt<br />
die Größenverteilung von Echinocardium<br />
cordatum.<br />
Morphologie<br />
Obwohl Nucleolites und Echinocardium<br />
unterschiedliche Lebensräume besiedeln<br />
bzw. besiedel ten, wobei Nucleolites Kalksedimente<br />
bevorzugte und Echinocardium<br />
cordatum in Sandböden lebt, gibt es einige<br />
grundlegende Ähn lichkeiten. Gemeinsam<br />
ist beiden die Ausbildung länglicher Gehäuse,<br />
die ihnen einen ovalen Um riss verleihen.<br />
Dieser Trend zeigt sich auch in der<br />
Abb. 31, in der die Längenwerte beider<br />
Gattungen gegen die jeweilige Breite aufgetragen<br />
sind.<br />
Die Coronen von Echinocardium sind<br />
um einen Faktor zwischen 1,01 und 1,1<br />
länger als breit, bei Nucleolites ist der Streubereich<br />
etwas höher, einige Gehäuse sind<br />
sogar breiter als lang. Das Gros der Werte<br />
liegt jedoch auch hier im Bereich längerer<br />
Gehäuse, mit einem Faktor zwischen 1<br />
und 1,2. Die eher breiteren Coronen könnten<br />
eventuell auf Deformationen zurückzuführen<br />
sein.<br />
Irreguläre Seeigel bilden meist flachere<br />
Coronen aus als die Regularia. Auch hier<br />
finden sich Ähnlichkeiten bei Nucleolites<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
55<br />
Länge / Breite<br />
143<br />
Breite [mm]<br />
Breite [mm]<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
55<br />
20<br />
50<br />
15<br />
45<br />
10<br />
40<br />
5<br />
35<br />
0<br />
30<br />
25<br />
20<br />
Abb. 31<br />
15<br />
10<br />
5<br />
35<br />
0<br />
30<br />
25<br />
Höhe [mm]<br />
Abb. 3120<br />
Höhe [mm]<br />
15<br />
10<br />
5<br />
35<br />
0<br />
30<br />
25<br />
Abb. 3220<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
Abb. 32<br />
Länge / Breite<br />
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
Länge [mm]<br />
Länge / Höhe<br />
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
Länge [mm]<br />
Länge / Höhe<br />
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
Länge [mm]<br />
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
Länge [mm]<br />
Echinocardium cordatum<br />
Nucleolites<br />
x=y<br />
x=1,1y<br />
x=1,2y<br />
Abb. 31 Darstellung Länge gegen Breite<br />
bei Nucleolites (90 Ex.) und E. cordatum<br />
(61 Ex.). Echinocardium Gehäuse, cordatum die auf der Gerade x<br />
= y (durchgezogene Nucleolites Linie) liegen, haben<br />
die gleiche Länge und Breite. Gehäuse,<br />
x=y<br />
die auf den Geraden x = 1,1y (gepunktete<br />
Linie) und x = 1,2y (gestrichelte<br />
x=1,1y<br />
Linie) x=1,2y liegen, sind 1,1-mal bzw. 1,2-mal<br />
länger als breit. Nucleolites weist nur<br />
eine Punktwolke auf. Bei E. cordatum<br />
fehlen die Größen zwischen 35 bis 45<br />
mm, daher ergibt sich eine Lücke in der<br />
Punktwolke.<br />
Abb. 32 Darstellung Länge gegen Höhe<br />
bei Nucleolites (87 Ex.) und Echinocardium<br />
(61 Ex.). Gehäuse, die auf der<br />
Geraden Echinocardium x = 1,5y (durchgezogene cordatum Linie)<br />
liegen, sind 1,5-mal länger als hoch. Gehäuse,<br />
die auf der Gerade x = 2y liegen,<br />
Nucleolites<br />
sind doppelt x=1,5y so lang wie hoch. Bei Nucleolites<br />
x=2y ist nur eine Punktwolke zu sehen,<br />
E. cordatum weist die bekannte, geteilte<br />
Punktwolke auf. Sie zeigt ein ähnliches<br />
Streuverhalten wie die von Nucleolites.<br />
Echinocardium cordatum<br />
Nucleolites<br />
x=1,5y<br />
x=2y<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
144 Heiko Steinke<br />
und Echinocardium. In Abb. 32 sind die<br />
Längenwerte beider Gattun gen gegen die<br />
Coronenhöhe aufgetragen.<br />
Die Länge-zu-Höhe-Verhältnisse beider<br />
Untersuchungsgruppen liegen nicht ganz<br />
so dicht beiei nander wie die Länge-zu-<br />
Breite-Verhältnisse. Nucleolites bildet demnach<br />
tendenziell flachere Ge häuse aus als<br />
Echinocardium, allerdings gibt es auch hier<br />
einen Überschneidungsbereich. Ein Teil<br />
der Coronen beider Gattungen ist zwischen<br />
1,5-mal und 2-mal länger als hoch.<br />
Auch hier könnte der et was größere Streubereich<br />
bei Nucleolites durch leicht deformierte<br />
Coronen zustande kommen.<br />
Neben der äußeren Gestalt zeigen sich<br />
bei den Nucleoliten und Echinocardien<br />
weitere Gemeinsamkeiten. Die Mundöffnung<br />
ist bei beiden Gattungen aus dem<br />
Zentrum der Unterseite heraus zum Vorderrand<br />
der Corona verschoben. Ebenso<br />
befindet sich die Afteröffnung beider nicht<br />
mehr im Scheitelpunkt der Corona, sondern<br />
ist in Richtung des Hinterrandes gewandert.<br />
Neben den Gemeinsamkeiten bestehen<br />
aber auch deutliche Unterschiede im<br />
Bauplan von Nuc leolites und Echinocardium.<br />
So befindet sich die breiteste Stelle der<br />
Corona bei Nucleolites im hinteren Drittel<br />
der Corona, bei Echinocardium jedoch<br />
in der vorderen Hälfte. Bei Echinocardium<br />
cordatum ist das vordere Am bulakralfeld<br />
kanalartig eingesenkt und bildet am Vorderrand<br />
eine Kerbe im Gehäuse aus. Diese<br />
Kerbe verleiht den Tieren einen leicht<br />
herzförmigen Umriss, der der gesamten<br />
Ordnung Spatangoida ge mein ist und zur<br />
Bezeichnung „Herzseeigel“ geführt hat<br />
(Abb. 12 und Abb. 24). Bei Nucleolites ist<br />
das vordere Ambulakralfeld nicht eingesenkt,<br />
stattdessen ist im hin teren Interambulakralfeld,<br />
unterhalb des Periprokts, ein<br />
Analkanal ausgebildet. Auch dieser kann<br />
bei einigen Indivi duen eine Kerbe, diesmal<br />
im Hinterrand der Corona, ausbilden. Dadurch<br />
kann auch bei einigen Nucleolites-<br />
Exemplaren ein herzförmiger Umriss entstehen<br />
(Abb. 18), in diesem Fall jedoch<br />
genau entgegengesetzt der Orientierung<br />
bei Echinocardium cordatum.<br />
Die Unterseite bei Nucleolites ist trichterförmig<br />
eingesenkt und bildet dort die<br />
sogenannte Floscelle aus (Abb. 17). Bei<br />
Echinocardium hingegen ist die Mundseite<br />
stark abgeflacht und mit dem Plastron und<br />
dem Labrum (Abb. 24) sogar leicht nach<br />
außen gewölbt. Die Mundöffnung selbst<br />
ist bei Nucleolites rundlich bis oval ausgeprägt<br />
(Abb. 19), bei Echinocardium dagegen<br />
bohnenförmig (Abb. 24).<br />
Artbestimmung<br />
Im folgenden Abschnitt wird untersucht,<br />
ob die Nucleolites-Exemplare der „Sammlung<br />
Struck mann“ nur zu einer Art gehören<br />
oder ob sich gegebenenfalls anhand<br />
morphologisch markanter Proportionsunterschiede<br />
zwei oder mehr Arten ermitteln<br />
lassen. Zu diesem Zweck werden die<br />
Längen- gegen die Breitenwerte, die Längenwerte<br />
gegen die Höhe, die Länge gegen<br />
PV (Abstand der Mundöffnung zur<br />
Vorderseite inkl. Mundöffnung), die Länge<br />
gegen PB (Abstand der Afteröffnung<br />
zur Rückseite inkl. Afteröffnung) sowie die<br />
Breite gegen die Höhe aufgetragen. Handelt<br />
es sich um Individuen einer Art, so ergibt<br />
sich eine zusammen hängende Punktwolke,<br />
sind jedoch mehr Arten vorhan den,<br />
so bilden sich entsprechend viele Punktwolken<br />
aus. Da durch die Vermessung der<br />
Echinocardium-cordatum-Stücke die Messwerte<br />
einer klar de finierten Art zur Verfügung<br />
stehen, werden diese den entsprechenden<br />
Nucleolites-Diagrammen zur Seite<br />
gestellt. Damit soll das Allometrieverhalten<br />
und die na türliche Variation einer ähnlichen<br />
Art demonstriert werden. In den<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
Echinocardium-Diagrammen sind einige<br />
Bereiche ohne Punktbele gung der besseren<br />
Darstellbarkeit halber entfernt worden.<br />
Abb. 31 zeigt die Darstellung der Längen<br />
gegen die Breitenwerte.<br />
Die Nucleolites-Werte bilden eindeutig<br />
nur eine Punktwolke, die einen ähnlichen<br />
Streubereich zeigt wie die Punktwolke bei<br />
Echinocardium. Da in der Echinocardium-<br />
Sammlung die entsprechenden Größen<br />
fehlen, ergibt sich in dem Diagramm eine<br />
Lücke zwischen 35 und 40 mm. Diese Lücke<br />
ist somit kein Hinweis auf verschiedene<br />
Arten, zumal der Trend gleich bleibt.<br />
Dies gilt auch für die folgen den Echinocardium-Diagramme.<br />
In Abb. 32 ist die Länge gegen die Höhe<br />
dargestellt. Auch hier ist nur eine Punktwolke<br />
bei den Nucleolites-Werten zu erkennen.<br />
Ähnlich wie die der rezenten Art<br />
zeigt sie einen etwas größeren Streubereich<br />
bei größeren Individuen.<br />
In Abb. 33 sind die Längenwerte gegen<br />
PV (s. o.) aufgetragen. Der Streubereich<br />
bei Nucleolites ist hier etwas höher als bei<br />
Echinocardium cordatum, dennoch erscheint<br />
nur eine Punktwolke. Neben den natürlichen<br />
Variationen können auch Deformationserscheinungen<br />
zum größeren Streubereich<br />
bei Nucleolites beitragen.<br />
Das Diagramm in Abb. 34 zeigt die<br />
Auftragung der Längenwerte gegen PB<br />
(s. o.).<br />
Diese Darstellung ergibt für Nucleolites<br />
ebenfalls nur eine Punktwolke, die allerdings<br />
ähnlich wie in Abb. 33 einen etwas<br />
größeren Streubereich zeigt als die der<br />
rezenten Art. Auch hier können wiederum<br />
neben natürlichen Variationen auch Deformationseffekte<br />
zum Tragen kommen.<br />
Auch in Abb. 35, der Darstellung von<br />
Coronenbreite gegen Coronenhöhe, zeigt<br />
sich bei Nucleolites nur eine Punktwolke,<br />
die Breite des Streubereiches weicht nicht<br />
von der bisher beobachteten ab.<br />
PV in mm<br />
PV in mm<br />
5<br />
15<br />
5<br />
Abb. 35a 0<br />
a) Nucleolites Länge/Pv<br />
0<br />
10<br />
0 5 10 15 20 25 30 35<br />
0 5 10 15 20 25 30 35<br />
a)<br />
Länge mm<br />
b) Echinocardium Länge/PV<br />
Abb. 35a 25<br />
PV in mm<br />
PV in mm<br />
15<br />
10<br />
20<br />
15<br />
25<br />
10<br />
20<br />
b) 10<br />
a) Nucleolites Länge/Pv<br />
Länge in mm<br />
b) Echinocardium Länge/PV<br />
145<br />
5<br />
15<br />
15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
Länge in mm<br />
Abb. Abb. 35b 533 Darstellung Länge gegen PV (Abstand<br />
Mundöffnung a) Nucleolites zu Vorderseite) Länge/PB<br />
15 20 25 30 35bei a) 40 Nucleolites 45 50 55<br />
(41 15 Ex.) und b) E. cordatum (60 Ex.). Nucleolites<br />
Länge in mm<br />
zeigt wiederum nur eine Punktwolke. Der Streu–<br />
Abb. bereich 35b<br />
10 ist etwas höher als bei E. cordatum.<br />
PB in mm<br />
PB in mm<br />
5<br />
15<br />
5<br />
Abb. 36a 0<br />
a) Nucleolites Länge/PB<br />
0<br />
10<br />
0 5 10 15 20 25 30 35<br />
0 5 10 15 20 25 30 35<br />
a)<br />
Länge mm<br />
b) Echinocardium Länge/PB<br />
Abb. 36a 25<br />
PB in mm<br />
PB in mm<br />
20<br />
15<br />
25<br />
10<br />
20<br />
b) 10<br />
Länge in mm<br />
b) Echinocardium Länge/PB<br />
5<br />
15<br />
15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
Länge in mm<br />
Abb. Abb. 36b 34 Darstellung Länge gegen PB (Abstand<br />
5<br />
Afteröffnung zu Rückseite/Unterseite) bei<br />
15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
a) Nucleolites (66 Ex.) und b) E. cordatum (50 Ex.).<br />
Länge in mm<br />
Nucleolites zeigt auch hier nur eine breiter ge–<br />
streute Punktwolke. Bei E. cordatum ist wieder<br />
Abb. 36b<br />
die bekannte, zweigeteilte Punktwolke mit einem<br />
geringeren Streubereich als bei Nucleolites zu<br />
erkennen.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
14620<br />
Heiko Steinke<br />
Höhe in mm<br />
Höhe in mm<br />
20 10<br />
155<br />
100<br />
0<br />
Abb. 37a<br />
0 5 10 15 20 25 30<br />
a)<br />
Abb. 37a<br />
35<br />
Höhe in mm<br />
Höhe in mm<br />
15<br />
a) Nucleolites<br />
Breite/Höhe<br />
0 5 10 15 20 25 30<br />
5<br />
Breite in mm<br />
35 25<br />
30 20<br />
25 15<br />
20 10<br />
a) Nucleolites<br />
Breite/Höhe<br />
Breite in mm<br />
b) Echinocardium Breite/Höhe<br />
b) Echinocardium Breite/Höhe<br />
30<br />
15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
15<br />
b)<br />
Breite in mm<br />
10<br />
Abb.<br />
Abb.<br />
37b<br />
35 Darstellung Breite gegen Höhe bei<br />
15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />
a) Nucleolites (87 Ex.) und b) E. cordatum (60 Ex.).<br />
Breite in mm<br />
Auch in dieser Darstellung ergibt sich für Nucleolites<br />
nur eine Punktwolke, der Streubereich ist<br />
Abb. 37b<br />
geringfügig größer als der von E. cordatum, der<br />
die erwartete Zweiteilung zeigt, mit etwas breiter<br />
gestreuten Werten bei größeren Individuen.<br />
In allen gezeigten Diagrammen lässt<br />
sich für Nucleolites nur jeweils eine Punktwolke<br />
ausmachen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit<br />
handelt es sich also bei den<br />
Exemplaren der „Sammlung Struckmann“<br />
um Individuen nur einer Art.<br />
Diskussion<br />
Größenverteilung<br />
Seeigel sind Organismen, die, mit wenigen<br />
Ausnahmen (Ziegler 1998), keine<br />
Brutpflege betrei ben. Es ist daher zum<br />
Art erhalt von Vorteil, eine große Nachkommenschaft<br />
zu erzeugen. Natürlicherweise<br />
fallen große Anteile der Seeigel-Populationen<br />
besonders epibenthischer Arten<br />
Fressfeinden zum Opfer. Dabei haben jüngere<br />
Indivi duen eine höhere Sterblichkeitsrate<br />
als ältere. Nur wenige Seeigel erreichen<br />
ihr artspezi fisches Maximal-Alter<br />
und die damit verbundene Größe. Daraus<br />
resultiert bei einer homogenen Population<br />
eine von kleinen Tieren zu Großen hin abfallende<br />
Kurve, wie sie in Ab b. 36 idealisiert<br />
darge stellt ist.<br />
Morphologie<br />
Anzahl der Individuen<br />
Größe der Individuen<br />
Abb. 36 Qualitative Darstellung einer Größenverteilungskurve<br />
38<br />
bei Seeigeln ohne Angabe von<br />
Abb.<br />
Einheiten. Alter und Größe der Tiere nehmen nach<br />
rechts hin zu, ihre Anzahl ab.<br />
In Kapitel 8.2 werden neben den Unterschieden<br />
in der Morphologie von Nucleolites<br />
und Echinocardium cordatum auch<br />
Gemeinsamkeiten wie die länglichen Coronen,<br />
die Abflachung der Gehäuse und<br />
die Verlagerung der Mundöffnung und des<br />
Afters festgestellt. Dabei handelt es sich<br />
um grundlegende Anpassungen der irregulären<br />
Seeigel an Weichbodensubstrate,<br />
unabhängig von der Zusam mensetzung<br />
des Substrates (Abb. 11). Während die Regulares<br />
Hartböden abwei den, sind die Irregulares<br />
Sedimentfresser und leben meist<br />
innerhalb des Sedimentes. Dafür sind<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
147<br />
verschie dene Anpas sungen notwendig. Um<br />
zu verhindern, dass bereits gefressenes Sediment<br />
nochmals durchgearbei tet wird, ist<br />
eine gerichtete Fortbewegung nötig. Aus<br />
der ursprünglichen Radialsymmetrie muss<br />
sich also eine sekundäre Bilateralsymmetrie<br />
mit definiertem Vorder- und Hinterteil<br />
entwi ckeln. Dabei muss auch die Afteröffnung<br />
aus dem Scheitelpunkt nach hinten<br />
verlagert werden. Bei regulä ren Seeigeln<br />
besteht kaum die Gefahr, dass Kot, der<br />
aus dem im Scheitelpunkt liegendem Periprokt<br />
ausgeschieden wird, auf die Weidegründe<br />
der Tiere gelangt und diese bereits<br />
verdaute, also zu wenige Nährstoffe enthaltende<br />
Nahrung zu sich nehmen. Vielmehr<br />
werden die Ausschei dung en durch<br />
das Meerwasser abgeführt. Bei innerhalb<br />
des Sediments lebenden Seeigeln hingegen<br />
kann sehr wohl Kot ins Sediment gelangen<br />
und gefressen werden, da dieser nicht mehr<br />
ins Meer ab geführt werden kann. Eine<br />
Verlagerung des Afters an das Hinterende<br />
schützt die Tiere also davor, für sie wertlose<br />
Nahrung zu fressen. Diese Ausbildung einer<br />
Bilateralsymmetrie führt so auch zu einer<br />
Elon gation der Gehäuse (Etter 1994).<br />
Die Abflachung der Coronen stellt eine<br />
Anpassung an neue Fortbewegungsstrategien<br />
dar. Im Weichsubstrat ist eine Fortbewegung<br />
mit Saugfüßchen nicht mehr<br />
möglich, Irregulares bewegen sich mithilfe<br />
ihrer umgebauten Stacheln fort. Um eine<br />
größere Auflagefläche zu bekommen, wird<br />
die Mundseite des Gehäuses abgeflacht.<br />
Somit haben mehr Stacheln Kontakt zum<br />
Sediment und das Tier kann sich effizienter<br />
fortbewegen (Etter 1994).<br />
Bei den hier diskutierten Gemeinsamkeiten<br />
handelt es sich nicht um Konvergenz.<br />
Von Konvergenz spricht man, wenn<br />
Tiere unterschiedlicher Arten ähnliche<br />
Körperformen entwickeln, weil sie den<br />
gleichen Lebensraum besiedeln und dem<br />
gleichen ökologischen Stress ausgesetzt<br />
sind. Beispiele sind Haie und Delphine,<br />
aber auch Thunfische, Seehunde oder<br />
Ichthyosaurier, die alle eine torpedo artige<br />
Form besitzen oder besaßen. Da sich die<br />
Lebensräume von Nucleolites und Echinocardium<br />
cordatum jedoch unter scheiden,<br />
z. B. in der Zusammensetzung des Substrates,<br />
handelt es sich hier nur um<br />
Ähnlichkei ten, nicht um Konvergenz.<br />
Artbestimmung<br />
Die Diagramme in Kapitel 8.3. belegen<br />
relativ eindeutig, dass die Nucleolites-<br />
Exemplare der „Sammlung Struckmann“<br />
nur zu einer Art gehören. Nach Autoren<br />
des Natural History Museum London<br />
(www.nhm.ac.uk/research-curation/<br />
research/projects/echinoid-directory/taxa/<br />
taxon.jsp?id=574, 02.04.2010) könnte es<br />
sich dabei um Nucleolites scutatus Lamarck<br />
handeln. Diese Art war vom Bajocium bis<br />
ins Kimmeridgium in Europa verbreitet.<br />
An dere Arten sind bisher nur aus enger<br />
begrenzten Fundregionen z. B. in Großbritannien<br />
oder Frank reich bekannt. Des<br />
Weiteren hat man sie bisher nicht in den<br />
Schichten des Kimmeridgiums gefunden<br />
(www.nhm.ac.uk/research-curation/research/projects/echinoid-directory/taxa/<br />
taxon.jsp?id=574, 02.04.2010).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
148 Heiko Steinke<br />
Literatur<br />
Blakey, Ron (2009): Karte der Landmassenverteilung<br />
im Oberjura. – http://jan.ucc.nau.<br />
edu/~rcb7/150moll.jpg (02.04.2010).<br />
Boardman, Richard S.; Cheetham, Alan H.<br />
(ed.) (1987): Fossil Invertebrates. –<br />
Palo Alto.<br />
Borchardt-Ott, Walter (2002): Kristallographie.<br />
– Berlin, Heidelberg.<br />
Bromley, Richard G. (1990): Trace Fossils. Biology<br />
and Taphonomy. – London.<br />
Doerjes, Jürgen; Reineck, Hans-Erich (1977):<br />
Fauna und Fazies einer Sandplate (Mellum<br />
Bank, Nordsee). – Senkenbergiana maritima,<br />
9 (1/2): 19 – 45; Frankfurt a. M.<br />
Ernst, Gundolf (1971): Biometrische Untersuchungen<br />
über die Ontogenie und Phylogenie<br />
der Offaster/Galeola-Stammesreihe (Echin.)<br />
aus der nordwesteuropäischen Oberkreide. –<br />
Neues Jahrbuch für Geologie und Paläontologie,<br />
139,2: 169 – 225; Stuttgart.<br />
Etter, Walter (1994): Palökologie. Eine methodische<br />
Einführung. – Basel.<br />
Faupl, Peter (2000): Historische Geologie.<br />
Eine Einführung. – Wien.<br />
Fischer, Alfred G. (1966): Spatangoids. – In:<br />
Moore, Raymond C. (ed.): Treatise On Invertebrate<br />
Paleontology, Part U: Echinodermata<br />
3 Vol. 2, U543-U613. – The Geological<br />
Society of America and The University of<br />
Canada Press; Lawrence.<br />
Goldschmid, Alfred (1996): Echinodermata.<br />
– In: Westheide, Wilfried; Rieger, Reinhard<br />
(Hrsg.): Spezielle Zoologie. Erster Teil: Einzeller<br />
und Wirbellose Tiere. – Stuttgart.<br />
Henningsen, Dierk; Katzung, Gerhard (2006):<br />
Einführung in die Geologie Deutschlands. –<br />
München.<br />
Kaestner, Alfred (1963): Lehrbuch der Speziellen<br />
Zoologie. Teil 1: Wirbellose. 2. Halbband.<br />
– Stuttgart.<br />
Kier, Porter M. (1966): Cassiduloids. – In:<br />
Moore, Raymond C. (ed.): Treatise On Invertebrate<br />
Paleontology, Part U: Echinodermata<br />
3 Vol.2, U492-U503. – Lawrence.<br />
Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie<br />
(Hrsg.) (2007): GeoBerichte 6: Erdgeschichte<br />
von Niedersachsen. Geologie und Landschaftsentwicklung.<br />
– Hannover.<br />
Lepper, Jochen; Richter, Annette (2008): Steine<br />
an der Leine: Heimische Naturwerksteine<br />
im Stadtbild von Hannover. Exkursionsführer<br />
zur 75. Tagung der Arbeitsgemeinschaft<br />
Norddeutscher Geologen 2008. – Hannover.<br />
Rohde, Peter; Becker-Platen, Jens-Dieter (Koord.)<br />
(1998): Geologische Stadtkarte Hannover<br />
1 : 25000, Festgestein, Grundwasser,<br />
Geotechnik, mit Erläuterungen. – Niedersächsisches<br />
Landesamt für Bodenforschung;<br />
Hannover.<br />
Rothe, Peter (2006): Die Geologie Deutschlands.<br />
– Darmstadt.<br />
Schäfer, Wilhelm (1962): Aktuo-Paläontologie<br />
nach Studien in der Nordsee. –<br />
Frankfurt a. M.<br />
Schönwiese, Christian-Dietrich ( 2000):<br />
Praktische Statistik für Meteorologen und<br />
Geowissenschaftler. – Stuttgart.<br />
Struckmann, Carl E. F. (1878): Der Obere Jura<br />
der Umgegend von Hannover. Eine paläontologisch-geognostisch-statistische<br />
Darstellung.<br />
– Hannover.<br />
Westheide, Wilfried; Rieger, Reinhard (Hrsg.)<br />
(1996): Spezielle Zoologie. Erster Teil: Einzeller<br />
und Wirbellose Tiere. – Stuttgart.<br />
Ziegler, Bernhard (1986): Einführung in die<br />
Paläobiologie Teil 1. Allgemeine Paläontologie.<br />
– Stuttgart.<br />
Ziegler, Bernhard (1998): Einführung in die<br />
Paläobiologie Teil 3. Spezielle Paläontologie.<br />
Würmer, Arthropoden, Lophophoraten,<br />
Echinodermen. – Stuttgart.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
149<br />
Danksagung<br />
Ich danke meinem Erstprüfer Herrn<br />
Prof. Dr. Manfred Krautter für seine Bereitschaft,<br />
diese Arbeit zu betreuen und für<br />
seinen großartigen Einsatz dafür. Meiner<br />
Zweitprüferin Frau Dr. Annette Richter<br />
danke ich für die bestmögliche Betreuung,<br />
die Motivation und natürlich das Untersuchungs<br />
material. Frau Dipl.-Geol. Annina<br />
Böhme danke ich dafür, mich auf die richtige<br />
Spur ge bracht zu ha ben und Frau Marijke<br />
Taverne und Herrn Eike F. Rades für<br />
die Möglichkeit, ihre Arbei ten einsehen<br />
zu dürfen. Meiner Freundin Anja Weise<br />
danke ich für ihr Verständnis und die Hilfe<br />
in allen Zweifelsfragen, die deutsche<br />
Grammatik betreffend. Wei terhin möchte<br />
ich meinen Eltern Gonda und Günter<br />
Steinke für ihre Hilfe in allen Lebenslagen<br />
dan ken, ohne sie wären weder mein Studium<br />
noch diese Arbeit möglich gewesen.<br />
Arbeit eingereicht: 04.2010<br />
Arbeit angenommen: 08.07.2010<br />
Anschrift des Autors:<br />
Heiko Steinke<br />
Emmernstraße 8<br />
31785 Hameln<br />
Glossar<br />
Aboral Vom Mund weggelegen. Bei den regulären<br />
Seeigeln die der Mundseite (unten)<br />
gegenüberliegende Körperseite (oben).<br />
Aktuopaläontologie Disziplin innerhalb der<br />
Paläontologie, in der Lebensweise, Lebensraum<br />
und vor allem taphonomische<br />
Prozesse der heutigen Organismen und<br />
ihrer anorganischen Umgebung studiert<br />
werden. Da physikalische und biologischökologische<br />
Prozesse heutzutage denen<br />
der Vergangenheit gleichen, lassen sich aus<br />
aktuopaläontologischen Vergleichen Rückschlüsse<br />
auf die Erhaltung fossiler Arten<br />
ziehen.<br />
Allometrie/Allometrieverhalten Entwicklung<br />
der Körperproportionen und/oder<br />
–funktionen (z. B. Stoffwechsel) während<br />
des Wachstums. Wachstum der Gliedmaßen<br />
oder Organe im Verhältnis zum Rest<br />
des Körpers bzw. zueinander. Bei positiver<br />
Allometrie wächst ein bestimmter Körperteil<br />
im Verhältnis schneller als der Rest des<br />
Körpers, bei negativer Allometrie ist das<br />
Gegenteil der Fall. Wachsen alle Körperteile<br />
immer im selben Verhältnis zueinander,<br />
spricht man von Isometrie.<br />
Apikalfeld Im oben gelegenen Scheitelpunkt<br />
des Seeigelgehäuses liegende Konstruktion<br />
aus der Madreporenplatte, den<br />
Genitalplatten und den Ocellarplatten.<br />
Die Anordnung dieser Skelettplatten kann<br />
von Experten zur Art- oder Gattungsbestimmung<br />
benutzt werden.<br />
Bajocium Chronostratigraphisch (Chronostratigraphie)<br />
zweite Stufe des Mitteljura<br />
(Jura); umfasst ca. 4 Mio. Jahre: von etwa<br />
171,6 Mio. bis 167,7 Mio. Jahre vor heute.<br />
Bourrelet(s) Ausbuchtungen der Skelettplatten<br />
der Interambulakralfelder direkt an<br />
der Mundöffnung. Hier sitzen Stacheln,<br />
die die Mundöffnung bedecken und schützen.<br />
Campan (Campanium) chronostratigraphisch<br />
vorletzte Stufe der Oberkreide<br />
(Kreide); umfasst ca. 13 Mio. Jahre: von<br />
etwa 83,5 bis 70,6 Mio. Jahren vor heute.<br />
Chronostratigraphie Zeitliche Einordnung<br />
von Gesteinseinheiten.<br />
Clavula/ae Kleine wimpernbesetzte Stacheln,<br />
die Fasciolen bilden. Diese Wimpern<br />
erzeugen Wasserströme, die über das<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
150 Heiko Steinke<br />
Seeigelgehäuse fließen, damit wird z. B.<br />
Frischwasser über die Atmungsorgane gespült.<br />
Elsterzeit/Elstereiszeit Nach ihrer weitesten<br />
Verbreitung bis zum Fluss Weiße Elster<br />
(Nebenfluss der Saale bei Halle) benannte<br />
Kaltzeit, die auf einen Zeitraum von etwa<br />
400.000 bis 320.000 Jahren vor heute datiert<br />
wird.<br />
Fasciole(n) Feine Bänder auf dem Gehäuse<br />
der Herzseeigel, die mit besonderen,<br />
wimperntragenden Stacheln (Clavulae)<br />
besetzt sind. Sie sind meist im Bereich der<br />
Atmungsorgane (Internfasciole) oder des<br />
Afters (Subanalfasciole) angelegt.<br />
Floscelle Trichterförmige Einbuchtung um<br />
die Mundöffnung bei Seeigeln der Ordnung<br />
Cassiduloida.<br />
Genitalplatte(n) Die in den fünf Interambulakralzonen<br />
des Apikalfeldes liegenden<br />
Gehäuseplatten, die die Öffnungen (Gonoporen)<br />
der Geschlechtsorgane tragen.<br />
Internfasciole(n) Fasciolen innerhalb der<br />
Petalodien.<br />
Jura Der Jura bildet ein chronostratigraphisches<br />
System der Erdgeschichte und umfasst<br />
eine Spanne von etwa 58 Mio. Jahren:<br />
von ca. 200 Mio. bis 142 Mio. Jahren vor<br />
heute. Es ist die mittlere Periode innerhalb<br />
des Mesozoikums (Erdmittelalter)<br />
und wird in Unter-, Mittel- und Oberjura<br />
unterteilt, in Deutschland meist in Lias<br />
(Schwarzer Jura), Dogger (Brauner Jura)<br />
und Malm (Weißer Jura).<br />
Kambrium/Unterkambrium Unterstes<br />
chronostratigraphisches System des Paläozoikum<br />
(Erdaltertum). Es umfasst eine<br />
Spanne von etwa 54 Mio. Jahren: von ca.<br />
542 Mio. bis 488 Mio. Jahren vor heute.<br />
Im Fossilbericht des Kambrium erscheinen<br />
bereits fast alle heute noch existierenden<br />
Tierstämme.<br />
Känozoikum Erdneuzeit. Sie begann vor<br />
etwa 65,5 Mio. Jahren mit dem Ende der<br />
Kreidezeit und dauert bis heute an. Das<br />
Känozoikum ist unterteilt in die Systeme<br />
Paläogen, Neogen und Quartär.<br />
Keuper Oberste lithostratigraphische<br />
(Lithostratigraphie) Einheit der Germanischen<br />
Trias (Trias), umfasst eine<br />
Spanne von etwa 34 Mio. Jahren: von ca.<br />
235 Mio. bis 201 Mio. Jahren vor heute. Es<br />
handelt sich beim Keuper um kein chronostratigraphisches<br />
Zeitintervall im geologischen<br />
Sinne, da die zeitlichen Grenzen regional<br />
unterschiedlich sein können. Zudem<br />
ist er auf das Gebiet nördlich der Alpen<br />
beschränkt.<br />
Kimmeridgium Chronostratigraphisch<br />
mittlere Stufe des Oberjura. Sie umfasst<br />
eine Zeitspanne von ca. 5 Mio. Jahren: von<br />
etwa 155 Mio. bis 150 Mio. Jahren vor<br />
heute.<br />
Kreidezeit Nach einem ihrer Erscheinungsbilder<br />
meist als „Kreide“ bezeichnet. Sie<br />
stellt das jüngste chronostratigraphische<br />
System des Mesozoikums (Erdmittelalter)<br />
dar und umfasst eine Zeitspanne von ca. 80<br />
Mio. Jahren: von etwa 145 Mio. bis 65 Mio.<br />
Jahren vor heute. Sie wird in Ober- und<br />
Unterkreide unterteilt.<br />
Labrum Bei den Herzseeigeln eine Gehäuseplatte<br />
direkt unterhalb der Mundöffnung.<br />
Diese ist oft „unterlippenartig“ vorgewölbt<br />
und dient dem Abschaben des Sediments<br />
zur Nahrungsaufnahme.<br />
Lithostratigraphie Einteilung von Gesteinspaketen<br />
aufgrund ihrer lithologischen (gr.<br />
lithos = Stein) Eigenschaften. Sie bietet<br />
keine zeitliche Einordnung.<br />
Madreporenplatte/Siebplatte Eine der<br />
Genitalplatten trägt neben der Gonopore<br />
auch noch ein Porensystem, das dem<br />
Druckausgleich des Ambulakralsystems<br />
dient.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
151<br />
Oberrotliegendes Eine lithostratigraphische<br />
Einheit des Perm in Westeuropa. Zeitlich<br />
umfasst es eine Spanne von etwa 39<br />
Mio. Jahren: von ca. 299 Mio. bis 260 Mio.<br />
Jahren vor heute. Der Name leitet sich von<br />
den rötlich gefärbten Sandsteinen ab.<br />
Ocellarplatte(n) Die fünf in den Ambulakralzonen<br />
des Apikalfeldes liegenden Gehäuseplatten.<br />
Oligozän Jüngste chronostratigraphische<br />
Serie im Paläogen, dem untersten System<br />
im Känozoikum. Es umfasst eine Zeitspanne<br />
von ca. 11 Mio. Jahren: von etwa 34<br />
Mio. bis 23 Mio. Jahren vor heute.<br />
Pedicellarium/Pedicellarien Mehrbackige<br />
Zangenapparate, die der Verteidigung, aber<br />
auch der Reinigung des Gehäuses dienen.<br />
Periprokt Afteröffnung und die direkte<br />
Umgebung davon.<br />
Perm Jüngstes chronostratigraphisches System<br />
des Paläozoikums (Erdaltertum). Es<br />
umfasst eine Zeitspanne von ca. 48 Mio.<br />
Jahren: von etwa 299 Mio. bis 251 Mio.<br />
Jahren vor heute. Es wird in Deutschland<br />
lithostratigraphisch in Rotliegendes und<br />
Zechstein unterteilt.<br />
Petalodium/Petalodien Blütenblattartig<br />
ausgebildete Ambulakralfelder auf der<br />
Aboralseite vieler irregulärer Seeigel. Hier<br />
sitzen in der Regel die Kiemenfüßchen, die<br />
der Atmung dienen.<br />
Phyllodium/Phyllodien Bei den Cassiduloida<br />
besonders angepasste Ambulakralfelder<br />
im Bereich der Floscelle mit auf Nahrungsaufnahme<br />
spezialisierten Ambulakralfüßchen.<br />
Plastron (franz. Hemdbrust oder Harnisch)<br />
Bei Seeigeln der Überordnung<br />
Atelostomata die Interambulakralplatten<br />
hinter der Mundöffnung inklusive des Labrums.<br />
Quartär Jüngstes chronostratigraphisches<br />
System des Känozoikums, dauert zurzeit<br />
noch an. Der Beginn wird mit etwa 2,6<br />
Mio. Jahren vor heute angegeben.<br />
Saalezeit/Saale-Eiszeit Nach ihrer weitesten<br />
Verbreitung bis zum Fluss Saale<br />
benannte Kaltzeit, die auf einen Zeitraum<br />
von etwa 300.000 bis 130.000 Jahren vor<br />
heute datiert wird.<br />
Stereom Aus kleinen Kalkbälkchen oder<br />
Kalkplättchen aufgebautes poröses Skelett,<br />
aus dem die Gehäuseplatten der Stachelhäuter<br />
bestehen.<br />
Subanalfasciole(n) Fasciole, die sich unterhalb<br />
der Analöffnung befindet.<br />
Tithon/Obertithon Die letzte chronostratigraphische<br />
Stufe des Oberjura. Sie umfasst<br />
einen Zeitraum von etwa 5 Mio. Jahren:<br />
von ca. 150 Mio. bis 145 Mio. Jahren vor<br />
heute.<br />
Trias Ältestes chronostratigraphisches<br />
System im Mesozoikum (Erdmittelalter).<br />
Es umfasst einen Zeitraum von etwa 51<br />
Mio. Jahren: von ca. 251 Mio. bis 200 Mio.<br />
Jahren vor heute. Benannt wurde sie nach<br />
der in Mitteleuropa üblichen lithostratigraphischen<br />
Dreiteilung in Buntsandstein,<br />
Muschelkalk und Keuper. Diese Dreiteilung<br />
wird auch als „Germanische Trias“ bezeichnet.<br />
Die im alpinen und mediterranen<br />
Raum ausgeprägte alpine Trias weist diese<br />
Unterteilung nicht auf.<br />
Zechstein Lithostratigraphische Einheit<br />
des Perm in Mitteleuropa. Sie umfasst<br />
eine Zeitspanne von etwa 6 Mio. Jahren:<br />
von ca. 257 Mio. bis 251 Mio. Jahren<br />
vor heute. Der Name kommt vermutlich<br />
aus der Bergmannssprache und leitet<br />
sich möglicherweise von den „Zechen“,<br />
also Bergwerksgebäuden, ab. Während des<br />
Zechsteins wurden in Deutschland große<br />
Salzlagerstätten gebildet.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
<strong>152</strong><br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
153<br />
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem<br />
oberen Jura Hannovers<br />
Schädelelemente und Osteoderme der „Sammlung Struckmann“<br />
Marijke Taverne<br />
Einleitung<br />
Diese Arbeit beinhaltet die Untersuchung<br />
verschiedener historischer Fundstücke,<br />
die aus der geowissenschaftlichen<br />
Sammlung des Niedersächsischen Landesmuseums<br />
Hannover (NLMH) stammen.<br />
Da diese Stücke bisher noch nicht<br />
ausführlich beschrieben oder weitergehend<br />
bearbeitet wurden, ist eine genaue Untersuchung<br />
vorgenommen worden. Die Fossilien<br />
wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts<br />
in der Umgebung von Hannover<br />
entdeckt und von Karl Eberhard Friedrich<br />
Struckmann gesammelt und der Meereskrokodilgattung<br />
Steneosaurus aus dem<br />
Oberen Jura zugeordnet.<br />
Die Bearbeitung der Stücke setzt sich<br />
aus einer genauen makroskopischen Untersuchung,<br />
Zeichnungen von Kieferbruchstücken<br />
und Osteodermen, Vergleichen<br />
mit Stücken aus der Sammlung<br />
des Geowissenschaftlichen Zentrums der<br />
Universität Göttingen (GZG) sowie einer<br />
Röntgenaufnahme eines der Kieferbruchstücke<br />
zusammen.<br />
Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zur<br />
genauen Dokumentation der umfangreichen<br />
Sammlung zu leisten und die Zuordnung<br />
der Stücke zur Gattung Steneosaurus<br />
zu überprüfen.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
154 Marijke Taverne<br />
Material und Methoden<br />
Material<br />
Alle untersuchten Stücke stammen aus<br />
der historischen „Sammlung Struckmann“,<br />
des Niedersächsischen Landesmuseums<br />
Hannover. Die untersuchten Stücke haben<br />
die Inventarnummern NLMH 16646,<br />
NLMH 101388, NLMH 16710 und<br />
NLMH 16645.<br />
Sowohl in seiner Freizeit als auch während<br />
seiner Dienstreisen sammelte Amtsrat<br />
Karl Eberhard Friedrich Struckmann<br />
(*1833, †1898), der ein aktives Mitglied<br />
der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
(NGH) war und verschiedene geologische<br />
Arbeiten verfasste, eine beachtliche<br />
Anzahl von Objekten aus der Umgebung<br />
von Hannover (Ude 1900, Putzer 1988). In<br />
dieser Sammlung befinden sich neben Resten<br />
mariner und terrestrischer Wirbeltiere<br />
wie Krokodile, Schildkröten und Theropoden<br />
auch zahlreiche Funde von wirbellosen<br />
Tieren wie Echinodermaten, Gastropoden<br />
und Bivalvier.<br />
Das bearbeitete Material stammt von<br />
Meereskrokodilen der Gattung Steneosaurus<br />
aus den Schichten des Oberen Jura<br />
(Kimmeridgium: ~ vor 155 – 150 Mio. Jahren)<br />
und lässt sich in zwei Gruppen aufteilen:<br />
Zum einen werden zwei Bruchstücke<br />
von Unterkiefern und ein weiteres zerstörtes<br />
Kieferelement, das nur der Vollständigkeit<br />
halber fotografisch dokumentiert und<br />
aufgeführt werden soll, untersucht. Eines<br />
der Kieferbruchstücke ist in einer Zahnarztpraxis<br />
geröntgt worden. Zum anderen<br />
werden sechs von etwa 22 in der Sammlung<br />
befindlichen Osteoderme (verknöcherte<br />
Hautschilde) bearbeitet. Sie stellen<br />
eine gute, repräsentative Auswahl dar.<br />
Die Stücke aus dieser Sammlung stammen<br />
alle von Fundorten aus dem Stadtgebiet<br />
von Hannover (Tönniesberg,<br />
Mönkeberg), die heute nicht mehr zugänglich<br />
sind. Sie sind entweder komplett<br />
abgebaut und als Baustein, z. B. im Mittelalter<br />
für die Stadtmauer und den berühmten<br />
Beginenturm von Hannover verwendet,<br />
als Rohstoff für die Mörtel- und<br />
Zementherstellung u. ä. genutzt (Luppold<br />
et al. 2001) oder überbaut worden. Der<br />
Mönkeberg bildet die einzige Ausnahme.<br />
Er ist zwar noch zugänglich, es ist aber auf<br />
den kleinräumigen Arealen mit anstehendem<br />
Gestein nicht mehr erlaubt, weiterhin<br />
nach Fossilien zu suchen. Daher kommt<br />
den Sammlungsstücken eine besondere<br />
Bedeutung zu.<br />
Methoden<br />
Zur Bearbeitung der dieser Arbeit zugrunde<br />
liegenden Stücke wurden sie zuerst<br />
einer genauen makroskopischen Untersuchung<br />
unterzogen. Aufgrund dieser Beobachtungen<br />
konnten Zeichnungen von allen<br />
Stücken, z. T. auch aus unterschiedlichen<br />
Blickwinkeln, hergestellt werden. Für diese<br />
Art der Dokumentation wurden Fettstiftund<br />
Tusche-Zeichnungen auf Runzelkornpapier<br />
gewählt. Materialien für diese<br />
Zeichentechnik waren schwarze Fettstifte<br />
der Sorte All STABILO, Tusche der Marke<br />
KOH-I-NOOR und Runzelkornpapier der<br />
Marke IGEPA Bilddruck.<br />
Eines der Kieferbruchstücke mit teilgefüllten<br />
Zahnhöhlen konnte mit der Technik<br />
der digitalen Volumentomographie<br />
(DVT) in der Praxis von Dr. med. Dr. med.<br />
dent. Kai Witte in Bassum geröntgt werden.<br />
Bei dieser Technik wird das zu untersuchende<br />
Objekt mit dem Gerät einmal<br />
umfahren und mit einem auf der Röntgentechnik<br />
basierenden Strahl für etwa<br />
eine halbe Minute durchleuchtet. Während<br />
dieser Prozedur wird das Objekt wie bei<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
155<br />
einer Computertomographie Schicht für<br />
Schicht erfasst, sodass sich nach Auswertung<br />
der Daten ein dreidimensionales Bild<br />
des Objektes ergibt (www.zm-online.de/<br />
m5a.htm?/zm/2_05/pages2/zmed1.htm,<br />
17.03.2010).<br />
Ausgewertet werden die Daten mit<br />
dem Programm eXamVision. Damit besteht<br />
die Möglichkeit, die Schnittbilder<br />
des Objektes unter verschiedenen Winkeln<br />
darzustellen. Dabei kann der Kontrast<br />
verändert werden, um die jeweils<br />
interessanten Aspekte deutlicher hervorzuheben.<br />
Außerdem besteht die Möglichkeit,<br />
sich Teile des untersuchten Objektes<br />
als dreidimensionale Darstellung anzeigen<br />
zu lassen. Das erlaubt nicht nur einen Blick<br />
auf das Äußere, sondern auch auf die innere<br />
Struktur. Die dabei entstandenen Ansichten<br />
des Kiefers wurden mit Hilfe von<br />
Bildschirmfotos und dem Bildbearbeitungsprogramm<br />
Irfan View weiter bearbeitet<br />
und in diese Arbeit übertragen.<br />
Das zweite Kieferbruchstück konnte<br />
vom Tomographen nicht erfasst werden.<br />
Ob dies am Durchmesser des Stückes oder<br />
aber am Grad der Umkristallisation lag,<br />
konnte im Vorfeld dieser Arbeit nicht abschließend<br />
geklärt werden und bedarf einer<br />
vertieften zukünftigen Bearbeitung.<br />
Geologie Hannovers<br />
Hannover liegt innerhalb des Norddeutschen<br />
Flachlandes. Dieses nimmt das gesamte<br />
norddeutsche Gebiet ein und wird<br />
nach Süden in etwa begrenzt durch die<br />
Linie Rheine-Hannover-Braunschweig-<br />
Magdeburg-Köthen-Leipzig-Riesa-Görlitz<br />
(Henningsen & Katzung 2006). Dieses<br />
Gebiet bildet heute eine Senke, die durch<br />
den Einfluss der Kaltzeiten eiszeitliche<br />
Strukturen wie Moränen – Ablagerungen<br />
des von Gletschern transportierten Materials<br />
– enthält. Generell aber ist das Gebiet<br />
dadurch gekennzeichnet, dass keine großen<br />
Reliefunterschiede vorhanden sind.<br />
Das liegt daran, dass das Norddeutsche<br />
Flachland von einer mächtigen Schicht<br />
aus quartären Lockersedimenten bedeckt<br />
ist (Henningsen & Katzung 2006). Diese<br />
eiszeitlichen Lockersedimente umfassen<br />
ein breites Spektrum und reichen von Silt<br />
(vor allem durch Winde transportiert) über<br />
diverse Sande, Kies (z. B. Weserkiese) bis<br />
zu Findlingen (durch Gletscher transportiert).<br />
Diese Bedeckung wird an den Stellen<br />
durchbrochen, an denen ältere Schichten<br />
beispielsweise durch Halokinese an die<br />
Oberfläche gelangen. Dies ist in Hannover<br />
der Fall. Durch Salzkissen, die aufgrund<br />
ihrer geringeren Dichte im Vergleich zum<br />
umgebenden Gestein nach oben steigen,<br />
wurden ältere Schichten relativ zu ihrer<br />
eigentlichen Tieflage im Sedimentkörper<br />
in Richtung Oberfläche gedrückt und so<br />
zugänglich gemacht. Südlich der Fundstellen<br />
steigt ein permisches Salzkissen<br />
(Zechstein: ~ vor 257 – 251 Mio. Jahren),<br />
der „Salzstock Benthe“, nach oben, sodass<br />
Schichten aus dem Jura sowie der Trias<br />
(~ vor 251 – 200 Mio. Jahren) und der<br />
Kreide (~ vor 145 – 65 Mio. Jahren) an die<br />
Oberfläche gelangen konnten (Abb. 1).<br />
Die jurassischen Schichten bestehen aus<br />
marinen, im Oberen Jura (Malm: ~ vor<br />
161 – 145 Mio. Jahren) aus marin-brackischen<br />
Ablagerungen und umfassen Ton,<br />
Tonmergelstein, Kalksandstein, Mergelstein,<br />
oolithischen Kalkstein, Sandstein<br />
und Dolomitstein (www.bgr.bund.de,<br />
17.03.2010).<br />
Diese Ablagerungen entstanden während<br />
des Aufbrechens der riesigen<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
156 Marijke Taverne<br />
Letter<br />
Ahlem<br />
Limmer Hannover<br />
Letter<br />
Ahlem<br />
Limmer<br />
Trias<br />
Trias, Keuper<br />
Trias, Muschelkalk<br />
Trias, Buntsandstein<br />
Jura<br />
Jura, Oberer<br />
Jura, Mittlerer<br />
Jura, Unterer<br />
Kreide, Ober-<br />
Kreide, Unter-<br />
Kreide, Unter-, Wealden<br />
Alle anderen Farben<br />
des Kartenausschnitts<br />
beschreiben<br />
Schichten aus dem<br />
Quartär und Tertiär<br />
Salzstock, Bedeckung durch marine Unterkreide oder ältere Sedimente<br />
Salzstock, Bedeckung durch jüngere Sedimente als Unterkreide<br />
Salzkissen, Perm-Salinar<br />
Abb. 1 Geologische Situation Hannovers<br />
(Kartenmaterial zusammengestellt aus www.bgr.<br />
bund.de, 17.03.2010).<br />
Landmasse „Pangaea“ in die heutigen<br />
Nordkontinente durch eine Erhöhung des<br />
Meeresspiegelstands, welche eine Überflutung<br />
des Festlandes zur Folge hatte.<br />
Bei diesem sog. Jurameer handelte es sich<br />
allerdings eher um ein flaches Randmeer<br />
(Epikontinentalmeer), das phasenweise<br />
mit der heutigen Ostsee vergleichbar ist.<br />
Steneosaurus<br />
CROCODYLOMORPHA<br />
CROCODYLIFORMES<br />
MESOEUCROCODYLIA<br />
NEOSUCHIA<br />
THALATTOSUCHIA<br />
TELEOSAURIDAE<br />
(Fortier & Schultz 2009)<br />
Synonyme nach Kuhn (1973):<br />
Steneosaurus Geoffroy 1825<br />
[Stenosaurus Wagler 1830, Streptospondylus<br />
Meyer 1830, Macrospondylus Meyer<br />
1830, Engyomasaurus Kaup & Scholl<br />
1834, Mystriosaurus Münster 1834,<br />
Leptocranius Bronn 1837, Engyommasaurus<br />
Bronn 1841, Glaphyrorhynchus Meyer<br />
1842, Engyonimasaurus Agassiz 1844,<br />
Sericodon Meyer 1845, Sericosaurus Leonhardt<br />
& Bronn 1845]<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
157<br />
Abb. 2 Rekonstruktion eines Steneosaurus<br />
(www.geologie.tu-clausthal.de/bibo/cgw5/CG5_<br />
Brauckmann4.pdf, 17.03.2010).<br />
Steneosaurus (Abb. 2) gehört neben vier<br />
weiteren Gattungen zu der Familie der<br />
marinen Teleosauriden. Diese durchweg<br />
langschnauzige Familie war stark an eine<br />
aquatische Lebensweise angepasst, beispielsweise<br />
mit einem paddelähnlichen,<br />
seitlich abgeflachten, sehr muskulösen<br />
Schwanz. Die Familie der Teleosauriden<br />
wird der Unterordnung Mesoeucrocodylia<br />
zugeordnet, die sich von den anderen drei<br />
Unterordnungen vor allem dadurch unterscheidet,<br />
wie weit die inneren Nasenöffnungen<br />
im Laufe der Evolution zum hinteren<br />
Teil des Gaumendachs gewandert<br />
sind und sich dadurch gleichzeitig der sekundäre<br />
Gaumen ausweitet. Dieses Merkmal<br />
befähigt die Krokodile dazu, auch unter<br />
Wasser ihre Beute zu verschlingen, da<br />
die Verbindung zwischen den inneren Nasenöffnungen<br />
(Choanen) und der Luftröhre<br />
(Trachea) mit einem Hautsegel aktiv<br />
verschlossen werden kann und die Atmung<br />
somit unabhängig vom Fressvorgang und<br />
von Tauchgängen ist. Die Lage der Choanen<br />
der Mesoeucrocodylier ähnelt eher<br />
der der modernen Krokodile als der von älteren<br />
Vertretern der Crocodylier, wie beispielsweise<br />
den Protosuchiern (Abb. 3).<br />
Abb. 3 Vergleich der Lage der Choanen (blau)<br />
von Orthosuchus (Obertrias: ~ vor 229 – 200 Mio.<br />
Jahren), Steneosaurus (Jura: ~ vor 200 – 145 Mio.<br />
Jahren) und Albertochampsa (Oberkreide: ~ vor<br />
100 – 65 Mio. Jahren); (Buffetaut 1979)<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
158 Marijke Taverne<br />
Fossilien von Steneosaurus sind aus der<br />
Zeit des Toarcium (~ vor 183 – 175 Mio.<br />
Jahren) bis ins Berriasium (~ vor 145 – 140<br />
Mio. Jahren) aufzufinden. Geografisch gesehen<br />
verteilen sich die Fossilien auf Südamerika,<br />
Afrika und Europa (England,<br />
Frankreich, Deutschland). Fundstellen in<br />
Deutschland sind unter anderem: Solnhofen,<br />
Hannover, Oker, Schandelah/Haverlahwiese<br />
(bei Braunschweig), Holzmaden<br />
und Dotternhausen.<br />
Das Aussehen von Steneosaurus erinnert<br />
an die heutigen Gaviale, jedoch sind sie<br />
nicht mit ihnen verwandt. Die Linie der<br />
Teleosauriden starb in der Unteren Kreide<br />
(~ vor 145 – 100 Mio. Jahren) aus. Trotzdem<br />
ist die Ähnlichkeit von Steneosaurus<br />
mit rezenten Gavialen wie Gavialis gangeticus<br />
oder dem Sunda-Gavial Tomistoma<br />
schlegelii erstaunlich. Besonders beim Vergleich<br />
der Schädel besticht die Ähnlichkeit<br />
durch die extrem lang gezogene Schnauze<br />
und die lange Verbindung (Symphyse) der<br />
beiden Unterkieferknochen (Mandibeln).<br />
Steneosaurus konnte eine Länge von ca. 5<br />
m erreichen und war rückseitig (dorsal, inklusive<br />
Schwanz) wie bauchseitig (ventral)<br />
stark gepanzert. Dieser Panzer war nicht<br />
starr, sondern die Platten waren durch eine<br />
bindegewebliche Verbindung untereinander<br />
beweglich. Da sich die Tiere durch eine<br />
Körperachsen-Bewegung, d. h. mit Hilfe<br />
der Wirbelsäule (= axial) und einer seitlichen<br />
wellenförmigen Bewegung fortbewegten,<br />
wäre ein starrer Panzer unvorteilhaft<br />
gewesen.<br />
Die vorderen Extremitäten waren nur<br />
etwa halb so lang wie die hinteren. Da Anzeichen<br />
von Schwimmhäuten als Hautschatten<br />
zwischen den vier Zehen der<br />
Hinterfüße nachgewiesen werden konnten<br />
(Ulrichs et al. 1994), wie sie auch heute<br />
noch bei den Crocodyliern vorhanden<br />
sind, liegt eine Spezialisierung an das<br />
aquatische Milieu nahe. Eine vorzugsweise<br />
marine Lebensweise ist abzüglich weniger<br />
Ausnahmen wahrscheinlich. Diese Ausnahmen<br />
werden durch einige Funde von<br />
Steneosaurus-Skeletten aus dem Posidonien-Schiefer<br />
von Holzmaden belegt. Hier<br />
wurden Skelette entdeckt, die fast spiralförmig<br />
aufgerollt waren. Da eine derartige<br />
Krümmung der Wirbelsäule eines Kadavers<br />
nur durch Mumifizierung an Land<br />
entstehen konnte, müssen die Tiere direkt<br />
nach dem Eintritt des Todes an Land gelegen<br />
haben (Ulrichs et al. 1994). Die Funde<br />
von Steneosaurus-Skeletten mit Magensteinen<br />
werden als Belege für den Aufenthalt<br />
an Land gesehen. Da sich diese Skelette in<br />
ausnahmslos sehr feinkörnigem Sediment<br />
befinden, könnten die Tiere die Steine<br />
während Landgängen aufgenommen haben<br />
(Müller 1985).<br />
Ein weiteres Zeichen für eine sehr deutlich<br />
an das Wasser adaptierte Lebensweise<br />
sind die sehr kurzen vorderen Extremitäten.<br />
Mit diesen kurzen Vorderbeinen waren<br />
längere Landaufenthalte eher unwahrscheinlich.<br />
Die sehr lang gestreckte Schnauze weist<br />
an der Spitze eine kolbenartige, massiv<br />
knöcherne Verbreiterung auf.<br />
Das thekodonte Gebiss von Steneosaurus<br />
zeigt viele schlanke und relativ lange Zähne,<br />
die nicht direkt senkrecht auf den Kiefern,<br />
sondern etwas schräg aus ihnen heraus<br />
stehen (Müller 1985). Dadurch bildet<br />
die Schnauze eine Art Reuse. Die Beschaffenheit<br />
der Zähne, die nicht dazu genutzt<br />
werden konnten, um wehrhafte Beute zu<br />
reißen und die reusenartige Konstruktion<br />
der Kiefer lassen eine Spezialisierung<br />
auf eine vorwiegend fischbezogene (piscivore)<br />
Ernährung annehmen (Kuhn 1968).<br />
Auch hier lässt sich ein Vergleich zu rezenten<br />
Gavialen ziehen, welche sich ebenfalls<br />
piscivor ernähren. Die Nahrungsaufnahme<br />
geschieht dabei auf zwei Arten. Größere<br />
Fische werden mit den langen, spitzen<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
159<br />
Wirbelkörper<br />
doppelt konkav<br />
Steneosaurus<br />
Wirbelkörper<br />
konkav-konkav<br />
Albertochampsa<br />
Abb. 4 Vergleich der<br />
Wirbel von Steneosaurus<br />
aus dem Jura und Albertochampsa<br />
aus der Oberkreide<br />
(Buffetaut 1979).<br />
Zähnen aufgespießt. Danach werden sie<br />
von den Zähnen geschüttelt und verspeist.<br />
Bei kleineren Fischen kommt das reusenartige<br />
Gebiss zum Einsatz, um das Wasser<br />
aus der Schnauze herauszupressen.<br />
Neben der Lage der inneren Nasenöffnungen<br />
lassen auch die Wirbelkörper von<br />
Steneosaurus im Vergleich mit denen eines<br />
moderneren Krokodils aus der Oberen<br />
Kreide erkennen, wie sich die körperlichen<br />
Merkmale evolutionär veränderten.<br />
Sind die Wirbelkörper von Steneosaurus<br />
noch an beiden Enden konkav (amphicoel),<br />
so sind die moderneren Wirbel vorne<br />
konkav und hinten konvex (procoel)<br />
(Abb. 4).<br />
Osteoderme<br />
Der Panzer der Krokodile besteht neben<br />
den äußerlich sichtbaren Hornschuppen<br />
(Keratin) aus knöchernen Osteodermen.<br />
Diese bestehen aus den jeweiligen einzelnen<br />
Knochenplatten, die mit einer der<br />
Knochen-Morphologie folgenden Hornschicht<br />
überzogen sind. Auf den Osteodermen<br />
befinden sich unregelmäßig angeordnete<br />
Gruben. Durch diese wird eine<br />
Verbindung zum Inneren der nicht durchgängig<br />
massiven Knochenschilde hergestellt.<br />
In den Gruben als auch im Inneren<br />
der Schilde befinden sich Bindegewebe,<br />
Blutgefäße und Nerven. Diese Gewebe<br />
bilden den „lebendigen“ Teil der Osteoderme<br />
und die Basis zur Regulation der Körpertemperatur.<br />
Wird der Panzer nun durch<br />
Sonneneinstrahlung erhitzt, wird diese<br />
Wärme über die Osteoderme direkt an die<br />
in ihnen liegenden Blutgefäße übertragen,<br />
und die Wärme wird über das Blut durch<br />
den Körper gepumpt.<br />
Eine weitere wichtige Aufgabe der Panzerung<br />
besteht darin, die Tiere bei interund<br />
intraspezifischen Konflikten sowie<br />
beim recht dynamischen Paarungsakt zu<br />
schützen.<br />
Alle hier beschriebenen Osteoderme<br />
stammen vom Tönniesberg in Hannover.<br />
Das erste Stück (A, Abb. 5) ist diagenetisch<br />
am stärksten beansprucht und nicht<br />
vollständig erhalten. Zum Teil wird dieses<br />
Stück von dem noch anhaftenden, umgebenden<br />
Sediment (Matrix) zusammengehalten.<br />
Auf der Außenseite sind 21 Gruben<br />
erkennbar, die größtenteils nicht mit<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
160 Marijke Taverne<br />
Abb. 5 Osteoderm: Stück A (NLMH 16645).<br />
2,5 cm<br />
4,1 cm<br />
Abb. 6 Osteoderm: Stück B<br />
(NLMH 16645), Pfeil zeigt auf<br />
Längskiel.<br />
1,1 cm<br />
Abb. 7 Osteoderm:<br />
Stück C<br />
(NLMH 16645), Pfeil<br />
zeigt auf Längskiel.<br />
Sediment verfüllt sind. Die Innenseite<br />
weist abgesehen von den diagenetisch verursachten<br />
Schäden keine großen Reliefunterschiede<br />
auf. Nur an einer Ecke des<br />
Stücks ist zu sehen, wie sich der Knochen<br />
zum Rand hin verflacht.<br />
Auf dem zweiten Stück (B, Abb. 6) sind<br />
16 Gruben zu erkennen, in denen noch Sediment<br />
vorhanden ist. An der Unterseite<br />
dieses Stücks kann ebenfalls eine Verflachung<br />
des Materials beobachtet werden. Diese<br />
Verflachung zieht sich über zwei nebeneinander<br />
liegende Seiten. Abgesehen<br />
davon ist auch dieses Stück an der Innenseite<br />
von einer glatten Beschaffenheit. Auf<br />
dem nächsten Stück (C, Abb. 7) befinden<br />
sich 15 Gruben. Auch hier ist die Verflach<br />
ung des Materials an einer Seite zu erkennen.<br />
Stellenweise ist die Innenseite dieses<br />
Stückes etwas rau. Diese zwei Stücke<br />
weisen einen Längskiel auf, der sich nicht<br />
ganz mittig auf der Außenseite befindet.<br />
Zwölf Gruben befinden sich auf dem<br />
vierten Stück (D, Abb. 8). An der Unterseite<br />
lässt sich nur an wenigen Stellen eine<br />
feine Struktur erkennen, ansonsten ist sie<br />
von einer glatten Beschaffenheit. Beim<br />
nächsten Stück (E, Abb. 9) lassen sich die<br />
Gruben z. T. nur schwer erkennen und sind<br />
teilweise mit Sediment verfüllt. Insgesamt<br />
lassen sich elf Gruben ausmachen. Auch<br />
auf der Innenseite dieses Stücks lassen<br />
sich neben einer diagenetisch verursachten<br />
Struktur kaum weitere Reliefunterschiede<br />
ausmachen. Da ein Teil des letzten Stücks<br />
(F, Abb. 10) noch vom umgebenden Sediment<br />
(Matrix) bedeckt ist, sind nicht alle<br />
Gruben sichtbar. Neun Gruben sind dennoch<br />
zu sehen und größtenteils komplett<br />
mit Sediment verfüllt. Anders als bei den<br />
bisher beschriebenen Stücken ist die Innenseite<br />
in diesem Fall rau, größere Strukturen<br />
sind aber nicht vorhanden. Bei den<br />
Stücken D, E und F fällt jeweils eine<br />
Längsseite der Außenseite stark ab, sodass<br />
sich wieder eine Verflach ung des Knochens<br />
ergibt. Ebenso verhält es sich mit den jeweils<br />
gegenüberliegenden Längsseiten der<br />
Innenseiten dieser Stücke. Außerdem weisen<br />
diese Stücke Bruchkanten auf, sie sind<br />
also fragmentiert.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
161<br />
1,4 cm<br />
2 cm<br />
2,3 cm<br />
Abb. 8 Osteoderm: Stück D (NLMH<br />
16645), Pfeil zeigt auf Bruchkante.<br />
Abb. 9 Osteoderm:<br />
Stück E (NLMH 16645),<br />
Pfeil zeigt auf Bruchkante.<br />
Abb. 10 Osteoderm: Stück F<br />
(NLMH 16645), Pfeile zeigen auf<br />
Bruchkanten.<br />
Kiefer<br />
Unterkiefer 1<br />
Dieses Stück (Abb. 11 und 12, Fundort:<br />
Hannover/Limmer) hat eine Länge von<br />
etwa 18 cm. An der breitesten Stelle weist<br />
es ca. 5,4 cm auf, an der schmalsten Stelle<br />
ca. 4,4 cm.<br />
Das Bruchstück hat eine schmutziggraue<br />
Farbe. Im mittleren Bereich weisen<br />
die bläulich ergänzten Stellen darauf hin,<br />
dass das Stück in drei Teile zerbrochen war<br />
und geklebt wurde. Die Zahnhöhlen (Alveolen)<br />
sind mit sehr feinem, grau-weißem<br />
Sediment verfüllt.<br />
Von der Seite gesehen weist das Stück<br />
am vordersten Teil eine wellenförmige Silhouette<br />
auf.<br />
Die Alveolen liegen eher an der Außenseite<br />
als direkt auf dem Unterkiefer.<br />
Es lassen sich insgesamt 19 Alveolen<br />
ausmachen, von denen manche nur erahnt<br />
werden können oder nur noch halb vorhanden<br />
sind. Dabei befinden sich 10 davon<br />
auf der linken Seite.<br />
In den Alveolen R2, R3, R4, R5, R8 und<br />
R10 sowie L1, L5, L6, L8, L10 (Abb. 13)<br />
lassen sich makroskopisch die Spitzen,<br />
oder auch abgebrochene Reste von Zähnen<br />
ausmachen. Auf diese wird nachfolgend<br />
mit Hilfe der Röntgenaufnahmen näher<br />
eingegangen.<br />
Sowohl an der Bruchkante als auch an<br />
einigen Stellen, an denen die Oberfläche<br />
des Knochens nicht mehr erhalten ist, ist<br />
die innere Struktur des Kiefers erkennbar<br />
(Abb. 13, 14). Am vordersten Teil ist<br />
eine Einkerbung zu sehen, die z. T. mit<br />
Sediment verfüllt ist. An der Unterseite<br />
des Unterkiefers sind einige kleine Gruben<br />
vohanden.<br />
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162 Marijke Taverne<br />
Abb. 11 Unterkiefer 1 (NLMH 16646), kleine Pfeile<br />
zeigen beispielhaft auf Alveolen, großer Pfeil<br />
zeigt in Richtung des vorderen Endes des Kiefers,<br />
Ansicht von oben.<br />
18 cm<br />
Abb. 12 Unterkiefer 1, Pfeil zeigt in Richtung des<br />
vorderen Endes des Kiefers, Ansicht von unten.<br />
18 cm<br />
Unterkiefer 2<br />
Das zweite Unterkieferbruchstück (Abb.<br />
15) stammt aus den Schichten des oberen<br />
Korallenoolith vom Mönkeberg in Hannover.<br />
Die Länge dieses Stücks beträgt<br />
29,5 cm und ist 2,3 bis 3,9 cm hoch und 2,2<br />
bis 2,6 cm breit.<br />
Dieser unvollständige rechte Unterkieferast<br />
hat eine braune Färbung. Auch dieses<br />
Stück wurde vermutlich in den 1950er<br />
Jahren an einer Stelle mit braun-grauer<br />
Klebemasse zusammengefügt. An einem<br />
Ende ist der Rest einer Beschriftung zu<br />
erkennen, die aber nicht mehr lesbar ist.<br />
Die Alveolen sowie weitere Hohlräume<br />
an der Unterseite sind mit Sediment verfüllt,<br />
das kugelförmige Ooide (konzentrische<br />
Karbonatablagerungen um einen<br />
Kern, z. B. ein Stück einer Muschelschale)<br />
und Bruchstücke von Muschelschalen und<br />
Schneckenhäusern (Bruchschill) enthält.<br />
Hier lassen sich 17 Alveolen erkennen.<br />
In einer Alveole ist ein Bruchstück eines<br />
Zahnes zu erkennen.<br />
Auch an diesem Stück ist die oberste,<br />
normalerweise feste und sehr glatte<br />
Schicht des Knochenmaterials (Substantia<br />
compacta) an einigen Stellen abgeplatzt.<br />
Der untere Teil dieses Unterkieferstücks<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
163<br />
Areale mit abgelöster oberster Schicht<br />
von Sediment verdeckte Areale<br />
von Kleber verdeckte Areale<br />
Abb. 13 Zeichnung der Dorsalseite von Unterkiefer<br />
1 mit Nummerierung der Alveolen (L = linke<br />
Seite des Kiefers, R = rechte Seite des Kiefers),<br />
Pfeil zeigt in Richtung des vorderen Endes des<br />
Kiefers.<br />
Abb. 14 Zeichnung der Ventralseite von Unterkiefer<br />
1, Pfeil zeigt in Richtung des vorderen Endes<br />
des Kiefers.<br />
Abb. 15 Unterkiefer 2 (NLMH 101388); Ansicht<br />
von dorsal, kleine Pfeile markieren beispielhaft<br />
Alveolen, großer Pfeil zeigt in Richtung des<br />
vorderen Endes des Kiefers.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
164 Marijke Taverne<br />
fehlt völlig, sodass hier die Sicht auf die<br />
innere, spongiöse Struktur des Knochens<br />
freiliegt.<br />
Kiefer 3<br />
Das zerstörte Kieferelement (Abb.<br />
16 und 17, NLMH 16710, Fundort:<br />
Mönkeberg in Hannover) ähnelt in der<br />
Beschaffenheit dem zweiten beschriebenen<br />
Stück in der Farbe, sowie auch im umgebenden<br />
Sedimentgestein, das ebenfalls aus<br />
Ooiden und Bruchschill besteht. An einem<br />
der insgesamt sieben Bruchstücke sind<br />
zwei Reste von Zähnen vorhanden. Die<br />
genaue Lage dieser Fragmente in einem<br />
Kiefer ließ sich nicht ermitteln.<br />
Abb. 16 Teilstück des zerstörten Kieferelements<br />
NLMH 16710.<br />
Abb. 17 Sechs Bruchstücke des zerstörten Kieferelements<br />
NLMH 16710.<br />
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Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
165<br />
Ergebnisse<br />
Osteoderme<br />
Die Lage der beschriebenen Osteoderme<br />
war im Vorfeld der Bearbeitung noch<br />
nicht eindeutig zu erkennen. Bei der Untersuchung<br />
eines artikulierten, kompaktierten<br />
Steneosaurus-Skeletts in Tonstein-<br />
Matrix der Universität Göttingen (Abb.<br />
18, Schausammlung der Universität Göttingen)<br />
konnten gekielte Osteoderme nur<br />
in der Schwanzregion ausgemacht werden.<br />
Die Beschreibung des Panzers von Teleosaurus<br />
cadomensis, einer weiteren Gattung<br />
aus der Familie der Teleosauriden (Abb.<br />
19) unterstützt diese Erkenntnis.<br />
Bei dieser dem Steneosaurus sehr ähnlichen<br />
Gattung treten Osteoderme mit einem<br />
Längskiel erst in der Schwanzregion<br />
auf. Die asymmetrische Lage der Kiele auf<br />
den Osteodermen von Teleosaurus lassen<br />
bei gleicher Orientierung der Steneosaurus-Osteoderme<br />
den Schluss zu, dass auch<br />
hier die Kielseite in Richtung des Panzerzentrums<br />
liegt.<br />
Dadurch lassen sich die Stücke der linken<br />
(sinistralen) oder rechten (dextralen)<br />
Körperseite zuordnen. Dies setzt allerdings<br />
voraus, dass an den Stücken eine vordere<br />
beziehungsweise hintere Seite lokalisiert<br />
werden kann. Das wiederum kann anhand<br />
Abb. 18 Steneosaurus-Hinterbein mit Schwanzansatz;<br />
gekielte Osteoderme (Pfeile); der großer Pfeil<br />
zeigt in Kopfrichtung des Tieres (Schausammlung<br />
Universität Göttingen).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
166 Marijke Taverne<br />
Abb. 19 Dorsalpanzer von Teleosaurus cadomensis<br />
(Kuhn 1973); gekielte Osteoderme (Pfeile).<br />
der abgeflachten Seiten der Osteoderme<br />
erkannt werden. Die Abflachungen des<br />
Materials der Stücke an einer bzw. zwei<br />
Seiten der einzelnen Osteoderme belegen<br />
ihre dachziegelartige (imbrikate) Anordnung<br />
auf dem Körper der Krokodile.<br />
Wie man am Panzer von Teleosaurus cadomensis<br />
erkennen kann, schiebt sich jeweils<br />
eine vordere Platte der Schwanzpanzerung<br />
leicht über die dahinter liegende (Abb. 19).<br />
Dieses Prinzip ist nicht nur bei den Crocodyliern,<br />
sondern beispielsweise auch sehr<br />
ausgeprägt bei fossilen und rezenten Echsen<br />
zu beobachten (Richter 1994).<br />
Wendet man dieses Prinzip bei den vorliegenden<br />
Stücken an, lassen sich die zwei<br />
gekielten Stücke (B und C) der Panzerung<br />
des Schwanzes und sogar einer Schwanzseite<br />
zuordnen. Wenn man beide Stücke so<br />
Abb. 20 Osteoderme B und C (NLMH 16645); die<br />
großen Pfeile zeigen in Richtung des vorderen Endes<br />
vom Panzer, kleine Pfeile weisen auf die Kiele<br />
orientiert, dass das abgeflachte Ende zum<br />
Schwanzende zeigt, und daher die nächste<br />
Platte darunter geschoben werden könnte,<br />
liegt bei beiden Stücken der Kiel auf<br />
der sinistralen Seite. Und da sich den Vergleichsobjekten<br />
nach zu urteilen der Kiel<br />
zum Körpermittelpunkt hin verschiebt,<br />
lassen sich beide Stücke der dextralen Seite<br />
des Schwanzes (der Caudalregion) zuordnen<br />
(Abb. 20).<br />
Eine genaue Lage der Osteoderme auf<br />
dem Schwanz ist aber mit dem vorliegenden<br />
Material schwer zu bestimmen, da beispielsweise<br />
auch bei rezenten Krokodilen<br />
die Panzerung des Schwanzes große Variationen<br />
aufweist (Abb. 21).<br />
Das mit A gekennzeichnete Stück (Abb.<br />
5, Abb. 23) lässt sich aufgrund der Form<br />
im Vergleich mit der Rekonstruktion des<br />
Panzers von Teleosaurus cadomensis (Abb.<br />
22) der Bauchpanzerung (Ventralpanzerung)<br />
zuordnen. Bei dieser Gattung scheinen<br />
die unregelmäßig geformten Platten<br />
der Ventralpanzerung passgenau fest „verfugt“<br />
zu sein.<br />
Kann man an den Osteodermen des<br />
Rückenpanzers (Dorsalpanzer) von Steneosaurus<br />
eine annähernd viereckige Form<br />
ausmachen, so weisen die Osteoderme der<br />
ventralen Panzerung überwiegend mehr als<br />
vier Ecken auf und sind unregelmäßiger<br />
geformt, polygonal (Abb. 22 und 23).<br />
Die Lage der Stücke D, E und F (Abb.<br />
8 bis 10, Abb. 24) ist schwer zu bestimmen.<br />
Diese Stücke sind nicht vollständig<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
167<br />
Abb. 21 verlauf der Kiele auf den beiden<br />
mittleren längsreihen der osteoderme innerhalb<br />
der schwanzpanzerung rezenter Krokodilier (aus<br />
trutnau 1994).<br />
a) Parallel verlaufende Kiele auf dem schwanzpanzer<br />
von Alligator mississippiensis, allen arten der<br />
Gattungen Crocodylus, Tomistoma und Gavialis.<br />
b) Zu einem unpaaren Kiel vereinigte Kiele von<br />
Melanosuchus niger und den beiden arten der<br />
Gattung Caiman.<br />
c) Kiele biegen hinter der schwanzwurzel beiderseits<br />
nach außen aus und gehen dann in den<br />
schwanzkamm über bei Alligator sinensis und<br />
Paleosuchus palpebrosus.<br />
d) Keine längskiele auf der oberseite der schwanzwurzel<br />
von Osteolaemus tetraspis.<br />
e) Zwei Paare von längskielen, die sich auf der<br />
schwanzpanzerung von Paleosuchus trigonatus<br />
hintereinander nach außen biegen und dort<br />
enden.<br />
Abb. 22 ventrale Panzerung von Teleosaurus<br />
cadomensis (Kuhn 1973).<br />
Abb. 23 osteoderm a (NlMh 16645), schraffierte<br />
flächen zeigen von sediment verdeckte areale;<br />
stück der ventralpanzerung zugeordnet.<br />
erhalten, sodass sich die tatsächliche Form<br />
nicht ausmachen lässt. Zumindest eine anteroposteriore<br />
Orientierung ist anhand der<br />
Abflachung des Materials möglich (Abb.<br />
24). Da diese Stücke jeweils Abflachungen<br />
an der Ober- und Unterseite aufweisen,<br />
lässt sich die Funktionsweise der Imbrikation<br />
gut erkennen.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
168 Marijke Taverne<br />
Abb. 24 Oberseite der Osteoderme<br />
D, E, F (NLMH 16645);<br />
schraffierte Flächen zeigen von<br />
Sediment verdeckte Areale, kleine<br />
Pfeile zeigen auf Abflachungen<br />
des Materials, großer Pfeil<br />
zeigt in Richtung des vorderen<br />
Teils des Panzers (vgl. Abb. 8<br />
bis 10).<br />
Unterkiefer<br />
Unterkiefer 1 (NLMH 16646) bildet den<br />
vordersten Teil der Dentalia und zeigt somit<br />
auch das kolbenartig verbreiterte Stück<br />
der Schnauzenspitze (vgl. Abb. 11 bis 14,<br />
25). Die Einkerbung im vordersten Teil<br />
deutet die Verbindung der beiden Unterkieferknochen<br />
an.<br />
Die Gruben an der Unterseite des Unterkiefers<br />
enthielten Nervenstränge und<br />
Blutgefäße, die gemeinsam die Hornhaut<br />
versorgten (Abb. 26). Durch diese Empfindlichkeit<br />
der Haut wird in Analogie<br />
zu Beobachtungen an rezenten Krokodilen<br />
die Information von Bewegungen im<br />
Wasser ans Gehirn weitergeleitet (www.<br />
spektrum.de/artikel/828872, 17.03.2010).<br />
Dies war und ist ein wichtiger Vorteil für<br />
die Jagd im Wasser, denn auch bei rezenten<br />
Abb. 25 rechte Hälfte des Unterkiefers eines<br />
Breitschnauzen-Kaimans, von lateral; 1: Dentalia<br />
(Starck 1979).<br />
Krokodilen spielt diese Empfindlichkeit<br />
der Haut eine große Rolle als Sinneswahrnehmung.<br />
Ökologisch vergleichbar ist diese Fähigkeit<br />
mit den Lorenzinischen Ampullen in<br />
der Kopfregion der Haie, mit denen von<br />
anderen Lebewesen ausgesendete elektrische<br />
Potentiale wahrgenommen werden<br />
können.<br />
Mit der vorhandenen Schnauzenspitze<br />
und vergleichbaren Unterkieferrekonstruktionen<br />
lässt sich eine grobe Skizze<br />
Abb. 26 Querschnitt durch einen Tastfleck in der<br />
Haut eines Krokodils. Die mit Nerven verbundenen<br />
Tastkörperchen liegen direkt unter der Stratum<br />
malpighii. Hier ist die Hornschicht unterbrochen.<br />
a: Stratum corneum aufgebaut aus abgestorbenen,<br />
verhornten Zellen (Hornschuppen Keratin),<br />
b: Stratum intermedium (Zwischenschicht),<br />
c: Stratum malpighii: veralteter Ausdruck für<br />
innerste Schicht der Haut, d: Tastkörperchen mit<br />
Nerven (verändert nach Trutnau 1994).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
169<br />
Abb. 27 Unterkieferrekonstruktion anhand der<br />
bearbeiteten Schnauzenspitze, zusammengesetzt<br />
aus der Zeichnung des untersuchten Unterkiefers 1<br />
und Skizze des abgeschätzten restlichen Unterkieferteils,<br />
von dorsal gesehen.<br />
Abb. 28 seitliche (laterale) Ansicht der Schnauzenspitze<br />
eines Steneosaurus-Schädels der Universität<br />
Göttingen (Vitrinenstück).<br />
Abb. 29 Kiefer 1; seitliche (laterale) Ansicht der<br />
sinistralen Seite (NLMH 16646), Pfeil zeigt in Richtung<br />
des vorderen Endes der Schnauze.<br />
des kompletten Unterkiefers herstellen<br />
(Abb. 27), die die lange Verbindung des<br />
rechten und linken Unterkieferastes deutlich<br />
zeigt. Aufgrund dieser Skizze lässt sich<br />
die Länge des Unterkiefers (der Mandibula)<br />
auf etwa 80 bis 100 cm abschätzen.<br />
Bei einem Vergleich mit einem komplett<br />
erhaltenen Schädel von Steneosaurus<br />
aus der Universität Göttingen zeigt sich<br />
die krokodiltypische wellenförmige Kieferrandlinie,<br />
wie sie auch bei dem bearbeiteten<br />
Material zu sehen ist (Abb. 28 und 29).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
170 Marijke Taverne<br />
Abb. 30 Zeichnung der Innenseite von<br />
Unterkiefer 2 (NLMH 101388), Pfeil zeigt in<br />
Richtung des vorderen Teils des Kiefers.<br />
Abb. 31 Zeichnung der Außenseite von Unterkiefer<br />
2 (NLMH 101388) mit markierten Alveolen und<br />
Bruchstück eines Zahns, Pfeil zeigt in Richtung des<br />
vorderen Teils des Kiefers.<br />
Unterkiefer 2 (NLMH 101388) stellt einen<br />
rechten Unterkieferast dar (Abb. 30<br />
und 31). Er war nicht Teil der rostralen<br />
Verbindung (Symphyse) der beiden Unterkieferknochen.<br />
Ausgehend von der Länge<br />
dieses Stücks (etwa 29,5 cm) lässt sich eine<br />
grobe Abschätzung der Größe des kompletten<br />
Unterkiefers machen. Aufgrund<br />
der extrem langen Symphyse der Unterkieferknochen<br />
von Steneosaurus, und der Tatsache,<br />
dass der Unterkieferast auch im hinteren<br />
Teil nicht komplett erhalten ist, muss<br />
er mindestens 70 cm lang gewesen sein.<br />
Diese Länge ergibt sich aus der Annahme,<br />
dass die Symphyse mindestens die Hälfte<br />
des Unterkiefers ausmachte, und dass zwischen<br />
dem hinteren Ende des Stücks und<br />
dem nicht mehr erhaltenen Kiefergelenk<br />
noch mindestens 10 cm Knochen ohne Alveolen<br />
vorhanden gewesen sind.<br />
DVT-Aufnahmen Kiefer 1<br />
Hier soll ein kleiner Überblick über die<br />
umfangreichen Aufnahmen der DVT gegeben<br />
werden.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
171<br />
Neben einer herkömmlichen Röntgenaufnahme<br />
des Stückes (Abb. 32), die einen<br />
groben Einblick in den Aufbau des Kiefers<br />
gibt, lässt sich durch die Betrachtung ausgewählter<br />
Schnittbilder der interne Aufbau<br />
genau untersuchen.<br />
Untersucht man den Kiefer ausgehend<br />
von der oberen Seite, lassen sich als erstes<br />
Zahnreste in den Alveolen im Inneren<br />
des Kiefers erkennen. Die Zahnreste geben<br />
dabei Aufschluss über den Aufbau der<br />
Zähne. So lassen Abbildungen ringförmiger<br />
Zahnreste beispielsweise aus den Alveolen<br />
L8 (Abb. 33) oder auch L10 (Abb.<br />
35) deutlich einen Hohlraum im Inneren<br />
des Zahns erkennen. Dieser Hohlraum<br />
enthielt die Zahnpulpa (Zahnmark), die<br />
aus einem Zahnnerv, Blut- und Lymphgefäßen<br />
und Bindegewebe besteht (Hildebrand<br />
& Goslow 2004).<br />
Geht man nun einige Schichten tiefer in<br />
den Kiefer hinein, lässt sich sehr gut erkennen,<br />
wie weit die Alveolen in den Kiefer<br />
hineinragen (Abb. 34). An der Lage und<br />
Ausrichtung der Alveolen lässt sich auch<br />
die Stellung der Zähne nachvollziehen.<br />
Die jeweiligen Alveolen der gegenüberliegenden<br />
Seiten reichen so weit in das Innere<br />
des Kiefers hinein, dass sie sich berühren<br />
(Abb. 35). Diese „fiederförmige“ Ausrichtung<br />
der Alveolen bedingt den geneigten<br />
Sitz der Zähne auf dem Kiefer und dadurch<br />
das reusenartige Aussehen des Kiefers.<br />
Die Spitze des Zahnes aus L10 lässt<br />
sich in der Ansicht aus einer Schicht, die<br />
wiederum etwas weiter in Richtung Kieferunterseite<br />
reicht, weiter in die Alveole<br />
hinein verfolgen. Hier wird sichtbar, dass<br />
der Zahn tief in der Alveole steckt. Da raus<br />
lässt sich schließen, dass die Zahnspitze zu<br />
einem gerade nachwachsenden Zahn gehörte.<br />
Abb. 32 Röntgenaufnahme von Kiefer 1 mit<br />
verstärktem Kontrast (Aufnahme Dr. med. Dr. med.<br />
dent. Kai Witte).<br />
Abb. 33 Alveolen L7, L8, R7 und R8; weiße Stellen<br />
(Pfeil) in L8 und R8 zeigen deutlich Reste von Zähnen<br />
(Aufnahme Dr. med. Dr. med. dent. Kai Witte).<br />
Abb. 34 Lage, Länge und Ausrichtung der Alveolen<br />
(Pfeile) innerhalb des Kiefers (Aufnahme Dr.<br />
med. Dr. med. dent. Kai Witte).<br />
Abb. 35 Zahn in L10 (Pfeil), Berührung der Alveolen<br />
gegenüberliegender Zähne (Aufnahme Dr. med.<br />
Dr. med. dent. Kai Witte).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
172 Marijke Taverne<br />
Paläobiogeografie<br />
Fossile Überreste von Steneosaurus wurden<br />
auf drei Kontinenten gefunden. Dabei<br />
kommen alle Funde aus Horizonten des<br />
Jura.<br />
Fundorte aus dem frühen Jura (Abb. 36)<br />
waren Argentinien, Marokko, England,<br />
Frankreich und Deutschland. Diese Gebiete<br />
waren durch den im frühen Jura stattfindenden,<br />
gleichsam global wirkenden<br />
Meeresspiegelanstieg (Transgression) von<br />
einem Epikontinentalmeer bedeckt. Viele<br />
höher gelegene Gebiete bildeten in dieser<br />
Zeit Inseln. Diese Inseln in Kombination<br />
mit den umgebenden Flachmeerzonen waren<br />
der perfekte Lebensraum für Steneosaurus.<br />
Zur Zeit des Oberen Jura (Abb. 37) hatte<br />
sich Amerika bereits deutlich von der<br />
ursprünglichen Pangäa entfernt bzw. der<br />
Atlantik begonnen, sich auszuweiten. Weite<br />
Teile des Festlandes waren noch immer<br />
von Epikontinentalmeeren bedeckt.<br />
Deutschland, die Schweiz, England,<br />
Marokko und Madagaskar sind Fundorte<br />
von Steneosaurus aus dem Oberen Jura.<br />
Ausgehend von den Fundorten kann<br />
angenommen werden, dass auch in Bezug<br />
auf den Lebensraum Ähnlichkeiten zwischen<br />
fossilen und rezenten Krokodilen<br />
vorhanden sind. Krokodile sind wechselwarm<br />
und kommen nur in Gebieten mit<br />
warmem Klima vor.<br />
Zur Zeit des Jura befanden sich die<br />
Fundorte auf Breitengraden, die ein warmes<br />
Klima aufwiesen. Diese tropischen<br />
Temperaturen werden auch durch Sedimentgesteine<br />
belegt, in denen Steneosaurus-Skelette<br />
gefunden wurden, da Oolith-Bildungen<br />
nur in tropischem Klima<br />
vorkommen, zum Beispiel auf den heutigen<br />
Bahama Banks.<br />
Auch die Verbreitung der Krokodilier<br />
über den Jura hinaus zeigt ihre Abhängigkeit<br />
vom warmen Klima. So lässt sich<br />
anhand von Funden unterschiedlicher<br />
Krokodilgattungen ihr Rückzug in Richtung<br />
Süden und damit in wärmere Gefilde<br />
nachvollziehen.<br />
Bis zum oberen Miozän (~ vor 23 – 5<br />
Mio. Jahren) zogen sich die Krokodilier<br />
bis in die heutige Toskana zurück. Dieser<br />
Trend lässt sich nicht nur in Europa, sondern<br />
beispielsweise auch an fossilen Krokodilen<br />
und Schildkröten, die in den USA<br />
gefunden wurden, nachvollziehen. Dort<br />
zogen sich die Tiere über Nebraska und<br />
Oklahoma in den Süden zurück (Kuhn<br />
1968).<br />
Diskussion<br />
Es ist möglich, das vorliegende Material<br />
nach einem Vergleich mit den anderen<br />
Gattungen der Familie der Teleosauridae –<br />
Machimosaurus, Platysuchus, Pelagosaurus,<br />
Teleosaurus – eindeutig der Gattung Steneosaurus<br />
zuzuordnen.<br />
Machimosaurus kann zuallererst definitiv<br />
ausgeschlossen werden. Dies geschieht<br />
zum einen aufgrund der Zähne von<br />
Machimosaurus. Die Zähne sind im Gegensatz<br />
zu denen von Steneosaurus kegelförmig<br />
und abgestumpft (Müller 1985) und ausgelegt<br />
auf eine Ernährung, die Tiere mit<br />
einem zu knackenden Panzer einschließt,<br />
wie beispielsweise Schildkröten (Abb. 38).<br />
Zum anderen ist die Schnauze verglichen<br />
mit der von Steneosaurus weit weniger lang<br />
gezogen (Müller 1985).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
173<br />
Abb. 36 Erde zur Zeit des Unteren Jura mit Fundorten<br />
von Steneosaurus-Resten (Scotese 2003).<br />
Abb. 37 Erde zur Zeit des Oberen Jura mit<br />
Fundorten von Steneosaurus-Resten (Scotese 2003)<br />
Fundorte von Steneosaurus.<br />
≈ Fundorte von Steneosaurus<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
174 Marijke Taverne<br />
Abb. 38 links: Zahn eines Machimosaurus (NLMH<br />
16383); rechts: Zahn eines Steneosaurus (NLMH<br />
16655); Fotos: Rades 2008.<br />
Die Gattung Platysuchus gehört ebenfalls<br />
in die Familie der Teleosauridae. Die Gestalt<br />
an sich ist zwar der von Steneosaurus<br />
sehr ähnlich, Platysuchus ist aber viel kleiner<br />
und besitzt einen kürzeren Schädel.<br />
Skelette von Platysuchus wurden bis heute<br />
nur in den Horizonten des frühen Jura<br />
(Lias: ~ vor 200 – 175 Mio. Jahren) gefunden<br />
und die hier bearbeiteten Stücke<br />
stammen aus der Zeit des späten Jura. Die<br />
heute bekannten Skelette weisen eine Größe<br />
von etwa 2,80 m auf. Stellt man dieser<br />
Größe die geschätzte Länge der den bearbeiteten<br />
Stücken zugehörigen kompletten<br />
Kiefer gegenüber (zwischen 70 cm und<br />
100 cm), lässt sich Platysuchus ebenfalls<br />
ausschließen.<br />
Des Weiteren lässt sich die Gattung<br />
Pelagosaurus ausschließen. Fossilien dieser<br />
Gattung wurden ebenfalls bis heute<br />
nur aus den Schichten des Lias geborgen<br />
(Pierce & Benton 2006). Skelette dieser<br />
Gattung erreichen eine Länge von bis zu<br />
1,75 m (Kuhn 1973). Das zeigt, dass die<br />
untersuchten Stücke wie auch beim Platysuchus<br />
zu groß sind, um von der Gattung<br />
Pelagosaurus zu stammen. Außerdem weist<br />
die Schnauze von Pelagosaurus keine kolbenartig<br />
verbreiterte Schnauze auf, wie sie<br />
bei Steneosaurus und den vorliegenden Stücken<br />
vorhanden ist.<br />
Die fünfte Gattung aus der Familie der<br />
Teleosauridae ist der namengebende Teleosaurus.<br />
Skelette von Teleosaurus sind aus<br />
den Schichten des kompletten Jura bekannt<br />
(Müller 1985). Die Schnauze von<br />
Teleosaurus ist der von Steneosaurus (verglichen<br />
mit den anderen Gattungen) am ähnlichsten.<br />
Da Teleosaurus aber nur eine Größe<br />
von bis zu 2,50 m erreichte, können die<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
175<br />
Abb. 39 Metriorhynchidae (Buffetaut 1979).<br />
bearbeiteten Stücke auch dieser Gattung<br />
nicht zugeordnet werden (Kuhn 1973).<br />
Die Kieferstücke lassen sich also nur der<br />
Gattung Steneosaurus zuordnen.<br />
Die Frage, ob Steneosaurus eine rein marine<br />
oder generell aquatische Lebensweise<br />
mit „Ausflügen“ in Delta-Bereiche aufwies,<br />
ist unter Vorbehalt zu beantworten.<br />
Der Fund von Magensteinen stellt dabei<br />
keinen Beleg für Landgänge dar. Selbst<br />
wenn die Skelette in feinkörnigem Sediment<br />
eingebettet wurden, erstreckte sich<br />
das Revier, in dem sich die Tiere aufhielten<br />
bzw. aufhalten konnten, sicher über<br />
ein großes Gebiet, welches eventuell auch<br />
Deltas und andere Flussmündungen einschloss,<br />
in denen grobes Material vorhanden<br />
war. Es kann kaum ausgeschlossen<br />
werden, dass die Steine unabhängig von<br />
Landgängen aufgenommen wurden.<br />
Ein Vergleich hierzu ist das rezente Leistenkrokodil<br />
Crocodylus porosus. Es hält sich<br />
zum Teil an Land auf, ist aber auf Grund<br />
der Fähigkeit, gut mit Salzwasser zurechtzukommen,<br />
auch in der Lage, weite Strecken<br />
über das Meer zurückzulegen.<br />
Verglichen aber mit den Metriorhynchidae<br />
(Abb. 39), einer Schwesterfamilie der<br />
Teleosauridae, erscheint Steneosaurus nicht<br />
ähnlich intensiv an ein Leben nur im Wasser<br />
angepasst.<br />
Die Metriorhynchidae waren sehr viel<br />
stärker an das aquatische Milieu angepasst.<br />
Sie waren nicht mehr gepanzert, besaßen<br />
paddelförmige Gliedmaßen und eine<br />
durch die nach unten abgeknickte Wirbelsäule<br />
entstandene Schwanzflosse, die an<br />
die Schwanzflosse von Haien, Knochenfischen<br />
und Ichthyosauriern erinnert (Buffetaut<br />
1979).<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
176 Marijke Taverne<br />
Literaturverzeichnis<br />
http://www.zm-online.de/m5a.htm?/zm/2_05/<br />
pages2/zmed1.htm (17.03.2010).<br />
http://www.spektrum.de/artikel/828872; Spektrum<br />
der Wissenschaft, 7/2002 (17.03.2010).<br />
http://www.bgr.bund.de (17.03.2010).<br />
http://www.geologie.tu-clausthal.de/bibo/<br />
cgw5/CG5_Brauckmann4.pdf (17. 03.2010).<br />
http://www.scotese.com (17.03.2010).<br />
Buffetaut, Eric (1979): Die Evolution der Krokodilier.<br />
– Spektrum der Wissenschaft 12:<br />
101 – 108.<br />
Fortier, Daniel C.; Schultz, Cesar L. (2009):<br />
A new neosuchian crocodylomorph (crocodyliformes,<br />
mesoeucrocodylia) from the early<br />
cretaceous of north-east Brazil. – Palaeontology,<br />
Vol. 52, Part 5.<br />
Henningsen, Dierk; Katzung, Gerhard (2006):<br />
Einführung in die Geologie Deutschlands. –<br />
München.<br />
Hildebrand, Milton; Goslow, George E. (2004):<br />
Vergleichende und funktionelle Anatomie<br />
der Wirbeltiere. – Berlin.<br />
Kuhn, Oskar (1968): Die vorzeitlichen Krokodile.<br />
– Krailing bei München.<br />
Kuhn, Oskar (1973): Handbuch der Paläoherpetologie<br />
116. – Stuttgart.<br />
Luppold, Friedrich W.; Rohde, Peter; Weiss,<br />
Wolfgang (2001): Karte der Festgesteinsverbreitung<br />
1 : 50 000 und neue Gliederung der<br />
Kreide-Schichten durch Mikrofossilien – besonders<br />
Ostrakoden – im Gebiet Hannover;<br />
Bericht der Naturhistorischen Gesellschaft<br />
Hannover, 143: 27 – 97; Hannover.<br />
Müller, Arno Hermann (1985): Lehrbuch der<br />
Paläozoologie. III Vertebraten, Teil 2, Reptilien<br />
und Vögel. – Jena.<br />
Pierce, Stephanie E.; Benton, Michael J.<br />
(2006): Pelagosaurus Typus Bronn 1841<br />
(Mesoeucrocodylia: Thalattosuchia) from<br />
the upper Lias (Toarcian, lower Jurassic) of<br />
Somerset England. – Journal of Vertebrate<br />
Paleontology 26 (3): 621 – 635; Northbrook.<br />
Putzer, Hannfrit (1988): Geologischer Schwerpunkt<br />
im Stadtgebiet von Hannover. –<br />
Bericht der Naturhistorischen Gesellschaft<br />
Hannover, 130: 141 – 149; Hannover.<br />
Rades, Eike Friedrich (2008): Meereskrokodilzähne<br />
aus dem Oberen Jura Hannovers<br />
– Bestandserfassung der „Sammlung<br />
Struckmann“ und ihre paläontologische<br />
Wertung. – <strong>Naturhistorica</strong> – Berichte der<br />
Naturhistorischen Gesellschaft Hannover,<br />
151: 29 – 45; Hannover.<br />
Richter, Annette (1994): Lacertilia aus der Unteren<br />
Kreide von Una und Galve (Spanien)<br />
und Anoual (Marokko). – Berliner Geowissenschaftliche<br />
Abhandlungen, Reihe E, Bd.<br />
14.<br />
Starck, Dietrich (1979): Vergleichende Anatomie<br />
der Wirbeltiere. – Berlin.<br />
Trutnau, Ludwig (1994): Krokodile. –<br />
Magdeburg.<br />
Ude, Hermann (1900): Rückblick auf die Geschäftsjahre<br />
1897/98 und 1898/99. – Jahresbericht<br />
der Naturhistorischen Gesellschaft<br />
zu Hannover, 48/49: 8 – 10; Hannover.<br />
Ulrichs, M.; Wild, Rupert; Ziegler, Bernhard<br />
(1994): Der Posidonien-Schiefer und seine<br />
Fossilien. – Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde,<br />
Serie C 36; Stuttgart.<br />
Danksagung<br />
Zuallererst danke ich Dr. Annette Richter<br />
dafür, dass sie sich dazu bereit erklärt<br />
hat, die Betreuung dieser Arbeit mit einer<br />
erheblichen Portion Geduld zu übernehmen.<br />
Sie hat mir damit die Chance gegeben,<br />
mich mit diesem Thema zu beschäftigen.<br />
Meinem zweiten Betreuer Prof. Dr.<br />
Helmut Willems danke ich ebenfalls für<br />
die geduldige Unterstützung bei der Fertigstellung<br />
dieser Arbeit.<br />
Beiden Betreuern danke ich dafür, dass<br />
sie mich bei allen Fragen und Schwierigkeiten<br />
gut beraten und unterstützt und<br />
mich immer wieder motiviert haben.<br />
Dr. med. Dr. med. dent. Kai Witte danke<br />
ich herzlich für die Röntgenaufnahmen<br />
der Kiefer und seinen Enthusiasmus und<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />
177<br />
sein Interesse an der Arbeit.<br />
Dr. Mike Reich danke ich für die Möglichkeit,<br />
in der Sammlung der Universität<br />
Göttingen nach zusätzlichem Material zu<br />
suchen.<br />
Edith Meyfarth möchte ich für die guten<br />
Tipps, Tricks und die Unterstützung<br />
beim Zeichnen danken.<br />
Dipl.-Geol. Annina Böhme danke ich<br />
für Hilfestellungen aller Art, angefangen<br />
von der Suche nach Literaturquellen bis<br />
hin zu einem gemeinsamen „Roadtrip“<br />
nach Göttingen.<br />
Außerdem danke ich Eike Friedrich<br />
Rades für die Überlassung seiner Arbeit<br />
und die Abdruckgenehmigung der<br />
Abbildungen a und b in Abbildung 38 und<br />
für alle hilfreichen Hinweise.<br />
Meiner Familie danke ich für die verständnisvolle<br />
Unterstützung.<br />
Zum Schluss danke ich Jacques Cousteau<br />
für die Erkenntnis, dass es kaum<br />
etwas Schöneres, Faszinierenderes und<br />
Wertvolleres als die Natur gibt.<br />
Arbeit eingereicht: 08.06.2010<br />
Arbeit angenommen: 02.07.2010<br />
Anschrift der Verfasserin:<br />
Marijke Taverne<br />
Ristedter Hauptstraße 2<br />
28857 Syke-Ristedt<br />
marijke.t@gmx.de<br />
Glossar<br />
Alveole Zahnfach<br />
amphicoel beidseitig konkav geformter<br />
Wirbel<br />
anteroposterior von vorne nach hinten verlaufend<br />
Bivalvia Muscheln<br />
caudal schwanzseitig<br />
Choanen innere Nasenöffnungen<br />
cranial schädelwärts<br />
Dentalia Teilstück des Unterkiefers<br />
dextral rechtsseitig<br />
Diagenese durch Druck und Temperatur<br />
voranschreitende Verfestigung von Sedimenten<br />
dorsal rückenseitig<br />
Echinodermaten Stachelhäuter<br />
Gastropoden Schnecken<br />
Halokinese Bewegung/Aufstieg von Salzkörpern<br />
imbrikat überlappend angeordnet<br />
Kimmeridgium Chronostratigraphisch<br />
mittlere Stufe des oberen Jura, vor 155–150<br />
Mio. Jahren<br />
lateral seitlich<br />
Lorenzinische Ampulle(n) Sinnesorgan(e)<br />
zur Wahrnehmung elektrischer Felder bei<br />
Haien und Rochen<br />
Mandibel(n) Kieferknochen<br />
Osteoderm(e) verknöcherte Hautschilde<br />
piscivor vorwiegend oder ausschließlich<br />
fischbezogene Ernährung<br />
Posidonienschiefer während des Jura abgelagerter<br />
Tonstein mit sehr guter Fossilerhaltung<br />
Procoel vorne konkav, hinten konvex geformter<br />
Wirbel<br />
Rostrum verknöcherter Teil der Schnauze<br />
Silt Sediment mit einem Korndurchmesser<br />
von 2 bis 63 µm<br />
sinistral linksseitig<br />
Stratum corneum Hornschicht, in der Epidermis<br />
gelegen<br />
Substantia compacta oberste Schicht der<br />
Knochen<br />
Symphyse Verbindung/Verwachsung der<br />
Unterkieferknochen<br />
thekodont Zahnverankerung der Zähne mit<br />
den Wurzeln in den Zahnfächern<br />
Theropoden Gruppe der Echsenbeckendinosaurier<br />
Toarcium chronostratigraphisch oberste<br />
Stufe des unteren Jura, vor 183 – 175 Mio.<br />
Jahren<br />
Trachea Luftröhre<br />
ventral bauchseitig<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
178<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
179<br />
Bericht über die Marokko-Exkursion der<br />
Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
24. Oktober 2009 bis 7. November 2009*<br />
Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
Einleitung<br />
Im Norden Afrikas liegt die bekannteste<br />
Wüste der Welt, die Sahara. In diesem riesenhaften<br />
Lebensraum, der nur dem oberflächlichen<br />
Betrachter tot erscheint, geht<br />
z. Z. ein Artensterben vor sich, das auch<br />
von vielen der sonst in Sachen Natur- und<br />
Artenschutz Aktiven unbemerkt bleibt.<br />
Ein Grund für dieses Unbemerktbleiben<br />
ist sicherlich darin zu sehen, dass die Sahara<br />
nicht gerade ein Ort mit besonders hoher<br />
Artenvielfalt ist.<br />
Die hier lebenden Pflanzen und Tierarten<br />
sind alle an das Leben unter den extremen<br />
Bedingungen des Wüstenklimas<br />
angepasst. Ihre Ausrottung erfolgt nicht<br />
durch Klimawandel, sondern in der Regel<br />
ganz einfach dadurch, dass der Mensch<br />
seine Aktivitäten immer weiter in Lebensräume<br />
ausdehnt, die eine Nutzung, und sei<br />
sie auch noch so gering, durch den technisch<br />
wirtschaftenden Menschen nicht<br />
vertragen.<br />
Betroffen von diesem Artensterben sind<br />
durchaus nicht nur Kleintiere und Pflanzen,<br />
sondern auch die großen Säugetierarten.<br />
So ist die Säbelantilope (Oryx dammah<br />
Cretzschmar) in den 1970er-Jahren im<br />
Freiland ausgerottet worden, und die einst<br />
im gesamten Sahararaum durchaus verbreitete<br />
Mendesantilope (Addax nasomaculatus<br />
de Blainville) steht heute unmittelbar<br />
vor ihrer Ausrottung. Lediglich in<br />
einem Nationalpark in Niger ist noch ein<br />
vitaler Bestand von ungefähr zweihundert<br />
Tieren vorhanden (Newby, J. Sahara Conservation<br />
Fund SCF mdl. Mitteilung).<br />
Bereits seit den 1970er-Jahren arbeitet<br />
der Zoo Hannover an der<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
180 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
Wiederansiedlung dieser Tierarten in den<br />
Nationalparks im Norden Afrikas. Hier<br />
besteht seit dieser Zeit eine intensive Zusammenarbeit<br />
mit den staatlichen Stellen<br />
Marokkos und Tunesiens.<br />
Da Herr Dr. Engel Mitglied der NGH<br />
ist und durch Vorträge und Gespräche<br />
über diese Aktivitäten berichtet hat, wurde<br />
der Wunsch nach einer Marokko-Exkursion<br />
mehrfach geäußert. 2009 war es<br />
dann endlich so weit. Aus terminlichen<br />
Gründen konnte zwar Herr Dr. Engel diese<br />
Reise nicht selbst durchführen, hat aber<br />
den exkursions- und organisationserfahrenen<br />
Joachim Haßfurther (Leiter der Zooschule<br />
Hannover) gebeten, diese Arbeiten<br />
zu übernehmen. Dieser willigte ein und es<br />
konnte nach sehr umfangreichen Vorbereitungen<br />
in Deutschland und Marokko am<br />
24.10.2009 endlich losgehen.<br />
* Reiseleitung: Dipl.-Biol. Joachim Haßfurther,<br />
Beratung in Deutschland:<br />
Dr. Heiner Engel, in Marokko: H. P. Müller<br />
und M. Ribi.<br />
24.10.2009: Hannover – Casablanca<br />
Die Gruppe erreichte pünktlich um<br />
23:40 Uhr Marokko am Flughafen Mohamed<br />
V. in Casablanca und wurde vom<br />
Reiseleiter des marokkanischen Reisebüros<br />
Terratour begrüßt. Nach kurzer Busfahrt<br />
wurde im Zentrum der 6-Millionen-Stadt<br />
übernachtet.<br />
25.10.2009: Casablanca – Rabat<br />
Nach einer Besichtigung der Hauptstadt<br />
Rabat mit dem Palais Royal, dessen Inneres<br />
für die Gruppe leider tabu war, der<br />
von Kalif Yaqub al-Mansur in seiner Regierungszeit<br />
begonnenen riesigen Moschee<br />
und der Medina (Altstadt), die nur zu Fuß<br />
besichtigt werden konnte, ergab sich am<br />
Nachmittag für den Reiseleiter ein nicht<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
181<br />
nachzuvollziehender Planungsfehler seitens<br />
der Marokkaner. Der Besuch des Zoos<br />
von Rabat (abgesprochen mit Kurator und<br />
Tierarzt des Zoos) scheiterte, da der alte<br />
Zoo bereits abgerissen und der neue noch<br />
im Bau war.<br />
Im Hotel konnte der Reiseleiter die Einzelheiten<br />
der Reise mit Herrn Müller (ehemaliger<br />
Mitarbeiter der GTZ in Nordafrika<br />
mit hervorragenden Verbindungen zu<br />
den Ministerien in Marokko) und Herrn<br />
Ribi vom Ministerium für Landwirtschaft,<br />
Forsten und Wüstenbekämpfung abklären.<br />
26.10.2009: Rabat – Meknes<br />
Auf der Fahrt nach Meknes, der Hauptstadt<br />
von Marokko am Ende des 17. Jahrhunderts<br />
unter Moulay Ismail, wurde die<br />
alte römische Hauptstadt Volubilis der<br />
Provinz Mauretania Tingitana besucht.<br />
42 n. Chr. wurde diese auch heute noch<br />
mit ihren Ruinen beeindruckende Stadt<br />
zum Zentrum des nordafrikanischen Handels<br />
der Römer ausgebaut. In ihrer Glanzzeit<br />
lebten hier über 10 000 Menschen, die<br />
sich jeglichen Komfort der damaligen Zeit<br />
leisten konnten. Von der Rückseite eines<br />
kleinen Restaurants war ein wunderschöner<br />
Blick auf das nächste Ziel möglich –<br />
Moulay Idriss. Diese auf einem Hügel liegende<br />
Stadt gilt als eine heilige Stätte der<br />
Moslems in Marokko.<br />
Die Königsstadt Meknes ist durch ihre<br />
Vielzahl von Stadtmauern und Toren berühmt<br />
geworden. Sie ist heute mit 700 000<br />
Einwohnern eine der größten Städte Marokkos<br />
und wurde 1996 zum Weltkulturerbe<br />
der UNESCO erklärt.<br />
27.10.2009: Meknes – Erfoud<br />
An diesem Tag führte der Weg über den<br />
Mittleren und Hohen Atlas in die östlichen<br />
Teile von Marokko nach Erfoud, mit<br />
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182 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
fast 400 km eine der längsten Wegstrecken<br />
der Reise. Schon kurz nach Meknes erreichten<br />
wir über eine Serpentinenstraße<br />
den Ifrane Nationalpark. Bei einem Halt in<br />
wunderschönen Atlaszedernwäldern stießen<br />
wir auf eine Gruppe Berberaffen, die<br />
sich durch Touristen nur dann stören ließen,<br />
wenn sie Essbares bei ihnen vermuteten.<br />
Der kleine Ort Ifrane auf 1 660 m<br />
üNN bot den Mitreisenden eine Überraschung.<br />
Die Häuser mit ihren spitzen Giebeln<br />
und den gepflegten Anlagen ähneln<br />
sehr denen im Harz.<br />
In der Ebene zwischen dem Mittleren<br />
und dem Hohen Atlas liegt auf 1 440 m<br />
üNN der kleine Ort Midelt in sehr aridem<br />
Gebiet.<br />
Durch die Schlucht des Ziz, an deren<br />
Anfang der Tunnel der Legionäre liegt, erreichten<br />
wir in malerischen Serpentinen<br />
den Stausee Hassan Abdhakhil. Kurz danach<br />
machten wir in der Universität Moulay<br />
Ismail von Errachidia Halt, um mit den<br />
beiden Wissenschaftlern M. Chabib (Bodenkundler)<br />
und M. Boudat (Geologe) die<br />
Termine für die beiden folgenden Tage abzustimmen.<br />
28.10.2009: Erfoud – Merzouga<br />
Bekannt ist das Gebiet um Erfoud durch<br />
seine Versteinerungen, die an vielen Stellen<br />
in Marokko zum Kauf angeboten werden.<br />
M. Boudat erläuterte die geologische<br />
Situation und direkt vor Ort die Aufschlüsse<br />
mit den deutlich sichtbaren Ammoniten<br />
und Belemniten. Bei der Gruppe<br />
trat ein gut sichtbares Sammelfieber<br />
ein, das nur durch die Einsicht gemildert<br />
wurde, dass das Fluggepäck maximal 20 kg<br />
wiegen darf. Die Menge der Petrefakten<br />
und die Ausdehnung der Fundstelle beeindruckten<br />
sehr. Trilobiten wurden allerdings<br />
an dieser Stelle nicht gefunden.<br />
Am Nachmittag brachen wir zum Zeltlager<br />
am Rande des Dünengebietes Erg<br />
Chebbi auf. Diese Dünen sind das einzige<br />
größere zusammenhängende Sandgebiet in<br />
Marokko.<br />
29.10.2009: Merzouga –<br />
Todra-Schlucht – Merzouga<br />
Mit Jeeps ging es am frühen Morgen an<br />
den Rand des Hohen Atlas in die weltberühmte<br />
Todra-Schlucht. Auf dem Weg<br />
wurde die hier seit Jahrhunderten funktionierende<br />
Toggara-Bewässerung bewundert.<br />
Die bis 40 Meter tiefen Schächte führen zu<br />
einem waagerecht in leichtem Gefälle verlaufenden<br />
Stollen, der von höhergelegenen<br />
wasserführenden Schichten zu tiefergelegenen<br />
wasserarmen Gebieten führt, z. T.<br />
über viele Dutzende von Kilometern. Eine<br />
oberirdische Wasserführung ist in Wüsten<br />
nicht zu empfehlen, da das Wasser zu<br />
schnell verdunstet. Es ist erstaunlich, dass<br />
diese Form der Wasserverteilung, die sehr<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
183<br />
arbeitsaufwendig und für die Arbeiter sehr<br />
gefährlich ist, sich bis heute erhalten hat.<br />
Nach einer mehrstündigen Fahrt entlang<br />
des Flusses Rheris und des Südhangs des<br />
Hohen Atlas erreichten wir die Stadt Tineghin<br />
am Eingang der Todra-Schlucht,<br />
die eines der wichtigen Ziele für Marokko-<br />
Reisende ist. Hier reiht sich Hotel an Hotel<br />
und zahlreiche Restaurants sind auf die<br />
vielen Touristen vorbereitet. An der engsten<br />
Stelle ist die Schlucht nur knapp 10<br />
Meter breit und wird von bis zu 300 Meter<br />
hohen Felswänden begrenzt. Die Wanderung<br />
zu Fuß ist für einige Teilnehmer<br />
sicher ein Höhepunkt der Reise gewesen.<br />
Auf der Rückfahrt machten wir nach einigem<br />
Suchen eine Pause bei einem Bauern,<br />
der in Zusammenarbeit mit der Universität<br />
Moulay Ismail von Errachidia eine<br />
neue Form der Bewässerung seiner Felder<br />
ausprobiert. Er berichtete stolz über seine<br />
Erfolge beim Anbau von verschiedenen<br />
Gemüsesorten, bei Mais und anderen<br />
Getreidearten. Alles wurde von M. Chabib<br />
ebenso stolz in Französisch übersetzt und<br />
mit Abbildungen von Gruppen ergänzt,<br />
die diese Versuchsfelder bereits besichtigt<br />
hatten. Grundlage dieser in Marokko<br />
zum ersten Mal zum Einsatz gebrachten<br />
Bewässerungsform sind Plastikschläuche,<br />
die im Halbmeterabstand über die Felder<br />
gezogen werden und alle 5 bis 10 cm<br />
durchlöchert sind. Mit genügendem Druck<br />
des Wassers in den Schläuchen kann ein<br />
Feld gleichmäßig bewässert werden, ohne<br />
dass es zu einem nennenswerten Verlust<br />
durch Verdunstung kommt. Die eingesetzte<br />
Wassermenge und der Ernteertrag wurden<br />
von den Wissenschaftlern der Universität<br />
Moulay Ismail verglichen. Sie sind<br />
sicher, dass sich die benötigte Wassermenge<br />
bei gleichbleibendem Ernteertrag mit<br />
dieser Methode um über 50 % reduzieren<br />
lässt.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
184 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
30.10.2009: Merzouga – Zagora<br />
Auf dieser Tagesfahrt war als Höhepunkt<br />
die Besichtigung eines Schutzgebietes<br />
in der Nähe des Dorfes Mcissi eingeplant.<br />
Wir wurden schon von dem jungen<br />
Forstbeamten Yussef Zaidi in seiner besten<br />
Uniform erwartet. Er ließ uns ohne Probleme<br />
in das normalerweise für Touristen<br />
gesperrte Gebiet hineinfahren. Hier findet<br />
der zweite Schritt der Auswilderung der<br />
Oryx-Antilopen statt. In der ersten Eingewöhnungsphase<br />
werden die aus europäischen<br />
Zoos überführten Antilopen in dem<br />
im Süden von Agadir gelegenen Nationalpark<br />
Sousse Massa vermehrt und auf ihre<br />
Fähigkeit überprüft, ob sie in dem semiariden<br />
Gebiet nahe der Atlantikküste überleben<br />
können. Hier in Mcissi östlich des<br />
Atlasgebirges können die Antilopen dann<br />
zeigen, dass sie auch nach mehreren Generationen<br />
in zoologischen Gärten unter<br />
extrem ariden Bedingungen im Freiland<br />
überlebensfähig sind. Erst danach wird<br />
über eine endgültige Auswilderung in die<br />
ursprünglichen Verbreitungsgebiete entschieden.<br />
Nach einer Vorstellung des Auswilderungsprogramms<br />
versuchten die Teilnehmer<br />
und M. Zaidi einige der Antilopen an<br />
der einzigen, selten genutzten Wasserstelle<br />
im Gelände zu beobachten. Dies gelang<br />
leider nur wenigen Teilnehmern, da die<br />
Tiere schon sehr scheu zu sein scheinen,<br />
was für die Veränderung des Verhaltens zugunsten<br />
ihres natürlichen Freilandverhaltens<br />
spricht. Zootiere zeigen eine erheblich<br />
geringere Fluchtdistanz, die sich z. T.<br />
bis auf wenige Meter verringert. Hier kann<br />
eine Störung durch Menschen in über 100<br />
Metern Entfernung Flucht auslösen.<br />
Auf dem Weg nach Zagora fuhren wir<br />
an den nordöstlichen Ausläufern des Anti-Atlas<br />
entlang, einem Gebirgszug, der<br />
von Geologen der afrikanischen Platte zugeordnet<br />
wird. Der Hohe Atlas und der<br />
Mittlere Atlas sind dagegen Teil der europäischen<br />
Kontinentalplatte, die sich im<br />
Tertiär vor 65 Millionen Jahren zu bilden<br />
begann. Im Vergleich dazu ist der Anti-<br />
Atlas im Präkambrium entstanden, in einer<br />
Zeitspanne von 4 Milliarden Jahren, bis zu<br />
542 Millionen Jahre vor unserer Zeit. In<br />
diesen Erdschichten sind keine deutlich<br />
sichtbaren Versteinerungen zu erwarten<br />
wie nahe Erfoud. Die vom Bus aus erkennbaren<br />
Gesteinsschichtungen sind auf viele<br />
Kilometer parallel verlaufend und kaum<br />
durch Störungen unterbrochen.<br />
Bei der weiteren Fahrt ging es an malerischen<br />
Kasbahs vorbei, die im östlichen<br />
Marokko Wehrburgen für die Berberstämme<br />
darstellten. Heute sind nur noch wenige<br />
bewohnt und dann recht gut erhalten.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
185<br />
31.10.2009: Zagora – Ouarzazate<br />
Auch Zagora war noch vor 50 Jahren<br />
ein wichtiger Ausgangspunkt für Karawanen<br />
durch die Sahara. Ein Schild am<br />
Ortsausgang wies auf die typische Route<br />
hin: „Tombouctou 52 jours“. Wir entschieden<br />
uns für die entgegengesetzte Richtung<br />
wieder entlang der Draa, dem mit 1100<br />
km längsten Fluss in Marokko, der z. T.<br />
Grenzfluss zu Algerien ist und südlich des<br />
Anti-Atlas in den Atlantik mündet. Allerdings<br />
ist er in seinem östlichen und südlichen<br />
Verlauf häufig ausgetrocknet und erreicht<br />
nur sehr selten das Meer, so dass der<br />
Name Wadi Draa (= Trockental der Draa)<br />
gerechtfertigt ist. Das Hotel „Le Berbère<br />
Palace in Quarzazate“ war überwältigend.<br />
Könige und Präsidenten haben hier<br />
übernachtet. Die ehemaligen Gästelisten<br />
lesen sich wie ein „Who is Who“ der Filmund<br />
Musikwelt. Aber das ist verständlich,<br />
da es in dieser Stadt 4 Filmstudios gibt,<br />
in denen berühmte Filme gedreht worden<br />
sind. Auf dem Hotelgelände sind viele Requisiten<br />
verteilt – der Thron von „Ramses<br />
II“, Statuen von „Asterix und Kleopatra“,<br />
Streitwagen von „Die 10 Gebote“.<br />
01.11.2009:<br />
Ouarzazate – Marrakesch<br />
Die Kasbah Tiffoultoute konnte wegen<br />
aufwendiger Renovierungsarbeiten nicht<br />
besucht werden. Als Ersatz stand die Kasbah<br />
Ait Ben Haddou auf dem Plan. Der<br />
Weg durch die bewohnte Anlage, die seit<br />
1987 als Weltkulturerbe unter dem Schutz<br />
der UNESCO steht, lässt ahnen, wie Berberfamilien<br />
über Jahrhunderte in diesem<br />
Labyrinth aus Häusern, Türmen und Getreidespeichern<br />
lebten.<br />
Die weitere Strecke nach Marrakesch<br />
führte uns zum höchsten Punkt an diesem<br />
Tag, zur Passhöhe des Tiz-n-Tichka<br />
auf 2260 m üNN. Der Jebel Tistouit rechts<br />
der Straße erreicht 3224 m üNN, der Jebel<br />
Bou Ourioul auf der linken Seite sogar<br />
3573 m üNN. Während der sehr kurvenreichen<br />
Abfahrt beginnt die Landschaft<br />
wieder grün zu werden, Terrassenbau,<br />
Obstbäume und Koniferen in Reihen zeugen<br />
von Landwirtschaft. Wir erreichen die<br />
Ebene, die letzten Ausläufer des Hohen<br />
Atlas liegen hinter uns und das geheimnisvolle<br />
Marrakesch vor uns. Nur ein sehr<br />
später nächtlicher Spaziergang über den<br />
Platz der Gehängten (= Djamaa el-Fna)<br />
mit der unbeschreiblichen Atmosphäre<br />
blieb. Aber auch dies war schon lohnenswert.<br />
Hier versteht man, dass an diesem<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
186 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
Platz die UNESCO die Geräusche, die Gerüche<br />
und die Menschen, die Gaukler, die<br />
Märchenerzähler, die Zuschauer und Zuhörer<br />
zum Weltkulturerbe erklärte.<br />
02.11.2009:<br />
Marrakesch – Taroudant<br />
Noch einmal ging es in den Hohen Atlas.<br />
Diesmal allerdings auf einer Nebenstraße<br />
nach Süden, wieder mit geländegängigen<br />
Wagen, in den Nationalpark rund<br />
um den höchsten Berg in Marokko, dem<br />
Djabal Toubkal (4165 m üNN). Da am vorigen<br />
Tag ein Treffen mit der Direktorin<br />
des Nationalparks zwecks Absprache dieses<br />
Tages nicht zustande kam, war es erst<br />
einmal schwierig, den jungen offiziellen<br />
Mitarbeiter der Parkverwaltung zu finden.<br />
Er berichtete mit Blick auf den Toubkal<br />
von den verschiedenen Schutzmaßnahmen<br />
dieser Region, von den Vegetationsstufen<br />
und den Tieren, die nur mit viel Ausdauer<br />
und Glück zu finden sind. In einem ausgedehnten<br />
Gehege ließ er eine große Gruppe<br />
von Mähnenspringern (= Mähnenschafen<br />
– Ammotragus lervia) mit Futter bis an<br />
den Zaun heranlocken. Diese Art ist in<br />
den ariden Berggebieten Nordafrikas nischenartig<br />
verbreitet. Allerdings ist der Bestand<br />
durch Bejagung erheblich gefährdet<br />
und derzeit nur in Marokko gesichert.<br />
03.11.2009: Taroudant – Agadir<br />
Am Morgen geht es mit den Jeeps weiter<br />
Richtung Agadir. Entlang der ausgebauten<br />
Straße fahren wir an intensiv landwirtschaftlich<br />
genutzten Flächen vorbei,<br />
die ersten Arganbäume stehen zu beiden<br />
Seiten. Hier sieht man Ziegen, die in den<br />
Bäumen kletternd Blätter, Knospen und<br />
sogar die Fruchthüllen der Argannüsse<br />
fressen. Diese Nüsse fallen zu Boden und<br />
werden dann gesammelt. Die Behauptung,<br />
dass diese Nüsse erst durch den Verdauungstrakt<br />
der Ziegen gelangen müssen,<br />
um genutzt zu werden, ist wohl interessant,<br />
aber falsch.<br />
Das Zustandekommen des Treffens mit<br />
Madame Oubrou, der verantwortlichen<br />
Biologin im Nationalpark Sousse Massa,<br />
war nicht ganz einfach. Durch Handykontakt<br />
erreichten wir endlich das Verwaltungsgebäude<br />
im nördlichen Bereich<br />
des 338 km² großen Parks, wo wir schon<br />
erwartet wurden. Frau Oubrou berichtete<br />
über die Situation des Schutzgebietes, das<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
187<br />
derzeit für Touristen gesperrt ist, und nur<br />
für Schüler mit ihren Lehrern oder mit<br />
einer Sondergenehmigung befahren werden<br />
darf. Die verschiedenen Antilopenarten<br />
leben in drei voneinander getrennten<br />
größeren Arealen, die wir dann mit vielen<br />
Fotostopps durchfuhren. Auch der Nordafrikanische<br />
Strauß vermehrt sich hier.<br />
Im ersten Freigehege leben die ursprünglich<br />
vor allem aus dem Zoo Hannover<br />
kommenden Mendesantilopen (= Addax),<br />
die mit den Straußen vergesellschaftet<br />
sind. In dem zweiten Gebiet konnte man<br />
Säbelantilopen (= Oryx) zusammen mit<br />
Dorcas-Gazellen auch aus der Nähe beobachten.<br />
In beiden Gebieten wird zugefüttert<br />
und die Tiere auch mit Wasser versorgt.<br />
Hier ist vor allem von Bedeutung,<br />
dass sie sich in dieser freilandnahen Situation<br />
vermehren können. Es ist der erste<br />
Schritt zur Auswilderung in der zentralen<br />
Sahara. Als wir an die Atlantikküste zum<br />
Fischerdorf Tifnite fuhren, wurde der Tag<br />
für die Ornithologen in der Gruppe zum<br />
schönsten der Reise. Sie sahen 80 Waldrappe,<br />
eine braune Ibisart, die nur hier<br />
noch im Freiland vorkommt. In den Alpen<br />
und in der Türkei sind sie ausgerottet<br />
worden und mit maximal 400 Individuen<br />
in Marokko einer der seltensten Vögel<br />
weltweit. Zoologische Gärten, speziell der<br />
Alpenzoo Innsbruck, versuchen die Population<br />
zu vergrößern, um vielleicht in den<br />
Alpen eine neue aufzubauen, erste Versuche<br />
wurden schon unternommen.<br />
Der Fluss Massa bot den Ornithologen<br />
gute Beobachtungsmöglichkeiten verschiedener<br />
Vogelarten, allerdings waren die<br />
Parkwachen gar nicht über unsere Anwesenheit<br />
erfreut, da dieser Stopp nicht angemeldet,<br />
sondern als zusätzlicher Tagespunkt<br />
kurzfristig im Programm war. Gerne<br />
wären wir näher Richtung Mündung gewandert,<br />
um die nur als Punkte auszumachenden<br />
Flamingos und weitere Limikolen<br />
zu sehen.<br />
04.11.2009: Agadir – Essaouira<br />
An diesem Tag führt der Weg mit dem<br />
Bus nördlich an der zerklüfteten Atlantikküste<br />
entlang nach Essaouira. Kurz vor<br />
Essaouira gab es dann den unvermeidlichen<br />
Stopp an einer Produktionsstätte des<br />
Argan öls. Die einheimischen Damen erklärten<br />
ausführlich und mit sichtlichem<br />
Stolz die Herstellung des weltberühmten<br />
Öls, das sowohl als Nahrungsmittel als<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
188 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
auch in der Kosmetik Anwendung findet.<br />
Am Nachmittag wurde die Hafenstadt<br />
Essaouira besichtigt. 2001 wurde der Altstadtbereich<br />
von der UNESCO in die Liste<br />
der Weltkulturgüter aufgenommen.<br />
05.11.2009: Essaouira – Casablanca<br />
Bei der Abfahrt in Richtung Casablanca<br />
bezog sich der Himmel, es wurde merklich<br />
kühler. Wieder fuhren wir mit dem Bus<br />
direkt an der Küste entlang mit mehreren<br />
Fotostopps.<br />
Im weiteren Verlauf der Fahrt konnte<br />
man die Gewinnung von Meersalz aus Lagunen<br />
sehen, die hinter den vorgelagerten<br />
Dünen in großem Umfang erfolgt. Das in<br />
die Lagune hereinströmende Meerwasser<br />
verdunstet durch die Sonneneinstrahlung<br />
und die strahlend weiße Salzkruste wird<br />
auf Förderbänder geschaufelt und zu großen<br />
Halden aufgeschichtet. Sowohl auf<br />
den Dünen, als auch im Hinterland liegen<br />
große landwirtschaftlich genutzte Flächen,<br />
die für die 6-Millionen-Stadt Casablanca<br />
die Nahrung liefern.<br />
Casablanca, die größte Stadt Marokkos,<br />
lädt nicht gerade zur Entspannung<br />
ein: übergroße Werbeschilder, nicht enden<br />
wollende Staus, McDonalds-Filialen,<br />
DHL, riesige Supermärkte und nervende<br />
Huperei.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
189<br />
06.11.2009: Casablanca – Frankfurt<br />
Casablanca ist nicht nur der größte Hafen<br />
Nordafrikas, sondern auch das bedeutendste<br />
Handels- und Industriezentum<br />
Marokkos. Ein Höhepunkt des Tages<br />
war der Besuch der Moschee Hassan II.,<br />
der größten Moschee im arabischen Raum<br />
nach der Moschee in Mekka. 200 Meter<br />
hoch ragt das Minarett am Strand in den<br />
Himmel, gekrönt von 3 Goldkugeln. Besonders<br />
im Morgendunst wirkt dieses beeindruckende<br />
Bauwerk manchmal unwirklich.<br />
König Hassan II. verfügte, dass dieses<br />
beeindruckende Bauwerk auch Nichtmoslems<br />
zu bestimmten Zeiten zugänglich ist.<br />
Allerdings zu ebenso beeindruckenden<br />
Preisen und in Begleitung von speziellen<br />
Führern.<br />
06.11.2009: Frankfurt – Hannover<br />
Damit endete eine Reise mit vielen Höhepunkten<br />
für die Teilnehmer. Es war<br />
nicht nur eine Exkursion, sondern durch<br />
die Vermittlung von Herrn Dr. Engel und<br />
der Hilfe von Herrn Müller und den marokkanischen<br />
Wissenschaftlern und Ministerialbeamten<br />
eine nicht alltägliche<br />
Fahrt in die Welt Maghrebiniens.<br />
Sämtliche Fotos in diesem Bericht<br />
stammen von Frank-Dieter Busch.<br />
Anschriften der Verfasser:<br />
Joachim Haßfurther<br />
Kerbelweg 19<br />
30629 Hannover<br />
E-Mail: jhassfurther@gmx.de<br />
Frank-Dieter Busch<br />
Goethestraße 43<br />
31275 Lehrte<br />
Tabelle „Vogel-Beobachtungen am Rande<br />
einer Rundreise“ auf den folgenden Seiten >><br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
190 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
Anhang Tab. 1 Marokko im Spätherbst – Vogel-Beobachtungen am Rande einer Rundreise von 4900 km, 25.10. – 06.11.2009<br />
Frank-Dieter Busch<br />
Goethestraße 43, 31275 Lehrte<br />
Mengen: x = 300 x<br />
5 Seidenreiher - Egretta garzetta am Qued Draa 1 >10 3 4 40<br />
6 Küstenreiher - Egretta gularis Flussmündung bei Essaouira 1<br />
7 Graureiher - Ardea cinerea See auf Hochfläche nach Ifrane 1 1 1 1 >5 2 3<br />
8 Löffler - Platalea leucorodia Massa-Mündung 9 1 1<br />
9 Waldrapp -Geronticus eremita Küstendünen Sousse-Massa-NP >80<br />
10 Rosaflamingo - Phoenicopterus ruber Massa-Mündung >150 1<br />
11 Brandgans - Tadorna tadorna Massa-Mündung 1<br />
12 Rostgans - Tadorna ferruginea See auf Hochfläche nach Ifrane > 70<br />
13 Stockente - Anas platyrhynchos See auf Hochfläche nach Ifrane >50 >50<br />
14 Spießente - Anas acuta Massa-Mündung 9<br />
15 Trauerente - Melanitta nigra über Meer vor Sousse-Massa-NP >30<br />
16 Fischadler - Pandion haliaetus Qued Bou Regreg, Rabat 1 1<br />
17 Gleitaar - Elanurus caeruleus bei Meknes 2 4<br />
18 Rohrweihe - Circus aeruginosus bei Meknes 1 1<br />
19 Sperber - Accipiter nisus in Sidi Kacem 1<br />
20 Adlerbussard - Buteo rufinus Hochfläche nach Ifrane 3 1 1 2 2<br />
21 Lannerfalke - Falco biarmicus Fahrt zum Erg Chebbi 1<br />
22 Turmfalke - Falco tinnunculus bei Rabat 2 2 >5 2 1 >5 1 2 2 1 >5 4<br />
23 Felsenhuhn - Alectoris barbarus im Toubkal-NP - fliegt neben Auto 1<br />
24 Blässhuhn - Fulica atra See auf Hochfläche nach Ifrane xx >20<br />
25 Stelzenläufer - Himantopus himantopus am Qued Draa 1 2 >200<br />
26 Sandregenpfeifer - Charadrius hiaticula Lagune bei Loualidia >10<br />
27 Flussregenpfeifer - C. dubius Flussmündung bei Essaouira 46<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
191<br />
17 Gleitaar - Elanurus caeruleus bei Meknes 2 4<br />
18 Rohrweihe - Circus aeruginosus bei Meknes 1 1<br />
19 Sperber - Accipiter nisus in Sidi Kacem 1<br />
20 Adlerbussard - Buteo rufinus Hochfläche nach Ifrane 3 1 1 2 2<br />
21 Lannerfalke - Falco biarmicus Fahrt zum Erg Chebbi 1<br />
22 Turmfalke - Falco tinnunculus bei Rabat 2 2 >5 2 1 >5 1 2 2 1 >5 4<br />
23 Felsenhuhn - Alectoris barbarus im Toubkal-NP - fliegt neben Auto 1<br />
24 Blässhuhn - Fulica atra See auf Hochfläche nach Ifrane xx >20<br />
25 Stelzenläufer - Himantopus himantopus am Qued Draa 1 2 >200<br />
26 Sandregenpfeifer - Charadrius hiaticula Lagune bei Loualidia >10<br />
27 Flussregenpfeifer - C. dubius Flussmündung bei Essaouira 46<br />
28 Seeregenpfeifer - C. alexandrinus Lagune bei Loualidia >15<br />
29 Kiebitzregenpfeifer - Pluvialus squatarola Felswatt bei Hassan II. Moschee, Cas. 3<br />
30 Alpenstrandläufer - Calidris alpina Flussmündung bei Essaouira 1 >80<br />
31 Sichelstrandläufer - C. ferruginea Lagune bei Loualidia 3<br />
32 Sanderling - C. alba Lagune bei Loualidia >15<br />
33 Zwergstrandläufer - C. minuta Lagune bei Loualidia >15<br />
34 Kampfläufer - Philomachus pugnax Lagune bei Loualidia 9<br />
35 Regenbrachvogel - Numenius phaeopus Felswatt bei Hassan II. Moschee, Casl. 1<br />
36 Rotschenkel - Tringa totanus Lagune bei Loualidia >50<br />
37 Grünschenkel - Tringa nebularia Flussmündung bei Essaouira 1<br />
38 Flussuferläufer - Tringa hypoleuca Flussmündung bei Essaouira 1 2<br />
39 Steinwälzer - Arenaria interpres Felswatt bei Hassan II. Moschee, Cas. 1<br />
40 Korallenmöwe - Larus audoinii Strand von Agadir 9<br />
41 Lachmöwe - Larus ridibundus am Qued Bou Regreg, Rabat 1 >40 >30<br />
42 Mittelmeermöwe - Larus michahellis Strand von Agadir xxxx xxxx xxx<br />
43 Heringsmöwe - Larus fuscus am Qued Bou Regreg, Rabat xxx xxxx xxxx xxx<br />
44 Brandseeschwalbe - Sterna sandvicensis am Qued Bou Regreg, Rabat 1 1+1<br />
45 Felsentaube - Columba livia Todra-Schlucht 20 >5<br />
46 Ringeltaube - Columba palumbus Marrakesch 30 2<br />
47 Türkentaube - Streptopelia decaocto Rabat x x xx xxx xxx xx xx xx xx xx xx xxx xxx<br />
48 Palmtaube - Streptopelia senegalensis Erfoud 1 4<br />
49 Waldkauz - Strix aluco Taroudant, Hotelgarten Palais Salam 1<br />
50 Haussegler - Apus affinis über Sidi Kacem >20 >10 1 >20 >20<br />
51 Alpensegler - Apus melba über Sidi Kacem >20<br />
52 Eisvogel - Alcedo atthis am Draa 1<br />
53 Wiedehopf - Upupa epops Erfoud 1 1<br />
54 Atlasgrünspecht - Picus vailantii im Toubkal-NP 1<br />
55 Haubenlerche - Galerida cristata bei Volubilis 2 5 x<br />
56 Theklalerche - Galerida theklae in Volubilis 3<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
192 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
42 Mittelmeermöwe - Larus michahellis Strand von Agadir xxxx xxxx xxx<br />
43 Heringsmöwe - Larus fuscus am Qued Bou Regreg, Rabat xxx xxxx xxxx xxx<br />
44 Brandseeschwalbe - Sterna sandvicensis am Qued Bou Regreg, Rabat 1 1+1<br />
45 Felsentaube - Columba livia Todra-Schlucht 20 >5<br />
46 Ringeltaube - Columba palumbus Marrakesch 30 2<br />
47 Türkentaube - Streptopelia decaocto Rabat x x xx xxx xxx xx xx xx xx xx xx xxx xxx<br />
48 49 Palmtaube Frank-Dieter - Streptopelia Busch senegalensis Waldkauz Goethestraße - Strix 43, aluco 31275 Lehrte<br />
Erfoud Mengen: x = 10 1 >20 >20<br />
Nr. 51 Alpensegler Artnamen - (Deutsch/Latein) Apus melba über Erste Sidi Beobachtung: Kacem Ort<br />
>20<br />
52 1 Eisvogel Haubentaucher- - Alcedo Podiceps atthis cristatus See am Draa auf Hochfläche nach Ifrane 4<br />
1<br />
53 2 Basstölpel Wiedehopf - Morus Upupa bassanus epops über Erfoud Meer vor Sousse-Massa NP 1 1<br />
>15<br />
54 3 Kormoran Atlasgrünspecht - Phalacrocorax - Picus vailantii carbo Meer im Toubkal-NP vor Sousse-Massa NP 1 1 4<br />
55 4 Haubenlerche Kuhreiher - Bubulcus - Galerida ibis cristata bei Volubilis Rabat xx xxxx 2 xx 10 5 2 x 3 x 4 >300 x<br />
56 5 Theklalerche Seidenreiher - Egretta Galerida garzetta theklae in am Volubilis Qued Draa 3<br />
1 >10 3 4 40<br />
57 6 Sandlerche Küstenreiher - - Ammomanes Egretta gularis cincturus bei Flussmündung Erg Chebbi bei Essaouira 13<br />
1<br />
58 7 Steinlerche Graureiher - Ardea Ammomanes cinerea deserti See bei Erfoud auf Hochfläche nach Ifrane 1 1 2 1 4 1 >5 2 3<br />
59 8 Löffler Wüstenläuferlerche - Platalea leucorodia - Alaemon alaudipes Massa-Mündung bei Erg Chebbi 1 2+1<br />
9 1 1<br />
60 9 Waldrapp Rauchschwalbe -Geronticus - Hirundo eremita rustica Küstendünen Dorf vor Todra-Schlucht Sousse-Massa-NP 2 1 >80 >50<br />
61 10 Steinschwalbe Rosaflamingo - - Phoenicopterus Ptyonoprogne fuligula ruber Pass Massa-Mündung vor Quarzazate 5<br />
>150 1<br />
62 11 Felsenschwalbe Brandgans - Tadorna - Ptyonoprogne tadorna rupestris Schlucht Massa-Mündung zwischen Errachidia und Erfoud 2 1<br />
4<br />
63 12 Braunkehl-Uferschwalbe Rostgans - Tadorna ferruginea - Riparia paludi. Fluss See auf bei Hochfläche Essaouira nach Ifrane > 70<br />
2<br />
64 13 Wiesenpieper Stockente - Anas - Anthus platyrhynchos pratensis Lagune See auf bei Hochfläche Loualidia nach Ifrane >50 >50<br />
2<br />
65 14 Bachstelze Spießente - - Anas Motacilla acuta alba bei Massa-Mündung Volubilis 1 5 2 1 1 x >20 9 1 x<br />
65a 15 Bachstelze Trauerente - M. Melanitta a. subpersonata nigra Marrakesch, über Meer vor am Sousse-Massa-NP Hotel-Pool 1 >30 1 2<br />
66 16 Gebirgsstelze Fischadler - Pandion - Motacilla haliaetus cinerea Todra-Schlucht Qued Bou Regreg, Rabat 1 2<br />
1<br />
17 67 Gleitaar Graubülbül - Elanurus -Pycnonotus caeruleus barbatus bei Rabat, Meknes Andalusischer Garten >10 2 2 >5 >5 3 >5 >5 2 >5 >10 4<br />
18 68 Rohrweihe Rotkehlchen - Circus -Erithacus aeruginosus rubecula bei Rabat, Meknes Andalusischer Garten 1 1 1 3 1 1<br />
19 69 Sperber Schwarzkehlchen - Accipiter - nisus Saxicola torquata in bei Sidi Volubilis Kacem >10 1 2 1 2 1 2 2 1 2 2 6<br />
20 70 Adlerbussard Hausrotschwanz - Buteo - Phoenicurus rufinus ochruros Hochfläche Rabat, Andalusischer nach Ifrane Garten 2 3 1 1 2 1 2 1 2<br />
1 2<br />
21 71 Lannerfalke Diademrotschwanz - Falco - biarmicus P. moussieri Fahrt Gebirge zum vor Erg Quarzazate Chebbi 1<br />
1 4<br />
22 72 Turmfalke Saharasteinschm. - Falco tinnunculus - Oenanthe leucopyga bei vor Rabat Errachidia 2 2 >5 >20 2 1 x x >5 x 1 2 2 1 >5 4<br />
23 73 Felsenhuhn Trauersteinschmätzer - Alectoris - barbarus O. leucura im vor Toubkal-NP Errachidia - fliegt neben Auto 2 2 2 1<br />
24 74 Blässhuhn Blaumerle - Monticola Fulica atra solitarius See Mittlerer auf Hochfläche Atlas - Hochfläche nach Ifrane xx 1 3 1 1 1<br />
>20<br />
25 75 Stelzenläufer Amsel - Turdus - Himantopus merula himantopus am Rabat, Qued Andalusischer Draa Garten 4 1 1 >10 >10 >10 2 1 >200 1<br />
26 76 Sandregenpfeifer Cistensänger - Cisticola - Charadrius juncidis hiaticula Lagune bei Loualidia >10 2<br />
27 77 Flussregenpfeifer Mönchsgrasmücke - C. - Sylvia dubius atricapilla Flussmündung Gärten Ait Ben bei Haddou Essaouira 1<br />
46<br />
28 78 Seeregenpfeifer Samtkopfgrasmücke - C. alexandrinus - S. melanocephala Lagune Volubilis bei Loualidia 3 >5 >15 >5<br />
29 79 Kiebitzregenpfeifer Zilpzalp - Phylloscopus - Pluvialus collybita squatarola Felswatt Rabat, Andalusischer bei Hassan II. Garten Moschee, Cas. 1 3 3 1 3 3<br />
25.10.<br />
26.10.<br />
27.10.<br />
28.10.<br />
29.10.<br />
30.10.<br />
31.10.<br />
01.11.<br />
02.11.<br />
03.11.<br />
04.11.<br />
05.11.<br />
06.11.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />
193<br />
69 Schwarzkehlchen - Saxicola torquata bei Volubilis >10 2 1 2 1 2 2 1 2 2 6<br />
70 Hausrotschwanz - Phoenicurus ochruros Rabat, Andalusischer Garten 2 1 1 2 1 1 2<br />
71 Diademrotschwanz - P. moussieri Gebirge vor Quarzazate 1 4<br />
72 Saharasteinschm. - Oenanthe leucopyga vor Errachidia >5 >20 x x x<br />
73 Trauersteinschmätzer - O. leucura vor Errachidia 2 2 2 1<br />
74 Blaumerle - Monticola solitarius Mittlerer Atlas - Hochfläche 1 3 1 1 1<br />
75 Amsel - Turdus merula Rabat, Andalusischer Garten 4 1 >10 >10 >10 1 1<br />
76 Cistensänger - Cisticola juncidis Lagune bei Loualidia 2<br />
77 Mönchsgrasmücke - Sylvia atricapilla Gärten Ait Ben Haddou 1<br />
78 Samtkopfgrasmücke - S. melanocephala Volubilis 3 >5 >5<br />
79 Zilpzalp - Phylloscopus collybita Rabat, Andalusischer Garten 1 3 3 1 3<br />
80 Akaziendrossling - Turdoides fulvus Schutzgebiet Mcissi 5<br />
81 Kohlmeise - Parus major Toubkal NP 1<br />
82 Süd-Raubwürger - Lanius meridionalis Erfoud 1 2 2 >5 >10 >5<br />
83 Elster - Pica pica mauretanica nach Rabat 1 2 2 >50<br />
84 Alpenkrähe - Pyrrhocorax pyrrhocorax Col du Tichka 3 xx<br />
85 Dohle - Corvus monedula bei Moulay Idriss >150<br />
86 Kolkrabe - Corvus corax tingitanus bei Moulay Idriss 2 >10<br />
87 Wüstenrabe - Corvus ruficollis bei Erfoud 3 >5 xx<br />
88 Star - Sturnus vulgaris Marrakesch 1<br />
89 Einfarbstar - Sturnus unicolor Rabat >200 xxx xxx xx xxx xxx xxx<br />
90 Weidensperling - Passer hispaniolensis bei Essaouira 1<br />
91 Haussperling - Passer domesticus Casablanca xxx xxx xxx xx xx xxx xxx xxx xxx xxx xxx xxx xxx<br />
92 Buchfink - Fringilla coelebs im Mittleren Atlas 10 2 1<br />
93 Girlitz - Serinus serinus Tichka 3<br />
94 Erlenzeisig - Carduelis spinus Toubkal NP >10<br />
95 Stieglitz - Carduelis carduelis bei Meknes 6 2 1 10<br />
96 Grünling - Carduelis chloris Quarzazate, Hotelanlage 1 4<br />
97 Grauammer - Emberiza calandra vor Volubilis 1<br />
98 Hausammer - Emberiza striata Rabat, Royal Palace 2 2 2 2 1 3 3 >5 2 >5 2<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
194<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
195<br />
Rückblick auf den Festakt am 17.12.2009<br />
Dieter Schulz<br />
Dr. Hilde Moennig, Ronald Clark, Dr. Dieter Schulz, Martin Schmidt<br />
Ein herausragendes Ereignis am Ende<br />
des letzten Jahres (17.12.2009) war zweifellos<br />
der Festakt zur Übergabe unseres<br />
Jubiläumsbandes 150 „Der Große Garten<br />
Herrenhausen“ in der Kuppelhalle des<br />
Landesmuseums Hannover an den stellvertretenden<br />
Direktor Herrn Martin Schmidt<br />
(Landesmuseum Hannover), Herrn Prof.<br />
Dr. Axel Priebs (Erster Regionsrat der Region<br />
Hannover), Frau Dr. Hilde Moennig<br />
(Bürgermeisterin der Stadt Hannover)<br />
und Herrn Ronald Clark (Leiter der Herrenhäuser<br />
Gärten). Es war eine gelungene<br />
Veranstaltung in dem auf angenehme Weise<br />
mit Palmen, Orchideen und dezentem<br />
Weihnachtsschmuck verschönerten Ambiente<br />
der Kuppelhalle des Landesmuseums.<br />
Ein Übriges tat die musikalische Umrahmung<br />
des Abends durch die Cello Chicas,<br />
einem Cello-Quartett der Musikschule<br />
Hannover, das auch die monumentalen<br />
Figuren in der Halle in wärmeren Tönen<br />
Die Cello Chicas der Musikschule Hannover<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
196<br />
Martin Schmidt<br />
Prof. Dr. Axel Priebs<br />
Dr. Hilde Moennig<br />
Ronald Clark<br />
Prof. Dr. Joachim Knoll<br />
erscheinen ließ. Die Tontechnik war ausgezeichnet<br />
(Herr Hannes Frischat). Herr<br />
Matthias Winter führte ein Video mit Bildern<br />
aus dem Buch vor, es folgten sehr positive<br />
Grußworte von Herrn Schmidt, Frau<br />
Dr. Moennig, Herrn Prof. Dr. Priebs und<br />
Herrn Clark, der einmal ein ganz anderes<br />
Grußwort hielt, indem er anhand von<br />
Bildern die Entstehung der „neuen“ alten<br />
vergoldeten Figuren im Gartentheater des<br />
Großen Gartens prägnant und ansprechend<br />
erläuterte. Es war eine eindrucksvolle<br />
Feier, die unserem Autor Herrn Prof. Dr.<br />
Joachim Knoll gewidmet war.<br />
Der Jubiläumsband 150 ist etwas Besonderes<br />
in der Reihe <strong>Naturhistorica</strong> der<br />
NGH. Er ist nicht nur recht umfangreich,<br />
sondern berührt sehr unterschiedliche<br />
Themenkreise: Naturgeschichte, Welfengeschichte,<br />
Kunstgeschichte, Geschichte<br />
der Gartenkunst und ein bisschen Leibniz.<br />
Das ist für die NGH ungewöhnlich. Die<br />
große Resonanz nicht nur aus dem Mitgliederkreis<br />
belegt, dass der Band eine sehr<br />
gelungene Einheit darstellt.<br />
Allerdings haben die Planungen zum<br />
Wiederaufbau des Herrenhausen Schlosses<br />
dazu geführt, dass einiges in dem Beitrag<br />
schon nicht mehr aktuell ist. Der Plan<br />
des Gartens in Band 150 wird demnächst<br />
nicht mehr stimmen und für einige Aussagen<br />
im Text gilt das ebenso. Das müsste in<br />
einer eventuellen zweiten Auf lage berücksichtigt<br />
werden.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
197<br />
Die Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />
Gesellschaft zur Pflege der Naturwissenschaften · Gegründet 1797<br />
Die Naturhistorische Gesellschaft Hannover versteht sich als eine Vereinigung<br />
von Menschen jeden Alters mit besonderem Interesse an der Natur und<br />
den Naturwissenschaften.<br />
Ein kurzer Blick zurück<br />
Im Jahr 1797 gründeten 26 Bürger<br />
von Hannover eine Lesegesellschaft.<br />
Sie schafften gemeinsam kostspielige<br />
Bücher an, die den Mitgliedern dann<br />
reihum zur Verfügung standen. Daraus<br />
entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />
eine umfangreiche Bibliothek.<br />
Initiativen der NGH<br />
· Treibende Kraft für die Errichtung des<br />
„Museums für Kunst und Wissenschaft“<br />
(das heutige Künstlerhaus)<br />
· Gründungsmitglied des Niedersächsischen<br />
Landesmuseums Hannover<br />
· Gründung des Zoologischen Gartens<br />
Die NGH heute<br />
Nach über 200 Jahren verfolgt die<br />
NGH immer noch die gleichen Ziele.<br />
Sie bedient sich dabei allerdings zeitgemäßer<br />
Methoden und beschäftigt sich<br />
mit aktuellen Fragen. In Berichten,<br />
Exkursionen und Vorträgen geht es um<br />
naturwissenschaftliche Themen –<br />
unter anderem aus der<br />
Aus dieser Lesegesellschaft ging 1801<br />
die „Naturhistorische Gesellschaft in<br />
Hannover“ hervor. Sie hatte sich das Ziel<br />
gesetzt, „bei allen Bevölkerungsschichten<br />
eine genauere Kenntnis der Naturpro ducte<br />
hiesiger Lande zu befördern“.<br />
· Bau eines Schlachthofs in Hannover<br />
· Mitwirkung in einer „Commission für<br />
die allgemeine Gesundheitspflege“<br />
· Gründungsmitglied des Niedersächsischen<br />
Heimatbundes<br />
· Geologie,<br />
· Paläontologie,<br />
· Archäologie,<br />
· Botanik,<br />
· Zoologie,<br />
· Landschaftskunde und<br />
· Technik.<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
198<br />
Die jährlich erscheinende <strong>Naturhistorica</strong><br />
– Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft<br />
Hannover ist das wissenschaftliche<br />
Sprachrohr der NGH. Er befasst sich mit<br />
den verschiedensten Bereichen der Naturwissenschaften<br />
und nicht zuletzt mit dem<br />
Schutz der Umwelt. Dabei werden auch<br />
die besonderen Verhältnisse in Hannover<br />
berücksichtigt. Besonders begehrt sind die<br />
geologischen Wanderkarten.<br />
Der Natur unmittelbar begegnen kann<br />
man auf den etwa zehn pro Jahr stattfindenden<br />
Exkursionen. Vom Frühjahr bis in<br />
den Herbst führen sie zu den unterschiedlichsten<br />
Zielen und werden von Fachleuten<br />
geleitet. Dabei kommen biologische,<br />
geologische sowie techno logische Themen<br />
zur Sprache, aber auch kulturgeschichtlich<br />
interessante Stätten werden besichtigt.<br />
Die NGH möchte dazu beitragen, über<br />
die Notwendigkeit und die Ergebnisse<br />
naturwissenschaftlicher Forschung zu<br />
informieren. Dies geschieht vor allem<br />
durch Vorträge im Winterhalbjahr, denen<br />
sich spannende Diskussionen anschließen.<br />
Vorstand und Beirat<br />
Vorstand<br />
Gewählt von 03.2008 bis 03.2011<br />
1. Vorsitzender: Dr. Dieter Schulz<br />
2. Vorsitzender: Prof. Dr. Hansjörg Küster<br />
Schatzmeister: Dr. Wolfgang Irrlitz<br />
Schriftführer:<br />
Dr. Wolfgang Irrlitz (Geowissenschaften)<br />
Prof. Dr. Hansjörg Küster (Botanik)<br />
Dr. Annette Richter (Paläontologie,<br />
Geologie, Zoologie)<br />
Beirat<br />
Gewählt von 03.2010 bis 03.2015<br />
Birga Behrendt<br />
Dr. Heiner Engel<br />
Prof. Dr. Bernd Haubitz<br />
Prof. Dr. Joachim Knoll<br />
Ole Schirmer<br />
Ludger Schmidt<br />
Dr. Renate Schulz<br />
Dr. Stephan Veil<br />
Klaus Wöldecke<br />
Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />
Gesellschaft zur Pflege<br />
der Naturwissen schaften<br />
Willy-Brandt-Allee 5<br />
30169 Hannover<br />
Germany<br />
Telefon (0511) 9807-871<br />
Fax (0511) 9807-844<br />
E-Mail: info@N-G-H.org<br />
www.N-G-H.org<br />
<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010
<strong>Naturhistorica</strong> <strong>152</strong>· 2010<br />
Geheimnisvoll:<br />
Sind die rätselhaften Höhlenkrebse vielleicht<br />
doch eher Insekten? Erste Forschungsergebnisse<br />
liegen vor.<br />
Vorbildlich:<br />
Aus dem Bestand der „Sammlung Struckmann“<br />
gingen zwei weitere paläontologische Arbeiten<br />
hervor, die schöne Beispiele für die konsequente<br />
Vorgehensweise des Landesmuseums Hannover<br />
bei der Aufarbeitung historischer Sammlungen<br />
sind.<br />
Aufwendig:<br />
Versuchen Sie einmal, einen Bestimmungsschlüssel<br />
für die vielleicht 15 bis 20 in Ihrer<br />
Umgebung oder Ihrem Garten vorkommenden<br />
Vogelarten zu erstellen. Wenn Sie schon dabei<br />
stöhnen, werden Sie die Arbeit über die Bestimmung<br />
fleischfressender Säugetiere anhand der<br />
Halswirbel angemessen würdigen können.<br />
Darüber und mehr lesen Sie in der vorliegenden<br />
<strong>Naturhistorica</strong> <strong>152</strong>.<br />
Torben Stemme, Gerd Bicker,<br />
Steffen Hartzsch, Stefan Koenemann<br />
Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />
Sind Remipedia primitive Crustaceen<br />
oder schwimmende Insekten?<br />
7<br />
Marco Neiber<br />
Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />
Beobachtungen zur Parasitierung und Mortalität<br />
der Ilex-Minierfliege Phytomyza ilicis Curtis 1846<br />
(Diptera, Agromycidae)<br />
29<br />
Ingo Geestmann<br />
Vegetation eines Hainbuchen-<br />
Niederwaldes bei Wittenburg<br />
45<br />
Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />
Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />
63<br />
Anna-Dinah Eßer<br />
Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungsschlüssel<br />
für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />
69<br />
Heiko Steinke<br />
Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />
Vergleich des fossilen irregulären Seeigels<br />
Nucleolites mit dem rezenten Herzseeigel<br />
Echinocardium cordatum<br />
113<br />
Marijke Taverne<br />
Das Meereskrokodil Steneosaurus aus<br />
dem Oberen Jura Hannovers<br />
Schädelelemente und Osteoderme<br />
der „Sammlung Struckmann“<br />
153<br />
Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />
Bericht über die Marokko-Exkursion 2009<br />
der Naturistorischen Gesellschaft Hannover<br />
179<br />
Dieter Schulz<br />
Rückblick auf den Festakt am 17.12.2009<br />
195<br />
www.<strong>Naturhistorica</strong>.de<br />
ISSN 1868-0828