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Naturhistorica 152

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Ausgabe <strong>152</strong><br />

2010<br />

Herausgegeben von der<br />

Naturhistorischen Gesellschaft Hannover


<strong>Naturhistorica</strong><br />

Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

Ausgabe <strong>152</strong><br />

Hannover · Germany · 2010<br />

ISSN 1868-0828<br />

www.<strong>Naturhistorica</strong>.de<br />

Herausgeber<br />

Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />

Redaktion<br />

Dieter Schulz<br />

Lektorat<br />

Stefan Koenemann (Zoologie)<br />

Hansjörg Küster (Botanik und Ökologie)<br />

Albert Melber (Zoologie)<br />

Annette Richter (Paläontologie)<br />

Design, Satz<br />

Matthias Winter, vemion.de, Hannover<br />

Umschlagbild Blue holes © Thomas M. Iliffe<br />

Foto S. 1 Seeigel © Pauline S Mills, iStockphoto.com<br />

© Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />

Gesellschaft zur Pflege der Naturwissenschaften<br />

Willy-Brandt-Allee 5<br />

30169 Hannover<br />

Germany<br />

E-Mail: info@N-G-H.org<br />

www.N-G-H.org


<strong>Naturhistorica</strong><br />

Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover<br />

<strong>152</strong>·2010<br />

dieter schulz<br />

Vorwort<br />

5<br />

torben stemme, Gerd Bicker, steffen hartzsch, stefan Koenemann<br />

Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

sind remipedia primitive crustaceen<br />

oder schwimmende insekten?<br />

7<br />

Marco Neiber<br />

Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

Beobachtungen zur Parasitierung und Mortalität der ilex-Minierfliege<br />

Phytomyza ilicis curtis 1846 (diptera, agromycidae)<br />

29<br />

ingo Geestmann<br />

Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

45<br />

carsten Brauckmann, elke Gröning<br />

Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />

63<br />

anna-dinah eßer<br />

Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungsschlüssel<br />

für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

69<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


4<br />

heiko steinke<br />

Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

vergleich des fossilen irregulären seeigels Nucleolites mit<br />

dem rezenten herzseeigel Echinocardium cordatum<br />

113<br />

Marijke taverne<br />

Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem Oberen Jura<br />

Hannovers<br />

schädelelemente und osteoderme der „sammlung struckmann“<br />

153<br />

Joachim haßfurther, frank-dieter Busch<br />

Bericht über die Marokko-Exkursion 2009 der Naturistorischen<br />

Gesellschaft Hannover<br />

24. oktober 2009 bis 7. November 2009<br />

179<br />

dieter schulz<br />

Rückblick auf den Festakt am 17.12.2009<br />

195<br />

Die Naturhistorische Gesellschaft<br />

Hannover<br />

197<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


5<br />

Vorwort<br />

Mit der vorliegenden <strong>Naturhistorica</strong><br />

führen wir die Tradition fort, jungen Menschen<br />

eine Plattform für die Veröffentlichung<br />

ihrer Diplom-, Master- und Bachelor-Arbeiten<br />

zu bieten. Dieses Mal sind es<br />

gleich fünf Artikel, die von jungen Autoren<br />

verfasst wurden. Drei paläontologische Arbeiten,<br />

die durch die Forschung an Sammlungsstücken<br />

des Landesmuseums Hannover<br />

entstanden sind, liegen im Trend<br />

vieler Museen weltweit, die sich in Zeiten<br />

knapper finanzieller Mittel auf die eigenen<br />

Sammlungen konzentrieren.<br />

Anna-Dinah Eßer hat sich mit Halswirbeln<br />

von Carnivoren (Fleischfressern)<br />

beschäftigt und nach gründlichen Studien<br />

einen Bestimmungsschlüssel erstellt, mit<br />

dem Halswirbelknochen (auch fossile) einer<br />

bestimmten Tierart zugeordnet werden<br />

können. Jeder, der schon einen Bestimmungsschlüssel<br />

erstellt hat, kennt den<br />

erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand, der<br />

dafür erforderlich ist.<br />

Auch die Forschungsarbeiten an Exponaten<br />

der „Sammlung Struckmann“<br />

werden fortgeführt. So untersucht Heiko<br />

Steinke fossile irreguläre Seeigel und<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass alle Fundstücke<br />

einer Gattung, nämlich Nucleolites,<br />

zuzuordnen sind. Im zweiten Teil der Arbeit<br />

vergleicht er Nucleolites mit dem rezenten<br />

Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />

aus der Nordsee.<br />

Marijke Taverne kann nach gründlichen<br />

Untersuchungen der Schädelelemente<br />

und Osteoderme eines Meereskrokodils –<br />

ebenfalls aus der „Sammlung Struckmann<br />

“ – diese ausschließlich der Gattung<br />

Steneosaurus zuordnen.<br />

Eine weitere paläontologische Arbeit,<br />

von Carsten Brauckmann und Elke Gröning,<br />

beschreibt die wenigen bisher aufgefundenen<br />

fossilen Reste von Insekten aus<br />

dem Oberen Jura in Norddeutschland.<br />

Ingo Geestmann hat die Vegetation eines<br />

Hainbuchen-Niederwaldes an der Leine<br />

untersucht. Wird dieser Waldtyp mit<br />

seiner einzigartigen Vegetation nicht unter<br />

Schutz gestellt, verschwindet er in absehbarer<br />

Zeit, da es die Bewirtschaftungsform<br />

heute nicht mehr gibt.<br />

Viele haben wohl schon die unschönen<br />

bräunlich-gelben Fraßspuren an den<br />

Foto: © Arven – Fotolia.com<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


6 <br />

Blättern der Stechpalme gesehen und sich<br />

gefragt, wer der Verursacher ist. Marco<br />

Thomas Neiber liefert die Antwort. Er hat<br />

sich nicht nur mit der Minierfliege selbst<br />

und den durch sie verursachten Schäden<br />

beschäftigt, sondern auch mit ihrer Parasitierung<br />

und Mortalität.<br />

Immer wieder gibt es Überraschungen<br />

durch die Entdeckung neuer Tier- und<br />

Pflanzenarten. Torben Stemme versucht,<br />

mit immunhistochemischen Methoden die<br />

Evolution der rätselhaften Grottenkrebse<br />

zu klären und kommt zu dem Schluss, dass<br />

es möglicherweise doch eher schwimmende<br />

Insekten als primitive Krebse sind.<br />

Ein kurz gefasster Beitrag über die Marokko-Exkursion<br />

2009 und ein Rückblick<br />

auf den Festakt zum Jubiläumsband 150<br />

am 17.12.2009 informieren über zusätzliche<br />

Aktivitäten der Naturhistorischen Gesellschaft<br />

Hannover.<br />

Dieter Schulz<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


7<br />

Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

Sind Remipedia primitive Crustaceen oder<br />

schwimmende Insekten?<br />

Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch,<br />

Stefan Koenemann<br />

Foto: Thomas M. Iliffe<br />

Zusammenfassung<br />

Zu den erst seit den frühen 80er Jahren<br />

bekannten Grottenkrebsen Remipedia<br />

Yager 1981 wurden seit ihrer Entdeckung<br />

zahlreiche Theorien bezüglich ihrer Abstammungsverhältnisse<br />

postuliert. So sind<br />

Hypothesen von einer basalen Stellung<br />

innerhalb der Crustacea über eine Verbindung<br />

zu verschiedenen niederen und<br />

höheren Krebsen bis hin zu einer nahen<br />

Verwandtschaft mit Hexa poda bekannt.<br />

In diesem Artikel werden die neuesten Erkenntnisse<br />

auf diesem Gebiet präsentiert.<br />

Des Weiteren wird ein relativ neuer Ansatz<br />

zur Lösung der Verwandtschaftsbeziehungen<br />

vorgestellt. Bei dieser als Neurophylogenie<br />

bezeichneten Disziplin werden<br />

Merkmale der Neuroanatomie und Neuroentwicklungsbiologie<br />

analysiert. Ein spezieller<br />

Merkmalkomplex ist die Morphologie<br />

und Verteilung von serotonergen Zellen im<br />

Bauchmark der Arthropoda, welcher mit<br />

Hilfe der Immunhistochemie dargestellt<br />

werden kann. Hier wird die Methode der<br />

Immunhistochemie vorgestellt und erste<br />

Ergebnisse zum serotonergen System der<br />

Remipedia präsentiert.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


8 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Abb. 1 fotos einiger arten der remipedia (nicht<br />

maßstabsgetreu). a: Cryptocorynetes haptodiscus.<br />

B: Speleonectes tulumensis. c: Godzilliognomus<br />

frondosus. fotos thomas M. iliffe.<br />

Einleitung<br />

Remipedia<br />

Die Remipedia zählen zu den bemerkenswertesten<br />

zoologischen Neufunden<br />

der letzten 30 Jahre. Während einer Tauchexpedition<br />

auf den Bahamas wurden 1979<br />

erstmals Individuen dieser bis dahin unbekannten<br />

Gruppe von Gliederfüßern (Arthropoda)<br />

entdeckt und als eine neue Klasse<br />

der Crustacea beschrieben (Yager 1981).<br />

Nach dieser Entdeckung wurden und werden<br />

immer wieder neue Arten gefunden,<br />

sodass mittlerweile 24 gesicherte Arten<br />

aus drei Familien bekannt sind (Tab. 1).<br />

Darüber hinaus liegen Exemplare von<br />

circa fünf unbeschriebenen Arten vor<br />

(Abb. 1). Zuletzt wurde die Art Speleonectes<br />

atlantida Koenemann et al. 2009b beschrieben.<br />

Alle rezenten Remipedien werden<br />

der Ordnung Nectiopoda Schram<br />

1986 zugeteilt. Die Nectiopoda wiederum<br />

sind in drei Familien unterteilt. Die Godzilliidae<br />

Schram et al. 1986 umfassen die<br />

drei Gattungen Godzillius, Godzilliognomus<br />

und Pleomothra. Die Familie Speleonectidae<br />

Yager 1981 enthält vier Gattungen:<br />

Tab. 1 die taxonomische einteilung der remipedia in familien und Gattungen und die anzahl der rezenten<br />

arten pro Gattung.<br />

Familie Gattung Anzahl rezenter Arten<br />

Godzilliidae Godzillius Schram et al. 1986 Monotypisch<br />

Godzilliognomus Yager 1989 2<br />

Pleomothra Yager 1989 2<br />

Speleonectidae Speleonectes Yager 1981 12<br />

Lasionectes Yager & Schram 1986 2<br />

Cryptocorynetes Yager 1987 3<br />

Kaloketos Koenemann et al. 2004 Monotypisch<br />

Micropacteridae Micropacter Koenemann et al. 2007a Monotypisch<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

9<br />

Speleonectes, Lasionectes, Cryptocorynetes und<br />

Kaloketos. Außerdem wurde von Koenemann<br />

et al. (2007a) eine neue Familie, die<br />

Micropacteridae, beschrieben.<br />

Das Hauptverbreitungsgebiet der Remipedien<br />

liegt in den Höhlensystemen<br />

der Karibik. Außerdem gibt es einzelne,<br />

offenbar isolierte Fundstellen auf den<br />

Kanarischen Inseln (Lanzarote) und in<br />

West-Australien (Abb. 2C). Der Körper<br />

der hermaphroditischen (zwittrigen)<br />

Remipedia ist in einen Kopf- und einen<br />

lang gestreckten Rumpfbereich gegliedert<br />

(Abb. 2 A, B), der aus bis zu 42 gleichförmigen<br />

Segmenten bestehen kann (Koenemann<br />

et al. 2006). Im adulten Zustand erreichen<br />

kleine Arten eine Länge von ca.<br />

9 mm, bei großen Arten können es bis<br />

zu 45 mm sein. Remipedia besitzen weder<br />

Pigmente noch Augen, es handelt sich<br />

um obligatorische Grottenkrebse. Alle bekannten<br />

Arten besiedeln sogenannte anchialine<br />

Höhlensysteme (Schram et al. 1986)<br />

(Abb. 3), welche in der Karibik gemeinhin<br />

Abb. 2 A: Foto eines lebenden Exemplars der<br />

Art Speleonectes tanumekes (unveröffentlichtes<br />

Original). B: Habitus-Zeichnung von Speleonectes<br />

parabenjamini; dorsale Ansicht (aus Koenemann<br />

et al. 2006). C: Weltweite Verbreitung der rezenten<br />

Remipedia; jedes Symbol repräsentiert Höhlen, in<br />

denen Remipedia gefunden wurden.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


10 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Abb. 3 Aufnahme während der Lanzarote-Expedition<br />

2008 im Lavatunnel Atlantida, bei der die<br />

neue Art Speleonectes atlantida gefunden wurde<br />

(Koene mann et al. 2009b). Die Ausrüstung der<br />

Taucher verdeutlicht den immensen Aufwand,<br />

diese Höhlen zu untersuchen. Foto Jill Heinerth.<br />

auch als Blue Holes bezeichnet werden.<br />

Der Begriff „anchialin“, erstmals erwähnt<br />

von Holthuis (1973), wurde 1986 von<br />

Stock et al. neu definiert. Demnach bestehen<br />

anchialine Habitate aus halinen Wasserkörpern,<br />

normalerweise mit einer eingeschränkten<br />

Exposition zur Oberfläche und<br />

stets vorhandenen, mehr oder weniger stark<br />

ausgeprägten Verbindungen zum Meer,<br />

wobei sie merklich marinen aber auch terrestrischen<br />

Einflüssen unterliegen. Remipedia<br />

finden sich ausschließlich unterhalb<br />

der Sprungschicht, welche sich zwischen<br />

Salz- und Süßwasser aufgrund der Dichteunterschiede<br />

ausbildet (Halokline).<br />

Aufgrund der späten Entdeckung dieser<br />

Krebsgruppe und dem nur schwer zugänglichen<br />

Lebensraum sind einige Aspekte<br />

zur Biologie der Remipedia noch<br />

unbekannt. Beispielsweise ist relativ wenig<br />

über die Ökologie und das Verhalten dieser<br />

Krebse untersucht worden. Die Embryonalentwicklung<br />

wurde erst vor drei Jahren<br />

beschrieben, nachdem erstmals Nauplius-<br />

Larven auf der Bahamas-Insel Abaco gefunden<br />

wurden (Koenemann et al. 2007b,<br />

2009a). Bezüglich des Nervensystems der<br />

Remipedia liegen bisher nur Studien zur<br />

Gehirnanatomie vor (Fanenbruck et al.<br />

2004; Fanenbruck & Harzsch 2005). Untersuchungen<br />

der ventralen Nervenkette,<br />

auch Bauchmark genannt, fehlen bis zum<br />

heutigen Tag (allgemeine Erläuterungen<br />

zum Nervensystem der Arthropoda siehe<br />

„Exkurs“).<br />

Ebenso sind die genauen Verwandtschaftsbeziehungen<br />

der Remipedia innerhalb<br />

der Arthropoda noch umstritten.<br />

Mittlerweile sind zahlreiche Theorien zur<br />

Stellung der Remipedia postuliert worden.<br />

Diese werden in diesem Artikel vorgestellt<br />

und im Rahmen der neuesten Erkenntnisse<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

11<br />

Exkurs: Nervensystem der Arthropoda<br />

Trotz einfacher Bauweise befähigt das<br />

Nervensystem der Arthropoda zu verschiedenen,<br />

zum Teil komplexen Sinnesleistungen.<br />

Es lässt sich einteilen in das<br />

enterische (ENS), das periphere (PNS)<br />

und das zentrale Nervensystem (ZNS).<br />

Das ENS reguliert alle Verhaltensmuster,<br />

welche mit der Nahrungsaufnahme,<br />

Verdauung und Ausscheidung assoziiert<br />

sind. Bei der Europäischen Wanderheuschrecke<br />

Locusta migratoria und dem Tabakschwärmer<br />

Manduca sexta wird die<br />

Häutung ebenfalls vom ENS beeinflusst,<br />

wobei Luft verschluckt wird, um die alte<br />

Cuticula zu sprengen (Ayali 2004). Über<br />

das PNS werden externe Reize aus der<br />

Umgebung des Tieres, aber auch interne<br />

Informationen des Körpers zum<br />

ZNS gesandt (Kandel et al. 2000). Das<br />

PNS ist über Nervenbahnen mit dem<br />

ZNS verbunden. Das ZNS besteht aus<br />

dem dorsal gelegenen Gehirn, welches<br />

mit der ventral liegenden Nervenkette,<br />

auch Bauchmark genannt, über paarige<br />

circumoesophageale Konnektive verbunden<br />

ist. Gehirn und Bauchmark sind<br />

segmentierte Strukturen, wobei die segmentalen<br />

Ganglien über paarige longitudinale<br />

Konnektive in Verbindung stehen.<br />

Die Ganglien setzen sich zusammen<br />

aus zwei bilateralsymmetrischen Hemiganglien,<br />

welche durch Kommissuren<br />

verbunden sind (Reichert 2000). Diese<br />

Form des ZNS bezeichnet man auch als<br />

Strickleiternervensystem.<br />

Die Ganglien des Bauchmarks sorgen<br />

für eine Innervierung der Körpersegmente.<br />

Bei hoch entwickelten Invertebraten<br />

sind die Ganglien in eine Rinde<br />

aus Zellkörpern und einen sogenannten<br />

Neuropilkern unterteilt (Reichert 2000).<br />

Als Zellkörper wird der Teil der Nervenzelle<br />

(Neuron) benannt, in dem sich der<br />

Zellkern und weitere wichtige Organellen<br />

(z. B. Mitochondrien, Golgikörper, endoplasmatisches<br />

Reticulum) befinden.<br />

Als Neuropil bezeichnet man spezielle<br />

Bereiche im Nervensystem, in denen<br />

keine Zellkörper vorkommen, sondern<br />

nur die als Neuriten bezeichneten Zellfortsätze<br />

der Nervenzellen. Je nach Anzahl<br />

dieser vom Zellkörper ausgehenden<br />

Zellfortsätze lassen sich Nervenzellen in<br />

monopolare, bipolare oder sogar multipolare<br />

Neurone einteilen.<br />

Vom Bauchmark werden über die in<br />

die Peripherie ziehenden Nervenfasern<br />

die Körperanhänge und Organe des jeweiligen<br />

Segments innerviert. Gleichzeitig<br />

werden aus der Peripherie sensorische<br />

Eingänge erhalten und verarbeitet.<br />

Außerdem werden Fasern aus jedem<br />

Ganglion über die Konnektive in andere<br />

Segmente und in das Gehirn projiziert<br />

(Kandel et al. 2000).<br />

Die Informationsübertragung zwischen<br />

einzelnen Neuronen findet an speziellen<br />

Strukturen statt, den sogenannten<br />

Synapsen. Man unterscheidet zwei<br />

Typen: Zum einen die elektrische zum<br />

anderen die chemische Synapse (Reichert<br />

2000; Kandel et al. 2000). Bei der<br />

chemischen Synapse dienen Neurotransmitter<br />

als Botenstoffe, um die Information<br />

von einer Nervenzelle zur anderen<br />

weiter zu leiten. Diese Botenstoffe lassen<br />

sich in niedermolekularen Transmitter<br />

und Neuropeptide einteilen. Zur ersten<br />

Klasse gehört der in dieser Arbeit untersuchte<br />

Neurotransmitter Serotonin.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


12 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

diskutiert. Hierbei wird ein relativ neuer<br />

Ansatz zur Lösung der phylogenetischen<br />

Beziehungen gewählt. Am Beispiel serotonerger<br />

Zellen im Nervensystem der Remipedia<br />

wird auf diese Weise ein spezieller<br />

Merkmalskomplex zur Evaluierung der<br />

Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb<br />

der Arthropoda verwendet.<br />

Myriochelata ist wiederum per Definition<br />

nicht mit der Verwandtschaft Mandibeln<br />

tragender Arthropoden, den Mandibulata<br />

(erstmals bei Snodgrass 1935), bestehend<br />

aus Myriapoda, Crustacea und Hexapoda,<br />

vereinbar (Abb. 4).<br />

Phylogenie der Gliederfüßer und<br />

Remipedia<br />

Die Verwandtschaftsverhältnisse (Phylogenie)<br />

innerhalb der Arthropoda werden<br />

seit dem 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert<br />

(z. B. Edgecombe 2010; Jenner 2010;<br />

Koenemann et al. 2010; Regier et al. 2010).<br />

Die traditionellen Vergleiche morphologischer<br />

Merkmale oder verschiedener Baupläne<br />

werden seit einigen Jahrzehnten<br />

durch molekulare Studien ergänzt. Hierbei<br />

werden molekulare Sequenzdaten der Taxa<br />

verglichen, also die Abfolge der Grundbausteine<br />

(Nukleotide) der DNA beziehungsweise<br />

RNA oder die Aminosäureabfolge<br />

der Proteine.<br />

Die orthodoxe Auffassung eines gemeinsamen<br />

Ursprungs Tracheen-atmender<br />

Arthropoden, den Tracheata (Abb. 4),<br />

erstmals erwähnt bei Haeckel (1866) und<br />

später neu definiert von Pocock (1893a, b),<br />

gilt heute weitgehend als überholt, und ist<br />

durch neue Hypothesen zur Arthropoda-<br />

Phylogenie ersetzt worden. So wurde das<br />

Konzept der Pancrustacea (u. a. Friedrich<br />

& Tautz 1995, 2001; Regier & Shultz<br />

1997) vorgeschlagen, bei dem die Hexapoda<br />

und Crustacea zu Schwestergruppen<br />

(oft unter gegenseitigem Ausschluss einiger<br />

Vertreter dieser beiden Gruppen) vereinigt<br />

werden. Ein weiteres Konzept postuliert<br />

eine enge Verwandtschaft der Myriapoda<br />

und Chelicerata, genannt Paradoxopoda<br />

(Mallat et al. 2004) beziehungsweise Myriochelata<br />

(Pisani et al. 2004). Ein Taxon<br />

A<br />

B<br />

C<br />

Abb. 4 Verschiedene Hypothesen zur Phylogenie<br />

der Arthropoda. A: Im Tracheata-Konzept sind<br />

Myriapoda und Hexapoda Schwestergruppen. B:<br />

Beim Pancrustacea-Konzept stehen die Crustacea<br />

und Hexapoda in einer Klade. Zu beiden Theorien<br />

ist das Taxon Mandibulata kompatibel. C:<br />

Im Myriochelata-Konzept bilden Chelicerata und<br />

Myriapoda sowie Crustacea und Hexapoda jeweils<br />

Schwestergruppen. Modifiziert nach Westheide &<br />

Rieger 2007.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

13<br />

A<br />

B<br />

Abb. 5 Phylogenetische Bäume der Analysen von<br />

88 Arthropoden-Taxa anhand der DNA-Marker COI,<br />

16S und 18S aus Koenemnann et al (2010). Remipedia<br />

bilden eine Klade mit Cephalocarida, welche<br />

wiederum in einem Schwestergruppenverhältnis zu<br />

basalen Hexapoden (A) beziehungsweise Malacostraca<br />

(B) stehen. Der schwarze Punkt markiert die<br />

Pancrustacea-Klade.<br />

Bei Vergleichen morphologischer Merkmale<br />

wurden Remipedia aufgrund ihres<br />

außergewöhnlichen Bauplans häufig als<br />

primitive Krebsgruppe angesehen oder<br />

fungierten z. B. a priori als Außengruppe in<br />

phylogenetischen Analysen (Schram 1986;<br />

Ax 1999; Wills 1997). Diese theoretischen<br />

Vorannahmen konnten allerdings bislang<br />

nicht überzeugend untermauert werden.<br />

Mehrere umfangreiche phylogenetische<br />

Analysen der Arthropoda/Metazoa scheinen<br />

einer basalen Stellung der Remipedia<br />

zu widersprechen (Schram & Koenemann<br />

2004; Giribet et al. 2001; Shultz & Regier<br />

2000; Regier et al. 2008, 2010; Spears &<br />

Abele 1997; Koenemann et al. 2010).<br />

Neuere phylogenetische Studien zur<br />

Stellung der Remipedia innerhalb der Arthropoda<br />

sprechen für eine Verwandtschaft<br />

zu höher entwickelten Crustacea (Malacostraca)<br />

beziehungsweise Hexapoda. So<br />

wurden aufgrund von Vergleichen der Gehirnstrukturen<br />

Ähnlichkeiten zu Malacostraca<br />

und Hexapoda vermutet (Fanenbruck<br />

et al. 2004; Fanenbruck & Harzsch 2005).<br />

Dies wird durch Gemeinsamkeiten in der<br />

Entwicklung und der Antennenmorphologie<br />

unterstützt (Koenemann et al. 2009a).<br />

Molekulare Vergleiche von Sequenzen des<br />

Blutfarbstoffs Hämocyanin, welcher dem<br />

Sauerstofftransport bei bestimmten Invertebraten<br />

dient, ergaben überraschend viele<br />

Gemeinsamkeiten zwischen Remipedia<br />

und Hexapoda (Ertas et al. 2009).<br />

Aktuelle molekulare Studien, welche<br />

die zurzeit umfangreichsten auf dem Gebiet<br />

der Arthropoda-Phylogenie darstellen<br />

(Koenemann et al. 2010; Regier et al. 2008,<br />

2010), zeigen ein Schwestergruppenverhältnis<br />

von Remipedia zu Cephalocarida.<br />

Die Schwester-Taxa zu dieser phylogenetischen<br />

Gruppierung wiederum sind basale<br />

Hexapoda. Somit scheint sich die Vermutung<br />

zu erhärten, dass die Remipedia keine<br />

primitive Krebsgruppe sind, sondern mit<br />

den höheren Krebsen oder sogar Hexapoda<br />

in Verbindung gebracht werden müssen<br />

(zusammengefasst in Abb. 5).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


14 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Serotonin-immunreaktive Neurone<br />

als phylogenetisches Merkmal<br />

Es sind weitere Untersuchungen erforderlich,<br />

um zusätzliche Hinweise auf die<br />

genauen Abstammungsverhältnisse zu erhalten.<br />

Alternative Herangehensweisen<br />

zur Klärung der Arthropoden-Phylogenie<br />

sind von großer Wichtigkeit, da sie neue<br />

Impulse in diesem Zusammenhang geben<br />

können. Ein spezieller, in diesem Artikel<br />

beschriebener Ansatz hierfür ist der Vergleich<br />

von Merkmalen aus den Bereichen<br />

der Neuroanatomie und Neuroentwicklungsbiologie.<br />

Die Neurophylogenie betrachtet<br />

diese Merkmale in einem phylogenetischen<br />

Kontext (Harzsch 2002).<br />

Die Idee ist nicht neu. Schon zu Beginn<br />

des 20. Jahrhunderts begannen Holmgren<br />

(1916) und Hanström (1928) die Gehirnarchitektur<br />

der Arthropoda zur Lösung<br />

der Phylogenie heranzuziehen. Im Laufe<br />

der letzten Jahre hat dieses Feld viel Aufmerksamkeit<br />

erfahren. Neben einer Vielzahl<br />

von untersuchten Merkmalkomplexen<br />

(zusammengefasst in Harzsch 2006) wurde<br />

auch die Verteilung serotonerger Nervenzellen<br />

im Bauchmark der Crustacea in einem<br />

phylogenetischen Kontext untersucht<br />

(Harzsch & Waloszek 2000).<br />

Das biogene Monoamin Serotonin<br />

(5-Hydroxytryptamin) gilt seit seiner Entdeckung<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts (Rapport<br />

et al. 1948) als eine der am weitesten<br />

verbreiteten Substanzen im Tierreich. Sowohl<br />

im Nervensystem als auch in nichtneuronalem<br />

Gewebe konnte es bei einer<br />

Vielzahl von Invertebraten nachgewiesen<br />

werden. Die Funktion von Serotonin<br />

im Nervensystem der Invertebraten<br />

ist vielfältig. So konnte in diesem Zusammenhang<br />

unter anderem ein Einfluss auf<br />

das Aggressionsverhalten, Flug-, beziehungsweise<br />

Schwimmverhalten sowie die<br />

Lernfähigkeit und circadiane Rhythmik<br />

verschiedener Tiergruppen gezeigt werden<br />

(Kravitz 1988; Bicker & Menzel 1989).<br />

Diese funktionelle Vielfältigkeit des Serotonins<br />

und das Vorkommen in allen Bereichen<br />

des Tierreichs deuten auf ein frühes<br />

Auftreten von Serotonin in der Stammesentwicklung<br />

hin. Dies gilt besonders für<br />

seine Funktion als Botenstoff, weshalb es<br />

vermutlich schon in sehr ursprünglichen<br />

Nervensystemen als Neurotransmitter fungierte<br />

(Hay-Schmidt 2000).<br />

Die Serotonin-immunreaktiven Neurone<br />

des Bauchmarks eignen sich aufgrund<br />

verschiedener Eigenschaften für phylogenetische<br />

Untersuchungen. Zum einen<br />

wurde das serotonerge System in vielen<br />

Taxa der Arthropoda untersucht, somit ist<br />

eine relativ hohe Datendichte vorhanden.<br />

Zum anderen ist die Anzahl serotonerger<br />

Nervenzellen im Bauchmark gering, wodurch<br />

sie individuell identifizierbar und so<br />

leichter zu vergleichen sind. Beispielsweise<br />

besitzt das Bauchmark des Flusskrebses<br />

Procambarus clarkii nur ungefähr 30 serotonerge<br />

Zellkörper (Real & Czternasty<br />

1990). Des Weiteren weisen die Neurite<br />

dieser Serotonin-immunreaktiven Nervenzellen<br />

eine individuelle Morphologie auf,<br />

sodass jede dieser Zellen gut identifizierbar<br />

ist (Harzsch & Waloszek 2000).<br />

Abb. 6 Darstellung der direkten und indirekten<br />

Methode zur Immundetektion. Epitope (gelb,<br />

hellblau, rot) des AG (blau) werden vom primären<br />

AK (schwarz) erkannt. Die AK binden spezifisch<br />

an diese Epitope (spezifisches Epitop in dieser<br />

Darstellung rot). Bei der direkten Methode ist der<br />

Primär-AK mit Fluorochromen konjugiert (grün).<br />

Bei der indirekten Methode binden konjugierte<br />

Sekundär-AK (grau) an den Primär-AK (modifiziert<br />

nach Luttmann et al. 2009).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

15<br />

Methoden<br />

Immunhistochemie<br />

Die Immunhistochemie, auch Immunzytologie,<br />

ist ein seit Jahrzehnten gebräuchliches<br />

Standardverfahren in vielen Gebieten<br />

der Naturwissenschaften. Gekoppelt wird<br />

diese Methode mit der so genannten Immunfluoreszenztechnik.<br />

Hierbei werden<br />

die Antikörper (AK) mit Fluorochromen<br />

markiert, welche bei der späteren Auswertung<br />

am Mikroskop durch monochromatisches<br />

Licht angeregt werden, je nach<br />

Fluorochrom aber Licht unterschiedlicher<br />

Wellenlänge emittieren. Die AK binden an<br />

bestimmte Strukturen (Epitope) auf dem<br />

Zielmolekül (Antigen; AG), in diesem Fall<br />

Serotonin. Man unterscheidet im Allgemeinen<br />

zwischen zwei Möglichkeiten zum<br />

Nachweis der gewünschten Substanz: der<br />

direkten und der indirekten AG-AK-Reaktion.<br />

Bei der direkten Methode ist der<br />

Primär-AK bereits mit Fluorochromen<br />

markiert, bei der indirekten werden weitere<br />

AK (Sekundär- beziehungsweise Tertiärreagenzien)<br />

eingeschaltet, welche mit den<br />

Fluorochromen markiert sind (Abb. 6).<br />

Der Vorteil der indirekten Methode ist<br />

eine Verstärkung des Signals, begründet<br />

durch eine erhöhte Anzahl an Fluorochrom-Molekülen<br />

pro Primär-AK-AG-<br />

Bindung, da mehrere Sekundär-AK an einen<br />

Primär-AK binden, welche jeweils mit<br />

Fluorochromen konjugiert sind. Nachteile<br />

sind der größere Zeitaufwand durch weitere<br />

Inkubationsschritte und die Möglichkeit<br />

einer erhöhten Hintergrundfärbung.<br />

Zu den gebräuchlichsten Fluorochromen<br />

zählen Carbocyanin 3 und Alexa Fluor<br />

488. Aufgrund der unterschiedlichen<br />

Eigenschaften der verschiedenen Fluorochrome<br />

sind Doppelfärbungen möglich.<br />

Hierbei werden mehrere AK, welche<br />

mit unterschiedlichen Fluorochromen<br />

konjugiert sind, gegen verschiedene AG<br />

eingesetzt. Im Folgenden wird eine Doppelfärbung<br />

von Serotonin und Synapsin<br />

erläutert. Synapsine sind spezielle Proteine<br />

des präsynaptischen Kompartiments,<br />

welche die Neurotransmittervesikel an<br />

Komponenten des Zytoskeletts verankern<br />

können. Des Weiteren findet der<br />

Fluoreszenz-Farbstoff 4‘,6-Diamidino-2-<br />

phenylindol (DAPI) Verwendung. Dieser<br />

bindet spezifisch an DNA-Moleküle und<br />

erlaubt eine Detektion von Zellkernen und<br />

somit Zellkörpern. Durch eine Kopplung<br />

von Synapsin- und Zellkernfärbung lassen<br />

sich Zellkörper-Regionen und Neuropil-<br />

Regionen unterscheiden, was bei der Orientierung<br />

im Gewebe von Nutzen ist.<br />

In Tabelle 2 ist ein Standard-Protokoll<br />

der Immunhistochemie zur Detektion<br />

von Serotonin und Synapsin, sowie<br />

zur Fluoreszenzmarkierung der Zellkerne<br />

dargestellt. Anhand dieses Protokolls,<br />

bei dem die indirekte Methode verwendet<br />

wird, werden im Folgenden alle wichtigen<br />

Schritte erläutert. Generell ist es empfehlenswert,<br />

allen Pufferlösungen 0,5 % Natriumazid<br />

hinzuzufügen. Dies ist eine etablierte<br />

Methode, um eine Verunreinigung<br />

der Puffer durch Mikroorganismen zu vermeiden.<br />

Natriumazid stört beim Elektronentransport<br />

in der Atmungskette, indem<br />

das aktive Zentrum bestimmter Enzyme<br />

irreversibel blockiert wird.<br />

Fixierung<br />

Die Fixierung mit 4 % Paraformaldehyd<br />

(PFA) hat zwei entscheidende Funktionen.<br />

Zum einen wird ein spezieller Serotonin-<br />

Aldehyd-Komplex hergestellt, welchen der<br />

Serotonin-AK benötigt, um überhaupt an<br />

das Antigen anbinden zu können. Zum<br />

anderen wird so für eine Verknüpfung von<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


16 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Proteinen im Gewebe gesorgt. Das Gewebe<br />

wird konserviert und gehärtet, wodurch<br />

alle makromolekularen Strukturen an Ort<br />

und Stelle bleiben. Dabei werden Proteine<br />

mehr oder weniger stark denaturiert und<br />

über Quervernetzung verbunden. Dies ist<br />

ein kritischer Schritt, da auch das zu untersuchende<br />

Molekül nicht vor Denaturierung<br />

geschützt ist. Somit kann es vorkommen,<br />

dass das AG durch das Fixativ<br />

in einem Grad denaturiert wird, woraufhin<br />

der AK das Epitop nicht mehr zu erkennen<br />

vermag. Als Fixativ zur Immundetektion<br />

von Serotonin hat sich 4 %iges PFA bewährt<br />

(Abb. 7). Nach entsprechender Inkubationszeit<br />

wird das Gewebe mindestens<br />

2 h bei mehrmaligem Lösungswechsel<br />

mit Phosphat gepufferter Salzlösung (PBS)<br />

gewaschen, um überschüssiges Fixativ aus<br />

dem Gewebe zu entfernen.<br />

Einbetten und Schneiden<br />

Die Einbettung der Individuen erfolgt<br />

in 4 % Agarose in destilliertem Wasser.<br />

Vor dem Einbetten in der noch etwa 50 °C<br />

Tab. 2 Protokoll der Immunhistochemie zur Detektion von Serotonin und Synapsin, sowie zur Fluoreszenzmarkierung<br />

der Zellkerne (modifiziert nach Stern et al. 2007). Erläuterungen: Aqua dest.: Destilliertes<br />

Wasser; Cy3: Carbocyanin 3; DABCO: Triethylendiamin; DAPI: 4',6-Diamidino-2-phenylindol; DSHB: Developmental<br />

Studies Hybridoma Bank; JIRL: Jackson Immuno Research Laboratories; min: Minute; MP: Molecular<br />

Probes; NHS: Nomalserum vom Pferd; PBS: Phosphat gepufferte Salzlösung; PFA: Paraformaldehyd;<br />

RT: Raumtemperatur; T: Temperatur; TX: Triton X-100; ü. N.: über Nacht.<br />

Schritt Chemikalien T Dauer<br />

Fixierung 4 % PFA 4 °C ü. N.<br />

Waschen 4-maliger Wechsel, PBS RT je 30 min<br />

Einbetten + Schneiden<br />

(Vibratom)<br />

Poly-L-Lysin; 4 % Agarose in Aqua dest.<br />

Permeabilisierung 0,3 % Saponin in PBS-TX 0,2 % RT 45 min<br />

Waschen 4-maliger Wechsel, PBS-TX 0,2 % RT je 30 min<br />

Blocken 5 % NHS in PBS-TX 0,2 % RT 180 min<br />

Primär-AK Rabbit-Anti-Serotonin (Sigma) 1:5000 +<br />

Mouse-Anti-Synapsin SYNORF1 (E. Buchner,<br />

Würzburg, DSHB)1:30 in Block-Lösung<br />

4 °C 2 Tage<br />

Waschen 4-maliger Wechsel, PBS-TX 0,2 % RT je 30 min<br />

Sekundär-AK Goat-Anti-Rabbit Cy3-konjugiert ( JIRL) 1:250 +<br />

Goat-Anti-Mouse (MP) Alexa Fluor 488-konjugiert<br />

1:250 + 1 µg/ml DAPI in Block-Lösung<br />

4 °C ü. N.<br />

Waschen 4-maliger Wechsel, PBS-TX 0,2 %<br />

letzter Wechsel PBS<br />

RT<br />

je 30 min<br />

Eindecken<br />

Mowiol + 25 mg/ml DABCO<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

17<br />

warmen Agarose wird das Gewebe mit<br />

Poly-L-Lysin inkubiert. Diese Behandlung<br />

stabilisiert die Verbindung von Gewebe<br />

und Einbettmedium aufgrund der<br />

guten adhäsiven Eigenschaften des Poly-L-Lysin.<br />

Nach einigen min wird überschüssiges<br />

Poly-L-Lysin entfernt, sodass<br />

nur ein kleiner Film das Präparat umgibt,<br />

und die Einbettung durchgeführt. Dabei<br />

werden die Präparate auf dem Boden<br />

eines Wägeschälchens ausgerichtet und<br />

mit der flüssigen Agarose überschichtet.<br />

Nach Aushärten wird der Agarose-Block<br />

mit eingeschlossener Probe mit einer herkömmlichen<br />

Rasierklinge getrimmt, in ein<br />

Vibratom eingespannt und umgeben von<br />

PBS geschnitten. Die Technik des Vibratomschneidens<br />

gilt als eine einfache und<br />

schnelle Methode, um Gewebeschnitte<br />

herzustellen. Hierbei wird eine Rasierklinge<br />

in wässrigem Medium (PBS) durch das<br />

Präparat geführt. Dabei vibriert die Klinge,<br />

wodurch sich eine saubere Schnittfläche<br />

ergibt, außerdem werden Scherkräfte<br />

durch geringe Stauchung des Präparates<br />

minimiert.<br />

Permeabilisierung<br />

Im folgenden Schritt werden die fertigen<br />

Schnitte mit 0,3 % Saponin in Phosphat<br />

gepufferter Salzlösung mit Triton X-100<br />

(PBS-TX) 0,2 % für mindestens 45 min<br />

inkubiert. Saponin ist ein von verschiedenen<br />

Pflanzenfamilien bekanntes Detergenz.<br />

Das hier verwendete Saponin wurde<br />

aus der Rinde des Seifenrinden-Baumes<br />

(Quillaja saponaria) gewonnen. Diese<br />

pflanzlichen Glykoside bilden in Wasser<br />

seifenartige Lösungen. Durch eine Reaktion<br />

der Saponine mit dem Cholesterol<br />

der Zellmembranen eukaryotischer Zellen<br />

kommt es zur Perforation der Membran.<br />

Dadurch wird dem AK das Eindringen in<br />

die Zelle erleichtert.<br />

Abb. 7 Ergebnisse von verschiedenen Fixierungen<br />

zur Serotonin- (rot) und Synapsin-Immundetektion<br />

(grün) (blau: Zellkernfärbung mit DAPI). Eine<br />

Fixierung mit AAF (85 % Eisessig, 10 % Formalin,<br />

5 % Ethanol) (A) sowie eine Vorfixierung mit 4 %<br />

PFA und Nachfixierung mit AAF (B) zeigen keine<br />

beziehungsweise schwache Färbungen. Das beste<br />

Ergebnis wird bei einer Fixierung mit 4 % PFA<br />

erzielt (C). Maßstab: 200 µm.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


18 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Blockierung unspezifischer<br />

Antikörper-Bindungen<br />

Nach mehreren Wasch-Schritten mit<br />

PBS-TX 0,2 % für insgesamt mindestens<br />

2 h folgt die Überführung in 5 % NHS<br />

(Normalserum vom Pferd) in PBS-TX<br />

0,2 % über Nacht zur Blockierung unspezifischer<br />

AK-Bindungen. Durch den Vorgang<br />

des Blockierens soll die unspezifische<br />

Hintergrundfärbung so gering wie<br />

möglich gehalten werden. Auch wenn AK<br />

spezifisch an das AG binden, kommt es<br />

dennoch immer wieder zu unspezifischen<br />

Bindungen, welche zu einer falsch positiven<br />

Färbung führen. Häufigste Ursache<br />

hierfür ist die Tendenz von Proteinen, hydrophobe<br />

und auch elektrostatische Bindungen<br />

auszubilden. Um dem entgegenzuwirken,<br />

bietet man in der Blocklösung<br />

konkurrierende Proteine an. Hydrophobe<br />

Bindungen zwischen den Proteinen treten<br />

in wässriger Lösung insbesondere dann<br />

auf, wenn deren Grenzflächenspannung<br />

niedriger ist, als die des umgebenden Wassers.<br />

Triton X-100 als nichtionisches Detergenz<br />

verringert die Oberflächenspannung<br />

und reduziert so die Ausbildung von<br />

hydrophoben Bindungen (Luttmann et al.<br />

2009).<br />

Primär-Antikörper-Bindung<br />

Direkt im Anschluss nach Abnahme der<br />

Blocklösung werden die primären AK auf<br />

die Gewebeschnitte gegeben. Dieser bindet<br />

an das entsprechende AG (hier Serotonin<br />

beziehungsweise Synapsin). Hierbei<br />

ist zu beachten, dass eine ausgewogene<br />

Balance zwischen der Konzentration des<br />

AK und der Inkubationszeit beibehalten<br />

wird. Eine zu hohe Konzentration und/<br />

oder zu lange Inkubationszeit kann die<br />

Wahrscheinlichkeit von unspezifischer<br />

Abb. 8 Aufnahme eines Horizontalschnittes<br />

(60 μm) von den Ganglien des fünften bis siebten<br />

Thorakalsegmentes (T5-7) von Nebalia bipes.<br />

Pro Ganglion sind zwei zentral gelegene serotonerge<br />

Zellkörper zu beobachten (Sternchen)<br />

(Rot: Serotonin; Grün: Synapsin; Blau: Zellkernfärbung).<br />

Anterior ist links. Maßstab: 50 μm.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

19<br />

Hintergrundreaktion erhöhen, umgekehrt<br />

aber kann eine zu geringe Konzentration<br />

und/oder zu kurze Inkubation das spezifische<br />

Signal verringern.<br />

Sekundär-Antikörper-Bindung<br />

Nach erneuten Wasch-Schritten mit<br />

PBS-TX 0,2 % über mindestens 2 h werden<br />

die Proben mit sekundären AK über<br />

Nacht inkubiert. Wie oben erläutert sind<br />

die sekundären AK mit Fluorochromen<br />

gekoppelt und binden an den primären<br />

AK. Es ist Gleiches zu beachten wie bei<br />

der Primär-AK-Bindung. In dieser Lösung<br />

ist auch 1 μg/ml des Fluoreszenz-Farbstoffes<br />

DAPI enthalten. Um die Präparate vor<br />

dem Prozess des Ausbleichens zu schützen,<br />

werden die Schnitte während der Inkubation<br />

dunkel gelagert. Zum Abschluss erfolgt<br />

eine weitere Serie von Wasch-Schritten,<br />

ebenfalls über mindestens 2 h mit PBS-TX<br />

0,2 %. Der letzte Wasch-Schritt wird mit<br />

PBS durchgeführt.<br />

Eindecken<br />

Zum Schluss werden die Gewebeschnitte<br />

auf herkömmlichen Objekträgern in<br />

Mowiol eingedeckt. Mowiol eignet sich<br />

gut zum Eindecken, da es bei Raumtemperatur<br />

komplett aushärtet. Danach sind die<br />

Präparate theoretisch unbegrenzt haltbar.<br />

Ein Ausbleichen der Präparate – also eine<br />

irreversible Zerstörung der Fluorochrome,<br />

vor allem durch starken Lichteinfluss – ist<br />

nicht auszuschließen. Verringert wird das<br />

Ausbleichen durch Zugabe von Triethylendiamin<br />

(DABCO), welches dem Mowiol<br />

in einer Konzentration von 25 mg/<br />

ml hinzugegeben wird. Nach Aushärten<br />

des Mowiols (über Nacht, staubgeschützt<br />

bei Raumtemperatur) können die fertigen<br />

Präparate staubgeschützt, dunkel und trocken<br />

bei 4 °C nahezu unbegrenzt gelagert<br />

werden. In Abbildung 8 ist eine gut gelungene<br />

Beispielfärbung des Bauchmarks von<br />

Nebalia bipes (Malacostraca) abgebildet.<br />

Ergebnisse und Diskussion<br />

Das serotonerge System im<br />

Bauchmark der Pancrustacea<br />

In Bezug auf die Phylogenie der Arthropoda<br />

wurden mit Hilfe der oben erläuterten<br />

Methode der Immunhistochemie in<br />

verschiedenen Studien für das serotonerge<br />

System im Bauchmark Grundmuster für<br />

höhere Taxa postuliert (Harzsch & Waloszek<br />

2000; Harzsch 2003, 2004).<br />

Innerhalb der Pancrustacea liegen<br />

Grundmuster des serotonergen Systems<br />

für Entomostraca, Malacostraca, Zygentoma<br />

und Pterygota vor (Harzsch & Waloszek<br />

2000; Harzsch 2002, 2003). Generell<br />

bestehen diese Muster aus zwei Gruppen<br />

von maximal zwei Neuronen im anterioren<br />

und posterioren Teil der Hemiganglia<br />

(Abb. 9). Die Neurone dieser Zellpaare lassen<br />

sich individuell aufgrund ihrer Lage<br />

und Morphologie identifizieren und homologisieren.<br />

Die Grundmuster von Entomostraca,<br />

Malacostraca und Zygentoma<br />

zeigen eine gleiche Anzahl von Neuronen,<br />

nämlich zwei anteriore und zwei posteriore<br />

serotonerge Zellpaare (ASZ beziehungsweise<br />

PSZ). Unterschieden werden<br />

sie nur aufgrund ihrer Neuritenmorphologie.<br />

Jedes serotonerge Neuron der Entomostraca<br />

besitzt einen ipsilateralen und<br />

einen kontralateralen Neuriten, es handelt<br />

sich somit um bipolare Neurone. Bei Malacostraca<br />

zeigen die anterioren Zellkörper<br />

einen kontralateral wandernden Neuriten,<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


20 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Entomostraca Malacostraca Zygentoma Pterygota<br />

Abb. 9 Grundmuster des serotonergen<br />

Systems im Bauchmark<br />

von Großgruppen der Pancrustacea,<br />

dargestellt an einem Hemiganglion.<br />

Bei ungefüllten Neuronen ist eine<br />

Zugehörigkeit zum Grundmuster<br />

umstritten. Gestrichelte Linie der<br />

Hemiganglien stellt die Mittellinie<br />

dar. Anterior ist oben. Modifiziert<br />

nach Harzsch (2003).<br />

während die posterioren Zellkörper einen<br />

ipsilateralen Neuriten aufweisen. Bei Hexapoda<br />

wurden bisher basale Insekten (Zygentoma)<br />

und Fluginsekten (Pterygota)<br />

untersucht. In diesen Gruppen projizieren<br />

wiederum alle Neuriten nach kontralateral,<br />

wobei in Zygentoma je zwei ASZ und PSZ<br />

vorhanden sind. Bei den Pterygota zeigen<br />

sich nur im posterioren Bereich serotonerge<br />

Neurone. Neben den beiden PSZ ist ein<br />

zusätzliches Zellpaar im Grundmuster der<br />

Pterygota möglich, allerdings könnte dieses<br />

Zellpaar auch eine Apomorphie einzelner<br />

Pterygota sein (Harzsch 2003).<br />

Phylogenetische Überlegungen<br />

Vergleicht man nun diese Strukturmuster<br />

miteinander, finden sich innerhalb der<br />

Pancrustacea nur bei Entomostraca bipolare<br />

Neuronen. Malacostraca besitzen im<br />

Grundmuster lediglich monopolare Neuronen,<br />

allerdings wurden in dem Amerikanischen<br />

Hummer Homerus americanus<br />

(Beltz & Kravitz 1983) und in der Mauerassel<br />

Oniscus asellus (Thompson et al. 1994)<br />

in einzelnen Fällen Neurone nachgewiesen,<br />

bei denen sich ein primärer Neurit direkt<br />

nach dem Verlassen des Zellkörpers<br />

in einen kontralateral und einen ipsilateral<br />

projizierenden Ast aufspaltet. Bei H. americanus<br />

ist der ipsilaterale Neurit komplett<br />

vorhanden, während sich der zweite Neurit<br />

der Mittellinie annähert, diese aber nicht<br />

überquert. Dies könnte eine evolutionäre<br />

Transformation der bipolaren Neuronen<br />

bei Entomostraca in monopolare Neuronen<br />

bei Malacostraca bedeuten (Harzsch<br />

& Waloszek 2000). Hexapoda besitzen<br />

ausschließlich monopolare serotonerge<br />

Neuronen. Vergleiche zwischen Pancrustacea-Taxa<br />

mit monopolaren Neuronen im<br />

Strukturmuster zeigen, dass Hexapoda nur<br />

kontralaterale Projektionen ausbilden, wohingegen<br />

Malacostraca als einzige Gruppe<br />

ipsilaterale Projektionen besitzen.<br />

Vorläufige Ergebnisse zum Nervensystem<br />

der Remipedia zeigen wie erwartet ein<br />

Strickleiternervensystem. Eine Doppelfärbung<br />

von Synapsin und Zellkernen lässt<br />

die generelle Morphologie der Ganglien<br />

erkennen (Abb. 10). Neuropilregionen im<br />

Kern der Ganglien zeigen eine Synapsinpositive<br />

Immunreaktion. Die Zellkernfärbung<br />

mit DAPI lässt hingegen Zellen im<br />

äußeren Bereich der Ganglien erkennen.<br />

Aus Vorversuchen vermuten die Autoren,<br />

dass sich das serotonerge System der<br />

Remipedia aus einem ASZ und zwei PSZ<br />

zusammensetzt. Außerdem lassen sich in<br />

den meisten Fällen drei zentrale serotonerge<br />

Zellpaare (ZSZ) erkennen, deren Neuriten<br />

bisher nicht nachvollzogen werden<br />

konnten. Bei Zygentoma konnte ebenfalls<br />

ein ZSZ festgestellt werden. Somit besitzen<br />

lediglich Remipedia und basale Hexapoda<br />

ZSZ.<br />

Aufgrund dieser Beobachtungen für das<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

21<br />

Abb. 10 Synapsin-Immunfärbung (grün) und<br />

Fluoreszenzmarkierung der DNA (blau) eines<br />

Horizontalschnittes (60 μm) durch den Rumpf von<br />

Godzilliognomus frondosus. Das zentrale Neuropil<br />

ist umgeben von den Zellkörpern der Neurone. Anterior<br />

ist oben. Maßstab der Vergrößerung: 50 μm.<br />

serotonerge System der Pancrustacea (zusammengefasst<br />

in Tab. 3) lassen sich folgende<br />

Verwandtschaftsverhältnisse vermuten:<br />

Innerhalb der Pancrustacea stehen die<br />

Entomostraca als basales Taxon. In einem<br />

Schwestergruppenverhältnis dazu stehen<br />

die Malacostraca, welche wiederum einer<br />

Klade aus den Insecta (Zygentoma und<br />

Pterygota) und Remipedia gegenüberstehen<br />

(Abb. 11).<br />

Aufgrund dieser Beobachtungen lässt<br />

sich eine Ähnlichkeit in den Strukturmustern<br />

der Remipedia und Hexapoda<br />

erkennen. Weitere Ähnlichkeiten zeigen<br />

sich bei der Betrachtung der ZSZ. Remipedia<br />

besitzen meist drei ZSZ. Von der<br />

Lage her sind ähnliche Zellen bei Zygentoma<br />

gefunden worden (Harzsch 2002),<br />

allerdings nur ein Zellpaar. Eine Homologisierung<br />

dieser Neurone ist aber<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


22 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

Tab. 3 Zusammenfassung der Merkmale des serotonergen Systems im Bauchmark für die Großgruppen<br />

der Pancrustacea. Erläuterungen: Anz. ZP: Anzahl Zellpaare; ASZ: anteriore serotonerge Zellen; k. A.: keine<br />

Angabe; k. D.: keine Daten bekannt, da keine Zellkörper vorhanden; PSZ: posteriore serotonerge Zellen;<br />

ZSZ: zentrale serotonerge Zellen.<br />

Taxon Bipolare ASZ PSZ ZSZ<br />

Neurone Anz. Projektion Anz. Projektion Anz. Projektion<br />

ZP ZP ZP<br />

Zygentoma Nein 2 Kontralateral 2 Kontralateral 1 k. D.<br />

Pterygota Nein 0 k. A. 2 (3) Kontralateral 0 k. A.<br />

Malacostraca Nein 2 Kontralateral 2 Ipsilateral 0 k. A.<br />

Entomostraca Ja 2 Kontra-/Ipsilateral 2 Kontra-/Ipsilateral 0 k. A.<br />

unsicher, da die Projektionen der Neurite<br />

nicht bekannt sind. Bei alleiniger Betrachtung<br />

des serotonergen Systems im<br />

Bauchmark von Pancrustacea, bezogen<br />

auf die bestehenden Grundmuster, ist ein<br />

Schwestergruppenverhältnis von Remipedia<br />

und Hexapoda aufgrund gemeinsamer<br />

Merkmale wie konralaterale Projektionen<br />

der monopolaren PSZ und ASZ sowie das<br />

Vorhandensein von ZSZ möglich.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Vor allem während der letzten 10 Jahre<br />

hat eine wachsende Anzahl phylogenetischer<br />

Analysen, die sich sowohl auf<br />

molekularbiologische Daten als auch<br />

morphologische Merkmale stützen, das<br />

Pancrustacea-Konzept untermauert (Abb.<br />

4), wobei eine enge Verwandtschaft zwischen<br />

Remipedia, Malacostraca und Hexapoda<br />

postuliert wurde (Moura & Christoffersen<br />

1996; Fanenbruck et al. 2004;<br />

Fanenbruck & Harzsch 2005; Ertas et al.<br />

2009; Regier et al. 2008, 2010; Koenemann<br />

et al. 2010). Diese Tendenz spiegelt<br />

sich auch in den bisherigen Ergebnissen<br />

zum serotonergen System der Arthropoda<br />

wieder, womit die ursprünglichen Theorien<br />

einer basalen Stellung der Remipedia<br />

immer weniger unterstützt wird und eine<br />

enge Verwandtschaft dieser Grottenkrebse<br />

mit den Insekten immer wahrscheinlicher<br />

wird.<br />

Allerdings handelt es sich bei den hier<br />

präsentierten Daten bezüglich der Remipedia<br />

um vorläufige Ergebnisse, weitere<br />

Versuche sind nötig. Des Weiteren müssen<br />

zusätzliche Taxa untersucht werden,<br />

um eine Phylogenie der Arthropoda mit<br />

Hilfe des serotonergen Systems zu bestätigen.<br />

Dazu zählen besonders Vertreter<br />

der Cephalocarida und basalen Hexapoda<br />

(Diplura, Protura, Collembola). Die Cephalocarida<br />

erscheinen in einer Vielzahl<br />

aktueller Untersuchungen als Schwestergruppe<br />

der Remipedia. Auch sind bisher<br />

keine Angaben zum serotonergen System<br />

basaler Hexapoden, wie Protura oder<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

23<br />

Abb. 11 Hypothetisches Abstammungsverhältnis<br />

innerhalb der Pancrustacea aufgrund immunhistologischer<br />

Darstellungen zum serotonergen System<br />

im Bauchmark. Demnach bilden Remipedia und<br />

Insecta (Zygentoma und Pterygota) eine Schwestergruppe.<br />

Diplura, bekannt. Diese Gruppen könnten<br />

aber wichtige Daten zur weiteren Auflösung<br />

der Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb<br />

der Pancrustacea liefern. Die basalen<br />

Hexapoden sind ein wichtiges Taxon,<br />

um die Betrachtung der phylogenetischen<br />

Verhältnisse aufgrund von Merkmalen des<br />

serotonergen Systems zu vertiefen.<br />

Außerdem muss in nachfolgenden Studien<br />

die vermutete Homologie der einzelnen<br />

serotonergen Neurone nachgewiesen<br />

werden. Taghert & Goodman<br />

(1984) konnten durch detaillierte Studien<br />

zur Zellgenealogie belegen, dass alle serotonergen<br />

Neurone im Bauchmark der<br />

Heuschrecken Schistocerca americana und<br />

Melanoplus differentialis vom Neuroblasten<br />

7-3 gebildet werden. Aufgrund ihrer Position<br />

entsprechen diese serotonergen Neurone<br />

den PSZ innerhalb der oben beschriebenen<br />

Grundmuster. Allerdings wurde die<br />

Entstehung des serotonergen Systems bei<br />

anderen Pancrustacea mit Ausnahme von<br />

Drosophila (Schmid et al. 1999) nie über<br />

eine Markierung der Zellstammbäume<br />

nachgewiesen. Dies sollte in Zukunft unbedingt<br />

nachgeholt werden, um eindeutig<br />

zu klären, ob die serotonergen Neurone zu<br />

homologisieren sind.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


24 Torben Stemme, Gerd Bicker, Steffen Harzsch, Stefan Koenemann<br />

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Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

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<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


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Glossar<br />

anchialine Habitate Bestehen aus salzhaltigen<br />

(halinen) Wasserkörpern, welche normalerweise<br />

eine eingeschränkte Exposition<br />

zur Oberfläche und stets vorhandene, mehr<br />

oder weniger stark ausgeprägte Verbindungen<br />

zum Meer besitzen, wobei sie merklich<br />

marinen, aber auch terrestrischen Einflüssen<br />

unterliegen.<br />

Antigen Substanz, die vom Immunsystem<br />

als fremd erkannt wird und meist eine Immunreaktion<br />

auslöst. Die Bezeichnung Antigen<br />

leitet sich von der Eigenschaft ab, die<br />

Bildung von Antikörpern auszulösen, die<br />

gegen genau diese Antigene gerichtet sind.<br />

Antikörper Antikörper (Immunglobuline)<br />

sind Proteine, die in Wirbeltieren als Reaktion<br />

auf bestimmte Stoffe, so genannte Antigene,<br />

gebildet werden. Antikörper stehen<br />

im Dienste des Immunsystems.<br />

Apomorphie Abgeleitetes Merkmal; evolutive<br />

Neuheit (ein in der Evolution „neu<br />

entwickeltes“ Merkmal).<br />

Arthropoda Gliederfüßer, bestehend aus<br />

Chelicerata (Kieferklauenträger), Myriapoda<br />

(Tausendfüßler), Crustacea (Krebstiere),<br />

Hexapoda (Sechsfüßer).<br />

Entomostraca Niedere Krebse, z. B. Ruderfußkrebse,<br />

Muschelkrebse.<br />

Epitop Der antikörperbindende Bereich<br />

eines Antigens.<br />

Fluorochrome Moleküle, die Licht bestimmter<br />

Wellenlänge absorbieren und anschließend<br />

Licht größerer Wellenlänge und<br />

damit geringerer Energie emittieren.<br />

Hexapoda Sechsfüßer, bestehend aus Insekten,<br />

Doppelschwänzen, Beintastlern und<br />

Springschwänzen.<br />

Immundetektion Der Nachweis von Antigenen<br />

über antigenspezifische Antikörper.<br />

Immunfluoreszenztechnik Zusammenfassende<br />

Bezeichnung für Techniken, bei<br />

denen Fluorochrommarkierte Antikörper<br />

zur Detektion von Molekülen oder Strukturen,<br />

die Zellen oder sonstige Zielobjekte<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

27<br />

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Society Washington 99: 65 – 70.<br />

charakterisieren, verwendet werden. Grob<br />

unterschieden werden direkte (Primärantikörper<br />

ist bereits markiert) und indirekte<br />

(Markierung an Sekundär- oder Tertiärreagenzien)<br />

Techniken.<br />

Invertebrata Wirbellose, z. B. Schwämme,<br />

Würmer, Weichtiere.<br />

ipsilateral Auf derselben Körperseite oder<br />

-hälfte gelegen.<br />

Klade Zweig(e) in einem Stammbaum.<br />

kontralateral Auf der entgegengesetzten<br />

Körperseite oder -hälfte gelegen.<br />

Malacostraca Höhere Krebse, z. B. Garnelen,<br />

Krabben, Hummer.<br />

Phylogenie Die Evolutionsgeschichte einer<br />

Art oder einer Artengruppe, besonders<br />

im Hinblick auf Abstammungslinien und<br />

die Beziehungen zwischen Großgruppen<br />

von Organismen. Die Neurophylogenie<br />

steht für eine Verknüpfung von neurobiologischen<br />

Fragestellungen mit evolutiven<br />

Aspekten.<br />

Serotonin Ein biogenes Amin, das als<br />

Gewebshormon und Neurotransmitter<br />

in zahlreichen Lebewesen nachgewiesen<br />

werden konnte und u. a. im Nervensystem,<br />

Herz-Kreislauf-System und im Blut<br />

vorkommt.<br />

Synapsine Spezielle Proteine des präsynaptischen<br />

Bereichs von Nervenzellen, welche<br />

die Neurotransmittervesikel an Komponenten<br />

des Zytoskeletts (Zellskelett) verankern<br />

können.<br />

Vibratom Gerät zur Anfertigung von Gewebeschnitten.<br />

Hierbei wird eine Rasierklinge<br />

in wässrigem Medium (PBS) durch<br />

das Präparat geführt. Dabei vibriert die<br />

Klinge, wodurch sich eine saubere Schnittfläche<br />

ergibt, außerdem werden Scherkräfte<br />

durch geringe Stauchung des Präparates<br />

minimiert.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


28<br />

Danksagungen<br />

Ein herzlicher Dank gilt Prof. Thomas<br />

M. Iliffe (Texas A&M University, Galveston,<br />

USA) und seinem Team für die Beschaffung<br />

der Remipedia, sowie allen Mitgliedern<br />

der beteiligten Arbeitsgruppen,<br />

speziell Jakob Krieger, Dipl.-Biol. Verena<br />

Rieger und Dr. Sabine Knipp. Der Arbeitsgruppe<br />

um Prof. Stefan Richter (Universität<br />

Rostock) gebührt Dank für anregende<br />

Gespräche und Diskussionen.<br />

Arbeit eingereicht: 06.04.2010<br />

Arbeit angenommen: 30.06.2010<br />

Anschriften der Verfasser:<br />

Torben Stemme,<br />

Prof. Dr. Stefan Koenemann<br />

Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />

Hannover, Institut für Tierökologie und<br />

Zellbiologie<br />

Bünteweg 17d<br />

30559 Hannover<br />

Prof. Dr. Gerd Bicker<br />

Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />

Hannover, Institut für Physiologie,<br />

Abteilung Zellbiologie<br />

Bischofsholer Damm 15<br />

30173 Hannover<br />

Prof. Dr. Steffen Harzsch<br />

Ernst-Moritz-Arndt-Universität<br />

Greifswald, Zoologisches Institut, Abteilung<br />

Cytologie und Evolutionsbiologie<br />

Johann-Sebastian-Bach-Straße 11/12<br />

17487 Greifswald<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


29<br />

Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von<br />

Hannover<br />

Beobachtungen zur Parasitierung und Mortalität der<br />

Ilex-Mi nierfliege Phytomyza ilicis Curtis 1846 (Diptera,<br />

Agromyzidae)<br />

Marco Thomas Neiber<br />

Zusammenfassung<br />

Die Mortalitätsprofile der Larval- und<br />

Pupalstadien der Ilex-Minierfliege Phytomyza<br />

ilicis wurden an zwei Standorten<br />

im Stadtgebiet von Hannover (Tiergarten<br />

und Westfalenhof ) erstellt und miteinander<br />

verglichen. Insgesamt konnten drei parasitierende<br />

Hymenopteren nachgewiesen<br />

werden: Chrysocharis gemma, Sphegigaster<br />

pallicornis und Opius ilicis. Die Larvalmortalitäten<br />

an den beiden Standorten unterscheiden<br />

sich insbesondere bezüglich<br />

des Parasitierungsgrades voneinander. Für<br />

C. gemma konnte erstmals belegt werden,<br />

dass diese Art auch aus dem Puparium von<br />

P. ilicis schlüpfen kann.<br />

Summary<br />

Mortality profiles of the larval and pupal<br />

stages of the holly leaf-miner Phytomyza<br />

ilicis at two localities in the urban area<br />

of Hannover (Tiergarten and Westfalenhof<br />

) were compiled and compared with<br />

one another. A total of three parasitizing<br />

species of hymenoptera Chrysocharis gemma,<br />

Sphegigaster pallicornis and Opius ilicis<br />

could be detected. The causes of larval<br />

mortality differ particularly with regard to<br />

the level of parasitism. For the first time,<br />

eclosion of C. gemma out of a puparium of<br />

P. ilicis was documented.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


30 Marco Thomas Neiber<br />

Einleitung<br />

Die Ilex-Minierfliege Phytomyza ilicis<br />

Curtis 1846 (Diptera, Agromyzidae), deren<br />

Larven sich monophag vom Mesophyll<br />

der Blätter der Europäischen Stechpalme<br />

Ilex aquifolium L. (Aquifoliaceae)<br />

ernähren, ist Cameron (1939) zufolge der<br />

einzige Blattminenbildner an I. aquifolium<br />

in Europa. Das natürliche Verbreitungsgebiet<br />

der Europäischen Stechpalme I.<br />

aquifolium erstreckt sich im Norden von<br />

Skandinavien über Mittel- und Westeuropa<br />

einschließlich der Britischen Inseln<br />

bis auf die Iberische Halbinsel, nach Italien,<br />

Albanien und Griechenland. Ferner<br />

kommt sie auf Korsika, Sardinien und Sizilien<br />

sowie zerstreut in den nordwestafrikanischen<br />

Gebirgsregionen vor und wird in<br />

Teilen der USA und in Kanada kultiviert<br />

(Cameron 1939, Hultén & Fries 1986).<br />

P. ilicis kommt sowohl in natürlichen Beständen<br />

von I. aquifolium als auch in Pflanzungen<br />

in Parkanlagen und Gärten vor<br />

und folgt in ihrer Verbreitung dem Vorkommen<br />

ihrer Wirtspflanze, wobei nach<br />

Brewer & Gaston (2002) Nachweise aus<br />

den südlichen Teilen des Verbreitungsgebiets<br />

von I. aquifolium (mit Ausnahme von<br />

Zentralitalien) nur spärlich vorliegen.<br />

P. ilicis wurde als Untersuchungsobjekt<br />

in zahlreichen ökologischen Studien verwendet:<br />

Die Struktur des geographischen<br />

Verbreitungsgebiets wurde in einer Reihe<br />

von Arbeiten von Brewer & Gaston (2002,<br />

2003), Klok et al. (2003) und Gaston et al.<br />

(2004) untersucht, Arbeiten zu den natürlichen<br />

Feinden wurden von Heads &<br />

Lawton (1983a, b) durchgeführt und der<br />

Parasitoidkomplex wurde eingehend von<br />

Cameron (1939, 1941) und Busse (1953)<br />

beschrieben. Nach Cameron (1939), Lewis<br />

& Taylor (1967) und Glackin et al. (2006)<br />

lässt sich der Lebenszyklus und der Komplex<br />

natürlicher Feinde von P. ilicis in einfacher<br />

Weise untersuchen. Insbesondere<br />

lassen sich Spuren von Vogelfraß und Parasitierung<br />

der Larven und Puparien durch<br />

Untersuchung der Blattminen und Puparien<br />

eindeutig zuordnen. Ziel der vorliegenden<br />

Arbeit ist es zum einen, Mortalitätsprofile<br />

der Larvenstadien von P. ilicis<br />

an zwei Standorten im Stadtgebiet von<br />

Hannover zu erstellen und miteinander zu<br />

vergleichen und zum anderen, die Zusammensetzung<br />

des Parasitoidkomplexes zu<br />

bestimmen und mit den Angaben in der<br />

Literatur zur Verbreitung, Abundanz und<br />

zur Biologie der vorkommenden Arten zu<br />

vergleichen.<br />

Material und Methoden<br />

Systematik und Biologie von P. ilicis<br />

Die Ilex-Minierfliege wurde von J. Curtis<br />

in der Ausgabe des Gardner’s Chronicle<br />

vom 4. Juli 1846, S. 444 als Phytomyza ilicis<br />

wissenschaftlich beschrieben, aber bereits<br />

in R.-A. F. de Réaumurs drittem Band der<br />

Mémoires pour servir à l’Histoire des Insectes<br />

von 1737, S. 2 erwähnt. Die Nomenklatur<br />

von P. ilicis ist weitgehend stabil. Zeitweise<br />

wurde sie in der Gattung Chromatomyia<br />

Hardy, 1849 geführt, und als Synonym<br />

wird lediglich P. aquifolii angegeben, die<br />

von C. C. Goureau in den Annales de la Société<br />

Entomologique de France von 1851 beschrieben<br />

wurde (Hering 1927, Cameron<br />

1939).<br />

Die Biologie und die Morphologie der<br />

Eier, Larvenstadien, Puparien und Imagines<br />

von P. ilicis sowie die Struktur und<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

31<br />

Abb. 1 Entwicklungsstadien von Phytomyza ilicis<br />

im Jahresverlauf: Larvalstadien (rot), Puparien<br />

(blau), Imagines (grün) und Eier (hellblau), verändert<br />

nach Heads & Lawton (1983a). Die römischen<br />

Ziffern I – XII bezeichnen die Monate Januar bis<br />

Dezember.<br />

Entstehung der von den Larven verursachten<br />

Blattminen wurde eingehend von Miall<br />

& Taylor (1907), Cameron (1939), Lewis<br />

& Taylor (1967), Ellis (2000) und Dempewolf<br />

(2001) bearbeitet und beschrieben<br />

und soll hier nur kurz zusammengefasst<br />

werden. In Abb. 1 ist das Auftreten<br />

der einzelnen Lebensstadien im Jahresverlauf<br />

dargestellt. Die Imagines von P. ilicis<br />

(Abb. 2 A) treten etwa von Ende Mai bis<br />

Ende Juni auf. Die Eier werden einzeln<br />

von der weiblichen Imago mit dem Ovipositor<br />

in das primäre Xylem an der Basis<br />

der Mittelrippe oder den hinteren Teil<br />

des Stiels an der Unterseite der frisch ausgetriebenen<br />

Blätter von I. aquifolium abgelegt.<br />

Der Zeitraum der Eiablage ist auf den<br />

Monat Juni beschränkt. Der Ort der Eiablage<br />

bleibt am Blatt als gut sichtbare Narbe<br />

erkennbar (Abb. 2 B). Wenige Tage nach<br />

der Eiablage schlüpft die Larve von P. ilicis<br />

und frisst sich im Inneren der Mittelrippe<br />

in Richtung der Blattspitze. Nach der<br />

ersten Häutung verlässt die Larve die Mittelrippe<br />

etwa im Dezember und beginnt<br />

die mittlere (manchmal auch die obere)<br />

Schicht des dreischichtigen Palisadenparenchyms<br />

zu fressen. Nach der zweiten<br />

Häutung der Larve, die im Zeitraum von<br />

Januar bis März stattfindet, erhöht sich ihre<br />

Nahrungsaufnahme deutlich und eine charakteristische,<br />

gelblich gefärbte Platzmine<br />

wird auf der Blattoberseite sichtbar (Abb.<br />

2 C, E). Der rötliche, meist im Zentrum<br />

der Mine gelegene Fleck kennzeichnet den<br />

Ort, an dem sich die Faeces der Larve akkumulieren.<br />

Gelegentlich ist auch eine Minenbildung<br />

auf der Blattunterseite zu beobachten.<br />

Dabei frisst die Larve ein sehr<br />

kleines Loch in die unterste Schicht des<br />

Palisadenparenchyms und wechselt in das<br />

darunter liegende Schwammparenchym.<br />

Die Mine auf der Blattunterseite ist farblich<br />

nicht von ihrer Umgebung abgesetzt,<br />

aber trotzdem durch eine Aufwölbung der<br />

unteren Epidermis gut zu erkennen (Abb.<br />

2 D, F). Bevor sich die Larve etwa Ende<br />

März bis Anfang April verpuppt, frisst sie<br />

das unter der Epidermis gelegene Gewebe<br />

in der Art weg, dass von außen eine kleine,<br />

ovale, fensterartige Struktur sichtbar wird,<br />

wendet sich mit der Ventralseite der Außenseite<br />

des Blattes zu und durchbricht die<br />

Epidermis und Cuticula während der Verpuppung<br />

mit ihren beiden vorderen Spiracularhörnern.<br />

Beim Schlüpfen der Imago<br />

aus dem Puparium etwa Mitte bis Ende<br />

Mai entsteht eine charakteristische halbkreisförmige<br />

Öffnung, die in ihrer Ausdehnung<br />

der von der Larve angelegten fensterartigen<br />

Struktur entspricht und mit einem<br />

Deckel versehen ist, der teils aus der Hülle<br />

des Pupariums und teils aus der Epidermis<br />

des Blattes besteht (Abb. 3 A).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


32 Marco Thomas Neiber<br />

Abb. 2 A: Imago der Ilex-Minierfliege Phytomyza<br />

ilicis auf einem Blatt der Europäischen Stechpalme<br />

Ilex aquifolium, der Wirtspflanze der Larven;<br />

B: Ovipositionsnarbe an der Mittelrippe eines<br />

Blattes von I. aquifolium; C – F: von Larven von<br />

P. ilicis verursachte Blattminen; C und E: auf der<br />

Oberseite; D und F: auf der Unterseite eines<br />

Blattes von I. aquifolium.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

33<br />

Abb. 3 A: Ausflugöffnung von Phytomyza ilicis in<br />

der Epidermis von Ilex aquifolium; B: eine durch<br />

Gewebe von I. aquifolium in einem frühen Stadium<br />

verfüllte Mine von P. ilicis; C: Puppe von Chrysocharis<br />

gemma und abgestorbene Larve von P. ilicis<br />

in einer aufpräparierten Blattmine;<br />

D: von Sphegigaster pallicornis parasitiertes Puparium<br />

von P. ilicis; E: Junge Puppe von S. pallicornis<br />

aus einem Puparium von P. ilicis; F: Fraßspur<br />

einer Blaumeise an einer Blattmine von P. ilicis;<br />

G: Ausflugöffnung von S. pallicornis.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


34 Marco Thomas Neiber<br />

Untersuchungsgebiet und<br />

Probennahme<br />

Es wurden zwei unterschiedliche Standorte<br />

von I. aquifolium im Stadtgebiet von<br />

Hannover für die Untersuchung ausgewählt,<br />

die im Mai 2009 mit P. ilicis infiziert<br />

waren und etwa 2 km von einander entfernt<br />

sind. Der erste Standort (Standort I)<br />

befindet sich im Tiergarten Hannover, einem<br />

ca. 113 ha großen Areal im Stadtteil<br />

Kirchrode. Die einzigen Exemplare von I.<br />

aquifolium im Tiergarten Hannover stehen<br />

innerhalb der Umzäunung der als Naturdenkmal<br />

ausgewiesenen Tiergarteneiche<br />

in der Nähe des Haupteingangs. Der<br />

zweite Standort, der botanische Garten auf<br />

dem zur Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />

gehörenden Gelände des Westfalenhofs<br />

(Standort II) liegt ebenfalls im hannoverschen<br />

Stadtteil Kirchrode. Auf dem Gelände<br />

des Westfalenhofs stehen zahlreiche<br />

Exemplare von I. aquifolium. Für die Probennahme<br />

wurden Sträucher an drei Stellen<br />

(Standorte IIa, IIb, IIc) auf dem Gelände<br />

ausgewählt, die mit P. ilicis infiziert<br />

waren. Die Probennahme erfolgte im Zeitraum<br />

vom 6. bis 8. Mai 2009. Hierbei wurden<br />

am Standort I von insgesamt 3 Exemplaren<br />

einer stachelblättrigen Varietät von<br />

I. aquifolium 65 minierte Blätter gesammelt<br />

(von Bodennähe bis in etwa 2,5 m Höhe),<br />

die im Vorjahr von den Pflanzen gebildet<br />

worden waren. Da die Blätter von I. aquifolium<br />

über mehrere Jahre an der Pflanze<br />

bleiben, kann man die Blätter aus dem<br />

Vorjahr nur an den Markierungen an den<br />

Zweigen erkennen, die durch den jährlichen<br />

Sprosszuwachs entstehen, d. h. sie<br />

entsprechen jenen Blättern, die sich zwischen<br />

der letzten derartigen Markierung<br />

und den auch farblich unterschiedlichen<br />

im Frühjahr 2009 neu gebildeten Blättern<br />

befinden. In gleicher Weise wurden<br />

die Blätter von den anderen Standorten<br />

gesammelt und zur weiteren Untersuchung<br />

ins Labor gebracht: am Standort IIa von 3<br />

Exemplaren von I. aquifolium (stachelblättrige<br />

Varietät) insgesamt 46 minierte Blätter,<br />

am Standort IIb von einem Exemplar<br />

von I. aquifolium (unbestachelte Varietät)<br />

102 minierte Blätter und am Standort IIc<br />

von zwei Exemplaren von I. aquifolium (einem<br />

stachelblättrigen und einem unbestachelten)<br />

insgesamt 91 minierte Blätter.<br />

Untersuchung der Blattminen und<br />

Datenerhebung<br />

Während der Zeit, die eine Population<br />

von P. ilicis als Larve oder Puppe innerhalb<br />

der Blätter von I. aquifolium verbringt, ist<br />

sie einer Reihe von potenziellen Mortalitätsfaktoren<br />

ausgesetzt, die weitestgehend<br />

sequenzieller Natur sind und von Cameron<br />

(1939, 1941), Lewis & Taylor (1967)<br />

und Heads & Lawton (1983a) gut dokumentiert<br />

wurden. Sie lassen sich in sechs<br />

Klassen (M 0<br />

– M 5<br />

) einteilen: Die Klasse<br />

M 0<br />

bzw. die Klasse M 1<br />

fasst alle unspezifischen<br />

Todesursachen der Eier und des ersten<br />

Larvenstadiums bzw. des zweiten und<br />

dritten Larvenstadiums von P. ilicis zusammen,<br />

die Klasse M 2<br />

entspricht den Fällen<br />

von Parasitierung der Larven durch die<br />

Erzwespe Chrysocharis gemma (Hymenoptera,<br />

Eulophidae; Walker 1839), die Klasse<br />

M 3<br />

enthält die Fälle, die sich auf den<br />

Beutefang von Vögeln zurückführen lassen,<br />

die Klasse M 4<br />

die Fälle von Parasitierung<br />

der Puppen von P. ilicis durch mindestens<br />

acht verschiedene Hymenopteren aus den<br />

Familien Eulophidae, Pteromalidae, Braconidae<br />

und Tetracampidae, und die Klasse<br />

M 3<br />

fasst alle unspezifischen Todesursachen<br />

der Puppen von P. ilicis zusammen.<br />

Die Gründe für die Mortalität der Larven<br />

bzw. Puppen lassen sich alle mit Ausnahme<br />

der Klasse M 0<br />

durch Dissektion der<br />

Blattminen am Ende des Lebenszyklus<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

35<br />

von P. ilicis ermitteln. Zudem kann die Anzahl<br />

der in ein Blatt abgelegten Eier anhand<br />

der Anzahl der Ovipositionsnarben<br />

an der Mittelrippe auf der Unterseite des<br />

Blattes (Abb. 2 B) bestimmt werden. Auch<br />

die Anzahl der erfolgreich geschlüpften<br />

Imagines lässt sich anhand der charakteristischen<br />

halbkreisförmigen und bedeckelten<br />

Öffnung (Abb. 3 A) bestimmen, die die<br />

Imago beim Verlassen des Blattes hinterlässt.<br />

Für die Auswertung wurden für jeden<br />

der Standorte folgende Daten erhoben:<br />

1. Gesamtzahl der Ovipositionsnarben<br />

(OV),<br />

2. Gesamtzahlen der Todesfälle<br />

für jede der Klassen M 0<br />

bis M 5<br />

und<br />

3. Gesamtzahl der erfolgreich<br />

geschlüpften Imagines (E) und<br />

Anzahl der erfolgreich geschlüpften<br />

Imagines aus nur an der Blattoberseite<br />

(Eo) bzw. beidseitig (Eb)<br />

ausgebildeten Minen.<br />

Die Klassen M 0<br />

und M 1<br />

:<br />

Unspezifische Larvensterblichkeit<br />

Die Gründe für unspezifische Todesursachen<br />

der Eier und Larvenstadien von<br />

P. ilicis sind vielfältig. Fälle, die zur Klasse<br />

M 0<br />

zu rechnen sind, lassen sich am Blatt<br />

nur schwer feststellen, da P. ilicis die Zeit<br />

als Ei und das erste Larvenstadium im Inneren<br />

der Mittelrippe verbringt. Eine einfache<br />

Möglichkeit die Anzahl der zu dieser<br />

Klasse gehörenden Todesfälle dennoch zu<br />

bestimmen, besteht darin, von der Gesamtzahl<br />

der abgelegten Eier die Summe der<br />

Anzahl der erfolgreich geschlüpften Imagines<br />

und aller bestimmbaren Todesfälle<br />

abzuziehen. Todesursachen in dieser Klasse<br />

sind nach Heads & Lawton (1983a), Brewer<br />

& Gaston (2003) und Eber (2004) vor<br />

allem auf intraspezifische Konkurrenz, Infektionen<br />

der Larven durch Mikroorganismen<br />

wie Pilze, Bakterien oder Viren und<br />

Abwehrreaktionen der Wirtspflanze (Abb.<br />

3 B) zurückzuführen. Todesursachen der<br />

Klasse M 1<br />

erkennt man daran, dass die Minen<br />

in der Regel klein und äußerlich unbeschädigt<br />

sind. Öffnet man sie vorsichtig<br />

mit einer spitzen Pinzette, ist eine derartige<br />

Mine entweder leer oder enthält nach<br />

Glackin et al. (2006) nur Überreste der abgestorbenen<br />

Larve. Die Mine kann auch<br />

von sekundär gebildetem, hartem Pflanzengewebe<br />

ausgefüllt sein. Neben den<br />

oben genannten Gründen für die Todesursachen<br />

der Larven im ersten Stadium<br />

kommen nach Brewer & Gaston (2003) in<br />

der Klasse M 1<br />

als weiterer Grund ungünstige<br />

klimatische Verhältnisse während der<br />

Überwinterung in Frage.<br />

Die Klassen M 2<br />

und M 4<br />

: Parasitoide<br />

Nach Cameron (1939, 1941) und Eber<br />

et al. (2001) besteht der Parasitoidkomplex<br />

von P. ilicis aus insgesamt 10 Arten in Europa:<br />

Chalcidoidea:<br />

Eulophidae:<br />

1. Chrysocharis gemma (Walker 1839)<br />

2. Chrysocharis pubicornis (Zetterstedt<br />

1838) = Chrysocharis syma (Walker<br />

1839)<br />

3. Pentiobius metallicus (Nees 1834)<br />

= Pleurotropis amyntas (Walker 1839)<br />

4. Closterocerus trifasciatus (Westwood<br />

1833)<br />

Tetracampidae:<br />

5. Epiclerus aff. nomocerus (Masi 1934)<br />

= Tetracampe aff. nemocera (Masi<br />

1934)<br />

Pteromalidae:<br />

6. Sphegigaster pallicornis (Spinola<br />

1808) = Sphegigaster flavicornis<br />

(Walker 1833)<br />

7. Cyrtogaster vulgaris (Walker 1833)<br />

8. Mesopolobus aff. amaenus (Walker<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


36 Marco Thomas Neiber<br />

1834) = Eutelus aff. dilectus (Walker<br />

1834)<br />

Ichneumonoidea:<br />

Braconidae:<br />

9. Opius ilicis (Nixon 1939)<br />

10. Dacnusa maculata (Goureau 1851)<br />

Die Nomenklatur wurde Rosen (1958),<br />

Fischer (1962, 1997), Askew (1965),<br />

Bouçek & Askew (1968) und Hansson<br />

(1985, 1994) folgend aktualisiert und die<br />

Namen in Cameron (1939), falls abweichend,<br />

hinzugefügt. Nach Cameron (1939)<br />

schließen alle aufgelisteten Arten ihren<br />

Entwicklungszyklus innerhalb des Pupariums<br />

von P. ilicis ab, mit Ausnahme von C.<br />

gemma, die ihre Entwicklung in der Larve<br />

von P. ilicis vollendet. Außer P. metallicus,<br />

die hyperparasitische Tendenzen zeigt,<br />

sind alle Arten primäre Parasiten von P.<br />

ilicis, die sich in zwei Hauptgruppen einteilen<br />

lassen. Die erste Gruppe umfasst z.<br />

B. die Eulophiden C. gemma, C. pubicornis,<br />

P. metallicus, die alle endoparasitisch leben,<br />

wohingegen die Vertreter der zweiten<br />

Gruppe, die Pteromaliden S. pallicornis und<br />

C. vulgaris sich ektoparasitisch von der<br />

Puppe von P. ilicis ernähren. Opius ilicis<br />

nimmt insofern eine Sonderstellung ein,<br />

indem sich die Art als Endoparasit in der<br />

Larve von P. ilicis bis zu einer bestimmten<br />

Größe entwickelt, dann eine Diapause<br />

durchläuft, um erst in der Fliegenpuppe<br />

ihre Larvenentwicklung abzuschließen,<br />

siehe Cameron (1941).<br />

Nach Glackin et al. (2006) lassen sich<br />

Fälle von Parasitierung eindeutig durch<br />

Dissektion der Blattminen zuordnen.<br />

Weist die Mine äußerlich eine runde Öffnung<br />

auf (Abb. 3 G), die nicht der charakteristischen<br />

Ausflugöffnung von P.<br />

ilicis entspricht, kann von einer Parasitierung<br />

ausgegangen werden. Öffnet man die<br />

Mine, enthält sie in diesem Fall entweder<br />

die eingetrockneten Überreste der Fliegenlarve<br />

und/oder frei in der Mine liegende<br />

glänzend schwarze Stücke einer Hymenopteren-Puppe<br />

(Klasse M 2<br />

) oder ein Puparium<br />

von P. ilicis, in dem sich die Bruchstücke<br />

einer Hymenopteren-Puppe befinden<br />

(Klasse M 4<br />

). Gibt es keine wie oben beschriebene<br />

Öffnung an der Mine, findet<br />

sich entweder eine Hymenopteren-Larve<br />

oder -Puppe (Abb. 3 C) sowie die Überreste<br />

der Larve von P. ilicis in ihrem Inneren<br />

(Klasse M 2<br />

) oder Hymenopteren-Larven<br />

oder -Puppen innerhalb des Pupariums<br />

(Abb. 3 D, E) von P. ilicis (Klasse M 4<br />

).<br />

Falls Hymenopteren-Larven oder -Puppen<br />

frei in der Mine bzw. in den Puparien<br />

von P. ilicis lagen, wurden die Hymenopteren-Larven<br />

oder -Puppen bzw. die diese<br />

enthaltenden Puparien zur Aufzucht in<br />

Schnappdeckelgläschen überführt und für<br />

die spätere Zuordnung nummeriert. In Fällen,<br />

bei denen es zum Schlupf der Imagines<br />

der parasitierenden Hymenopteren kam,<br />

wurde mittels der Schlüssel in Cameron<br />

(1939), Askew (1965) und Hansson (1985)<br />

die jeweilige Art und das Geschlecht bestimmt<br />

sowie der Schlupftag festgehalten.<br />

Falls die Puppe oder die Larve abgestorben<br />

war, wurde mittels der Schlüssel in Cameron<br />

(1939) zumindest versucht, eine Artzuordnung<br />

vorzunehmen.<br />

Die Klasse M 3<br />

: Fraßdruck durch Vögel<br />

Es ist bekannt, dass vor allem die Blaumeise<br />

Cyanistes caeruleus (Linnaeus 1758)<br />

(= Parus caeruleus Linnaeus 1758) die Larven<br />

von P. ilicis frisst (Owen 1975, Heads<br />

& Lawton 1983b). Nach Glackin et al.<br />

(2006) hinterlässt die Blaumeise charakteristische<br />

Fraßspuren an den Blattminen<br />

von I. aquifolium in Form eines V-förmigen<br />

Spalts (Abb. 3 F), so dass alle Minen die<br />

diesen Spalt aufweisen, der Klasse M 3<br />

zugeordnet<br />

werden können.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

37<br />

Die Klasse M 5<br />

: Unspezifische Puppensterblichkeit<br />

Fälle, die dieser Klasse zuzuordnen sind,<br />

lassen sich nur erkennen, wenn man die<br />

Mine mit einer spitzen Pinzette öffnet.<br />

Das Puparium enthält nach Glackin et al.<br />

(2006) keinerlei Anzeichen einer Parasitierung<br />

(Hymenopteren-Larve oder Überreste<br />

einer Hymenopteren-Puppe). Die<br />

Oberfläche ist oft stumpf und unregelmäßig<br />

braun gefärbt und/oder eingedrückt<br />

oder enthält Überreste einer abgestorbenen<br />

Fliege oder Fliegen-Puppe.<br />

Datenanalyse<br />

Demographische Daten<br />

Nach Brewer & Gaston (2003) sind die<br />

einzelnen Gründe für die Larven- und<br />

Puppensterblichkeit sequenzieller Natur.<br />

Daher ergibt sich die Gesamtzahl der Individuen,<br />

die einer bestimmten Todesursache<br />

M i<br />

(i = 0, …, 5) erliegen, aus der Formel<br />

wobei OV die Anzahl abgelegter Eier, E<br />

die Anzahl erfolgreich geschlüpfter Imagines<br />

und M j<br />

(j = 0, …, i–1) jeweils die Anzahl<br />

der Individuen bezeichnet, die einer<br />

vorangegangenen Todesursache erlegen<br />

sind.<br />

Neben der tatsächlichen Mortalitätsrate<br />

für eine bestimmte Todesursache (MT i<br />

, i =<br />

0, …, 5) an einem Standort<br />

wurde auch die apparente Mortalitätsrate<br />

(MS i<br />

, i = 0,…,5)<br />

berechnet (Bellows et al. 1992). Die<br />

Schlupfrate (SR) ergibt sich als Quotient<br />

aus der Anzahl erfolgreich geschlüpfter<br />

Imagines (E) von P. ilicis und der Gesamtzahl<br />

abgelegter Eier (OV). Ferner wurde<br />

der Anteil erfolgreich geschlüpfter Imagines<br />

aus oberseitig (Eo) bzw. beidseitig (Eb)<br />

angelegten Minen bestimmt.<br />

Analyse der Zusammensetzung des<br />

Parasitoidkomplexes<br />

Für jeden der Standorte wurde die prozentuale<br />

Zusammensetzung des Parasitoidkomplexes<br />

ermittelt. Zudem wurde festgehalten,<br />

ob die unter Laborbedingungen<br />

aufgezogenen Imagines aus einem Puparium<br />

oder aus einer frei in der Mine von<br />

P. ilicis liegenden Hymenopteren-Puppe<br />

geschlüpft waren. Die prozentualen Anteile<br />

der Geschlechter der einzelnen Arten<br />

für alle Standorte zusammen wurden<br />

bestimmt. Um zu überprüfen, ob es Unterschiede<br />

im Schlupfzeitpunkt bei den<br />

einzelnen Geschlechtern einer Art gab,<br />

wurde der Median über die Schlupftage<br />

für Männchen und Weibchen einer Art für<br />

alle Standorte zusammengenommen berechnet.<br />

Ergebnisse<br />

Mortalitätsprofile<br />

Die Ergebnisse der Untersuchung der<br />

Mortalitätsprofile sind in Tab. 1 und Abb.<br />

4 zusammenfassend dargestellt. Fälle von<br />

unbestimmter Sterblichkeit der Eier und<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


38 Marco Thomas Neiber<br />

Abb. 4 Grafische Darstellung der Mortalitätsprofile<br />

(Mortalitätsklassen M 0<br />

bis M 5<br />

und Anteil erfolgreich<br />

geschlüpfter Imagines E) der Larval- und<br />

Pupalstadien von Phytomyza ilicis am Standort I:<br />

Tiergarten (links) und am Standort II: Westfalenhof<br />

(rechts). M 0<br />

: unspezifische Todesursachen der<br />

Eier und des ersten Larvenstadiums (z. B. durch<br />

bakterielle Infektionen), M 1<br />

: unspezifische Todesursachen<br />

des zweiten und dritten Larvenstadiums,<br />

M 2<br />

: Parasitierung der Larven durch die Erzwespe<br />

Chrysocharis gemma, M 3<br />

: Beutefang durch Vögel,<br />

M 4<br />

: Parasitierung der Puppen, M 5<br />

: unspezifische<br />

Todesursachen der Puppen.<br />

des ersten Larvenstadiums (Klasse M 0<br />

)<br />

waren am Standort I mit 5 % am geringsten.<br />

Am Standort II lag der Wert für die<br />

hierher gehörenden Todesursachen mit<br />

durchschnittlich 26 % (12 % bis 36 % an<br />

den Unterstandorten) deutlich höher. Der<br />

Anteil der Todesursachen, die der Klasse<br />

M 1<br />

zugeordnet wurden, lag zwischen<br />

< 0,5 % (Standort IIb) und 14 % (Standort<br />

IIa). Am Standort I lag dieser Wert bei<br />

5 % und am Standort II durchschnittlich<br />

bei 7 %. Parasitierung der Larven (Klasse<br />

M 2<br />

) konnte am Standort I nicht festgestellt<br />

werden, wohingegen dieser Wert<br />

am Standort II durchschnittlich 17 % (8 %<br />

bis 19 % an den Unterstandorten) betrug.<br />

Mit 58 % war der Fraßdruck durch Vögel<br />

(Klasse M 3<br />

) am Standort I die Haupttodesursachen<br />

der Larvenstadien von P. ilicis.<br />

Am Standort II mit durchschnittlich<br />

26 % (10 % bis 24 %) hingegen insgesamt<br />

nur an zweiter Stelle. Auch die Parasitierung<br />

der Puparien (Klasse M 4<br />

) von P. ilicis<br />

spielte mit 1 % am Standort I nur eine untergeordnete<br />

Rolle (es wurde nur ein Fall<br />

von Puppenparasitierung festgestellt).<br />

Am Standort II war die Parasitierung<br />

der Puparien mit durchschnittlich 12 %<br />

(7 % bis 14 % an den Unterstandorten) an<br />

insgesamt dritter Stelle der Todesursachen.<br />

Unbestimmte Sterblichkeit der Puparien<br />

war mit 2 % bis 5 % an allen Standorten<br />

etwa auf gleichem Niveau. Die Schlupfrate<br />

(SR) lag am Standort I bei 24 % und<br />

am Standort II durchschnittlich bei 27 %.<br />

Brewer & Gaston (2003) geben für Norddeutschland<br />

einen Wert für die Erfolgsrate<br />

von etwa 45 % bis 50 % an. Dieser Wert<br />

wurde an keinem der Standorte erreicht,<br />

nur der Wert von 40 % am Unterstandort<br />

IIc erreichte fast diesen Bereich.<br />

Die apparenten Mortalitätsraten wurden<br />

für jede Klasse berechnet und mit den Angaben<br />

in Brewer & Gaston (2003) verglichen.<br />

Für die Klassen M 0<br />

und M 1<br />

zusammen<br />

lag der Wert am Standort I bei 0,12<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

39<br />

Tab. 1 Tatsächliche (MT) und apparente Mortalitätsraten (MS) für die Todesursachen in den Klassen M 0<br />

bis M 5<br />

sowie die Schlupfrate (SR) und Anteile erfolgreich geschlüpfter Imagines aus oberseitig bzw. beidseitig<br />

angelegter Minen für die Standorte I und II insgesamt sowie für die Unterstandorte IIa–c (n: Anzahl<br />

der untersuchten minierten Blätter an jedem Standort, N: Anzahl der in die jeweilige Klasse eingeordneten<br />

Fälle, OV: Oviposition, E: erfolgreich geschlüpfte Imagines von P. ilicis sowie Eo bzw. Eb: erfolgreich<br />

geschlüpfte Imagines von P. ilicis aus nur oberseitig bzw. beidseitig ausgebildeten Blattminen).<br />

Standort<br />

n<br />

OV<br />

M0<br />

M1<br />

M2<br />

M3<br />

M4<br />

M5<br />

E<br />

Eo<br />

Eb<br />

N<br />

73<br />

4<br />

5<br />

0<br />

42<br />

1<br />

4<br />

17<br />

11<br />

6<br />

I<br />

65<br />

MT<br />

–<br />

0,05<br />

0,07<br />

0<br />

0,58<br />

0,01<br />

0,05<br />

SR<br />

0,24<br />

65 %<br />

35 %<br />

MS<br />

–<br />

0,05<br />

0,07<br />

0<br />

0,65<br />

0,04<br />

0,19<br />

N<br />

55<br />

13<br />

8<br />

6<br />

13<br />

4<br />

1<br />

10<br />

6<br />

4<br />

IIa<br />

46<br />

MT<br />

–<br />

0,24<br />

0,14<br />

0,11<br />

0,24<br />

0,07<br />

0,02<br />

SR<br />

0,18<br />

60 %<br />

40 %<br />

MS<br />

–<br />

0,24<br />

0,19<br />

0,18<br />

0,46<br />

0,27<br />

0,01<br />

N<br />

184<br />

66<br />

1<br />

15<br />

32<br />

25<br />

7<br />

38<br />

27<br />

11<br />

IIb<br />

102<br />

MT<br />

–<br />

0,36<br />

0<br />

0,08<br />

0,17<br />

0,14<br />

0,04<br />

SR<br />

0,21<br />

71 %<br />

29 %<br />

MS<br />

–<br />

0,36<br />

0 01<br />

0,13<br />

0,31<br />

0,36<br />

0,16<br />

N<br />

109<br />

13<br />

5<br />

21<br />

11<br />

13<br />

2<br />

44<br />

28<br />

16<br />

IIc<br />

91<br />

MT<br />

–<br />

0,12<br />

0,05<br />

0,19<br />

0,10<br />

0,12<br />

0,02<br />

SR<br />

0,21<br />

64 %<br />

36 %<br />

MS<br />

–<br />

0,12<br />

0,05<br />

0,23<br />

0,16<br />

0,22<br />

0,04<br />

N<br />

348<br />

92<br />

14<br />

42<br />

56<br />

42<br />

10<br />

92<br />

61<br />

31<br />

II (gesamt)<br />

239<br />

MT<br />

–<br />

0,26<br />

0,04<br />

0,12<br />

0,16<br />

0,12<br />

0,03<br />

SR<br />

0,27<br />

66 %<br />

34 %<br />

MS<br />

–<br />

0,26<br />

0,05<br />

0,17<br />

0,28<br />

0,29<br />

0,10<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


40 Marco Thomas Neiber<br />

und am Standort II insgesamt bei 0,31<br />

(0,17 bis 0,43 an den Unterstandorten).<br />

Der Wert am Standort I lag damit kaum<br />

unterhalb der in Brewer & Gaston (2003)<br />

für Norddeutschland angegebenen Werte<br />

von 0.15 bis 0.25. Der Wert für den Unterstandort<br />

IIc lag innerhalb dieses Bereichs,<br />

wohingegen die Werte für die Unterstandorte<br />

IIa und IIb mit 0,43 und 0,37<br />

erheblich darüber lagen. Für die Klasse M 2<br />

wurden Werte zwischen 0 am Standort I<br />

und 0,23 am Unterstandort IIc ermittelt.<br />

Für diese Klasse geben Brewer & Gaston<br />

(2003) für den norddeutschen Raum Werte<br />

von weniger als 0,10 an und für die Klasse<br />

M 3<br />

Werte von weniger als 0,15. Insbesondere<br />

der Wert von 0,65 für die Klasse M 3<br />

am Standort I lag erheblich über diesem<br />

Wert, aber auch die Werte für die Unterstandorte<br />

von Standort II lagen mit 0,46,<br />

0,31 und 0,16 größtenteils deutlich höher.<br />

Für die Klasse M 4<br />

geben Brewer & Gaston<br />

(2003) Werte von etwa 0,20 bis 0,30<br />

an. Die am Standort II ermittelten Werte<br />

für diese Klasse befanden sich mit 0,22 bis<br />

0,36 etwa in diesem Bereich, der Wert am<br />

Standort I hingegen mit 0,01 sehr deutlich<br />

darunter. Die Werte für die Klasse<br />

M 5<br />

war am Standort I mit 0,19 fast doppelt<br />

so hoch wie insgesamt am Standort<br />

II mit 0,10 (0,01 bis 0,16 an den Unterstandorten).<br />

Das Verhältnis von erfolgreich<br />

geschlüpften Imagines von P. ilicis aus nur<br />

oberseitig angelegten Minen und erfolgreich<br />

geschlüpften Imagines aus beidseitig<br />

angelegten Minen wurde an allen (Unter)-<br />

Standorten mit etwa 3:2 ermittelt.<br />

Zusammensetzung des<br />

Parasitoidkomplexes<br />

Zum Zeitpunkt der Probennahme vom<br />

6. bis 8. Mai 2009 war der überwiegende<br />

Teil der Fliegen bereits geschlüpft, nur eine<br />

Imago von P. ilicis schlüpfte noch am 10.<br />

Mai 2009 im Labor. Im Gegensatz hierzu<br />

war zum Zeitpunkt der Probennahme<br />

noch keine parasitierende Hymenoptere<br />

geschlüpft. Es wurden insgesamt 85 Fälle<br />

von Parasitierung festgestellt. In 79 Fällen<br />

schlüpften die Imagines im Labor, in den<br />

übrigen 6 Fällen war entweder die Larve<br />

oder die Puppe unter Laborbedingungen<br />

abgestorben. Die Imagines, Puppen und<br />

Larven konnten drei parasitierenden Arten<br />

zugeordnet werden: Chrysocharis gemma,<br />

Sphegigaster pallicornis und Opius ilicis.<br />

Am Standort I wurde ein Exemplar von<br />

S. pallicornis festgestellt. Vertreter anderer<br />

Spezies konnten nicht nachgewiesen werden.<br />

Am Unterstandort IIa wurden 10 Fälle<br />

von Parasitierung festgestellt, wobei C.<br />

gemma mit 6 Individuen (60 %) die häufigste<br />

Art war, gefolgt von S. pallicornis mit<br />

4 Exemplaren (40 %). Am Unterstandort<br />

IIb kamen C. gemma, S. pallicornis und<br />

O. ilicis im Verhältnis 25:15:0 (62,5 % :<br />

37,5 % : 0 %) und am Unterstandort IIc<br />

im Verhältnis 28:4:2 (82,4 % : 11,8 % :<br />

5,8 %) vor. Für den Standort II ergab sich<br />

somit insgesamt eine Verteilung der drei<br />

Arten im Verhältnis 59:23:2 (70,2 % :<br />

27,4 % : 2,4 %).<br />

Von 56 der insgesamt 59 nachgewiesenen<br />

Individuen von C. gemma konnte<br />

das Geschlecht bestimmt werden,<br />

wobei 20 (35,7 %) Männchen und 36<br />

(64,3 %) Weibchen waren. Von S. pallicornis<br />

waren 9 (42,8 %) Individuen männlichen<br />

und 12 (57,2 %) weiblichen Geschlechts.<br />

Bei zwei Individuen war die<br />

Bestimmung des Geschlechts nicht möglich.<br />

Die einzigen beiden Exemplare von<br />

O. ilicis waren Männchen. Die Imagines<br />

von C. gemma schlüpften im Labor über einen<br />

Zeitraum von 22 Tagen vom 8. bis 29.<br />

Mai 2009. Nach 10 Tagen waren 50 % der<br />

Männchen und nach 14 Tagen 50 % der<br />

Weibchen geschlüpft. Die Imagines von<br />

S. pallicornis schlüpften über einen<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

41<br />

Abb. 5 Imago von A: Opius ilicis, Männchen;<br />

B: Sphegigaster pallicornis, Weibchen;<br />

C: S. pallicornis, Männchen; D: Chrysocharis gemma,<br />

Weibchen; E: C. gemma, Männchen.<br />

Zeitraum von 12 Tagen vom 14. bis 25.<br />

Mai 2009. 50 % der Männchen waren nach<br />

4 Tagen und 50 % der Weibchen nach 6<br />

Tagen geschlüpft.<br />

C. gemma wird ausdrücklich als Endoparasit<br />

ausschließlich der Larven von P.<br />

ilicis genannt (Cameron 1939, Eber et al.<br />

2001, Brewer & Gaston 2003, Eber 2004,<br />

Gaston et al. 2004). Abweichend hiervon<br />

wurde in dieser Studie festgestellt, dass 19<br />

(32,2 %) der insgesamt 59 Individuen aus<br />

den Puparien von P. ilicis geschlüpft waren<br />

und nicht aus frei in der Mine liegenden<br />

Puppen. Sowohl S. pallicornis als auch O.<br />

ilicis schlüpften in allen Fällen aus den Puparien<br />

von P. ilicis.<br />

Für C. gemma wurde ein Geschlechterverhältnis<br />

von etwa einem Männchen auf<br />

zwei Weibchen ermittelt. Dies entspricht<br />

etwa dem von Cameron (1939) ermittelten<br />

Verhältnis. Allerdings sind die hier ermittelten<br />

Werte aufgrund der geringen Stichprobengröße<br />

nur bedingt aussagekräftig<br />

und zeigen eher eine Momentaufnahme.<br />

Dass die Männchen von C. gemma im Median<br />

einige Tage vor den Weibchen schlüpfen,<br />

stimmt ebenfalls mit den von Cameron<br />

(1939) gefundenen Resultaten überein.<br />

Trotz der noch kleineren Stichprobe für<br />

S. pallicornis geht bei dieser Art die Tendenz<br />

eher in Richtung einer Gleichverteilung<br />

der Geschlechter, und ebenso wie bei<br />

C. gemma schlüpfen die Männchen etwas<br />

früher. Das frühere Schlüpfen der Männchen<br />

ist insofern sinnvoll, als dass so sichergestellt<br />

ist, dass nach dem Schlüpfen<br />

der Weibchen bereits genügend erwachsene<br />

Männchen vorhanden sind, um die<br />

Weibchen zu begatten.<br />

Diskussion<br />

An beiden Standorten entwickelte sich<br />

etwa jede vierte Larve von P. ilicis zu einer<br />

Imago. Dass dieser Wert unter dem<br />

von Brewer & Gaston (2003) angegebenen<br />

Wert liegt, kann zum einen durch natürliche<br />

Schwankungen in verschiedenen<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


42 Marco Thomas Neiber<br />

Jahren und an verschiedenen Standorten,<br />

aber auch durch Unterschiede in der Qualität<br />

der Wirtspflanzen oder des Standortes<br />

der Wirtspflanzen erklärt werden. Anhand<br />

der Daten in dieser Studie ist zu erkennen,<br />

dass standörtliche Schwankungen bereits<br />

bei verhältnismäßig eng beieinander liegenden<br />

Standorten auf dem Westfalenhof<br />

vorkommen (Tab. 1 und Abb. 4). Auffällig<br />

ist vor allem, vergleicht man die Mortalitätsprofile<br />

an den Standorten I und II<br />

insgesamt, dass sich die Anteile der Todesursachen<br />

an diesen Standorten deutlich<br />

unterscheiden. So ist am Standort I mit<br />

über 50 % die Haupttodesursache Fraßdruck<br />

durch Vögel, wohingegen am Standort<br />

II dieser Wert bei nur etwa 25 % liegt.<br />

Der Unterschied ist dadurch zu erklären,<br />

dass im Tiergarten Hannover künstliche<br />

Nistmöglichkeiten für Meisen und andere<br />

Vogelarten geschaffen werden und dadurch<br />

die Vogelpopulation höher ist als auf dem<br />

Gelände des Westfalenhofs, wo keine intensive<br />

Vogelhege betrieben wird. Da P. ilicis<br />

in ihrer Entwicklung unbedingt auf ihre<br />

Wirtspflanze angewiesen ist, ist zu erwarten<br />

das sich die Mortalitätsprofile der Larven<br />

von P. ilicis an lokal isolierten Standorten<br />

von I. aquifolium, die aber von P. ilicis<br />

infiziert sind, gegenüber Standorten mit<br />

höherer Individuenzahl von I. aquifolium<br />

deutlich unterscheiden. Als lokal isolierte<br />

Standorte von I. aquifolium werden an dieser<br />

Stelle solche Standorte bezeichnet, in<br />

deren näherer Umgebung keine weiteren<br />

Exemplare von I. aquifolium vorkommen.<br />

Insbesondere kann angenommen werden,<br />

dass die Abundanz von parasitierenden<br />

Hymenopteren an lokal isolierten Standorten<br />

erheblich geringer und die Anzahl der<br />

vorkommenden Arten an solchen Standorten<br />

tendenziell geringer ist, weil zum einen<br />

das Nahrungsangebot eingeschränkt und<br />

zum anderen parasitierende Arten Schwierigkeiten<br />

haben dürften, sich zu etablieren,<br />

wenn nur eine kleine und zudem isolierte<br />

Population von Wirtsorganismen vorhanden<br />

ist. Diese Annahmen vorausgesetzt,<br />

sind die Unterschiede bei den Parasitierungsraten<br />

an den Standorten I und II erklärbar.<br />

Da die Individuen von I. aquifolium<br />

am Standort I die einzigen ihrer Art im<br />

Tiergarten Hannover sind, lässt sich dieser<br />

Standort als lokal isoliert ansehen, wohingegen<br />

die Population von I. aquifolium auf<br />

dem Gelände des Westfalenhofs wegen der<br />

höheren Individuenzahl und der weiter gestreuten<br />

Verbreitung auf dem Gelände und<br />

der näheren Umgebung nicht als lokal isoliert<br />

angesehen werden kann. Dass nur S.<br />

pallicornis am Standort I nachgewiesen<br />

werden konnte, heißt nicht, dass die anderen,<br />

am Standort II gefundenen Parasiten<br />

von P. ilicis (C. gemma und O. ilicis) dort<br />

nicht vorkommen, dass ihre Abundanz<br />

aber deutlich geringer ist als am Standort<br />

II. Die Häufigkeit der am Standort II gefundenen<br />

Parasiten stimmt mit den von<br />

Cameron (1939) gefundenen Häufigkeiten<br />

überein. C. gemma ist die häufigste Art,<br />

gefolgt von S. pallicornis und dem seltenen<br />

Parasiten O. ilicis.<br />

Am Standort II konnte erstmals nachgewiesen<br />

werden, dass C. gemma, im Gegensatz<br />

zu den Angaben in Cameron (1939)<br />

kein reiner Larvenparasit ist, sondern auch<br />

aus den Puparien von P. ilicis schlüpfen<br />

kann. Eine Erklärung hierfür ist, dass C.<br />

gemma die Larve von P. ilicis erst zu einem<br />

relativ späten Zeitpunkt infizieren und diese<br />

sich noch verpuppen konnte bevor sie<br />

von C. gemma abgetötet wurde.<br />

Das Verhältnis der aus nur oberseitig<br />

ausgebildeten Minen geschlüpften Imagines<br />

von P. ilicis zu dem aus beidseitig ausgebildeten<br />

Minen geschlüpften Imagines<br />

stimmt mit den Angaben in Ellis (2000),<br />

der in einer Mehrheit der Fälle eine beidseitig<br />

ausgebildete Mine vorfand, nicht<br />

überein. Bezüglich dieser Beobachtung<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

43<br />

kann an dieser Stelle nur festgehalten werden,<br />

dass die Ausbildung von rein oberseitigen<br />

Minen und beidseitig ausgebildeten<br />

größeren Schwankungen unterliegt.<br />

Denkbar ist, dass es zur Ausbildung einer<br />

beidseitigen Mine kommt, wenn es für die<br />

Larve einfacher ist in das Schwammparenchym<br />

des Blattes von I. aquifolium einzudringen<br />

als die Fläche der oberseitigen<br />

Mine zu vergrößern.<br />

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Danksagungen<br />

Ich möchte Prof. Dr. Hansjörg Küster<br />

und insbesondere Dr. Albert Melber für<br />

die Einführung in den Themenkreis und<br />

für Anregungen und Diskussionen während<br />

der Durchführung der vorliegenden<br />

Untersuchung, danken.<br />

Arbeit eingereicht: 21.01.2010<br />

Arbeit angenommen: 30.04.2010<br />

Anschrift des Verfassers:<br />

Marco Thomas Neiber<br />

Birkenweg 2<br />

31319 Sehnde<br />

E-Mail: mneiber@hotmail.de<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


45<br />

Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes<br />

bei Wittenburg<br />

Ingo Geestmann<br />

Zusammenfassung<br />

Bei Wittenburg, das zur Gemeinde Elze<br />

im Landkreis Hildesheim im südlichen<br />

Niedersachsen gehört, wurde untersucht,<br />

welche Pflanzenarten in einem kaum noch<br />

genutzten Hainbuchen-Niederwald vorkommen.<br />

In insgesamt zwanzig Vegetationsaufnahmen<br />

nach Braun-Blanquet<br />

fanden sich 52 Arten, von denen zehn in<br />

Niedersachsen auf der Roten Liste stehen.<br />

Sechs dieser Arten kommen typischerweise<br />

weiter südlich vor und finden sich in<br />

Wittenburg an ihrer nördlichen Verbreitungsgrenze.<br />

Sie verdeutlichen somit die<br />

besonderen Standortbedingungen, die ein<br />

Niederwald bietet. Insbesondere sein nutzungsbedingt<br />

lichtes Blätterdach unterscheidet<br />

ihn von den Buchenwäldern, aus<br />

denen er durch anthropogene Nutzung<br />

hervorgegangen ist. Die Zeigerwerte nach<br />

Ellenberg der vor Ort gefundenen Arten<br />

in Kombination mit den ökologischen<br />

Gruppen nach Hofmeister entsprechen<br />

den Bedingungen des hohen Lichteinfalls<br />

im Wald und zeigen, dass es sich um einen<br />

mittelfeuchten Standort mit kalkreichem,<br />

neutralem bis leicht saurem Boden<br />

mit guter Mineralstoffversorgung handelt.<br />

Der Wald hat einen ausgeprägten Frühjahrs-Geophyten-Aspekt,<br />

der vor allen<br />

Dingen durch ein massenhaftes Auftreten<br />

von Buschwindröschen (Anemone nemorosa)<br />

und Gelben Windröschen (Anemone<br />

ranunculoides) geprägt ist. Ohne eine Fortsetzung<br />

und gegebenenfalls Intensivierung<br />

der Nutzung droht der Standort für etliche<br />

Pflanzenarten verloren zu gehen. Die<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


46 Ingo Geestmann<br />

Erarbeitung eines ökonomisch sinnvollen<br />

Nutzungsplans scheint deshalb angebracht<br />

und sollte vorangetrieben werden.<br />

Abstract<br />

Next to Wittenburg (near Elze, administrative<br />

district of Hildesheim, southern<br />

Lower Saxony) a research was conducted<br />

to ascertain which plant species occur in a<br />

hardly used hornbeam coppice. In twenty<br />

vegetation plots according to Braun-Blanquet,<br />

52 species were found, of which ten<br />

are on the Red List of Endangered Plant<br />

Species in Lower Saxony. Six species typically<br />

occur in more southerly regions and<br />

are found in Wittenburg at their northern<br />

limit. They are adapted to the special conditions<br />

of a coppice. Especially its light canopy<br />

sets it apart from beech groves, from<br />

which it emerged by human impact. The<br />

indicator values of the local plant species<br />

according to Ellenberg in combination<br />

with the ecological groups according to<br />

Hofmeister demonstrate the high amount<br />

of light in the coppice. Its soil is lightly humid,<br />

rich in lime, neutral or slightly acid<br />

and rich in nutrients. The coppice shows<br />

a distinctive spring-time geophyte aspect,<br />

mainly consisting of the copious occurrence<br />

of Anemone nemorosa and Anemone<br />

ranunculoides. Without a continued and,<br />

if applicable, intensified management, the<br />

present aspect of this special woodland will<br />

be lost as a habitat of many plant species.<br />

Therefore the development of an economically<br />

reasonable plan for a coppice management<br />

should be developed.<br />

Einleitung<br />

Niederwaldwirtschaft ist eine heute nur<br />

noch selten praktizierte, traditionelle Form<br />

der Waldnutzung, bei der eine Verjüngung<br />

der Bäume nicht über Sämlinge, sondern<br />

über Stockausschlag erfolgt. Alle 15 bis 25<br />

Jahre wurden die Wälder hierzu „auf den<br />

Stock gesetzt“, d. h. vollständig abgeschlagen.<br />

Das auf diese Weise gewonnene Holz<br />

nutzte man vornehmlich als Brennmaterial.<br />

Diese Form der Nutzung begünstigt<br />

Baum arten mit hohem Stockausschlagvermögen,<br />

z. B. Hainbuche, Ahorn, Esche,<br />

Linde und Eiche. Arten mit geringerem<br />

Regenerationsvermögen wie die Rotbuche<br />

(Fagus sylvatica) werden hingegen zurückgedrängt<br />

und können dauerhaft nur bei<br />

sehr langen Umtriebszeiten von über 30<br />

Jahren überleben. Weil in diesen Wäldern<br />

gewonnenes Holz nur bedingt zum Bauen<br />

verwendet werden konnte (z. B. Gefachflechtwerke<br />

in Fachwerkhäusern (Pott<br />

1996)), ging man ab dem Mittelalter dazu<br />

über, einzelne Kernwüchse aus dem kurzfristigen<br />

Umtrieb herauszunehmen. Die<br />

sogenannten Überhälter ließen sich gut<br />

im Haus- oder Schiffbau verwenden. Vorzugsweise<br />

nutzte man hierzu Eichen, die<br />

ein besonders stabiles und beständiges<br />

Holz liefern. Die Eicheln älterer Bäume<br />

dienten der Schweinemast (Härdtle et al.<br />

2004).<br />

Durch die extensive Niederwaldwirtschaft<br />

kam es in den Kalkbereichen der<br />

Mittelgebirge und an südexponierten<br />

Steilhängen mit Kalkschottern zu einer<br />

Verdrängung natürlicher Buchenwälder<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

47<br />

Abb. 1 lage des untersuchten hainbuchen-<br />

Niederwaldes bei Wittenburg.<br />

zugunsten von Eichen-Hainbuchen-Niederwäldern.<br />

Tatsächlich sind diese thermophilen<br />

Buschwälder in den nördlichen<br />

Mittelgebirgen ausschließlich aus degradierten<br />

Buchenwäldern hervorgegangen<br />

(Pott 1996).<br />

Niederwälder sind durch die Form der<br />

Nutzung besonders licht und beherbergen<br />

neben typischen Buchenwaldarten<br />

wie Waldmeister (Galium odoratum) viele<br />

thermophile und z. T. seltene Arten (z. B.<br />

Lilium martagon; Pott 1996). Diese Untersuchung<br />

soll klären, welche Arten in einem<br />

Hainbuchen-Niederwald vorkommen. Mit<br />

diesen Daten wird dann unter Berücksichtigung<br />

der derzeitigen Nutzung ein Ausblick<br />

zur zukünftigen Entwicklung des<br />

Waldes versucht. Des Weiteren soll mit<br />

Hilfe der Zeigerwerte nach Ellenberg et<br />

al. (2001) sowie der ökologischen Gruppen<br />

nach Hofmeister (1997) der Standort ökologisch<br />

charakterisiert werden.<br />

Material und Methoden<br />

Die Untersuchung fand im südlichen<br />

Niedersachsen in einem Hainbuchenwald<br />

bei Wittenburg statt, das zur Gemeinde<br />

Elze im westlichen Landkreis Hildesheim<br />

gehört. Der Hainbuchenwald liegt<br />

nahe dem Ortsausgang von Wittenburg in<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


48 Ingo Geestmann<br />

Abb. 2 Übersicht der Probestellen im Niederwald<br />

bei Wittenburg und Grundvorkommen (mit mindestens<br />

3 vertretern) der einzelnen ökologischen<br />

Gruppen (vergleiche abb. 9).<br />

Gr. 11 Buschwindröschen-Gruppe<br />

Gr. 12 Goldnessel-Gruppe<br />

Gr. 13 Bingelkraut-Gruppe<br />

Gr. 14 hexenkraut-Gruppe<br />

Richtung Boitzum (Abb. 1) auf der Finie,<br />

einem Höhenzug, der sich von der Barenburg<br />

im Osterwald bis zum Schloss Marienburg<br />

erstreckt, und ist leicht südexponiert.<br />

Von West nach Ost hat der Wald<br />

eine Länge von etwa 650 m und ist zwischen<br />

120 m und 260 m breit (Abb. 2). Er<br />

liegt etwa 140 m über Normalnull und ist<br />

von bewirtschafteten Feldern umgeben.<br />

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde<br />

er laut Besitzer Jörg Lehnhoff zum<br />

letzten Mal auf den Stock gesetzt. Seitdem<br />

beschränkt sich die Nutzung hauptsächlich<br />

auf die Entnahme von Kleinholz<br />

und die Beseitigung von Sturmschäden.<br />

Aus ökonomischen Gründen werden nur<br />

noch einzelne Stämme herausgenommen,<br />

wenn diese „zu dicht“ beisammen stehen.<br />

Wie der Wald früher genutzt wurde, ist<br />

aus den Mitteilungen des Besitzers nicht<br />

zu erschließen; aus der entsprechenden<br />

Generation lebt heute niemand mehr. Ein<br />

besonders langsames Wachstum der Hainbuchen<br />

wird auf den kargen und steinigen<br />

Kalkstein-Boden zurückgeführt.<br />

In zwei Untersuchungsintervallen, vom<br />

21.04.2009 bis zum 01.05.2009 und vom<br />

09.06.2009 bis zum 19.06.2009, wurden<br />

insgesamt zwanzig Vegetationsaufnahmen<br />

an verschiedenen Stellen des Waldes<br />

durchgeführt. Fünf Aufnahmen fanden im<br />

ersten und fünfzehn im zweiten Zeitraum<br />

statt. Die Größe der Probeflächen betrug<br />

jeweils ca. 100 m² (10 m × 10 m). Sie wurden<br />

nach physiognomisch-struktureller<br />

Homogenität des Bestandes (Dierschke<br />

1994) ausgewählt, d. h., es wurde auf<br />

eine möglichst einheitliche Verteilung<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

49<br />

der Vegetation geachtet, und Flächen mit<br />

uneinheitlichen Lichtverhältnissen oder<br />

Hangneigungen gemieden. Auch Bereiche<br />

mit Wegen oder Trampelpfaden sowie der<br />

Waldrand wurden von den Vegetationsaufnahmen<br />

ausgeschlossen.<br />

Die Bestimmungen der sich im entsprechenden<br />

Areal befindenden Pflanzenarten<br />

erfolgte unter Zuhilfenahme einschlägiger<br />

Literatur (Schmeil & Fitschen 2006;<br />

Rothmaler 2007; Rothmaler 1999; Aichele<br />

& Golte-Bechtle 2005). Moose wurden<br />

nicht berücksichtigt. Im Feld nicht zu bestimmende<br />

Arten wurden fotografiert und/<br />

oder herbarisiert und später mit fachkundiger<br />

Hilfe bestimmt. Anschließend erfolgte<br />

die Abschätzung der Artmächtigkeit<br />

unter Verwendung der siebenteiligen Skala<br />

nach Braun-Blanquet. Die in Bezug auf<br />

die Individuenanzahl oft uneinheitlich und<br />

z. T. ungenau festgelegten Deckungsgrade<br />

„+“ und „r“ (Dierschke 1994; Hofmeister<br />

1997) wurden hier wie folgt verwendet:<br />

+ 5 oder mehr Individuen mit einem<br />

Deckungsgrad von insges. unter 1 %<br />

r weniger als 5 Individuen mit einem<br />

Deckungsgrad von insges. unter 1 %<br />

Sämtliche ermittelten Pflanzenarten<br />

wurden in einer Übersichtstabelle (Anhang<br />

Tab. 1) zusammengestellt. Den einzelnen<br />

Arten wurden die Zeigerwerte nach<br />

Ellenberg et al. (2001) und die jeweilige<br />

Vegetationsform zugeordnet, und deren<br />

Stetigkeit ermittelt. Zusätzlich wurden die<br />

Zeigerwerte für Licht (L), Bodenreaktion<br />

(R), Stickstoffversorgung (N) und Feuchtigkeit<br />

(F) angegeben. Parallel zu dieser<br />

Zuordnung wurde auch, wo es möglich<br />

war, mit den ökologischen Gruppen nach<br />

Hofmeister (1997) gearbeitet. Die Einordnung<br />

hängt eng mit diesen vier Werten<br />

zusammen. Aus den Zeigerwerten wurden<br />

die qualitativen Mittelwerte gewonnen,<br />

d. h., alle Arten wurden gleich gewichtet.<br />

Auch wenn sich die ermittelten Werte nur<br />

auf die Kraut- und die Strauchschicht beziehen,<br />

wurden die Phanerophyten mit<br />

einbezogen, weil sie ausnahmslos als juvenile<br />

Pflanzen vorkamen, auf die sich die<br />

L-Zahlen für Bäume beziehen (Ellenberg<br />

et al. 2001). Bei Pflanzen mit indifferentem<br />

oder ungeklärtem Verhalten in Bezug<br />

auf einzelne Zeigerwerte wurden die entsprechenden<br />

Werte für die Durchschnittsberechnung<br />

nicht berücksichtigt. Daraus<br />

ergibt sich, dass den Mittelwerten eine jeweils<br />

unterschiedliche Zahl von Einzelwerten<br />

zugrunde liegt.<br />

Zusätzlich wurde die phänologische<br />

Veränderung der Vegetation zwischen den<br />

beiden Untersuchungsintervallen betrachtet<br />

und hierzu die nach Braun-Blanquet<br />

ermittelten Deckungsgrade auf Basis der<br />

Lebensformzuordnung nach Ellenberg et<br />

al. (2001) für die beiden Zeiträume einzeln<br />

addiert und miteinander verglichen. Verwendung<br />

fanden die von Dierschke (1994)<br />

vorgeschlagenen Mittelwerte:<br />

Deckungsgrad Mittelwert<br />

r 0,1<br />

+ 0,5<br />

1 2,5<br />

2 15,0<br />

3 37,5<br />

4 62,5<br />

5 87,5<br />

Mit Verbreitungskarten des Bundesamts<br />

für Naturschutz (ermittelt mit dem<br />

FloraMap/CommonGis-Framework; floraweb.de)<br />

wurde schließlich untersucht,<br />

ob der Standort hinsichtlich der dort vorkommenden<br />

Arten lokale Besonderheiten<br />

aufweist. Hierbei wurden alle gefundenen<br />

Arten außer Taraxacum officinale agg. berücksichtigt.<br />

Für diese Artengruppe lag<br />

keine Verbreitungskarte vor.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


50 Ingo Geestmann<br />

Ergebnisse<br />

Pflanzenarten<br />

Abb. 3 Polygonatum multiforum.<br />

Abb. 4 Aquilegia vulgaris.<br />

Abb. 5 Lilium martagon.<br />

Die Baumschicht (B1) des Waldes wird<br />

fast ausschließlich von der Hainbuche<br />

(Carpinus betulus) gebildet. Nur vereinzelt<br />

und außerhalb der untersuchten Flächen<br />

kommt auch die Elsbeere (Sorbus<br />

torminalis) vor. Jeweils nur ein adultes Exemplar<br />

des Wilden Birnbaums (Pyrus pyraster)<br />

und der Trauben-Eiche (Quercus petraea)<br />

wächst im untersuchten Wald. In der<br />

Strauchschicht (Str.) findet man hauptsächlich<br />

Schwarzen Holunder (Sambucus<br />

nigra), Feld-Ahorn (Acer campestre), Schlehe<br />

(Prunus spinosa), Eingriffeligen Weißdorn<br />

(Crataegus monogyna), Traubeneiche<br />

(Quercus petraea) und Esche (Fraxinus<br />

excelsior). Gelegentlich kommen Waldgeißblatt<br />

(Lonicera periclymenum), Echte<br />

Brombeere (Rubus fruticosus) und Gemeine<br />

Hasel (Corylus avellana) vor. Selten bis<br />

sehr selten finden sich Spitz-Ahorn (Acer<br />

platanoides), Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus),<br />

Stachelbeere (Ribes uva-crispa),<br />

Feld-Rose (Rosa arvensis) und Jungwuchs<br />

der Elsbeere (Sorbus torminalis). Insgesamt<br />

konnten 52 Pflanzenarten festgestellt werden.<br />

Darüber hinaus gibt es an mindestens<br />

einer Stelle außerhalb der untersuchten<br />

Flächen ein Vorkommen der Vielblütigen<br />

Weißwurz (Polygonatum multiflorum;<br />

Abb. 3). Abgesehen von der Hainbuche<br />

sind Goldnessel (Lamiastrum galeobdolon),<br />

Buschwindröschen (Anemone nemorosa)<br />

und Waldveilchen (Viola reichenbachiana)<br />

in jeder Vegetationsaufnahme vorhanden.<br />

Eine Stetigkeit von 50 % oder mehr haben<br />

17 Arten, und 28 Arten zeigen eine<br />

Stetigkeit von mindestens 25 %. Die minimale<br />

Artenzahl einer einzelnen Vegetationsaufnahme<br />

liegt bei 14, die maximale<br />

bei 26. Mit Aquilegia vulgaris (Abb. 4),<br />

Lilium martagon (Abb. 5), Orchis mascula<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

51<br />

(Abb. 6) und Primula veris (Abb. 7) kommen<br />

am Standort vier nach Schmeil & Fitschen<br />

(2006) in Deutschland geschützte<br />

Arten vor. Die Echte Schlüsselblume (Primula<br />

veris) hat hierbei mit 75 % die höchste<br />

Stetigkeit. Türkenbundlilie (Lilium martagon)<br />

und Kuckucksknabenkraut (Orchis<br />

mascula) finden sich in 45 % bzw. 30 % der<br />

Flächen. Nur eine Untersuchungsfläche<br />

enthält die Gewöhnliche Akelei (Aquilegia<br />

vulgaris). Strauch- und Krautschicht<br />

(Kr.) haben eine heterogene Struktur; es<br />

gibt Bereiche mit dichter Vegetation und<br />

Bereiche mit nur wenig Bewuchs. Auch<br />

die Artenzusammensetzung variiert kleinflächig.<br />

Nach der Roten Liste gefährdeter<br />

Farn- und Blütenpflanzen in Niedersachsen<br />

und Bremen (Garve 2004) sind folgende<br />

Spezies, die in dem hier untersuchten<br />

Bestand vorkommen, gefährdet (sortiert<br />

nach Gefährdungskategorie):<br />

Gefährdungskategorie 1 – vom Aussterben<br />

bedroht:<br />

Orchis mascula<br />

Gefährdungskategorie 2 – stark gefährdet:<br />

Rosa arvensis<br />

Primula veris<br />

Gefährdungskategorie 3 – gefährdet:<br />

Aquilegia vulgaris<br />

Cynoglossum germanicum<br />

Lilium martagon<br />

Pyrus pyraster<br />

Viola mirabilis<br />

Gefährdungskategorie R – extrem selten:<br />

Hordelymus europaeus<br />

Viola hirta<br />

Die Hälfte der Vegetationsaufnahmen<br />

liegt an Standorten mit Hanglage. Diese<br />

sind generell südexponiert und haben eine<br />

Neigung von 2° bis 10°.<br />

Abb. 6 Orchis mascula.<br />

Abb. 7 Primula veris.<br />

Zeigerwerte<br />

Die Zeigerwerte sämtlicher Arten aus<br />

den zwanzig Vegetationsaufnahmen ergeben<br />

folgende qualitative Mittelwerte (die<br />

eingeklammerte Zahl gibt die Anzahl der<br />

zugrunde liegenden Einzelwerte an):<br />

Lichtzahl (L) 5,0 (46)<br />

Feuchtezahl (F) 5,0 (40)<br />

Reaktionszahl (R) 6,9 (35)<br />

Stickstoffzahl (N) 6,2 (41)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


52 Ingo Geestmann<br />

Diese Mittelwerte charakterisieren den<br />

Wald als halbschattigen Standort mit mehr<br />

als 10 % relativer Beleuchtungsstärke und<br />

mittelfeuchtem Boden, der schwach sauer<br />

bis schwach basisch und eher stickstoffreich<br />

ist. Aus dem Zeigerwertspektrum in<br />

Abb. 8 lässt sich ein etwas differenzierteres<br />

Bild ableiten. Dargestellt sind die prozentualen<br />

Anteile der Zeigerwerte 1 bis 9<br />

(farblich markiert) für die Licht-, Feuchte-,<br />

Reaktions-, und Stickstoffzahl.<br />

Ökologische Gruppen<br />

Abb. 9 zeigt ein Ökogramm nach Hofmeister<br />

(1997). Auf der Abszisse ist die<br />

Bodenreaktion eingetragen. Links beginnend<br />

mit stark sauren Standorten reicht sie<br />

bis zu den basenreichen Böden. Die Ordinate<br />

zeigt die Feuchtigkeit des Standortes<br />

an und verläuft von oben nach unten von<br />

den trockenen über die frischen und feuchten<br />

bis zu den nassen Standorten. Die unterschiedlichen<br />

Grüntöne symbolisieren<br />

die Anzahl der gefundenen Arten, die der<br />

entsprechenden Gruppe zuzuordnen sind.<br />

Je dunkler der Farbton, desto mehr Vertreter<br />

der Gruppe wurden gefunden. Von<br />

hell nach dunkel sind das im Einzelnen<br />

eine, zwei, vier, fünf oder sechs Arten. Am<br />

häufigsten sind mit jeweils sechs Arten<br />

die Vertreter der Buschwindröschen- bzw.<br />

der Bingelkraut-Gruppe vorhanden. Danach<br />

folgt die Goldnessel-Gruppe mit fünf<br />

Arten. Die Hexenkraut- und die Brennnessel-Gruppe<br />

sind mit jeweils vier Arten<br />

vertreten. Von der Frauenfarn-Gruppe<br />

wurden zwei Arten gefunden und von der<br />

Wiesen-Schlüsselblumen-, Pfeifengrassowie<br />

Wald-Weidenröschen-Gruppe je<br />

Abb. 8 Zeigerwertspektrum; proportionaler Anteil<br />

der Zeigerwerte nach Ellenberg für Licht-, Feuchte-,<br />

Reaktions- und Stickstoffzahl. Die Farben symbolisieren<br />

die Zahlenwerte 1 bis 9.<br />

Lichtzahl Feuchtezahl Reaktionszahl<br />

Stickstoffzahl<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

53<br />

Abb. 9 Ökogramm, verändert nach Hofmeister<br />

(1997): farbige Flächen markieren vorhandene<br />

Gruppen, Farbton symbolisiert die Anzahl der in<br />

der Gruppe vorhandenen Arten. Je weiter rechts<br />

desto alkalischer und je weiter oben desto<br />

trockener der typische Standort von Vertretern<br />

dieser Gruppe. Sonderstandorte sind Bereiche,<br />

deren Artzusammensetzung primär von anderen<br />

Faktoren als Feuchtigkeit und pH-Wert bestimmt<br />

werden.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


54 Ingo Geestmann<br />

eine Art. Im Diagramm liegen die artenreichsten<br />

Gruppen im mäßig trockenen bis<br />

mäßig feuchten und mäßig sauren bis alkalischen<br />

Bereich an einem eher stickstoffreichen<br />

Standort.<br />

In Abb. 2 ist auch die Verteilung der<br />

Vorkommen der ökologischen Gruppen<br />

im untersuchten Wald dargestellt. Als<br />

Gruppenvorkommen wurde das gemeinsame<br />

Auftreten von mindestens drei Vertretern<br />

der jeweiligen ökologischen Gruppe<br />

gewertet. Dies war nur bei den relativ artenreich<br />

vertretenen Gruppen 11 (Buschwindröschen-Gruppe),<br />

12 (Goldnessel-<br />

Gruppe), 13 (Bingelkraut-Gruppe) und<br />

15 (Hexenkraut-Gruppe) der Fall. Im<br />

Folgenden ist mit „Vorkommen“ immer<br />

das Gruppenvorkommen bezeichnet<br />

und nicht das Vorhandensein einzelner<br />

Vertreter der Gruppe.<br />

Auch wenn Buschwindröschen im gesamten<br />

Wald zu finden sind, kommt die<br />

Buschwindröschen-Gruppe (Gruppe 11,<br />

gelb), bis auf eine Ausnahme im südwestlichen<br />

Ausläufer des Waldes, nur im östlichen<br />

Bereich vor.<br />

Am gleichmäßigsten ist die Goldnessel-<br />

Gruppe (Gruppe 12, grün) im Wald verteilt.<br />

Sie ist in fast allen Probeflächen mit<br />

mindestens drei Arten vertreten. Nur im<br />

östlichen Bereich des Waldes auf den Flächen<br />

9, 18 und 19, bei denen keine der<br />

ökologischen Gruppen ein Gruppenvorkommen<br />

zeigt, und auf der Fläche 6 ist sie<br />

nicht zu finden.<br />

Im zentralen und westlichen Bereich des<br />

Waldes liegt der Verteilungsschwerpunkt<br />

der Bingelkraut-Gruppe (Gruppe 13, rot),<br />

35<br />

30<br />

Deckungsgrad [%]<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

Vegetationsaufnahmen<br />

1 – 5<br />

Vegetationsaufnahmen<br />

6 – 20<br />

5<br />

0<br />

C G H N T Z<br />

Lebensform<br />

Abb. 10 Veränderung des Lebensformenspektrums<br />

zwischen den beiden Untersuchungsintervallen.<br />

Relevante Unterschiede nur bei den<br />

Geophyten; deutlicher Frühjahrs-Geophyten-Aspekt.<br />

C: krautiger Chamaephyt (Überdauerungsorgane<br />

unterhalb der Schneehöhe)<br />

G: Geophyt (Überdauerungsorgane unterirdisch)<br />

H: Hemikryptophyt (Überdauerungsorgane an der<br />

Erdorberfläche)<br />

N: Nanophaneropyt (Überdauerungsorgane ober halb<br />

der Schneehöhe; niedrige Bäume und Sträucher)<br />

T: Therophyt (kurzlebige Pflanzen, die als Samen<br />

überdauern)<br />

Z: holziger Chamephyt (hier: nur Efeu;<br />

Hedera helix)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

55<br />

wobei es noch ein Vorkommen im östlichen<br />

Bereich gibt. Außerdem kommt die<br />

Gruppe auf den Flächen 3 und 16 nicht<br />

vor, wodurch sich ein „Einschnitt“ zwischen<br />

dem zentralen und dem westlichen<br />

Vorkommen ergibt.<br />

Fast deckungsgleich mit dem Vorkommen<br />

der Bingelkraut-Gruppe ist die Verteilung<br />

der Hexenkraut-Gruppe (Gruppe<br />

15, blau, vgl. Abb. 2). Sie ist im zentralen<br />

Bereich auf zwei weiteren Flächen vertreten<br />

(5, 11) und kommt im östlichen Teil<br />

auf der Fläche 6 vor, ist aber sonst fast immer<br />

zusammen mit der Gruppe 13 zu finden<br />

und weist auch den zuvor beschriebenen<br />

„Einschnitt“ auf.<br />

Andere offensichtliche Gruppenkombinationen<br />

sind nicht auszumachen. Vor allen<br />

Dingen die gleichmäßige Verteilung<br />

der Goldnessel-Gruppe legt nahe, dass sie<br />

nicht zwangsläufig an das Vorkommen anderer<br />

Gruppen gekoppelt ist.<br />

Lebensformenspektrum<br />

Die phänologischen Veränderungen<br />

zwischen den Untersuchungsintervallen<br />

sind in Abb. 10 zusammenfassend dargestellt.<br />

Auf der Abszisse sind die unterschiedlichen<br />

Lebensformen aufgetragen<br />

(siehe Legende). Die Darstellung bezieht<br />

sich ausschließlich auf die Bodenvegetation,<br />

weshalb Phanerophyten nicht mit dargestellt<br />

sind. Bei Arten mit zwei zugeordneten<br />

Lebensformen (z. B. Hedera helix)<br />

wurde die am Standort häufiger vorkommende<br />

gewählt. Im Zweifel wurde die erste<br />

Zuordnung verwendet.<br />

Der deutlichste Unterschied ist bei den<br />

Geophyten zu erkennen. Sie weisen während<br />

des ersten Untersuchungsintervalls<br />

einen durchschnittlichen Deckungsgrad<br />

von über 30 % auf, wohingegen dieser im<br />

Verlauf des zweiten deutlich unter 5 %<br />

liegt. Die zweite wesentliche Abweichung<br />

liegt bei den holzigen Chamaephyten vor.<br />

Während der ersten Vegetationsaufnahmen<br />

noch unter 2,5 % liegend, steigt der<br />

mittlere Deckungsgrad später auf über<br />

10 %. Kleinere Unterschiede gibt es auch<br />

bei den krautigen Chamaephyten, den<br />

Hemikryptophyten und den Nanophanerophyten,<br />

wobei die ersten beiden im ersten<br />

Zeitraum und die letzteren im zweiten<br />

einen höheren Deckungsgrad aufweisen.<br />

Insbesondere bei den Geophyten zeigen<br />

sich deutliche phänologische Unterschiede<br />

zwischen den Untersuchungszeiträumen.<br />

Verbreitungskarten<br />

Die Auswertung der Verbreitungskarten<br />

zeigt, dass für einzelne Arten der Fundort<br />

nahe an oder auf der nördlichen Verbreitungsgrenze<br />

liegt. Am deutlichsten ist das<br />

bei Cynoglossum germanicum (Abb. 11) zu<br />

erkennen. Das Vorkommen in Deutschland<br />

ist ohnehin auf relativ wenige Bereiche<br />

beschränkt, von denen der untersuchte<br />

Standort einer der nördlichsten ist. Auch<br />

Lilium martagon (Abb. 12) kommt bis<br />

auf wenige hauptsächlich östlich liegende<br />

Ausnahmen nicht weiter nördlich vor.<br />

Rosa arvensis (Abb. 13) liegt ebenfalls sehr<br />

nah an der Verbreitungsgrenze nach Norden<br />

und wurde zudem in dem untersuchten<br />

Bereich zum letzten Mal vor 1950 gefunden.<br />

Sorbus torminalis (Abb. 14) kommt<br />

im Norden Deutschlands nur in einigen<br />

östlichen Regionen vor und liegt im untersuchten<br />

Gebiet direkt auf der nördlichen<br />

Ausbreitungsgrenze. Viola hirta (Abb.<br />

15) ist nur im geringen Maße weiter nordwestlich<br />

verbreitet und Viola mirabilis fast<br />

ausschließlich weiter südlich. Pyrus pyraster<br />

(Abb. 16) kommt zwar auch weiter nördlich<br />

vor, wobei die Art im Westen deutlich<br />

seltener ist als im Osten. Sie wurde aber in<br />

dem untersuchten Areal bisher nicht dokumentiert.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


56 Ingo Geestmann<br />

Cynoglossum germanicum Lilium martagon Rosa arvensis<br />

Sorbus torminalis Viola hirta Pyrus pyraster<br />

Abb. 11 –16 verbreitungskarten des Bundesamts<br />

für Naturschutz; zur besseren lesbarkeit vom<br />

verfasser grafisch bearbeitet, so dass alle verbreitungsareale<br />

einheitlich gefärbt sind. angaben über<br />

die Zeiträume der funde sind somit nicht mehr<br />

enthalten. das schwarze Kästchen markiert den<br />

Bereich, in dem der untersuchte Wald liegt. rot<br />

bedeutet, die jeweilige Pflanzenart wurde in dem<br />

entsprechenden areal gefunden.<br />

Diskussion<br />

Pflanzenarten<br />

Die Anzahl der gefundenen Arten erscheint<br />

ob der geringen Größe des Waldes<br />

recht hoch, wobei besonders der hohe Anteil<br />

gefährdeter Arten hervorzuheben ist.<br />

10 der 52 gefundenen Arten sind laut der<br />

Roten Liste gefährdeter Farn- und Blütenpflanzen<br />

in Niedersachsen und Bremen in<br />

ihrem Bestand bedroht, was einem Anteil<br />

von 19 % entspricht. Viele der gefundenen<br />

Arten werden durch die besonderen<br />

Wachstumsbedingungen in einem Hainbuchen-Niederwald,<br />

vor allen Dingen<br />

dem hohen Lichteinfall, begünstigt. Teilweise<br />

schaffen sogar erst die Niederwälder<br />

die Voraussetzung für ihre Existenz.<br />

Zu ihnen gehören Eingriffeliger Weißdorn<br />

(Crataegus monogyna), Wilder Birnbaum<br />

(Pyrus pyraster), Elsbeere (Sorbus torminalis),<br />

Wunderveilchen (Viola mirabilis),<br />

Türkenbundlilie (Lilium martagon) und<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

57<br />

Vielblütige Weißwurz (Polygonatum multiflorum).<br />

Typische Buchenwaldarten wie<br />

Waldmeister (Galium odoratum), Goldnessel<br />

(Lamiastrum galeobdolon), Buschwindröschen<br />

(Anemone nemorosa), Gelbes<br />

Windröschen (Anemone ranunculoides), Sanikel<br />

(Sanicula europaea) und Waldbingelkraut<br />

(Mercurialis perennis) zeigen die Verankerung<br />

des Waldes im Fagion, aus dem<br />

er hervorgegangen ist und in das er sich<br />

ohne fortgesetzte Nutzung allmählich wieder<br />

umformen würde (Pott 1993; 1996).<br />

Ein weiterer Faktor, der die Artenvielfalt<br />

positiv beeinflussen könnte, ist die vor<br />

Ort beobachtete strukturelle Heterogenität<br />

des Waldes. Durch den in Höhe und Deckungsgrad<br />

stark variierenden Unterwuchs<br />

können Pflanzenarten unterschiedlicher<br />

Standortpräferenzen auf engem Raum koexistieren.<br />

Zur Erhaltung der Besonderheiten des<br />

Standortes ist es notwendig, weiterhin<br />

Holz aus dem Wald zu entnehmen. Unter<br />

Umständen wäre sogar eine Intensivierung<br />

der derzeitigen Nutzung angeraten, also<br />

weniger eine Entnahme von Einzelstämmen,<br />

sondern vielmehr ein periodisches<br />

vollständiges Abschlagen von Teilflächen.<br />

Auf diese Weise könnte man die besondere<br />

Struktur des Waldes erhalten, ohne<br />

schwerwiegend in das Ökosystem einzugreifen.<br />

Zumindest für die meisten Pflanzenarten<br />

dürfte ein solcher Eingriff unproblematisch<br />

sein, weil sie entweder ohnehin<br />

an hellen Standorten vorkommen oder von<br />

einer höheren Beleuchtungsstärke nicht<br />

negativ beeinflusst werden.<br />

Zeigerwerte<br />

Auch wenn es sich bei den Zeigerwerten<br />

nach Ellenberg um ordinale Werte handelt,<br />

die mathematisch betrachtet nicht<br />

gemittelt werden dürfen, so ist dieses Vorgehen<br />

üblich, denn es bietet den Vorteil,<br />

die Werte vieler Arten zugleich zu erfassen,<br />

wodurch stark abweichende Einzelarten<br />

weniger stark ins Gewicht fallen. Beim<br />

Umgang mit Zeigerwerten ist stets zu bedenken,<br />

dass die Angaben nur Schwerpunkte<br />

des Vorkommens aufzeigen und<br />

die einzelne Pflanze durchaus außerhalb<br />

des durch den Zeigerwert charakterisierten<br />

Bereichs vorkommen kann. Davon abgesehen<br />

sagen die Zeigerwerte einer einzelnen<br />

Art für sich betrachtet nur wenig aus,<br />

denn sie beruhen auf Angaben zum ökologischen<br />

Verhalten von Pflanzensippen. Es<br />

handelt sich also bei ihnen nicht um Angaben<br />

zu den optimalen Wachstumsbedingungen,<br />

sondern vielmehr zum natürlichen<br />

Vorkommen unter dem Konkurrenzdruck<br />

eines langjährig etablierten Bestandes. Im<br />

vorliegenden Fall hatte der Bestand bereits<br />

mehrere Jahrzehnte Zeit, um sein heutiges<br />

Bestandsbild zu erreichen. Außerdem<br />

handelt es sich um eine artenreiche Pflanzengesellschaft,<br />

welche die Bildung der<br />

qualitativen Mittelwerte rechtfertigt bzw.<br />

notwendig macht. Insbesondere da sie mit<br />

dem Kuckucksknabenkraut (Orchis mascula)<br />

einen typischen „Einzelgänger“ und<br />

zugleich wertvollen Indikator sowie mit<br />

dem Waldbingelkraut (Mercurialis perennis)<br />

eine Art mit starker vegetativer Vermehrung<br />

enthält, erscheint die qualitative<br />

Herangehensweise als angemessen. Bei der<br />

quantitativen Methode, bei der die Pflanzenarten<br />

entsprechend ihrer Häufigkeit<br />

gewichtet werden, würden die erwähnten<br />

Beispiele zu sehr oder zu wenig in die Berechnung<br />

einbezogen werden (vgl. Ellenberg<br />

et al. 2001).<br />

Durch die qualitativen Mittelwerte erhält<br />

man eine erste Einschätzung des<br />

Standortes. Diese soll im Folgenden mit<br />

den Zeigerwertspektren verglichen und<br />

gegebenenfalls konkretisiert werden:<br />

Obwohl die mittlere Lichtzahl (mL)<br />

bei 5,0 liegt, haben über 35 % der Arten<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


58 Ingo Geestmann<br />

Licht-Werte von 6 oder höher. Es muss<br />

also mindestens 30 bis 40 % relative Beleuchtung<br />

vorliegen, sonst könnten die<br />

entsprechenden Pflanzen nicht vorkommen.<br />

Zwar gibt es auch etwa 40 % Arten<br />

mit einem Lichtwert von 4 oder geringer,<br />

doch können diese Pflanzen auch an helleren<br />

Standorten gedeihen. Diese Tatsache<br />

und das Fehlen von Tiefschattenpflanzen<br />

legen nahe, dass es im Wald wesentlich<br />

heller sein muss, als der Mittelwert der<br />

Lichtzahl suggeriert.<br />

Mit einem Wert von 5,0 entspricht die<br />

mittlere Feuchtezahl (mF) in etwa dem<br />

Feuchtewert der meisten Pflanzen. Gut 90<br />

% liegen im Bereich von 4 bis 6 und zeigen<br />

damit einen etwa mittelfeuchten Boden<br />

an. Trockenheits- und Feuchtezeiger sind<br />

kaum vorhanden und fallen deshalb nicht<br />

ins Gewicht.<br />

Im Bereich von +/– 1 der mittleren Reaktionszahl<br />

(mR) mit einem Wert von 6,9<br />

liegen etwa 95 % der Arten, was auf einen<br />

schwach sauren bis schwach basischen,<br />

kalkreichen Boden schließen lässt. Diese<br />

Einschätzung deckt sich mit den Angaben<br />

des Besitzers Jörg Lehnhoff zu dem (kalk-)<br />

steinigen Untergrund des Waldes. Abweichungen,<br />

wenn auch nur im geringen Umfang<br />

vorhanden, gibt es nur hin zum sauren<br />

Bereich mit den Werten 3 und 5. Der Anteil<br />

der Arten mit diesen Werten liegt jeweils<br />

unter 3 %, könnte aber auf eine Tendenz<br />

ins leicht saure Milieu hinweisen.<br />

Die gleichmäßige Verteilung über einen<br />

breiten Bereich macht es schwierig,<br />

die Aussagekraft der mittleren Stickstoffzahl<br />

(mN) mit einem Wert von 6,2 einzuschätzen.<br />

Außerdem gilt es zu bedenken,<br />

dass sich die Werte für die Stickstoffzahl<br />

auf eine Zeit beziehen, zu der es noch<br />

keine gesteigerte Mineralstickstoffimmision<br />

gab, also auf die Zeit vor 1970, weshalb<br />

sie nach Ellenberg et al. (2001) auch<br />

„nur als Versuch“ zu werten sind. Das<br />

häufige Vorkommen zweier Zeigerarten<br />

für ein gute Nährstoffversorgung, Gelbes<br />

Windröschen (Anemone ranunculoides)<br />

und Waldbingelkraut (Mercurialis perennis;<br />

Hofmeister 2005), kann jedoch als Hinweis<br />

auf einen stickstoffreichen Standort<br />

gewertet werden.<br />

Ökologische Gruppen<br />

Vergleicht man die auf den Zeigerwerten<br />

basierende Einschätzung des Standortes<br />

mit dem Ökogramm in Abb. 9, so erkennt<br />

man eine hohe Deckungsgleichheit<br />

der Aussagen. Die artenreichsten ökologischen<br />

Gruppen (Buschwindröschen-,<br />

Goldnessel-, Bingelkraut-, Hexenkrautund<br />

Brennnessel-Gruppe) liegen im mäßig<br />

sauren bis alkalischen Bereich, wobei<br />

die Buschwindröschen-Gruppe aufgrund<br />

ihrer weiten ökologischen Amplitude weniger<br />

stark gewichtet werden sollte. Daraus<br />

ergibt sich der Charakter eines mehr<br />

oder weniger neutralen Bodens mit einer<br />

leichten Tendenz zur Versauerung. In Bezug<br />

auf die Bodenfeuchtigkeit liegt der<br />

Schwerpunkt tendenziell eher bei frischen<br />

und mittelfeuchten als bei trockenen Böden.<br />

Alle artenreichen Gruppen, insbesondere<br />

jedoch die Goldnessel-, Bingelkrautund<br />

Brennnessel-Gruppe, weisen auf einen<br />

nährstoffreichen Boden hin (Hofmeister<br />

1997). Tatsächlich scheint der Boden also<br />

nicht „außergewöhnlich karg“ zu sein.<br />

Die gleichmäßige Verteilung des Gruppenvorkommens<br />

der Goldnessel-Gruppe<br />

(siehe Abb. 2) kann als ein Beleg für eine<br />

gleichmäßig hohe Nährstoffversorgung im<br />

gesamten Wald gewertet werden. Folglich<br />

liegen der weniger gleichmäßigen Verteilung<br />

der anderen Gruppen wahrscheinlich<br />

andere Faktoren zugrunde. Denkbar wären<br />

hier beispielsweise die Hanglage und die<br />

Feuchtigkeit der Standorte.<br />

Unter Berücksichtigung der generell<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

59<br />

südlichen Exposition ist beim Vergleich<br />

der Hanglage nur die Stärke der Inklination<br />

zu beachten. Am Beispiel der Buschwindröschen-Gruppe<br />

fällt auf, dass die<br />

Flächen der einzelnen Gruppenvorkommen<br />

eine sehr unterschiedliche Inklination<br />

aufweisen. Die Gruppe kommt sowohl auf<br />

Flächen mit den größten gemessenen Neigungen<br />

(Fläche 7: 10°, Fläche 14: 9°) als<br />

auch in komplett ebenen Bereichen (Flächen<br />

6, 8, 12 und 20) vor. Ähnliches gilt<br />

für die anderen Gruppen, jedoch mit weniger<br />

stark ausgeprägten Unterschieden. Es<br />

ist denkbar, dass die Buschwindröschen-<br />

Gruppe dank ihrer weiten ökologischen<br />

Amplitude (Hofmeister 1997) die extremeren<br />

Standorte besetzt und die anderen<br />

Gruppen eher auf den weniger steilen Flächen<br />

vorkommen. Aufgrund der geringen<br />

Anzahl der Probeflächen mit ausgeprägter<br />

Hanglage mit einer Inklination von ca.<br />

10° (nur Flächen 7 und 14) und der Tatsache,<br />

dass auch andere Gruppen an diesen<br />

Standorten vorkommen, lässt sich ein<br />

deutlicher Einfluss der Inklination auf das<br />

Vorkommen der einzelnen Gruppen nicht<br />

belegen.<br />

In Bezug auf die Feuchtigkeit weisen<br />

die häufigen Gruppen nur geringe Unterschiede<br />

bei ihrem schwerpunktmäßigen<br />

Vorkommen auf. Die Art mit der niedrigsten<br />

Feuchtezahl (Viola hirta mit F=3; einziger<br />

Vertreter der Gruppe 10, vgl. Abb.<br />

9) kommt hauptsächlich im östlichen Teil<br />

des Waldes und vereinzelt im zentralen<br />

Bereich vor, wohingegen sie im westlichen<br />

Teil gänzlich fehlt. Möglicherweise<br />

gibt es ein West-Ost-Gefälle der Feuchtigkeit<br />

mit nach Osten trockener werdendem<br />

Boden. Das hauptsächlich auf diesen<br />

Bereich begrenzte Gruppenvorkommen<br />

der Buschwindröschen-Gruppe könnte<br />

ein Resultat des Konkurrenzdrucks im<br />

mittleren und westlichen Bereich des Waldes<br />

sein. Die Gruppe könnte dadurch auf<br />

die trockeneren Flächen verdrängt worden<br />

sein, wo sie wegen ihrer weiten ökologischen<br />

Amplitude besser als die Bingelkraut-<br />

und die Hexenkraut-Gruppe<br />

bestehen kann.<br />

Lebensformenspektrum<br />

Abb. 10 illustriert sehr anschaulich den<br />

ausgeprägten Frühjahrs-Geophyten-Aspekt<br />

des untersuchten Hainbuchenwaldes.<br />

Kritisch zu betrachten ist allerdings, dass<br />

der Vergleich auf einer unterschiedlich hohen<br />

Anzahl von Vegetationsaufnahmen<br />

(fünf für das erste Untersuchungsintervall<br />

und fünfzehn für das zweite) beruht. Dadurch<br />

könnte der Unterschied etwas deutlicher<br />

aussehen, als er tatsächlich ist. Auch<br />

ist der gesamte Deckungsgrad während<br />

des zweiten Untersuchungsintervalls bei<br />

weitem nicht so niedrig, wie ihn das Diagramm<br />

darstellt. Diese verzerrte Darstellungsweise<br />

ist auf die Verwendung der im<br />

Ergebnisteil angesprochenen Mittelwerte<br />

zurückzuführen, denn viele der Deckungsgrade<br />

während der zweiten Aufnahmeperiode<br />

waren nach oben hin „grenzwertig“,<br />

d. h., sie lagen häufig knapp unter dem<br />

nächst höheren Deckungsgrad.<br />

Aus diesen Gründen können auch nur<br />

die Unterschiede bei den Geophyten und<br />

dem holzigen Chamaephyten (nur Hedera<br />

helix) als signifikant gewertet werden.<br />

Der Unterschied beim Deckungsgrad des<br />

Efeus ist allerdings eher von den unterschiedlichen<br />

Standorten und dem geringeren<br />

Probenumfang beeinflusst als phänologisch<br />

bedingt – an den ersten fünf<br />

Untersuchungsstellen wuchs deutlich weniger<br />

Efeu.<br />

Obwohl die absolute Größe des Unterschiedes<br />

beim Deckungsgrad also durchaus<br />

diskussionswürdig ist, ist er doch deutlich<br />

genug, um dem Wald einen Frühjahrs-<br />

Geophyten-Aspekt zuzuordnen. Diese<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


60 Ingo Geestmann<br />

Feststellung deckt sich auch mit dem subjektiven<br />

Eindruck während der Untersuchung.<br />

Bei zukünftigen Untersuchungen<br />

sollte allerdings von vornherein ein zeitlicher<br />

Vergleich der Vegetation mit einer<br />

gleich hohen Anzahl von Vegetationsaufnahmen<br />

eingeplant werden. Auch wäre<br />

es sicher aufschlussreich, dieselben Probeflächen<br />

zu zwei oder mehr verschiedenen<br />

Zeitpunkten zu untersuchen, um<br />

diese dann direkt vergleichen zu können.<br />

Des Weiteren erscheint es angebracht, bei<br />

„grenzwertigen“ Deckungsgraden schon<br />

während der Vegetationsaufnahme zu notieren,<br />

ob der prozentuale Deckungsgrad<br />

in der Nähe des nächst höheren oder niedrigeren<br />

Deckungsgradwertes liegt. Mit<br />

dieser Information könnte man die Mittelwerte<br />

entsprechend nach oben bzw. unten<br />

korrigieren, womit man die Verzerrungseffekte<br />

minimieren würde.<br />

Schlussbemerkung<br />

Hainbuchen-Niederwälder sind einzigartige<br />

Standorte, die eine hohe Artenzahl<br />

beherbergen und die Lebensgrundlage<br />

für viele geschützte Arten bieten. Ohne<br />

eine fortgesetzte Nutzung steht allerdings<br />

zu befürchten, dass sie sich nach und nach<br />

wieder in die Wälder umformen, aus denen<br />

sie erst durch den menschlichen Einfluss<br />

hervorgegangen sind. Allerdings gibt es<br />

ökonomische Bedenken auf Seiten der Besitzer,<br />

weshalb versucht werden sollte, eine<br />

wirtschaftlich sinnvolle Nutzungsform für<br />

Verbreitungskarten<br />

Es ist auffällig, dass sechs der sieben<br />

laut jeweiliger Verbreitungskarte in der<br />

Nähe der nördlichen Verbreitungsgrenze<br />

vorkommende Arten auf der Roten<br />

Liste gefährdeter Farn- und Blütenpflanzen<br />

in Niedersachsen und Bremen (Garve<br />

2004) stehen. Das sind zwei Drittel der am<br />

Standort wachsenden gefährdeten Arten.<br />

Es kommen also viele Arten vor, die sonst<br />

vorzugsweise im südlicheren Deutschland<br />

gedeihen. Diese Tatsache unterstreicht die<br />

ökologische Besonderheit dieses Waldes.<br />

Er ist ein Sonderstandort, der Arten einen<br />

Lebensraum bietet, die sonst kaum oder<br />

kaum noch in Niedersachsen vorkommen.<br />

Ohne solche Hainbuchen-Niederwälder<br />

ist es wahrscheinlich, dass zukünftig viele<br />

seltene Arten keine geeigneten Standorte<br />

mehr haben werden und ein Aussterben<br />

wahrscheinlicher wird.<br />

diese Wälder zu erarbeiten. Denkbar wäre<br />

hier z. B. eine Nutzung des Holzes als<br />

nachwachsendes natürliches Heizmaterial<br />

in Holzpellet- oder Hackschnitzelheizungen.<br />

Dadurch erhielte man einerseits einen<br />

CO 2<br />

-neutralen Energieträger und würde<br />

andererseits den Wald davor bewahren, zu<br />

dicht zu werden. Ohne eine solche Möglichkeit<br />

ist ein langfristiges Fortbestehen<br />

der Hainbuchen-Niederwälder sehr unwahrscheinlich.<br />

Literatur<br />

Aichele, Dietmar; Golte-Bechtle, Marianne<br />

(2005): Was blüht denn da? – Stuttgart.<br />

Dierschke, Hartmut (1994): Pflanzensoziologie.<br />

– Stuttgart.<br />

Ellenberg, Heinz; Weber, Heinrich E.; Düll,<br />

Ruprecht; Wirth, Volkmar; Werner,<br />

Willy; Paulißen, Dirk (2001): Zeigerwerte<br />

von Pflanzen in Mitteleuropa. – Göttingen.<br />

Garve, Eckhard (2004): Rote Liste gefährdeter<br />

Farn- und Blütenpflanzen in Niedersachsen<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vegetation eines Hainbuchen-Niederwaldes bei Wittenburg<br />

61<br />

und Bremen. 5. Fassung vom 1.3.2004. –<br />

Informationsdienst Naturschutz Niedersachsen<br />

1/04, Hannover.<br />

Härdtle, Werner; Ewald, Jörg; Hölzel, Norbert<br />

(2004): Wälder des Tieflandes und der<br />

Mittelgebirge. – Stuttgart.<br />

Hofmeister, Heinrich (1997): Lebensraum<br />

Wald. – Berlin.<br />

Hofmeister, Heinrich (2005): Natur und Landschaft<br />

im Landkreis Hildesheim: Hildesheimer<br />

und Calenberger Börde. – Hildesheim.<br />

Pott, Richard (1993): Farbatlas Waldlandschaften.<br />

– Stuttgart.<br />

Pott, Richard (1996): Biotoptypen. – Stuttgart.<br />

Rothmaler, Werner (1999): Exkursionsflora<br />

von Deutschland. Band 2, Gefäßpflanzen:<br />

Grundband. – Berlin.<br />

Rothmaler, Werner (2007): Exkursionsflora<br />

von Deutschland. Band 3, Gefäßpflanzen:<br />

Atlasband. – München.<br />

Schmeil, Otto; Fitschen, Jost (2006): Flora von<br />

Deutschland und angrenzender Länder. –<br />

Wiebelsheim.<br />

Abbildungsquellen<br />

Abb 1: GeoContent GmbH und OpenStreet-<br />

Map.de; abgeändert.<br />

Abb. 2: GeoContent GmbH.<br />

Abb. 9: Hofmeister (1997); verändert.<br />

Abbildung 3 – 8, 10: Ingo Geestmann.<br />

Abbildung 11 – 16: FloraMap Framework,<br />

floraweb.de (2009); verändert.<br />

Danksagung<br />

Diese Arbeit ging aus einer Bachelorarbeit<br />

am Institut für Geobotanik der<br />

Leibniz Universität Hannover hervor. Ich<br />

danke Prof. Dr. Hansjörg Küster, der die<br />

Untersuchung dieses Hainbuchenwaldes<br />

anregte und mich bei der Durchführung<br />

betreut hat, sowie Dr. Ansgar Hoppe und<br />

Prof. Dr. Joachim Hüppe für ihre Hilfe bei<br />

der Bestimmung strittiger Arten. Außerdem<br />

danke ich Familie Lehnhoff für ihre<br />

freundliche und bereitwillige Auskunft, sowie<br />

Steffen Wenig von der GeoContent<br />

GmbH für die Bereitstellung des Luftbildes<br />

von Wittenburg.<br />

Arbeit eingereicht: 25.10.2009<br />

Arbeit angenommen: 17.05.2010<br />

Anschrift des Verfassers:<br />

Ingo Geestmann B. Sc.<br />

Fritz-Haber-Straße 14<br />

28357 Bremen<br />

E-Mail: ingo.geestmann@googlemail.com<br />

Anhang Tab. 1 Artmächtigkeit nach Braun-Blanquet.<br />

Artname<br />

Probestelle<br />

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20<br />

B1 Carpinus betulus 4 4 4 4 4 3 4 4 4 3 4 3 3 4 4 3 4 4 3 4<br />

Pyrus pyraster 1<br />

Quercus petraea 3<br />

Str. Acer campestre r r + r r + + r r r + + + r r +<br />

Acer platanoides r r r<br />

Acer pseudoplatanus<br />

r<br />

Carpinus betulus r + r r + + r r + + +<br />

Corylus avellana r r r r<br />

Crataegus monogyna r r r r r + r r + + + + 1 + + + + r<br />

Fraxinus excelsior + + r r + r r r r + r<br />

Lonicera periclymenum r r r r r +<br />

Prunus spinosa r r r r r + r r + r r r<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


62<br />

Artname<br />

Probestelle<br />

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20<br />

Quercus petraea r r r r r r r r<br />

Ribes uva-crispa<br />

r<br />

Rosa arvensis r r r<br />

Rubus fruticosus agg. r r r r +<br />

Sambucus nigra r + + r + + + 1 + 1 1 + + 1 + r 1 1<br />

Sorbus torminalis r r r<br />

Kr. Alliaria petiolata r r + r<br />

Anemone nemorosa 2 2 2 2 2 1 + + + 1 + + r r r r + r r r<br />

Anemone ranunculoides 2 2 2 2 2 + + + + 1 + + r r r + r<br />

Aquilegia vulgaris<br />

r<br />

Arctium lappa<br />

r<br />

Arum maculatum r r<br />

Carpinus betulus + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +<br />

Chaerophyllum bulbosum r r r r<br />

Chaerophyllum temulum r + r r r r r<br />

Circaea lutetiana r r + + r + r r r + + r<br />

Cynoglossum germanicum<br />

r<br />

Dactylis polygama r r + r r r<br />

Fragaria vesca r r r<br />

Galium aparine<br />

r<br />

Galium odoratum 1 1 1 + + + + r 1 + +<br />

Geranium robertianum r r r + + r +<br />

Geum urbanum r + 1 + + r + 1 r 1 + + + + + + + + 1<br />

Hedera helix 1 1 2 1 2 3 2 1 2 3 1 2<br />

Hordelymus europaeus<br />

r<br />

Lamiastrum galeobdolon 1 + 1 + + + + 1 + + 1 + + + + + + + 1 +<br />

Lilium martagon r r 1 + + + r + +<br />

Melica uniflora + + 1 + 1 + + + + + + 1 r<br />

Mercurialis perennis r + + r 1 +<br />

Orchis mascula r r r r r r<br />

Phyteuma spicatum r r<br />

Poa nemoralis<br />

r<br />

Potentilla anserina<br />

r<br />

Primula veris + r + 1 + + r + + r + + + + +<br />

Ranunculus auricomus agg. + + r r r r r r r r r r r r r +<br />

Sanicula europaea r + +<br />

Stellaria holostea + + r<br />

Taraxacum officinale agg. r r<br />

Urtica dioica<br />

r<br />

Vicia sepium r + + r 1 + + + r +<br />

Viola hirta + + r + + r + +<br />

Viola mirabilis r + r r<br />

Viola reichenbachiana 1 + + + + 1 + + + + 1 + + + + + + + + +<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


63<br />

Insekten aus dem Ober-Jura in<br />

Norddeutschland<br />

Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />

Zusammenfassung<br />

Insektenreste aus dem Ober-Jura in<br />

Norddeutschland sind außerordentlich selten.<br />

Bisher sind nur fünf isolierte Flügel<br />

bekannt; sie stammen aus Ablagerungen<br />

des „Kimmeridge“ (im Sinne der für Nordwest-Deutschland<br />

gebräuchlichen lithostratigraphischen<br />

Terminologie). Vier davon<br />

sind Flügeldecken (Elytrae) von Käfern<br />

(Coleoptera): Hyperomima sp. Schultka<br />

1991 und drei unbestimmbare Funde; das<br />

fünfte Exemplar ist eine Halbdecke (Hemielytra)<br />

der Wasserwanze (Hemiptera:<br />

Nepomorpha: Belostomatidae) Nettelstedtia<br />

breitkreutzi Popov, Rust & Brauckmann<br />

2000. Die wenigen Fundstellen<br />

beschränken sich auf das Wiehengebirge<br />

(Hille-Oberlübbe und Nettelstedt; nordöstliches<br />

Nordrhein-Westfalen) und den<br />

Raum Oker (Steinbruch im Langenberg,<br />

nördliches Harzvorland, Niedersachsen).<br />

Summary<br />

Late Jurassic insect remains are still extremely<br />

rare in northern Germany. Up to<br />

now only five isolated wings have been recorded<br />

from “Kimmeridgian” deposits (as<br />

used in the German lithostratigraphical<br />

terminology). Four of them are elytrae<br />

of beetles (Coleoptera): Hyperomima sp.<br />

Schultka 1991 and three indeterminable<br />

specimens; the fifth specimen is a hemielytra<br />

of the water-bug (Hemiptera:<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


64 Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />

Nepomorpha: Belostomatidae) Nettelstedtia<br />

breitkreutzi Popov, Rust & Brauckmann<br />

2000. The few collecting sites<br />

are restricted to the Wiehengebirge<br />

(Hille-Oberlübbe and Nettelstedt; northeastern<br />

North Rhine-Westphalia) as well<br />

as to the Okerregion (Langenberg quarry,<br />

northern Harz foreland, Lower Saxony).<br />

Die Insektenreste<br />

Reste von Insekten aus dem Ober-Jura<br />

sind in Norddeutschland bislang außerordentlich<br />

selten. In älteren Gesamtübersichten<br />

wie zum Beispiel von Handlirsch<br />

(1906 – 1908; 1939) und von Hennig<br />

(1981) finden sich überhaupt keine Hinweise.<br />

Die ersten Nachweise lieferte Schultka<br />

(1991), der mit Hyperomima sp. und einem<br />

weiteren, nicht näher bestimmbaren<br />

Fund zwei Käfer-Flügeldecken (Elytren)<br />

beschrieb. Diese stammen aus dem Steinbruch<br />

der Firma Sudbrack (ehemals Steinbruch<br />

Petring) bei Hille-Oberlübbe im<br />

Wiehengebirge. Das Fundgebiet liegt somit<br />

im nordöstlichsten Bereich von Nordrhein-Westfalen,<br />

nahe der Grenze zu Niedersachsen.<br />

Das stratigraphische Alter der<br />

Elytren lässt sich etwa auf den unteren<br />

Grenzbereich des „Kimmeridge“ einengen.<br />

Zwei weitere Insektenreste sind wenige<br />

Jahre später von Popov et al. 2000<br />

Abb. 1 Käfer-Elytre: Hyperomima sp. Schultka 1991;<br />

Ober-Jura (etwa unterer Grenzbereich des „Kimmeridge“);<br />

Steinbruch der Firma Sudbrack (ehemals<br />

Steinbruch Petring) bei Hille-Oberlübbe, Wiehengebirge,<br />

nordöstliches Nordrhein-Westfalen;<br />

Länge = 5,6 mm (aus Schultka 1991).<br />

Abb. 2 Käfer-Elytre: Coleoptera, fam., gen. et<br />

sp. indet. Schultka 1991; Ober-Jura (etwa unterer<br />

Grenzbereich des „Kimmeridge“); Steinbruch der<br />

Firma Sudbrack (ehemals Steinbruch Petring) bei<br />

Hille-Oberlübbe, Wiehengebirge, nordöstliches<br />

Nordrhein-Westfalen; erhaltene Länge = 4,5 mm<br />

(aus Schultka 1991).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />

65<br />

beschrieben worden. Es handelt sich dabei<br />

um einen recht vollständig erhaltenen<br />

Vorderflügel (Hemielytre) einer Wasserwanze<br />

(= Nepomorpha), die den Namen<br />

Nettelstedtia breitkreutzi Popov, Rust &<br />

Brauckmann 2000 (Abb. 5 a, b) bekommen<br />

hat und zu den Riesenwasserwanzen<br />

(= Belostomatidae) gehört. Der zweite<br />

Fund ist wiederum eine nicht näher bestimmbare<br />

Käfer-Flügeldecke. Das Fund-<br />

Gebiet, der Steinbruch „Schwarze“ bei<br />

Nettelstedt, liegt ebenfalls im Wiehengebirge<br />

im Nordosten Nordrhein-Westfalens<br />

und ist nur etwa zwei Kilometer westlich<br />

vom oben genannten Steinbruch der Firma<br />

Sudbrack entfernt. Die Fundschicht ist<br />

jedoch ein wenig jünger und gehört dem<br />

„Mittel-Kimmeridge“ an.<br />

Nach Dathe (2003) leben die<br />

Belostomatidae auch heute noch mit derzeit<br />

146 Arten überwiegend in den Tropen<br />

und Subtropen in stehenden Binnengewässern.<br />

In die weitere Verwandtschaft – nämlich<br />

in die selbständige Familie Nepidae<br />

(= Skorpionswanzen) – gehören auch z. B.<br />

der einheimische Wasserskorpion Nepa rubra<br />

(natürlich kein echter Skorpion!) und<br />

die Stabwanze Ranatra linaris. Beide Arten<br />

sind nicht selten in langsam fließenden<br />

und schlammigen bzw. in stehenden seichten<br />

Binnengewässern zu finden. Sie leben<br />

räuberisch, indem sie am schlammigen Boden<br />

oder zwischen Pflanzen versteckt ihrer<br />

Beute auflauern, die aus anderen im Wasser<br />

lebenden Insekten, Wasserflöhen und<br />

dergleichen besteht; beim Wasserskorpion<br />

gehören auch Kaulquappen und Jungfische<br />

zum Nahrungsspektrum.<br />

Abb. 3 Käfer-Elytre: Coleoptera, fam., gen. et sp.<br />

indet. Brauckmann & Gröning 2007; Ober-Jura („Mittel-<br />

Kimmeridge“, Langenberg-Formation); Steinbruch<br />

im Langenberg bei Oker, nördlicher Harzrand, Niedersachsen;<br />

Länge = 4,6 mm (aus Brauckmann &<br />

Gröning 2007). Links Fotografie, rechts Zeichnung.<br />

1 mm<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


66 Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />

Abb. 4 Käfer-Elytre: Coleoptera, fam., gen. et<br />

sp. indet. Popov, Rust & Brauckmann 2000; Ober-Jura<br />

(„Mittel-Kimmeridge“); Steinbruch „Schwarze“<br />

bei Nettelstedt, Wiehengebirge, nordöstliches<br />

Nordrhein-Westfalen; erhaltene Länge = 2,0 mm<br />

(aus Popov et al. 2000).<br />

Abb. 5 Hemielytre einer Wasserwanze: Nettelstedtia<br />

breitkreutzi Popov, Rust & Brauckmann 2000; Ober-<br />

Jura („Mittel-Kimmeridge“); Steinbruch „Schwarze“<br />

bei Nettelstedt, Wiehengebirge, nordöstliches<br />

Nordrhein-Westfalen; erhaltene Länge = 9,0 mm.<br />

a) Zeichnung mit Farbverteilung;<br />

b) Interpretation des Geäders; C = Costa,<br />

Sc = Subcosta, R+M = Radius + Media, Cu = Cubitus<br />

(aus Popov et al. 2000).<br />

a)<br />

b)<br />

1 mm<br />

1 mm<br />

Der erste Nachweis von Insekten aus<br />

dem Ober-Jura in Niedersachsen ist abermals<br />

eine nicht näher bestimmbare Käfer-Flügeldecke<br />

(Abb. 3 a, b) aus dem<br />

„Mittel-Kimmeridge“ im Steinbruch am<br />

Langenberg bei Oker und somit aus dem<br />

unmittelbar nördlich an den Harz anschließenden<br />

Harzvorland. Beschrieben<br />

wurde der Fund von Brauckmann & Gröning<br />

(2007) unter „Offener Nomenklatur“<br />

als Coleoptera, fam., gen. et sp. indet. Da<br />

im Langenberg-Profil auch Pflanzenfossilien<br />

vorkommen, sind künftig auch weitere<br />

Insekten zu erwarten: Eine Lage im<br />

jüngeren, mehr terrestrisch beeinflussten<br />

Profil-Abschnitt führt sogar größere zusammenhängende<br />

Pflanzenreste (Karl et<br />

al. 2008: Abb. 1), auf denen aufsitzend Insekten<br />

leicht mit eingedriftet worden sein<br />

können.<br />

Literatur<br />

Brauckmann, Carsten; Gröning, Elke (2007):<br />

A first record of Insecta from the Late Jurassic<br />

sequence of the Langenberg near Oker,<br />

Lower Saxony. – Clausthaler Geowissenschaften,<br />

6: 45–48. – Clausthal-Zellerfeld.<br />

Dathe, Holger H. [Hrsg.] (2003): 5. Teil: Insecta.<br />

– In: Kaestner, Alfred [Begründer]:<br />

Lehrbuch der Speziellen Zoologie, Band I:<br />

Wirbellose Tiere. – Heidelberg, Berlin.<br />

Handlirsch, Anton (1906–1908): Die fossilen<br />

Insekten und die Phylogenie der rezenten<br />

Formen. Ein Handbuch für Paläontologen<br />

und Zoologen. – Leipzig.<br />

Handlirsch, Anton (1939): Neue Untersuchungen<br />

über die fossilen Insekten mit Ergänzungen<br />

und Nachträgen sowie Ausblicken<br />

auf phylogenetische, palaeogeographische<br />

und allgemein biologische Probleme. 2. Teil.<br />

– Annalen des Naturhistorischen Museums<br />

in Wien, 49: 1–240. – Wien.<br />

Hennig, Willi (1981): Insect Phylogeny. –<br />

Chichester/New York/Brisbane/Toronto.<br />

Karl, Hans-Volker; Gröning, Elke; Brauckmann,<br />

Carsten; Knötschke, Nils (2008):<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />

67<br />

First remains of the head of Steneosaurus<br />

(Crocodylomorpha: Teleosauridae) from the<br />

Late Jurassic of Oker (Lower Saxony, Germany).<br />

– Studia Geologica Salmanticensia,<br />

44 (2): 187. – 201; Salamanca.<br />

Popov, Yuri A.; Rust, Jes; Brauckmann, Carsten<br />

(2000): Insektenreste (Hemiptera: Belostomatidae;<br />

Coleoptera) aus dem Ober-Jura<br />

(„Kimmeridge“) von Nettelstedt (Wiehengebirge,<br />

NW-Deutschland). – Neues Jahrbuch<br />

für Geologie und Paläontologie Monatshefte,<br />

2000 (2): 83–92. – Stuttgart.<br />

Schultka, Stephan (1991): Beiträge zur oberjurassischen<br />

Flora des Wiehengebirges. – Geologie<br />

und Paläontologie in Westfalen, 19:<br />

55–93. – Münster/Westfalen.<br />

Arbeit eingereicht: 08.06.2010<br />

Arbeit angenommen: 02.07.2010<br />

Anschrift der Verfasser:<br />

Prof. Dr. Carsten Brauckmann<br />

Dr. Elke Gröning<br />

Institut für Geologie und Paläontologie<br />

Technische Universität Clausthal<br />

Leibnizstraße 10<br />

D-38678 Clausthal-Zellerfeld<br />

E-Mail:<br />

carsten.brauckmann@tu-clausthal.de<br />

elke.groening@tu-clausthal.de<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


68<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


69<br />

Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungsschlüssel<br />

für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

Anna-Dinah Eßer<br />

Vorwort<br />

Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Vorstellung<br />

eines Bestimmungsschlüssels für<br />

Halswirbel einiger Carnivorenspezies, anhand<br />

dessen fossile und rezente Knochenfunde<br />

zugeordnet werden können. Der<br />

Schlüssel richtet sich an interessierte Archäozoologen,<br />

Hobbypaläontologen, Studenten<br />

der Geologie sowie Zoologie und<br />

Fachkundler. Mit Hilfe dieses Schlüssels<br />

wurden Wirbel aus der Quartärsammlung<br />

des Niedersächsischen Landesmuseums<br />

Hannover (NLMH) bestimmt.<br />

Einleitung<br />

Lage- und Richtungsbezeichnungen<br />

Zum besseren Verständnis wird hier<br />

eine kurze Einführung in Lage- und Richtungsbezeichnungen<br />

am Tierkörper gegeben.<br />

Bei der groben Lagebeschreibung von<br />

Teilen des Körperstammes werden Begriffe<br />

wie dorsal (rückenwärts), ventral<br />

(bauchwärts), cranial (kopfwärts, im vorderen<br />

Körperteil, vor einer anderen Struktur<br />

liegend) und caudal (schwanzwärts, im<br />

hinteren Körperteil, hinter einer anderen<br />

Struktur) verwendet (Abb. 1). Diese lassen<br />

sich miteinander kombinieren, um die<br />

Beschreibung zu präzisieren (craniodorsal,<br />

caudoventral usw.) (Nickel et al. 1992).<br />

Weitere Begriffe, die im Bestimmungsschlüssel<br />

verwendet werden, sind medial<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


70 Anna-Dinah Eßer<br />

Verwendete Abkürzungen<br />

art. = articularis/ articulares<br />

bzw. = beziehungsweise<br />

C. = Canis (l. = lupus)<br />

ca. = circa<br />

caud./caudd. = caudalis/caudales<br />

(Singular/Plural)<br />

cd. = caudal, Richtung Schwanz<br />

weisend<br />

cr. = cranial, Richtung Kopf weisend<br />

cran./crann. = cranialis/craniales<br />

(Singular/Plural)<br />

For./Forr. = Foramen/Foramina<br />

(Singluar/Plural)<br />

P. = Panthera<br />

Proc./Procc. = Processus/Processus<br />

(Singular/Plural)<br />

sp. = species<br />

tr. = transversus<br />

V. = Vulpes<br />

z. T. = zum Teil<br />

Erläuterungen zu den Abbildungen<br />

Soweit nicht anders angegeben, wurden die<br />

Abbildungen von der Autorin erstellt. Die<br />

Schemazeichnungen der Wirbel basieren auf<br />

der Grundlage von Canis-lupus (Wolf)-Wirbeln.<br />

Pfeile ohne weiteren Bezug weisen nach cranial.<br />

Die Größe der Skala beträgt, wenn vorhanden,<br />

1 cm.<br />

(in der Mitte, Mittelebene) bzw. median<br />

(mittig), lateral (seitlich, außenseitig, neben<br />

dem Median liegend), craniad (in Richtung<br />

des Kopfes) und caudad (in Richtung<br />

des Schwanzes). Dextral bezeichnet die<br />

rechte, sinistral die linke Körperseite (erweitert<br />

nach Nickel et al. 1992, König &<br />

Liebich 2001).<br />

Die Wirbelsäule der Säugetiere<br />

Trotz der Unterschiede, die durch Bewegungsmuster<br />

und Körperhaltungen entstehen,<br />

sind die Wirbelsäulen aller Säugetiere<br />

homolog (van Valen 1982, Roth 1984).<br />

Die Bereiche der Wirbelsäule lassen sich<br />

anhand ihrer jeweils spezifischen Morphologie<br />

relativ gut unterscheiden. Jede Tierart<br />

hat eine festgelegte Anzahl an Wirbeln in<br />

den einzelnen Bereichen, allerdings können<br />

auch interindividuelle Variationen auftreten<br />

(Salomon et al. 2005).<br />

Alle Säugetiere besitzen sieben Halswirbel.<br />

Bei Giraffen sind sie entsprechend verlängert,<br />

bei vielen aquatisch lebenden Säugetieren<br />

wie beispielsweise Walen dagegen<br />

stark verkürzt.<br />

Abb. 1 Richtungsbezeichnungen.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

71<br />

Die anderen Wirbelsäulenbereiche können<br />

in ihrer Wirbelanzahl selbst intraspezifisch<br />

stark voneinander abweichen. So<br />

besitzen Haushunde 12 bis 14 Brustwirbel<br />

und sechs bis sieben Lendenwirbel. Besonders<br />

auffallend ist der Unterschied jedoch<br />

interspezifisch (Herre & Röhrs 1990).<br />

Eine Veränderung der Wirbelzahl bei<br />

Haustieren ist mit gezielter Züchtung von<br />

Tieren mit erhöhter Wirbelanzahl zu erklären.<br />

Doch auch bei Wildformen ist die<br />

Anzahl der Thorakal-, Lumbal- und Caudalwirbel<br />

variabel (Nickel et al. 1954; Herre<br />

& Röhrs 1990).<br />

Eine Studie aus dem Jahr 2005 belegt,<br />

dass die Wirbelanzahl schon früh in<br />

der Entwicklung der Säugetiere festgelegt<br />

wurde. Die Wirbelformel könnte allerdings<br />

spezifisch für verschiedene Abstammungslinien<br />

sein. Einen Hinweis hierauf fanden<br />

die Autoren bei der Anzahl der Thorakolumbalwirbel,<br />

die bei den Carnivoren im<br />

Regelfall 20 beträgt, während es bei den<br />

meisten anderen plazentalen Säugetieren<br />

19 sind. Eine weitere Ausnahme bilden einige<br />

hominoide Affenarten (Hylobatidae<br />

und Pongidae), die 17 oder 18 Wirbel im<br />

Thorakolumbarbereich besitzen (Narita &<br />

Kuratani 2005).<br />

Die bei Säugetieren konstante Anzahl<br />

von sieben Halswirbeln ist auf eine<br />

Kombination der an der Entwicklung<br />

der Wirbelsäule beteiligten Hox-Gene<br />

und der Entwicklung des Nervensystems<br />

zurückzuführen (Galis 1999). Er postuliert,<br />

dass eine Abweichung von der festgelegten<br />

Anzahl bei Säugetieren ein erhöhtes<br />

Risiko für die Ausbildung von neuronalen<br />

Problemen, Totgeburten und „early childhood<br />

cancer“ birgt.<br />

Bei aller intra- und interspezifischer Variation<br />

und den Veränderungen der Wirbelform<br />

im Verlauf der Wirbelsäule liegt<br />

dennoch jedem Wirbel der gleiche Bauplan<br />

zu Grunde. Sie gehören zu den Ossa<br />

brevia, den kompakten, kurzen Knochen.<br />

Die ausfüllende Substantia spongiosa wird<br />

von der Substantia compacta ummantelt<br />

(König & Liebich 2001). Sie besitzen keine<br />

einheitliche Markhöhle (Michel et al.<br />

1986).<br />

Ein Wirbel kann grob in drei Bereiche<br />

unterteilt werden: den Körper, den darüber<br />

liegenden Neuralbogen und die Fortsätze.<br />

Der Wirbelkörper (Corpus vertebrae, Abb.<br />

2; 3) ist mehr oder weniger zylindrisch bis<br />

dreiseitig-prismatisch geformt und bildet<br />

den Grundstock des Wirbels. Darauf<br />

aufbauend bildet der Wirbelbogen (Arcus<br />

vertebrae, Abb. 2; 15) einen Durchlass für<br />

das Rückenmark. Wirbelfortsätze (Processus<br />

vertebrae, Abb. 2; 9 – 14) bilden Ansatzpunkte<br />

für Muskulatur und Sehnen und<br />

sind, je nach Wirbelposition, unterschiedlich<br />

ausgeprägt (Nickel et al. 1954).<br />

Wie von Nickel et al. (1954) und bei König<br />

& Liebich (2001) beschrieben bilden<br />

jeweils die Facies articulares craniales bzw.<br />

Wirbel – anatomische Synonyme aus Medizin, Tiermedizin, Paläontologie und Zoologie<br />

Verwendeter Begriff<br />

Synonym<br />

Arcus vertebrae<br />

Arcus neuralis / Neuralbogen<br />

Facies articulares craniales Caput vertebrae<br />

Foramen intervertebrale<br />

For. intervertebrale laterale<br />

Foramen vertebrale<br />

Foramen vertebrae<br />

Proccessus articulares cran./caud. Prä-bzw. Postzygapophyse<br />

Processus spinalis<br />

Processus spinosus<br />

Substantia compacta<br />

Substantia corticalis / Corticalis<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


72 Anna-Dinah Eßer<br />

Abb. 2 Halbschema eines Wirbels. Ansicht craniolateral.<br />

Nach Nickel et al. 1992. 1 Crista ventralis;<br />

2 Extremitas cranialis/Facies articularis cranialis;<br />

3 Corpus vertebrae; 4 Crista dorsalis; 5 Venenlöcher;<br />

6 Incisura vertebralis cranialis; 7 Foramen<br />

vertebrale; 8 Incisura vertebralis caudalis;<br />

9 Processus transversus; 10 Processus mammilares;<br />

11 Processus accessorius; 12 Processus<br />

articulares craniales; 13 Processus articulares caudales;<br />

14 Processus spinalis ; 15 Arcus vertebrae.<br />

caudales die Enden der Wirbelkörper. Sie<br />

sitzen den Extremitas craniales bzw. caudales<br />

auf und bilden eine konvexe (F. art .cran.<br />

bzw. Caput vertebrae) bzw. konkave (F. art.<br />

caud. bzw. Fossa vertebrae) Artikulationsfläche<br />

(Abb. 2; 2). Zwischen den Wirbeln<br />

sitzen knorpelige Scheiben, die Disci intervertebrales<br />

genannt werden (Nickel et al.<br />

1954; König & Liebich 2001). Der Raum<br />

zwischen den Wirbeln ist unterschiedlich<br />

breit und wird als Spatium interarticulare<br />

bezeichnet (Salomon et al. 2004). Der dorsal<br />

über dem Wirbelkörper stehende Arcus<br />

vertebrae ist durch zwei „Füßchen“ (Pediculi<br />

arcus vertebrae) mit diesem verbunden.<br />

Zwischen diesen Knochenteilen befindet<br />

sich das Wirbelloch (Foramen vertebrale<br />

Abb. 2; 7) (Salomon et al. 2004).<br />

Die Foramina vertebrale bilden insgesamt<br />

den Wirbelkanal (Canalis vertebralis),<br />

durch den das Rückenmark verläuft<br />

(Nickel et al. 1954). Dieses wird von Hüllen<br />

geschützt und von Segmentalnerven,<br />

Blutgefäßen, Bändern, Fett und lockerem<br />

Bindegewebe umgeben (König & Liebich<br />

2001). Der Wirbelkanal ist im Bereich des<br />

ersten und zweiten Halswirbels am größten.<br />

An der Hals-Brustgrenze und im Lendengebiet<br />

weist er Lumenerweiterungen<br />

auf, die den Verdickungen des Rückenmarkes<br />

Platz bieten. Caudal verjüngt sich<br />

der Kanal allmählich, bis er in den ersten<br />

(Nickel et al. 1954) bzw. in den fünften<br />

bis siebten Schwanzwirbeln (Michel et al.<br />

1986) endet.<br />

Dorsal auf dem Wirbelkörper verläuft<br />

eine Crista dorsalis (Bandleiste, Abb 2; 4),<br />

die beidseitig durch Längsrinnen begrenzt<br />

wird. In diesen liegen Blutgefäße, die<br />

durch Gefäßkanäle (Venenlöcher, Abb. 2;<br />

5) auf die Ventralseite des Wirbels führen<br />

können. Hier befindet sich die Crista ventralis,<br />

die regional unterschiedlich stark ausgeprägt<br />

ist (Abb. 2; 1) (Nickel et al. 1954).<br />

Die Pediculi arcus vertebrae besitzen an<br />

ihrer Basis sowohl cranial als auch caudal<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

73<br />

Einkerbungen, die Incisura vertebralis cranialis<br />

bzw. caudalis (Abb. 2; 6, 8). Bei aufeinander<br />

folgenden Wirbeln bilden sie das<br />

Zwischenwirbelloch (Foramen intervertebrale),<br />

durch das Gefäße laufen (Salomon et<br />

al. 2004).<br />

Die Fortsätze sind in den verschiedenen<br />

Wirbelsäulenabschnitten unterschiedlich<br />

ausgebildet. In der Medianen des Wirbelbogens<br />

sitzt der Dornfortsatz (Processus<br />

spinalis), der im Verlauf der Halswirbelsäule<br />

an Länge zunimmt (Abb. 2; 14). Der<br />

längste Dornfortsatz ist bei den vorderen<br />

Thorakalwirbeln zu finden. Hier sind die<br />

Procc. spinales caudad ausgerichtet. Im Verlauf<br />

der Wirbelsäule wird der Dornfortsatz<br />

niedriger und steiler, bis er bei einem bestimmten<br />

Wirbel nahezu senkrecht nach<br />

dorsal zeigt (Vertebra anticlinalis, griech.<br />

antiklinein = dagegen neigend). An diesem<br />

Punkt wechselt die Neigung die Richtung,<br />

sie zeigt darauf folgend mehr oder weniger<br />

stark nach cranial und die Dornfortsätze<br />

werden wieder höher (Nickel et al. 1992)<br />

(Abb. 3). Die Ausprägung dieser Merkmale<br />

ist artspezifisch und kann erheblichen<br />

Abweichungen unterliegen (z. B. beim<br />

Braunbär Ursus arctos L. und dem afrikanischen<br />

Nashorn Diceros bicornis L. tritt<br />

keine Antikline auf; die Lumbalwirbel<br />

zeigen ebenfalls mehr oder weniger stark<br />

nach caudal, s. Slijper 1949). Laut Slijper<br />

dienen die Dornfortsätze als Muskelhebelarme,<br />

was auch ihre Ausrichtung erklärt.<br />

Der geringste Materialaufwand mit dem<br />

größten Nutzen als Ansatzstelle für einen<br />

oder mehrere Muskeln entscheidet über<br />

die Richtung, in die der Dornfortsatz zeigt.<br />

Dies erklärt auch die so genannte Antikline<br />

und den diaphragmatischen Wirbel<br />

(Slijper 1946).<br />

Die Unterscheidung der Antikline und<br />

des diaphragmatischen Wirbels ist nicht<br />

immer eindeutig. Giebel (1853, 1900)<br />

benutzte laut Gottlieb und Slijper den<br />

Namen „diaphragmatischer Wirbel“ für<br />

den Wirbel, an dem der Dornfortsatz<br />

senkrecht nach dorsal zeigt und sich die<br />

Ausrichtung der Dornfortsätze ändert (s.<br />

Gottlieb 1915 und Slijper 1946). Die gleiche<br />

Definition benutzen auch Nickel et al.<br />

in der Ausgabe ihres Anatomiebuches von<br />

1954. König und Liebich geben den Brustwirbel<br />

in senkrechter Stellung („bei Hunden<br />

der zehnte, bei Schwein und Ziege<br />

der 12., beim Rind der 13. und beim Pferd<br />

der 16.“) als diaphragmatischen Wirbel<br />

an, ohne weitere Erklärungen hinzuzufügen<br />

(König & Liebich 2001 S. 81). Hierbei<br />

ist nicht ganz klar, ob sie sich auf die zuvor<br />

angesprochene Stellung des Dornfortsatzes<br />

beziehen oder tatsächlich auf die Neigung<br />

des Wirbelkörpers.<br />

Laut Gottlieb (1915) ist die Antikline<br />

(oder der antiklinische Wirbel) und der<br />

diaphragmatische Wirbel nicht gleichzusetzen.<br />

Nach Gottlieb zeigt sich die Antikline<br />

nicht nur in den Dornfortsätzen,<br />

sondern auch am Wirbelkörper und ist<br />

nicht in allen Arten vorhanden. Bei den<br />

Carnivoren zeigt sie sich deutlich als Richtungswechsel<br />

der Neigung der Dornfortsätze.<br />

Aber die Position des Wirbels, an<br />

dem diese Antikline in Erscheinung tritt,<br />

ist intraspezifisch unterschiedlich. Die tatsächliche<br />

Antikline kann auch zwischen<br />

zwei Wirbeln liegen, muss aber nicht an<br />

der gleichen Position auftreten wie der so<br />

genannte diaphragmatische Wirbel (Gottlieb<br />

1915). Slijper schreibt, dass ein diaphragmatischer<br />

Wirbel auch bei Tieren<br />

auftritt, die keine Antikline besitzen. Der<br />

diaphragmatische Wirbel bezeichnet laut<br />

Slijper (1946) die Position, an der die Facies<br />

articulares craniales tangential, die Facies<br />

articulares caudales aber radial stehen (Slijper<br />

1946).<br />

Dieser Definition folgen auch Hildebrand<br />

und Goslow: „Antiklin wird ein<br />

Brustwirbel genannt, dessen senkrecht<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


74 Anna-Dinah Eßer<br />

Abb. 3 Antikliner und diaphragmatischer Wirbel.<br />

Beispiel. (SaNr. 33513); Pfeil = Richtung cranial;<br />

Maßstab 1 cm.<br />

zur Längsachse ausgerichteter Dornfortsatz<br />

den Übergang zwischen nach hinten<br />

und nach vorn gerichteten Dornfortsätzen<br />

darstellt“ (Hildebrand & Goslow 2003, S.<br />

647). Außerdem definieren sie den diaphragmatischen<br />

Wirbel als „[…] Thorakalwirbel<br />

mit meist nach oben gerichteten<br />

Präzygapophysen, aber mit lateral gerichteten<br />

Postzygapophysen […]“ (Hildebrand<br />

& Goslow 2003, S. 676) (Abb.3).<br />

Abhängig von der Position des Wirbels<br />

treten weitere Fortsätze jeweils paarweise<br />

auf.<br />

An der Basis des Arcus vertebrae befindet<br />

sich lateral je ein Querfortsatz (Processus<br />

transversus, Abb. 2; 9). An ihrer Basis<br />

liegt das Foramen transversarium. Aneinandergereiht<br />

bilden die Forr. transversaria<br />

den Querfortsatzkanal (Canalis transversarius<br />

in der 1954er-Ausgabe des Nickel<br />

et al.). Dieser erreicht am sechsten Halswirbel<br />

seine größte Ausdehnung und dient<br />

u. a. der Aufnahme der Wirbelarterie (Nickel<br />

et al. 1954, 1992).<br />

Die Wirbelbögen aufeinander folgender<br />

Wirbel sind über die Processus articulares<br />

craniales und caudales miteinander gelenkig<br />

verbunden (Abb. 2; 12, 13). Diese Gelenkfortsätze<br />

sitzen lateral neben dem Processus<br />

spinalis (Nickel et al. 1992). Zwischen<br />

dem Proc. articularis und dem Proc. transversus<br />

liegt der Processus mammilaris, der so<br />

genannte Zitzenfortsatz (Abb. 2; 10). Er<br />

kommt nur an den Thorakal- und Lumbalwirbeln<br />

vor und verändert im Verlauf der<br />

Wirbelsäule seine Position. Bis zum diaphragmatischen<br />

Wirbel (bzw. dem antiklinen<br />

Wirbel nach der Definition von Hildebrand<br />

und Goslow 2003) liegen sie neben<br />

den Querfortsätzen, nähern sich lendenwärts<br />

aber den Gelenkfortsätzen und verschmelzen<br />

mit diesen zu Procc. mammiloarticulares<br />

(Nickel et al. 1954). Carnivoren<br />

tragen an den letzten Thorakal- und allen<br />

Lumbalwirbeln zusätzlich noch caudal gerichtete<br />

Hilfsfortsätze (Procc. accessorii Abb<br />

2; 11). Im Verlauf der Wirbelsäule rücken<br />

sie von dicht bei den Querfortsätzen sitzend<br />

immer mehr den Wirbelbogen hinauf.<br />

Auch Schweine tragen an den letzten<br />

Brustwirbeln Hilfsfortsätze (Nickel et al.<br />

1954).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

75<br />

Die Halswirbel<br />

(Vertebrae cervicales)<br />

Der erste Halswirbel unterscheidet sich<br />

deutlich von den anderen Wirbeln (Abb.<br />

4).<br />

Er besteht aus zwei breiten Querfortsätzen<br />

(oder Flügeln, Alae atlantis Abb. 4; 1)<br />

und besitzt keinen Wirbelkörper. Der Arcus<br />

dorsalis (Abb 4; 2) und der Arcus ventralis<br />

(Abb. 4; 7) verbinden die Flügel miteinander.<br />

An diesen beiden Bogenteilen befindet<br />

sich jeweils medial ein kleiner Fortsatz, das<br />

Tuberculum dorsale bzw. ventrale (Abb. 4; 12<br />

bzw. 8). Der Verbindungsbereich des dorsalen<br />

und ventralen Bogens wird als Massa<br />

lateralis (Seitenteil) bezeichnet (Salomon<br />

et al. 2005). Die Ventralseite der lateral<br />

vom Seitenteil abgehenden Atlasflügel ist<br />

bei den Carnivoren zu einer eher flachen<br />

Grube (Fossa atlantis) vertieft. An der Basis<br />

der Alae atlantis befindet sich im cranialen<br />

Teil bei den Carnivoren kein Flügelloch<br />

(Foramen alare) wie bei den meisten<br />

anderen Säugetieren, sondern lediglich ein<br />

nicht geschlossener Einschnitt (Incisura<br />

alaris Abb. 4; 3). Medial der Incisura liegt<br />

das Foramen vertebrale laterale (Abb. 4; 6),<br />

das eine Verbindung zum Wirbelkanal<br />

(Foramen vertebrale, Abb. 4; 5) hat. Ungefähr<br />

in der Mitte der Flügel liegt auf beiden<br />

Seiten ein For. transversarium, welches<br />

bei den Wiederkäuern nicht vorhanden ist<br />

(Salomon et al. 2005) (Abb. 4; 4).<br />

Die Verbindung zum Kopf bilden die<br />

Foveae articulares craniales, zwei tiefe Aushöhlungen<br />

cranial (Abb. 4; 10). Diese gelenkige<br />

Verbindung ermöglicht Nickbewegungen,<br />

gibt aber kaum seitlichen<br />

Spielraum (Salomon et al. 2005). Caudal<br />

befinden sich flache Foveae articulares caudales<br />

zur gelenkigen Verbindung mit dem<br />

nachfolgenden Axis (Abb. 4; 11). Diese<br />

Gelenkfläche setzt sich auch auf der<br />

Abb. 4 Verschiedene Ansichten des Atlas.<br />

Von links nach rechts und oben nach unten: Dorsalansicht,<br />

Cranioventrale Ansicht, Caudalansicht.<br />

1 Alae atlantis; 2 Arcus dorsalis; 3 Incisura alaris;<br />

4 For. transversarium; 5 For.vertebrale; 6 Foramen<br />

vertebrale laterale; 7 Arcus ventralis; 8 Tuberculum<br />

ventralis; 9 Fovea dentis; 10 Foveae articulares<br />

craniales; 11 Foveae articulares caudales;<br />

12 Tuberculum dorsalis.<br />

dorsalen Seite des Tuberculum ventralis als<br />

Fovea dentis fort (Nickel et al. 1954) (Abb.<br />

4; 9).<br />

Der Axis ist ebenfalls leicht von allen anderen<br />

Wirbeln zu unterscheiden (Abb. 5).<br />

Er ist bei den Carnivoren der längste<br />

Halswirbel und trägt an seinem Corpus<br />

vertebrale Abb. 5; 3) den schon erwähnten<br />

Dens (Abb. 5; 1), der in situ in den Atlas<br />

hineinragt. Lateral und teilweise auch ventral<br />

des Zahns liegen die Facies bzw. Procc.<br />

articulares craniales (Nickel et al. 1954)<br />

(Abb. 5; 2).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


76 Anna-Dinah Eßer<br />

Abb. 5 Bezeichnungen des Axis. Lateralansicht.<br />

1 Dens epistopheus; 2 Facies articulares caudales;<br />

3 Corpus vertebrae; 4 Crista ventralis; 5 Facies<br />

terminalis caudalis; 6 Processus transversus;<br />

7 Incisura vertebralis caudalis; 8 Procc. articulares<br />

caudales; 9 Processus spinalis; 10 Incisura vertebralis<br />

cranialis.<br />

Der kammförmige Proc. spinalis ist bei<br />

den Carnivoren sehr gut ausgeprägt und<br />

ragt cranial und caudal über den Wirbelköper<br />

hinaus (Abb. 5; 9). Caudal an den Proc.<br />

spinalis schließen sich ventrad die Procc.<br />

articulares caudales an, die bei den Carnivoren<br />

nicht als eigenständige Fortsätze ausgebildet<br />

sind. Sie liegen ventrad unter dem<br />

Dornfortsatz (Nickel et al. 1954) (Abb. 5;<br />

8). Im Wirbelkörper befindet sich ventral<br />

eine Bandleiste mit Gefäßlöchern. Die<br />

Procc. transversus (Abb. 5; 6) besitzen nur<br />

einen caudalen Teil und sind schwach ausgebildet,<br />

im Gegensatz zu der sich deutlich<br />

vom Wirbelkörper abhebenden Crista ventralis<br />

(Abb. 5; 4) (Nickel et al. 1954; Salomon<br />

et al. 2005). Laut Nickel et al. überragt<br />

der Proc. transversus bei Hunden und<br />

Wiederkäuern die Facies terminalis caudalis<br />

(Abb. 5; 5). Carnivoren haben nicht nur<br />

eine Incisura vertebralis caudalis (Abb. 5; 7),<br />

sondern auch eine Incisura vertebralis cranialis<br />

(Abb. 5; 10) in arttypischer Ausbildung<br />

(Nickel et al. 1992).<br />

Die restlichen Halswirbel sind ebenfalls<br />

leicht von den anderen Wirbeln zu unterscheiden<br />

(Abb. 6). Ihre Bezeichnungen<br />

Abb. 6 Die Halswirbelsäule. Atlas, Axis, dritter bis<br />

siebter Halswirbel und die ersten zwei Brustwirbel.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

77<br />

folgen denen der caudad liegenden Wirbel;<br />

die Schemazeichnungen zeigen Thorakalund<br />

Lum bal wirbel, da hier die Merkmale<br />

besser zu erkennen sind (Abb. 7).<br />

Die Halswirbel haben relativ lange Körper<br />

(Abb. 7; 15), die sich bei den Haussäugetieren<br />

zum Ende der Halswirbelsäule<br />

(HWS) hin verkürzen (Nickel et al.<br />

1954). Die Procc. spinales (Abb. 7; 8) nehmen<br />

im Verlauf der HWS an Länge zu.<br />

Bei der Bezeichnung der teilweise sehr flachen<br />

Procc. spinales des dritten bis fünften<br />

Halswirbels treten Differenzen zwischen<br />

der älteren und der neueren Literatur auf.<br />

Während Nickel et al. (1954) hier von einem<br />

Tuberculum dorsale sprechen, wird<br />

diese Bezeichnung nicht nur bei Nickel<br />

et al. (1992) und König & Liebich (2001),<br />

sondern auch bei Salomon et al. (2005) für<br />

den caudal zeigenden Fortsatz am dorsalen<br />

Anteil des Proc. transversus verwendet. Der<br />

Dornfortsatz wird in der neueren Literatur<br />

auch beim dritten bis fünften Halswirbel<br />

als Proc. spinalis bezeichnet (König & Liebich<br />

2001; Salomon et al. 2005).<br />

Laut Salomon et al. entspricht der ventrale<br />

Anteil des Proc. transversus (Abb. 7; 4)<br />

einer Rippenanlage und wird deshalb auch<br />

als Pleurapophyse bezeichnet. Hier befindet<br />

sich am dritten bis fünften Halswirbel<br />

auch ein Tuberculum ventrale. Beim sechsten<br />

Halswirbel ist dieses zur Lamina ventralis<br />

verbreitert (Salomon et al. 2005). Nickel<br />

et al. (1954) bezeichnen diesen Teil<br />

als Proc. costarius (ventraler Anteil mit dem<br />

cranialen Ast, repräsentiert eine Rippenanlage)<br />

und Proc. transversus (dorsaler Anteil<br />

mit dem caudalen Ast) bzw. zusammengenommen<br />

als Processus costotransversarius.<br />

In den neueren Auflagen des Nickel et al.<br />

(z. B. 1992) findet sich diese Bezeichnung<br />

allerdings nicht mehr. In dieser Arbeit werden<br />

folglich die Bezeichnungen von Salomon<br />

et al. (2005) verwendet.<br />

Abb. 7 Bezeichnungen des dritten bis siebten<br />

Halswirbels sowie der Thorakal- und Lumbalwirbel.<br />

Lateral- bzw. Cranialansicht. 1 Extremitas cranialis;<br />

2 Arcus dorsalis; 3 Crista ventralis; 4 Procc. transversus;<br />

5 Procc. accessorius; 6 Facies articulares<br />

craniales; 7 Procc. mammilares; 8 Proc. spinales;<br />

9 Foramen vertebrale; 10 Procc. articulares caudales;<br />

11 Facies articulares caudales; 12 Incisura<br />

alaris cranialis; 13 Incisura alaris caudalis;<br />

14 Extremitas caudalis; 15 Corpus vertebrae; 16 Fovea<br />

costales craniales; 17 Fovea costales caudales.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


78 Anna-Dinah Eßer<br />

Die Gliederung des Querfortsatzes geschieht<br />

durch ein basal liegendes Foramen<br />

transversarium, das zusammen mit den<br />

Forr. transversaria der anderen Halswirbel<br />

einen Kanal bildet, durch den die Blutgefäße<br />

und der Nervus vertebralis verlaufen<br />

(Salomon et al. 2005). Vom dritten bis<br />

fünften Halswirbel ist eine deutliche Crista<br />

ventralis (Abb. 7; 3) ausgebildet, die beim<br />

sechsten Halswirbel artspezifisch nur noch<br />

wenig oder gar nicht mehr vorhanden ist<br />

(König & Liebich 2001). Die Extremitas<br />

craniales bzw. caudales sind bei den Carnivoren,<br />

im Gegensatz zu vielen anderen<br />

Säugetieren, nicht besonders stark halbkugelförmig<br />

ausgebildet (König & Liebich<br />

2001) (Abb. 7; 1, 14). Die Gelenkfortsätze<br />

weisen cranial nach dorsal, caudal dagegen<br />

nach ventral und sind annähernd horizontal<br />

gestellt. Die Incisura vertebrae craniales<br />

bzw. caudales (Abb. 7; 12, 13) sind tief und<br />

bilden weite For. intervertebralia (Salomon<br />

et al. 2005).<br />

Der siebte Halswirbel bildet den Übergang<br />

zu den Thorakalwirbeln und unterscheidet<br />

sich stärker von den vorhergehenden<br />

Wirbeln. Sein Körper ist deutlich<br />

kürzer und seine kurzen Querfortsätze zeigen<br />

nur den caudalen Ast. Er trägt meist<br />

eine Fovea costalis caudalis (Abb. 7; 17) zur<br />

Aufnahme des ersten Rippenköpfchens<br />

und hat einen höheren Dornfortsatz als die<br />

anderen Halswirbel. In vielen Fällen fehlt<br />

ihm das Foramen transversarium (Nickel et<br />

al. 1954).<br />

Unterschiede in der Morphologie<br />

der Wirbel<br />

In ihrer Studie von 1997 konnten<br />

O’Higgins et al. bei dem Vergleich von<br />

Inzuchtmäusen und Menschen eine Art<br />

Reihenfolge in der Entwicklung von morphologischen<br />

Unterschieden an den Wirbeln<br />

nachweisen. Einige Merkmale, wie<br />

beispielsweise die Dimensionen des Neuralkanales,<br />

zeigten kaum intra- und interspezifische<br />

Unterschiede, was darin begründet<br />

liegt, dass ihre Entwicklung in<br />

erster Linie durch Hox-Gene festgelegt<br />

ist. Andere Merkmale, wie z. B. die Länge<br />

des Dornfortsatzes und die Tiefe des<br />

Wirbelkörpers, werden zusätzlich durch<br />

andere genetische und umweltbedingte<br />

Faktoren beeinflusst. Dies führt zu einer<br />

größeren inter- und intraspezifischen Variation<br />

(O’Higgins et al. 1997). Als umweltbedingte<br />

Faktoren sind z. B. Lebensweise,<br />

Ernährungsbedingungen, Verletzungen<br />

und Alterserscheinungen in Betracht zu<br />

ziehen.<br />

Für Ratten ist erwiesen, dass die Wirbelkörper<br />

verschiedener Körperabschnitte<br />

unterschiedlich schnell wachsen und Differenzen<br />

in der relativen Wirbellänge zwischen<br />

adulten und juvenilen Ratten bestehen.<br />

Bei neonatalen Ratten nimmt sie bis<br />

zur Mitte der thorakalen Region zu, caudad<br />

ab. Bei adulten Ratten nimmt die Wirbellänge<br />

tendenziell caudad zu (Bergmann<br />

et al. 2006). Auch einen Sexualdimorphismus<br />

konnten Bergmann et al. (2006) bei<br />

den Ratten belegen; die Männchen hatten<br />

generell längere Wirbel als die weiblichen<br />

Tiere. Dieser Befund war altersunabhängig.<br />

Die Ursache dieses Wachstumsunterschiedes<br />

liegt in der Kombination des<br />

Einflusses von entwickungsbiologischen,<br />

funktionellen und genetischen Faktoren.<br />

Rotfüchse beispielsweise scheinen geschlechtsabhängig<br />

mit Veränderungen ihrer<br />

Körpergröße und Masse auf Populationsdichten<br />

zu reagieren, wobei Männchen<br />

immer größer und schwerer sind als Weibchen.<br />

Das Alter der Tiere spielt hierbei keine<br />

signifikante Rolle. Weibliche Tiere reagierten<br />

im Untersuchungsgebiet nicht mit<br />

Gewichtsabweichungen auf unterschiedliche<br />

Populationsdichten, sondern nur mit<br />

leichten Größenveränderungen (Cavallini<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

79<br />

1995). Zudem ist für den atlantischen Aal<br />

(Anguilla rostrata) ein Geschlechtsdimorphismus<br />

nachgewiesen, der auch die Zahl<br />

der Wirbel beeinflusst. Adulte Männchen<br />

besitzen 109 bis 117 Wirbel, während die<br />

Weibchen 116 bis 124 Wirbel aufweisen<br />

(Castle 1976).<br />

Einige Studien beschäftigen sich mit den<br />

morphologischen Unterschieden am Skelett<br />

von unterschiedlichen Tierarten. Bei<br />

Haushunden zeigt beispielsweise die Form<br />

der Scapulae Rassenunterschiede. Das Metapodium<br />

ist bei Haushunden verhältnismäßig<br />

kürzer als bei Wölfen, und Schädelproportionen<br />

verschieben sich vom Wolf<br />

zum Haushund deutlich in verschiedenen<br />

Bereichen, vor allem im Bereich des Gesichtsschädels.<br />

Hierfür erfolgte eine mosaikartige<br />

Umgestaltung. Die Veränderung<br />

von Einzelmerkmalen spielt eine große<br />

Rolle. Haustiere besitzen insgesamt gesehen<br />

massigere Knochen als die Wildform;<br />

allerdings zeigen sie einen undifferenzierteren<br />

Feinbau (Herre & Röhrs 1990).<br />

An 114 Wolfsschädeln untersuchten<br />

Sumiński & Kobryn (1980) die Möglichkeit,<br />

anhand morphologischer Merkmale<br />

männliche von weiblichen Tieren zu unterscheiden.<br />

Das Ergebnis der Studie zeigt<br />

einen geringen Geschlechtsdimorphismus,<br />

der sich auch bei verschiedenen Altersklassen<br />

kaum stärker ausprägt. Männliche<br />

Tiere besitzen im Allgemeinen einen größeren<br />

Schädel als die Wölfinnen, die dafür<br />

eine größere Dimensionsvariabilität besitzen.<br />

Auch ein allgemeiner Unterschied im<br />

Wachstum wurde festgestellt: während die<br />

Weibchen mit 2 Jahren die Merkmale eines<br />

ausgewachsenen Tieres zeigten, war<br />

dies bei Männchen erst mit 4 Jahren der<br />

Fall (Sumiński & Kobryn 1980).<br />

Durch die Untersuchung von 145 europäischen<br />

Wolfs- und 165 Hundeschädeln<br />

großwüchsiger Rassen konnte Sumiński<br />

(1975) sechs Unterschiede zwischen<br />

Wolfs- und Hundeschädeln feststellen.<br />

Anhand dieser Werte konnte er eine Zuordnung<br />

zu den unterschiedlichen Arten<br />

vornehmen. Allerdings räumte er ein,<br />

dass die Methode zoogeographisch eingeschränkt<br />

und bei außereuropäischen Wölfen<br />

weniger Erfolg haben könnte. Laut<br />

Kostadinov et al. (2006) gibt es rassetypische<br />

Unterschiede in der Form bzw. Ausprägung<br />

der Fossa temporalis (Schläfengrube)<br />

im Schädel von Hunden. In dieser<br />

Studie wurden allerdings nur 28 Schädel<br />

von insgesamt 22 reinblütigen und 6 nichtidentifizierten<br />

Hunden untersucht, die z. T.<br />

extrem unterschiedlichen Rassen angehörten<br />

(Pitbull, Dackel, Französische Bulldogge,<br />

Zwergpinscher, Collie, Labrador,<br />

Deutscher Schäferhund, Kaukasischer Ovcharka<br />

und Shar Planinet).<br />

Wild- und Zootiere können sich erheblich<br />

im Verhalten und in morphologischen<br />

Merkmalen voneinander unterscheiden,<br />

wobei z. T. das eine aus dem anderen resultiert.<br />

Trut et al. (2006) zeigten beispielsweise<br />

in ihrer Studie einen Einfluss des<br />

Verhaltens von zahmen und aggressiven<br />

Füchsen einer Fuchsfarm auf ihre Morphologie.<br />

Die Basis für diesen Zusammenhang<br />

ist in den Genen zu suchen. Eine<br />

Studie von O’Regan & Kitchener (2005)<br />

beschäftigt sich mit den Effekten von Gefangenschaft<br />

auf unterschiedliche Wild-,<br />

Zoo- und Haustiere. Die unterschiedliche<br />

Ernährung von Zoo- und Wildtieren<br />

hat oftmals ein stärkeres oder früheres<br />

Größenwachstum der Zootiere gegenüber<br />

ihren wildlebenden Artgenossen zur<br />

Folge. Der Unterschied in der Ernährung<br />

hat häufig auch negative Folgen für die<br />

Zootiere, die dann unter Knochenverdickungen,<br />

rachitischen Langknochen und<br />

Gebissfehlern leiden. Auch stereotypes<br />

Verhalten oder nicht artgerecht eingerichtete<br />

Käfige haben Einfluss auf die Morphologie<br />

der Tiere.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


80 Anna-Dinah Eßer<br />

Was zunächst als vorteilhaft erscheint,<br />

nämlich das erhöhte Maximalalter der Tiere<br />

in Gefangenschaft gegenüber dem von<br />

Wildtieren, kann ebenfalls Nachteile mit<br />

sich bringen. Bei vielen Zootieren sind in<br />

einem Alter, das Wildtiere normalerweise<br />

nicht erreichen, krankhafte Veränderungen<br />

an den Knochen festzustellen. Knorpel<br />

verknöchern (u. a. auch die Bandscheiben),<br />

Spondylosen und Osteoarthritis treten<br />

häufiger auf als bei Wildtieren. Eine artgerechtere<br />

Haltung, bei der die Tiere sich<br />

mehr bewegen und ihre Fähigkeiten nutzen<br />

können, scheint dem entgegenzuwirken<br />

(O’Regan & Kitchener 2005). Auch<br />

eine nicht artgerechte Ernährung kann u.<br />

a. zu Spondylosen bei Affen und Großkatzen<br />

führen (du Boulay 1972). Kolmstetter<br />

et al. (2000) bestätigen ferner, dass bei<br />

Großkatzen aus dem Zoo häufig degenerative<br />

Wirbelsäulenerkrankungen vorkommen.<br />

Systematik und Verbreitung der in<br />

der Studie untersuchten Tiere<br />

Innerhalb der Familie Caniformia bilden<br />

die Canidae die basale Gruppe (Li et al.<br />

2004). Wölfe (Canis lupus L.1758) haben<br />

einen direkten gemeinsamen Vorfahren<br />

mit dem Rothund (Cuon alpinus PALLAS<br />

1811). Füchse (Vulpes vulpes L. 1758) gehören<br />

einer anderen Linie an, sind jedoch<br />

auch mit den Vorgenannten verwandt<br />

(Ostrander & Wayne 2006).<br />

Hunde (Canis lupus familiares) stammen<br />

eindeutig von Wölfen ab. Allerdings steht<br />

zu vermuten, dass sie sich immer wieder<br />

mit Wölfen vermischt haben und nicht aus<br />

einer einzigen Population entstanden sind<br />

(Vila et al. 1999, 2005).<br />

Im archäologischen Material sind<br />

die frühen Hunde wahrscheinlich nicht<br />

von Wölfen zu unterscheiden, deshalb<br />

bleibt das archäologisch angenommene<br />

Domestikationsalter von Hunden mit<br />

15 000 Jahren eher fraglich (Ostrander<br />

& Wayne 2006). Wahrscheinlich erfolgte<br />

die Domestikation schon früher. Meinungen<br />

über Abstammungen und kulturgeschichtliche<br />

Schlüsse über Haushunde<br />

sind jedoch in den Bereich der Spekulation<br />

zu verweisen (Herre & Röhrs 1990). Die<br />

Variabilität (Farbe, Größe, Zahngröße und<br />

andere Merkmale) der Wölfe ist selbst in<br />

engen geographischen Gebieten groß. Sie<br />

haben auch heute noch ein großes Verbreitungsgebiet,<br />

bewohnen weite Gebiete der<br />

Nordhalbkugel in der Alten und Neuen<br />

Welt und kommen teilweise auch in tropischen<br />

Gebieten vor. Haushunde gibt es<br />

fast überall auf der Welt (Herre & Röhrs<br />

1990). Der Rothund, auch Dhole oder<br />

Rotwolf genannt, lebt heute bevorzugt in<br />

Lebensräumen mit dichter Vegetation vom<br />

südlichen Sibirien bis Indien und der Malaischen<br />

Halbinsel (Westheide & Rieger<br />

2004).<br />

Als Unterart des Grauwolfes (Canis lupus)<br />

ist bisher der Timberwolf (Canis lupus<br />

lycaon SCHREBER 1775) geführt worden.<br />

Neuere Studien (Kyle et al. 2006) legen allerdings<br />

nahe, den Timberwolf aufgrund<br />

morphologischer und genetischer Unterschiede<br />

als eigene Art zu führen (Canis lycaon).<br />

Rotfüchse (Vulpes vulpes) sind nahezu in<br />

ganz Europa (exkl. Balearen, Kreta, Zypern<br />

und Malta), Nordafrika, Asien bis Nordindien,<br />

Japan, Nordamerika bis Florida und<br />

Kalifornien beheimatet. In Australien wurden<br />

sie 1886 ausgesetzt (Westheide & Rieger<br />

2004).<br />

Wölfe und Haushunde erzeugen in der<br />

freien Wildbahn auch heute noch reproduktionsfähige<br />

Hybriden. Diese liegen in<br />

ihrem Phänotyp oftmals zwischen den beiden<br />

Ursprungsarten, können aber auf den<br />

ersten Blick auch für eine von beiden gehalten<br />

werden (Milenković et al. 2006).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

81<br />

Innerhalb der Katzenartigen (Feliformia)<br />

bildet der Luchs (Lynx lynx/Felis lynx<br />

L. 1758) eine basale Art. Seine Stammform<br />

spaltete sich vor ca. sechs Millionen<br />

Jahren ab ( Johnson & O’Brien 1997),<br />

während die größeren Katzen (Unterfamilie<br />

Pantherinae, Gattung Panthera) erst<br />

vor etwa ein bis zwei Millionen Jahren als<br />

monophyletische Gruppe auftraten (Li et<br />

al. 2004). Eurasische Luchse haben heute<br />

ein Verbreitungsgebiet von Skandinavien<br />

bis Ostasien, sind in Europa aber nur noch<br />

mit Restbeständen und wieder angesiedelten<br />

Populationen vertreten. Sie gehören zu<br />

den Felinae, den Kleinkatzen (Westheide<br />

& Rieger 2004). Der Puma (Puma concolor/Felis<br />

concolor L. 1771) gehört ebenfalls<br />

zu den Felinae und ist heutzutage wieder<br />

in vielen wenig besiedelten Gebieten Südund<br />

Nordamerikas verbreitet. Der gesamte<br />

panamerikanische Kontinent bildet seit<br />

mehreren hunderttausend Jahren seine<br />

Heimat (Culver 2000).<br />

Zu den Großkatzen (Pantherinae) dagegen<br />

zählt der Leopard (Panthera pardus<br />

L.1758). Er hat ein weites Verbreitungsgebiet,<br />

ist aber in fast allen Arealen zahlenmäßig<br />

nur noch schwach vertreten oder<br />

ausgerottet. Sein Lebensraum umfasste<br />

usprünglich Afrika (außer der Sahara),<br />

Arabien, Vorderasien, den Mittleren Osten,<br />

Indien und Südostasien inkl. Sri Lanka,<br />

Java, Sumatra, China, Korea bis Sibirien<br />

(Westheide & Rieger 2004).<br />

Der Dachs (Meles meles L.1758) gehört<br />

zu den Marderartigen (Mustelidae). Er bildet<br />

dort eine eigene Unterfamilie (Melinae)<br />

und ist ein Mitglied der Überfamilie<br />

der Hundeartigen (Canidae). Sein paläarktisches<br />

Verbreitungsgebiet ist groß, von<br />

England und Irland bis in den Vorderen<br />

Orient, Südchina und Japan findet man<br />

den omnivoren Grabespezialisten (Westheide<br />

& Rieger 2004).<br />

Bestimmung von Wirbeln<br />

Paläozoologische Forschungen nutzen<br />

morphometrische Messungen und den<br />

Vergleich mit rezenten Tieren, um zu einer<br />

Art- und womöglich auch Geschlechtsbestimmung<br />

zu kommen (z. B. Onar et<br />

al. 2005). Die Bestimmung von fossilen<br />

Exemplaren ist häufig kompliziert, da sie<br />

deformiert und beschädigt sein können<br />

(McShea 1993). Eine starke Fragmentierung<br />

und Unvollständigkeit der Fundstücke<br />

erschwert teilweise sogar die Zuordnung<br />

zu einer Familie.<br />

Viele Fundstellen sind nicht sehr ergiebig<br />

und liefern nur einen unvollständigen<br />

Einblick in die Fauna und Flora vergangener<br />

Zeiten. Andere dagegen, wie beispielsweise<br />

Untermaßfeld im südthüringischen<br />

Werratal, bieten durch ihre Fülle an Fossilien<br />

eine gute Übersicht über die in der<br />

entsprechenden Zeit im Einzugsgebiet lebenden<br />

Tiere.<br />

Die reiche Fossillagerstätte von Untermaßfeld<br />

(Alter: rund eine Million Jahre =<br />

Epi-Villafranchian) liefert nicht nur zahlreiche<br />

Knochen von Herbivoren, sondern<br />

2005 auch erstmals Beweise für die Existenz<br />

eines direkten Vorfahren (Puma pardoides)<br />

des heutigen Pumas in Deutschland.<br />

Neben dem Eurasischen Puma sind auch<br />

der Eurasische Jaguar (Panthera onca gobaszoegensis),<br />

ein Vorläufer des Nord- oder<br />

Eurasischen Luchses (Lynx issiodorensis<br />

spp.), Geparden (Acinonyx pardinensis pleistocaenicus)<br />

und zwei Vertreter der Säbelzahnkatzengruppe<br />

(Machairodontinae) im<br />

Fossilbefund von Untermaßfeld vertreten<br />

(Kahlke 2009). Laut v. Königswald (2007)<br />

war im Eem auch der Leopard (Panthera<br />

pardus) in Deutschland heimisch. Von dieser<br />

Raubkatze werden allerdings nur selten<br />

Fossilien gefunden.<br />

Dagegen ist der Fossilbericht für Canis<br />

lupus sp. nicht nur im Holozän, sondern<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


82 Anna-Dinah Eßer<br />

auch im Pleistozän vollständiger. Er ist<br />

in Europa erstmals im Mittelpleistozän<br />

nachzuweisen (Kurten 1968). Dachse (Meles<br />

meles) und Füchse (Vulpes vulpes) können<br />

ebenfalls mindestens seit dem Eem in<br />

Deutschland nachgewiesen werden, wobei<br />

es bei dem Fuchs während der letzten<br />

Eiszeit (Weichsel) eine Lücke im Fossilbericht<br />

gibt (v. Königswald 2007). Kahlke<br />

(1994) erwähnt auch den Rothund (Cuon<br />

alpinus) als Bestandteil der deutschen Fauna<br />

während der Weichseleiszeit.<br />

Neben den genannten Spezies sind im<br />

deutschen Fossilbericht (außer zahlreichen<br />

Herbivoren) auch verschiedene Marderartige,<br />

Wildkatzen, Braun- und Höhlenbären,<br />

Höhlenlöwen, Otter, Höhlenhyänen<br />

und Vielfraße vertreten (von Königswald<br />

2007).<br />

In der Quartärsammlung des Landesmuseums<br />

Hannover, Bereich „Leinekiese“,<br />

finden sich vielfältige Beispiele für die<br />

Schwierigkeiten, mit denen sich Paläozoologen<br />

bei der Bestimmung von Knochen<br />

konfrontiert sehen. Sie enthält über 3000<br />

disartikulierte Knochen und Knochenfragmente,<br />

die trotz ihrer z. T. erheblichen<br />

Beschädigung einen Einblick in die Lebensgemeinschaften<br />

des Leineeinzugsgebietes<br />

erlauben. Die Leinekiese in der Region<br />

Hannover beinhalten eine Mischung<br />

an Überresten von Tierarten des späteren<br />

Pleistozäns und des Holozäns. Die Arten<br />

spiegeln eine breite Diversität wider,<br />

die sich aus der Fauna Süddeutschlands<br />

und der spezialisierten Faunengesellschaft<br />

nordeuropäischer Gebiete zusammensetzt<br />

(nach Kahlke 1994).<br />

Die Bestimmung der Fundstücke mittels<br />

Bildatlanten (Schmidt 1967, Pales & Lambert<br />

1971 und France 2008) unterliegt gewissen<br />

Einschränkungen. Bilder bieten immer<br />

nur die Ansicht aus einer bestimmten<br />

Perspektive. Schattenwurf und künstlerische<br />

Interpretationen können Merkmale<br />

verdecken oder verzerren. Beschreibungen<br />

in Bild und Wort sind für Tiere, die<br />

der erfahrene Paläontologe schnell erkennt,<br />

oftmals selten. Man muss viele Publikationen<br />

durchforsten, z. T. aus dem vergangenen<br />

Jahrhundert, um zu einem bestimmten<br />

Tier oder Knochen wenigstens eine kurze<br />

Beschreibung zu finden. Knochen oder gar<br />

Knochenfragmente zu bestimmen erfordert<br />

viel Erfahrung.<br />

Mit einem Bestimmungsschlüssel wird<br />

die Bestimmung einfacher und nachvollziehbarer.<br />

Die Festlegung von beschreibenden<br />

Begriffen ist in der Archäozoologie<br />

noch nicht oder nur sehr eingeschränkt geschehen.<br />

Oftmals sind solche Beschreibungen<br />

auf eine Tiergruppe beschränkt, z. B.<br />

für den Raubsaurier Deinonychus antirrhopus<br />

(Ostrom 1969).<br />

Aus diesem Grund wird mit dieser Arbeit<br />

ein Ansatz für einen Bestimmungsschlüssel<br />

für Vertebratenknochen in der<br />

Art des „Brohmer“ (Fauna von Deutschland,<br />

Ein Bestimmungsbuch unserer heimischen<br />

Tierwelt) und „Schmeil/Fitschen“<br />

(Flora von Deutschland und angrenzender<br />

Länder) präsentiert. Beide Bücher bieten<br />

einen kurzen Überblick über grundlegende<br />

Unterscheidungsmerkmale zur<br />

Bestimmung und folgen dann den einzelnen<br />

Merkmalen zur Artbestimmung.<br />

Aufgrund der beschränkt zur Verfügung<br />

stehenden Zeit im Rahmen der Masterarbeit<br />

werden nur ein bestimmter Wirbeltyp<br />

(Halswirbel) und einige wenige Tierarten<br />

der Ordnung Carnivora behandelt.<br />

Es wird der Frage nachgegangen, ob<br />

ein solcher Schlüssel überhaupt möglich<br />

ist und worauf er aufbauen muss, damit er<br />

auch für fossile, oftmals nur schlecht erhaltene<br />

Wirbel anwendbar ist.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

83<br />

Material und Methoden<br />

Gegenstand der Studie sind die Wirbel<br />

von rezenten Feloidea und Canoidea. Insgesamt<br />

7 Arten und 2 Unterarten wurden<br />

auf ihre spezifische Morphologie untersucht.<br />

Mit Hilfe von Beschreibungen wurde<br />

ein Bestimmungsschlüssel für die einzelnen<br />

Wirbel erstellt. Messwerte nach v.<br />

d. Driesch (1976) ergänzen die Daten,<br />

wurden allerdings aufgrund der kleinen<br />

Probenmenge nicht morphometrisch oder<br />

mittels Diskriminanzanalysen ausgewertet,<br />

sondern nur für die Berechnung von Indices<br />

und einigen Graphen zur Veranschaulichung<br />

verwendet.<br />

Die Wirbelsäulen stammen aus der Rezentsammlung<br />

der Archäologisch-Zoologischen<br />

Arbeitsgruppe (AZA) der Christian-Albrechts-Universität<br />

Kiel. Die Arten<br />

wurden unter dem Gesichtspunkt ausgewählt,<br />

den zu erstellenden Schlüssel in der<br />

Leinekiese-Sammlung des NLMH anwenden<br />

zu können. Dementsprechend wurde<br />

auf die Größe und die grundlegende Form<br />

der Wirbelköper geachtet, weshalb kleinere<br />

und größere Feliden (z. B. Felis sylvestris,<br />

Panthera tigris), marine Raubtiere und<br />

verschiedene Bärenartige aus der Auswahl<br />

herausgenommen wurden. Eine Aufstellung<br />

der verwendeten Tiere findet sich in<br />

Tabelle 1.<br />

Um die Gefahr der Wertung einer individuellen<br />

Varianz als spezifisches Merkmal<br />

gering zu halten, wurden soweit möglich<br />

drei Individuen einer Art untersucht.<br />

Die Individuen wurden nach ihrem Alter<br />

und ihrer Geschlechtszugehörigkeit ausgesucht,<br />

allerdings mussten die Ansprüche<br />

teilweise den tatsächlichen Sammlungsbeständen<br />

der AZA Kiel angepasst werden.<br />

Die Wirbel stammen dementsprechend<br />

überwiegend von adulten Männchen<br />

(Alter von Canis lupus und Vulpes vulpes<br />

jeweils ca. drei Jahre). Es wurden aber auch<br />

vereinzelt weibliche Tiere herangezogen.<br />

Das Alter der Wölfe (Canis lupus) ist durch<br />

Dokumentation des Geburts- und Todeszeitpunktes<br />

bekannt, die Füchse (Vulpes<br />

vulpes) waren in der Vergangenheit Gegenstand<br />

einer Studie zur Altersbestimmung<br />

anhand der Reißzähne (Blohm 1984). Die<br />

restlichen Individuen wurden anhand des<br />

Zustandes ihrer Knochen (geschlossene<br />

Epiphysenfugen, keine deutlichen Abnutzungserscheinungen<br />

an Knochen und<br />

Zähnen) ausgewählt. Wo es möglich war,<br />

mehrere Individuen gleichen Alters und<br />

Geschlechtes einer Art für die Untersuchung<br />

heranzuziehen, wurden Tiere der<br />

gleichen oder einer ähnlichen Gewichtsklasse<br />

ausgewählt. Von zwei der drei Haushunde-Rassen<br />

(C. l. familiares), den größeren<br />

Feliden (P. pardus, Puma concolor) und<br />

Cuon alpinus konnte allerdings jeweils nur<br />

ein Individuum herangezogen werden; der<br />

Puma concolor ist als Jungtier einzustufen<br />

(Epiphysenfugen nicht geschlossen, Gelenkflächen<br />

bei der Präparation größtenteils<br />

abgefallen).<br />

Die Haushunde-Rassen wurden nach<br />

ihrer phänotypischen Ähnlichkeit (Größe,<br />

Körperbau) zum Wolf ausgewählt und verschiedene<br />

Nutzungsklassen (Ostrander &<br />

Wayne 2006) einbezogen. Der Grönländische<br />

Schlittenhund wird als basale Rasse<br />

angesehen und zeigt große genetische<br />

Ähnlichkeit zum Wolf, während Deutsche<br />

Schäferhunde einem anderen genetischen<br />

Cluster angehören (Parker & Ostrander<br />

2005). Jagdhunde konnten nicht in<br />

die Studie aufgenommen werden. Die im<br />

AZA Kiel vorhandenen zwei Deutsch-<br />

Kurzhaar-Exemplare (einzige dort vorhandene<br />

Jagdhunde-Rasse in entsprechender<br />

Größe) liegen nur ohne Geschlechtsangabe<br />

resp. mit starken osteologischen Veränderungen<br />

(Spondylosis deformans mit<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


84 Anna-Dinah Eßer<br />

Knochenwucherungen) vor.<br />

Die meisten in die Studie eingeschlossenen<br />

Tiere stammen aus Gefangenschaft<br />

(Zoo, Tierpark) respektive menschlicher<br />

Zucht (ausgenommen Vulpes vulpes, Puma<br />

concolor und Meles meles, die als Wildtiere<br />

erlegt wurden). Die Herkunft des Cuon alpinus<br />

(Rothund) ist unklar, ist aber in einem<br />

Zoo oder Tierpark zu vermuten.<br />

Um einen genaueren Vergleich zu ermöglichen<br />

und eine potentielle spätere<br />

Weiterbearbeitung und Ergänzung zu<br />

Tab. 1 Aufstellung der untersuchten Individuen und Arten;<br />

* = Gesamtlänge mit Schwanz [mm]; Zahlen ohne * = Gesamtlänge ohne Schwanz; (?) = keine Angabe, ob<br />

Gesamt- oder Kopf-Rumpf-Länge; + = ohne Fell; k. A. = keine Angaben; G. = geschossen<br />

SaNr<br />

AZA<br />

Art<br />

Geschl.<br />

Alter<br />

Kopf-<br />

Rumpf-<br />

Länge<br />

[mm]<br />

Gewicht<br />

[g]<br />

Herkunft<br />

31831 Canis lupus m 38 Monate 1720* 45800 Institut für Haustierkunde, Kiel<br />

18491 Canis lupus m 36 Monate 1180 30800 Tierpark Dähhölzli, Bern<br />

19960 Canis lupus m 32 Monate 1160 37000 I.f.H. Kiel<br />

33469 Cuon alpinus w adult 1340* 16200 G. im Raum Köln<br />

32019 Panthera pardus w adult 2010* 20000 Zoo Osnabrück<br />

B130 Puma concolor m juvenil k. A. k.A. G. in Amerika?<br />

15596 Vulpes vulpes m 35 Monate 680 5830 G. in Bargstedt<br />

17127 Vulpes vulpes m 33 Monate 730 7590 G. in Edewecht/Oldenburg<br />

6779 Vulpes vulpes m 35 Monate 1115* 5780+ G. in Pretz, Klosterförsterei<br />

32249 Meles meles m subadult-adult 860* 10500 G. in Fargau, Kreis Plön<br />

27304 Meles meles m adult 1020* 14300 G. in Schönkirchen, Kr. Plön<br />

25077 Meles meles m adult 930(?) 14500 G. in Salzau<br />

33513 Lynx lynx m adult 1080(?) 13340 Wildpark Schwarze Berge, HH<br />

21982 Lynx lynx w adult 1086* 19100 Tiergarten Neumünster<br />

32928 Lynx lynx w adult 1210* 16200 Wildpark Schwarze Berge, HH<br />

17913 C. l. lycaon m adult 1170 37700 k.A.<br />

19813 C. l. lycaon m adult 1280 47100 Tiergarten Augsburg<br />

8134 C. l. familiares m adult 1580* 58500 Grönland<br />

(Grönl. Schlittenhund)<br />

2018 C. l. familiares m adult k. A. k. A. Kiel<br />

(Howavart)<br />

21840 C. l. familiares m adult <strong>152</strong>0* 28100 Kiel<br />

(Schäferhund)<br />

21907 C. l. familiares<br />

(Schäferhund)<br />

m adult 1670* 37900 Kiel<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

85<br />

vereinfachen, wurden Messwerte nach<br />

den Richtlinien und Methoden von v. d.<br />

Driesch (1976) erhoben und ergänzt (Abb.<br />

8). Die Messungen wurden mit Hilfe einer<br />

Schieblehre (150 × 0,05 mm, ohne Herstellerangabe)<br />

vorgenommen. Von der<br />

Verwendung weiterer Hilfsmittel wurde<br />

abgesehen, um die Messungen für Archäozoologen<br />

im Feld mit einfachen Mitteln<br />

und zudem auch für Amateurpaläontologen<br />

nachvollziehbar zu gestalten. Es wurde<br />

wenn möglich immer die rechte Körperseite<br />

des Tieres vermessen.<br />

Soweit möglich, wird der Messschieber<br />

parallel zum Wirbelkörper gehalten, respektive<br />

auf den Wirbelkörper aufgelegt (z.<br />

B. bei der Vermessung der Höhe des Wirbelkörpers<br />

cr/cd). Bei der Messung der<br />

Höhe wird der ventrale Teil auf eine Linie<br />

gebracht und von dieser Position aus die<br />

Gesamthöhe inklusive des Dornfortsatzes<br />

vermessen. Sollte der Messschieber in seinen<br />

Maßen nicht ausreichen oder nicht an<br />

schwer zugängliche Stellen gelangen können,<br />

wird ein stabiler, gerader Gegenstand<br />

als Verlängerung zu Hilfe genommen.<br />

Dessen Dicke muss hinterher vom Messwert<br />

abgezogen werden. So lässt sich z. B.<br />

auch die Gesamthöhe eines Wirbels mit<br />

stark abgewinkeltem Dornfortsatz oder<br />

starkem Gefälle in der Ventralseite korrekt<br />

messen.<br />

Die Messungen wurden zweimal von<br />

der Autorin und einmal von einer Helferin<br />

(Sashima Läbe, Studentin der Geologie<br />

und Wirbeltierpaläontologie, jetzt Universität<br />

Bonn) nach den Vorgaben der Autorin<br />

vorgenommen. Abweichungen in den<br />

Messungen wurden größtenteils nur im<br />

Millimeterbereich festgestellt.<br />

Abweichungen von mehr als 1,3 mm<br />

wurden aus der Auswertung gestrichen,<br />

ebenso Werte, die aufgrund von Beschädigungen<br />

des Knochens oder morphologischer<br />

Veränderungen (wie Verwachsungen<br />

und/oder Fusion) nicht korrekt gemessen<br />

werden konnten. Durch diese Streichungen<br />

sollten grobe Fehlerwerte in den Medianen<br />

durch Falschmessungen vermieden<br />

werden. Die Mediane der Messungen an<br />

den einzelnen Tieren wurden für die Erstellung<br />

von Indices herangezogen. Diese<br />

Indices können zur Unterstützung bei der<br />

Zuordnung der Wirbel zu bestimmten Positionen<br />

bzw. der Zuordnung zu den Arten<br />

dienen.<br />

Das Skelett des Panthera pardus weist<br />

stellenweise osteologische Veränderungen<br />

(zerfressen wirkende Facies articulares und<br />

Knochenwucherungen) auf. Diese Veränderungen<br />

wurden bei den Messungen<br />

nicht mit eingeschlossen bzw. bei stärkerer<br />

Veränderung des Knochens wurde der<br />

Abb. 8 Beispiel für Messpunkte nach v. d. Driesch<br />

(1976); Lumbalwirbel, Aufsicht cranial<br />

Beispiel für die Messpunkte:<br />

BPtr – (größte) Breite der Processus transversi<br />

(exakt messbar, wenn Wirbel intakt).<br />

BF (cr/cd) – (größte) Breite der Facies terminalis<br />

cranialis (bei Thorakalwirbeln inklusive der Rippenansatzsstellen)<br />

bzw. caudalis (auf der Abbildung<br />

nicht sichtbar).<br />

HF (cr/cd) – (größte) Höhe der Facies terminalis<br />

cranialis bzw. caudalis (wegen Verwachsungen etc.<br />

häufig schwierig zu messen).<br />

H – (größte) Höhe.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


86 Anna-Dinah Eßer<br />

betroffene Messpunkt aus der Analyse herausgenommen.<br />

Die Fuchs- und Dachsskelette sind teilweise<br />

beschädigt. Ein Teil dieser Beschädigungen<br />

wurde durch Kugeln respektive<br />

Schrote verursacht, mit denen die Tiere<br />

erlegt wurden. Einige Wirbel eines Fuchses<br />

(Nummer 6779) wurden bei der Präparation<br />

nicht voneinander getrennt, so<br />

dass Messpunkte unberücksichtigt bleiben<br />

mussten.<br />

Bei der morphologischen Benennung<br />

der Wirbel wurden tiermedizinische Bezeichnungen<br />

verwendet. Die Beschreibungen<br />

für den Bestimmungsschlüssel wurden<br />

auf Begriffen aus der Botanik (Fitschen<br />

2002) aufgebaut und durch eigene Ideen<br />

ergänzt, da entsprechende genaue, einheitliche<br />

Beschreibungen aus der Tiermedizin<br />

und Zoologie fehlen (Zeichnungen der<br />

Beschreibungsbegriffe siehe Anhang).<br />

Die Quartärsammlung des<br />

Niedersächsischen Landesmuseums<br />

Hannover (NLMH)<br />

Die Quartärsammlung des NLMH besteht<br />

aus Knochen und Knochenfragmenten,<br />

die in Kiesen der Region Hannover<br />

gefunden wurden. Ein großer Teil dieser<br />

Knochen stammt aus den Leinekiesen<br />

der südlichen Leine-Aue. Die Zuordnung<br />

der Knochen zu einem bestimmten<br />

Stratum ist meist nicht möglich, da viele<br />

Stücke von Flüssen transportiert und dabei<br />

nicht nur beschädigt, sondern auch aus<br />

ihren ursprünglichen Lagerstätten herausgerissen<br />

und durcheinander gemischt wurden.<br />

Auch die Situation beim Fund trägt<br />

nicht zu einer Datierung bei, da die meisten<br />

Stücke aus Kieswerken stammen (z. B.<br />

Hemmingen und Koldingen), die mit Bagger<br />

und Saugschlauch den Kies abbauen.<br />

Dies macht eine Zuordnung zu einer bestimmten<br />

Schicht nahezu unmöglich. Es<br />

liegen keine kompletten Skelette vor und<br />

kaum Überreste von kleineren Tieren wie<br />

Hasen und Mardern. Auch Vogelknochen<br />

sind sehr rar in der Sammlung; zudem sind<br />

überhaupt keine Teile von Fischskeletten<br />

enthalten.<br />

Die Erhaltung der Knochen ist meist<br />

sehr schlecht. Aufgrund der vorhandenen<br />

Artbestimmungen und des Alters der Funde<br />

lässt sich dennoch eine grobe Zuordnung<br />

der Knochen in die Zeit zwischen<br />

dem Ende des Pleistozäns und dem Flandrischen<br />

Interglazial (rezent) vornehmen.<br />

Der größte Teil der Sammlung stammt<br />

von privaten Sammlern, die ihre Funde<br />

gestiftet haben. Besonders hervorzuheben<br />

sind hierbei Herr Weidehaus und Herr<br />

Kroll. Die Sammlung umfasst mehr als<br />

3000 Knochen von verschiedenen Arten,<br />

unterschiedlichen Altersstufen und anatomischen<br />

Positionen.<br />

Ergebnisse*<br />

Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />

sieben mit Hilfe eines Index<br />

Als Beispiel für die mit den Messwerten<br />

* Anmerkung: Für eine bessere Übersicht<br />

im Schlüssel werden ab hier nur noch die Artnamen<br />

kursiv geschrieben.<br />

erzielten Ergebnisse werden die Halswirbel<br />

drei bis sieben jeweils mit dem BFcr/<br />

HFcr Index (Breite der Facies articularis<br />

cranialis mal 100 geteilt durch die Höhe<br />

der Facies articulares cranialis; Bezeichnungen<br />

s. Abb. 8) angeführt. Es erfolgt<br />

eine Zuordnung zur Familie, zur Gattung<br />

und zur Art. Auf diese Weise lassen sich<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

87<br />

auch die anderen Messwerte bearbeiten, jedoch<br />

bietet der BFcr/HFcr-Index jeweils<br />

die deutlichsten Ergebnisse. Allen Indices<br />

und Messwerten ist gemein, dass sie<br />

teilweise deutliche Überschneidungen der<br />

Werte bei verschiedenen Familien, Gattungen<br />

oder Arten zeigen.<br />

Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />

sieben zur Familie<br />

Die Zuordnung zu den Familien mit<br />

Hilfe der Messwerte ist mit den Mittelwerten<br />

aller berechneten Indices zu erreichen.<br />

Am besten geeignet sind die Indices<br />

von BFcr/HFcr (Breite Facies articularis<br />

cranialis/Höhe Facies articularis cranialis)<br />

und BFcd/HFcd (Breite Facies articularis<br />

caudalis/Höhe Facies articularis caudalis),<br />

da diese Werte meist auch bei stark beschädigten<br />

Wirbeln messbar sind. Doch<br />

auch hier zeigen zumindest die minimalen<br />

und maximalen Werte der Indices der Familien<br />

Überschneidungen.<br />

Der BFcr/HFcr-Index zeigt bei den Canidae<br />

ein deutliches Gefälle im Verlauf der<br />

250<br />

Halswirbelsäule; das bedeutet, dass sich<br />

das Beiten/Höhen-Verhältnis der Facies<br />

articulares craniales vom dritten bis siebten<br />

Halswirbel ändert. Die Messwerte und<br />

deutlicher deren Mediane zeigen eine Abnahme<br />

der Breite und eine Zunahme der<br />

Höhe. Die Wirbelköpfe der Canidae werden<br />

folglich im Verlauf der Halswirbelsäule<br />

zwischen dem dritten und siebten Wirbel<br />

höher und schmaler.* Bei Musteliden<br />

und Feliden lässt sich dieser Trend nicht<br />

ablesen. Der Mittelwert des Index steigt<br />

bei den vermessenen Mustelidae zunächst<br />

am vierten Halswirbel leicht an, bevor er<br />

ebenso wie bei den Canidae abnimmt. Bei<br />

den Felidae nimmt der Mittelwert des Index<br />

dagegen beim vierten Halswirbel ab<br />

und steigt beim fünften Halswirbel nochmals<br />

an. Die Index-Mittelwerte des sechsten<br />

und siebten Halswirbels der Felidae<br />

* Die genauen Messwerte können von der<br />

Website www.N-G-H.org heruntergeladen<br />

werden.<br />

Abb. 9 Zuordnung der Halswirbel drei bis sieben<br />

zu den angegebenen Familien mit Hilfe des BFcr/<br />

HFcr-Index.<br />

Indexwerte<br />

200<br />

150<br />

100<br />

155,8<br />

142,7<br />

128,7<br />

116,6<br />

107,1<br />

188,1<br />

191,3<br />

181,7<br />

170,9<br />

156,2<br />

179,3<br />

172,3<br />

175,2<br />

161,6<br />

161,3<br />

50<br />

0<br />

3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />

Canidae Mustelidae Felidae<br />

Canoidea<br />

Feloidea<br />

Familie und Wirbelnummer<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


88 Anna-Dinah Eßer<br />

sind niedriger als die der anderen Wirbel,<br />

unterscheiden sich jedoch nur geringfügig<br />

voneinander, wobei der Mittelwert des<br />

siebten Halswirbels um 0,3 unter dem des<br />

sechsten liegt (s. Abb. 9).<br />

Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />

sieben zu einer Gattung<br />

Der BFcr/HFcr-Index zeigt bei allen<br />

Hundeartigen eine deutliche Abnahme<br />

im Verlauf der Halswirbelsäule. Bei<br />

den Katzenartigen ist dies nicht so deutlich<br />

der Fall. Der dritte, vierte und fünfte<br />

Halswirbel von Cuon (Rothund) und alle<br />

angegebenen Wirbel von Meles (Dachs)<br />

lassen sich in Bezug auf ihre Indexwerte<br />

nicht deutlich von den Feloidea trennen (s.<br />

Abb. 10). Cuon zeigt zudem eine Zunahme<br />

des Indexwertes am siebten im Vergleich<br />

zum sechsten Halswirbel, wie es auch<br />

beim Luchs (Lynx) der Fall ist. Auch die<br />

Indexwerte des dritten, vierten und fünften<br />

Halswirbels bei Canis (Wolf, Timberwolf<br />

und Haushunde) zeigen Überschneidungen<br />

mit den Werten der Feliden. Die<br />

Werte des Jaguars (Panthera) zeigen eine<br />

klare Abweichung zu den anderen Gattungen.<br />

Hier bleibt der Index und damit das<br />

Verhältnis der Breite zur Höhe der Facies<br />

articulares craniales im Verlauf der Wirbelsäule<br />

nahezu gleich (Abnahme um weniger<br />

als 1, s. Abb. 10). Auch die Gattung Puma<br />

zeigt einen deutlichen Unterschied zu den<br />

anderen Gattungen. Vom dritten bis fünften<br />

Halswirbel steigt der Indexwert BFcr/<br />

HFcr, um posterior stark abzufallen. Bei<br />

dem untersuchten Tier ist der fünfte Halswirbel<br />

somit der im Verhältnis breiteste<br />

(in Bezug auf Halswirbel drei bis sieben).<br />

Auch bei Vulpes scheint der fünfte Halswirbel<br />

verhältnismäßig breiter zu sein als<br />

der vierte.<br />

Abb. 10 Zuordnung der Halswirbel drei bis sieben<br />

zu den angegebenen Gattungen mit Hilfe des BFcr/<br />

HFcr-Index.<br />

250<br />

200<br />

150<br />

Indexwert<br />

100<br />

50<br />

0<br />

3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />

Canis Vulpes Cuon Meles Lynx Panthera Puma<br />

Canidae Mustelidae Felidae<br />

Canoidea<br />

Feloidea<br />

Gattung und Wirbelnummer<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

89<br />

Auf eine Angabe der Indexwerte in der<br />

Abbildung wird verzichtet, um eine bessere<br />

Lesbarkeit zu gewährleisten.<br />

Zuordnung der Halswirbel drei bis<br />

sieben zu einer Art<br />

Als Beispiel für die Zuordnung zu einer<br />

Art dienen wiederum die Mittelwerte<br />

des BFcr/HFcr-Index. In Kombination<br />

mit anderen Merkmalen ist es möglich,<br />

die Wirbel einer Position und einer Art<br />

zuzuordnen. Aufgrund vieler Überschneidungen<br />

der Werte gelingt dies jedoch allein<br />

anhand des Index nicht. Innerhalb der<br />

Gattungen lassen sich an den Mittelwerten<br />

der Indices Unterschiede feststellen.<br />

Die einzelnen Wirbel der Haushunde (C.<br />

l. familiares) heben sich deutlich voneinander<br />

und von den äquivalenten Wirbeln des<br />

Wolfes (C. lupus) und des Timberwolfes<br />

(C. l. lycaon) ab (Abb. 11).<br />

Alle weiteren Tiere (Vulpes vulpes =<br />

Fuchs, Cuon alpinus = Rothund, Meles meles<br />

= Dachs, Lynx lynx = Luchs, Panthera pardus<br />

= Jaguar, Puma concolor = Puma) zeigen<br />

das gleiche Bild wie bei der Zuordnung<br />

zur Gattung (Abb. 10), da jeweils nur ein<br />

Gattungsmitglied in die Studie einbezogen<br />

wurde. Die Facies articulares craniales des<br />

sechsten und siebten Wirbels des Jaguars<br />

(P. pardus) konnten aufgrund starker osteologischer<br />

Veränderungen nicht in die Analyse<br />

aufgenommen werden (z. B. Spondylose,<br />

Osteochondrose).<br />

Trennung auf der Artebene anhand<br />

des PL-Medians<br />

Nicht nur die Indices, sondern auch die<br />

Mediane der Messungen bzw. die Messwerte<br />

selbst lassen sich zur Unterstützung<br />

der Bestimmungen nutzen. Als Beispiel<br />

Abb. 11 Zuordnung der dritten bis siebten Halswirbel<br />

zu einer Art mit Hilfe des BFcr/HFcr-Index.<br />

250<br />

200<br />

150<br />

Indexwerte<br />

100<br />

50<br />

0<br />

3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />

C. lupus fam.<br />

Hovawart<br />

C. lupus fam. C. lupus fam.<br />

Schäferhund Schlittenhund<br />

C. lupus<br />

lycaon<br />

Canis lupus Vulpes vulpes Cuon alpinus Meles meles Lynx lynx Panthera<br />

pardus<br />

Puma<br />

concolor<br />

Canis Vulpes Cuon Meles Lynx Panthera Puma<br />

Canidae Mustelidae Felidae<br />

Canoidea<br />

Art, Wirbelnummer<br />

Feloidea<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


90 Anna-Dinah Eßer<br />

wird hier der Median der Physiologischen<br />

Länge des Wirbelkörpers (PL) aufgeführt.<br />

Die Länge der Cervicalwirbel<br />

Bei den dritten bis siebten Cervicalwirbeln<br />

lässt der PL-Median eine kontinuierliche<br />

Abnahme der Wirbelkörperlänge<br />

erkennen. Ausnahmen bilden hier die<br />

Dachse (Meles meles), deren siebter Halswirbel<br />

ungefähr gleich lang bleibt wie der<br />

sechste, und die größeren Katzen Panthera<br />

pardus ( Jaguar) und Puma concolor (Puma).<br />

Der Verlauf der Wirbellänge des Jaguars<br />

konnte nicht vollständig dokumentiert<br />

werden, da die Facies articularis der letzten<br />

Halswirbel osteologisch verändert sind,<br />

so dass eine exakte Messung der PL nicht<br />

möglich war. Bei diesem Tier ist der fünfte<br />

Halswirbel jedoch länger als der vierte.<br />

Beim Puma nimmt die Wirbellänge erst<br />

am sechsten Halswirbel nochmals zu, um<br />

am siebten Halswirbel wieder geringer zu<br />

werden (siehe Abb. 12).<br />

Zusammenfassung der mit Hilfe der<br />

Messwerte erzielten Ergebnisse<br />

Das Problem bei der Zuordnung von<br />

Wirbeln zu einer systematischen Gruppe<br />

oder zu einer Position innerhalb der Halswirbelsäule<br />

ist die Überschneidung der<br />

Werte. Minimalwerte der einen Gruppe<br />

überschneiden sich mit Maximalwerten einer<br />

anderen und lassen so keine signifikante<br />

Trennung zu. Es ist eine größere Stichprobe<br />

erforderlich, um signifikante Werte<br />

erreichen zu können.<br />

Bestimmungsschlüssel<br />

Traditionell erfolgt die Orientierung eines<br />

Wirbels mit der cranialen Seite nach<br />

links weisend, ventral zeigt nach unten.<br />

Anhand der Form der Enden des Corpus,<br />

den Facies terminalis, lässt sich im Allgemeinen<br />

die Ausrichtung der Wirbel recht<br />

Abb. 12 Mittelwerte des PL-Medians der dritten<br />

bis siebten Halswirbel auf Artebene.<br />

40<br />

35<br />

30<br />

Mittelwert [mm]<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7 3 4 5 6 7<br />

C. lupus<br />

fam.<br />

C. lupus fam. C. lupus fam.<br />

Schäferhund Schlittenhund<br />

C. lupus<br />

lycaon<br />

Canis lupus<br />

Cuon<br />

alpinus<br />

Vulpes<br />

vulpes<br />

Meles meles Lynx lynx Panthera<br />

pardus<br />

Puma<br />

concolor<br />

Canis Cuon Vulpes Meles Lynx Panthera Puma<br />

Canidae Mustelidae Felidae<br />

Canoidea<br />

Art, Wirbelnummer<br />

Feloidea<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

91<br />

gut bestimmen: Dorsal „offene“ (nach oben<br />

zeigende) Gelenkflächen (Facies articularis)<br />

liegen cranial, nach unten zeigende F.<br />

articularis nach caudal. Eine Variation bieten<br />

hier die Wirbel der Lendenwirbelsäule<br />

(Vertebrae lumbales), deren Facies cranial<br />

konvex nach oben geöffnet sind und caudal<br />

konkav zur Seite zeigen. Ventral („unten“)<br />

befindet sich oft eine Leiste, die Crista ventralis,<br />

niemals aber ein ausgeprägter Dornfortsatz.<br />

Dorsal („oben“) ist die Seite, die<br />

nur eine schmale Verbindung zum Corpus<br />

vertebrae hat und über dem Foramen vertebrale<br />

liegt (= Arcus vertebrae). Meist trägt<br />

sie einen mehr oder weniger ausgeprägten<br />

Dornfortsatz (Processus spinalis).<br />

Die Zuordnung zu einer bestimmten Art<br />

bzw. einem Wirbelsäulenabschnitt erfolgt<br />

nach der in der Paläozoologie gängigen<br />

Methode des „die-meisten-Treffer-sind<br />

das-wahrscheinlichste-Ergebnis“-Prinzips.<br />

Hat man beispielsweise sechs mögliche<br />

Ergebnisse und vier davon zeigen auf<br />

„Canoidea, Canis sp. und Canis lupus“, so<br />

ist davon auszugehen, dass Canis lupus<br />

das richtige Ergebnis ist. Aufgrund der<br />

beschränkten Anzahl von möglichen<br />

Bestim mungsmerkmalen und der nicht<br />

auszuschließenden Subjektivität kann<br />

kein Schlüssel erstellt werden, der nach<br />

der Merkmalsabfolge nur einen Schluss<br />

zulässt.<br />

Die Schlüssel richten sich hauptsächlich<br />

an Merkmalen aus, die auch bei beschädigten<br />

Wirbeln im Normalfall gut erhalten<br />

bleiben. Eine Ausnahme bildet die<br />

Form des Processus spinalis, der vor allem<br />

bei Umlagerung der Wirbel (z. B. durch<br />

Wasser oder Tiere) leicht beschädigt wird.<br />

Die Beschreibung seiner Form wird nur in<br />

Ausnahmefällen und zur Ergänzung der<br />

anderen Merkmale im Schlüssel angewendet.<br />

Erklärung der im Schlüssel verwendeten<br />

Symbole:<br />

√ = vorangegangene Aussage trifft zu<br />

X = Aussage trifft nicht zu<br />

= weiter mit bzw. deutet auf …<br />

♦ = weitere Unterscheidung des vorher<br />

genannten Merkmals<br />

+/– = annähernd, in etwa<br />

∅ = Durchmesser<br />

Eine Untergliederung (z. B. 4.1, 4.2, 4.2a)<br />

dient der Differenzierung eines Merkmals<br />

oder der Unterscheidung zweier sich<br />

ähnelnder Arten. Wird keine Angabe zum<br />

nächsten zu überprüfenden Merkmal gemacht<br />

(z. B. von Merkmal 2) 4.2), ist<br />

nach der Reihenfolge der Nennungen vorzugehen.<br />

Verwendete morphologische Bezeichnungen<br />

beziehen sich auf die Ausführungen<br />

im einleitenden Teil der Arbeit und<br />

sind auch im Glossar (Anhang) nachzuschlagen.<br />

Skizzen zu den beschreibenden<br />

Begriffen (wie halbnierenförmig) befinden<br />

sich ebenfalls im Anhang.<br />

Verwendete Abkürzungen im Schlüssel:<br />

V. = Vertebrales<br />

F. = Foramen<br />

Cran. bzw. crann. / caud. bzw. caudd. = Singular<br />

bzw. Plural von cranialis bzw. caudalis<br />

Proc. / Procc. = Singular / Plural von Processus<br />

LCDe/H-Index = Länge des Corpus, inklusive<br />

des Dens × 100 geteilt durch die<br />

Höhe des gesamten Wirbels<br />

Generell folgt der Schlüssel dem Mehrheitsprinzip.<br />

Je häufiger die Zuordnung zu<br />

einer Art erfolgt, desto wahrscheinlicher<br />

ist dies die korrekte Zuordnung. Dabei<br />

wird davon ausgegangen, dass alle Merkmale<br />

zunächst gleichwertig zu behandeln<br />

sind.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


92 Anna-Dinah Eßer<br />

Zuordnung zu den<br />

Wirbelsäulenabschnitten<br />

1) Wirbel ohne ventral liegendem Corpus,<br />

ohne Processus spinalis, mit Alae atlantis<br />

√ Atlas<br />

X alle anderen 2)<br />

2) Wirbel lang gestreckt mit durchgehendem<br />

Processus spinalis, cranial +/- spitz<br />

zulaufend, caudal breit mit Facies terminalis<br />

und F. articulares caud., Dens vorhanden<br />

√ Axis<br />

X V. cervicales (ohne Atlas/Axis),<br />

thoracales, lumbales, sacrales 3)<br />

3) Wirbel mit Rippenansatzstellen (Fovea<br />

costales crann. + caudd.)<br />

√ V. thoracales<br />

X V. cervicales, lumbales, sacrales 4)<br />

4) Wirbel mit mehrteiligem Aufbau auf<br />

Arcus dorsalis, meist mehrere Wirbel miteinander<br />

verschmolzen, Foramen vertebralis<br />

sehr flach, Procc. transversarii bilden<br />

breite Fläche neben Corpus (Sichtvergleich<br />

hier, ebenso wie bei Atlas und Axis,<br />

sinnvoll)<br />

√ V. sacrales<br />

X V. cervicales, V. lumbales 5),<br />

V. thoracales 3)<br />

5) Ausgeprägter Dornfortsatz (Processus<br />

spinalis), konvex/konkav geformte F. articulares<br />

crann./caudd., Processus transversarius<br />

+/- nach cranial gerichtet<br />

√ V. lumbales<br />

X V. cervicales 6), V. thoracales <br />

3)<br />

6) Wirbelbogen breit, flach, F. articulares<br />

crann./caudd. nach oben resp. unten<br />

zeigend, wenig bis gar keine Neigung, mit<br />

kleinem, nach caudal zeigendem oder ganz<br />

ohne Proc.transversus<br />

√ V. cervicales<br />

X V. lumbales 5), V. thoracales 3)<br />

7) Nichts von alledem<br />

potentiell Schwanzwirbel (V. caudales)<br />

Position innerhalb der Abschnitte<br />

Eine Positionsbestimmung ist innerhalb<br />

der drei sich ähnlich sehenden Halswirbel<br />

(Atlas, Axis und siebter. Halswirbel ausgenommen)<br />

bei den meisten Arten nicht<br />

einfach. Einige allgemeine Anmerkungen<br />

sollen deshalb hier bei der ersten Einordnung<br />

helfen, während die genaue Zuordnung<br />

zu einer Position innerhalb des<br />

Schlüssels für die Halswirbel durch die<br />

Zusammensetzung der Merkmale geschehen<br />

muss.<br />

Der dritte bis fünfte Halswirbel der Carnivora<br />

trägt normalerweise eine Crista<br />

ventralis (kann auch nur cranial oder caudal<br />

vorhanden sein), die bei dem sechsten<br />

und siebten Halswirbel nicht vorhanden<br />

ist. Der Dornfortsatz wird caudad länger,<br />

während die Wirbelkörper selbst kürzer<br />

werden. Die Procc. transversus werden<br />

vom dritten bis fünften Halswirbel deutlich<br />

breiter, der sechste Halswirbel besitzt<br />

plattenförmig verbreiterte Procc. transversus.<br />

Das Foramen transversarium wird im<br />

Verlauf der Halswirbelsäule breiter. Der<br />

siebte Halswirbel weist allerdings kein<br />

Foramen transversarium auf. Dieser Wirbel<br />

hebt sich in seiner Form deutlich von<br />

den anderen Wirbeln ab. Sein Körper ist<br />

sehr schmal und hat einen hohen Dornfortsatz,<br />

aber nur sehr kurze und schmale<br />

Procc. transversus. Bei einigen Arten trägt<br />

der siebte Halswirbel caudal Rippenartikulationsstellen.<br />

Schlüssel für die einzelnen<br />

Halswirbel<br />

Atlas<br />

1) Foramen alare vorhanden<br />

√ Dachs (Meles meles) oder Herbivore<br />

X Weiter mit 2)<br />

2) Foramen transversarium beginnt lateral<br />

neben Facies articulares caudales und tritt<br />

in der Ala atlantis wieder aus<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

93<br />

√ Feloidea 3), Mustelidae 1)<br />

X Canis, Vulpes 6)<br />

3) GL kleiner als 4 cm<br />

√ Lynx lynx, kleinere Katzenartige<br />

(Felis sylvestris z. B.) 5)<br />

X Größere Katzenartige 4)<br />

(evtl. besser durch Index, wegen<br />

Jungtieren)<br />

4) Arcus dorsalis deutlich mit spitzem<br />

Fortsatz caudal<br />

√ Puma concolor<br />

X Panthera pardus ( Überprüfung<br />

an anderen Exemplaren wäre notwendig!)<br />

4.1) Mündung des Foramen transversarium<br />

innen im Arcus dorsalis > 0,3 mm<br />

√ Puma concolor<br />

X Panthera pardus<br />

4.2) Arcus dorsalis cranial deutlich spitz<br />

eingekerbt<br />

√ Puma concolor<br />

X Panthera pardus<br />

4.3) Arcus dorsalis caudal mittig<br />

abgerundeter bis zugespitzter Fortsatz<br />

√ Panthera pardus<br />

X Puma concolor?<br />

Insgesamt ist 4.3 als wenig geeignetes<br />

Merkmal zu bezeichnen. Die Form des<br />

Fortsatzes kann von der physischen Verfassung<br />

abhängig sein und der Fortsatz<br />

selbst kann bei beschädigten Wirbeln<br />

fehlen.<br />

5) Alae atlantis cranial an den Spitzen tiefer<br />

gezogen als die Verbindungsstelle mit<br />

dem Corpus, z. T. nach medial eingebogen<br />

√ Felis sylvestris<br />

X +/– eine Höhe mit der<br />

Verbindung zum Corpus: Lynx lynx<br />

6) Bezieht sich auf Canoidea mit Ausnahme<br />

von Meles (Dachs):<br />

6.1) GL < 29 mm<br />

√ Vulpes vulpes oder kleiner<br />

Haushund<br />

X Größerer Canoidea<br />

6.2) Foramen transversarium ohne sichtbaren<br />

Durchtritt zum Inneren des Arcus<br />

dorsalis<br />

√ Cuon alpinus, weiteres Merkmal<br />

6.3e)<br />

X Alle anderen untersuchten<br />

Canoidea 6.3)<br />

6.3) Das Foramen transversarium:<br />

6.3a) Foramen transversarium deutlich<br />

durchgehend von lateral nach dorsal,<br />

∅ mehr als 4 mm, mit leicht cranial<br />

liegendem Foramen zur Innenseite des<br />

Wirbelkanals<br />

√ Canis lupus lycaon, Timberwolf<br />

X Andere, 6.3b, e)<br />

6.3b) Foramen transversarium durchgehend<br />

von lateral nach dorsal, bei Aufsicht<br />

von dorsal und ventral mehr oder<br />

weniger schmaler Durchgang sichtbar,<br />

leicht craniad liegendes Foramen zur<br />

Innenseite des Wirbelkanals<br />

√ Canis lupus familiares<br />

X Andere 6.3c, e)<br />

6.3c) Foramen transversarium durchgehend<br />

von lateral nach dorsal, Durchgang<br />

nur bei leichter Schräglage des<br />

Wirbels von lateral und dorsal sichtbar<br />

√ 6.3d)<br />

X 6.3 a, b, e)<br />

6.3d) Foramen transversarium leicht<br />

craniad liegend, langgezogen elliptisch;<br />

Foramen läuft zur Innenseite des Wirbelkanals<br />

√ Canis lupus (Grauwolf )<br />

(Ausnahme: 18491 sinistral)<br />

X Andere, 6.3e)<br />

6.3e) Foramen transversarium rund<br />

♦ Kein deutliches Foramen zur<br />

Wirbelkanalinnenseite <br />

Cuon alpinus<br />

♦ Kleines, aber deutliches Foramen<br />

zur Wirbelkanalinnenseite <br />

Vulpes vulpes<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


94 Anna-Dinah Eßer<br />

Axis<br />

1) Form der Facies articularis caudalis<br />

♦ Gestreckt fünfeckig Canoidea<br />

außer Meles meles und Cuon alpinus<br />

♦ Halbnierenförmig Lynx lynx,<br />

Meles meles und Panthera pardus<br />

♦ Gestreckt – sechseckig <br />

Cuon alpinus<br />

♦ Leicht gestreckt sechseckig <br />

Puma concolor<br />

Insgesamt kein verlässliches Merkmal;<br />

weiter mit 2)<br />

2) Beginn des Processus spinalis<br />

♦ +/– auf einer Linie mit dem Dens –<br />

leicht caudad des Dens Canoidea<br />

♦ Caudad – deutlich caudad des Dens<br />

Feloidea<br />

3) Ende des Processus spinalis caudal horizontal<br />

abfallend<br />

√ Canoidea außer Cuon alpinus,<br />

weiter mit 5)<br />

X Alle anderen<br />

3a) Mit einer Ausbeulung caudad <br />

√ Cuon alpinus<br />

3b) Spitz, nicht hochgezogen, craniad<br />

stark eingebuchtet √ <br />

Puma concolor<br />

3c) Ventrad abgerundet, craniad stark<br />

eingebuchtet √ Panthera pardus<br />

3d) Hochgezogen, spitz, craniad eingebuchtet<br />

√ Lynx lynx und Meles<br />

meles, weiter mit 4<br />

4) Crista ventralis durchgehend<br />

√ 4a)<br />

X 5)<br />

4a) Crista ventralis gut ausgeprägt<br />

√ Vulpes vulpes<br />

X 4b)<br />

4b) Crista ventralis wenig ausgeprägt<br />

√ Feloidea, weiter mit 2), 3)<br />

oder 7)<br />

5) Crista ventralis unterbrochen oder nur<br />

teilweise ausgeprägt<br />

√ Canoidea außer Vulpes vulpes,<br />

weiter mit 5a)<br />

X Feloidea und Vulpes vulpes<br />

(siehe 4a) und b)<br />

5a) Mittig unterbrochen, cranial und<br />

caudal stark ausgeprägt<br />

√ C. lupus sp., weiter mit 6)<br />

5b) Wenig ausgeprägt, caudal vorhanden<br />

√ Meles meles<br />

5c) Nicht ausgeprägt, aber cranial<br />

vorhanden<br />

√ Cuon alpinus<br />

6) Aufsicht auf den Processus spinales<br />

caudal<br />

♦ Stumpf weiter mit 6a)<br />

♦ Spitz, nicht gespalten Feloidea<br />

(weiter mit 7) und Meles meles<br />

6a) Gespalten √ Canis lupus<br />

familiaris<br />

X Canis lupus, C. lupus lycaon<br />

und Cuon alpinus<br />

7) Bei Feloidea: LCDe/H-Index unter 130<br />

√ Lynx lynx<br />

X Panthera pardus (+/– 130) und<br />

Puma concolor (+/– 132 beim juvenilen<br />

Tier)<br />

Der Axis der Canis lupus und der Canis<br />

lupus lycaon sind jeweils nicht eindeutig anhand<br />

der untersuchten morphologischen<br />

Merkmale und der Messwerte von der anderen<br />

Art zu trennen.<br />

Restliche Halswirbel<br />

(außer Atlas und Axis)<br />

3. Cervicalwirbel<br />

1) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />

√ Canoidea, weiter mit 2)<br />

X Feloidea und Meles meles,<br />

weiter mit 3)<br />

2) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />

und tailliert<br />

√ Canis sp. weiter mit 4)<br />

X Mit Ausbuchtung craniad<br />

√ Cuon alpinus<br />

X Vulpes vulpes<br />

3) Aufsicht Arcus vertebrae x-förmig<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

95<br />

√ Meles meles<br />

X Eher quadratisch bis deutlich<br />

quadratisch Feloidea, weiter mit 4)<br />

4) Crista ventralis durchgehend<br />

√ Weiter mit 4a)<br />

X Tritt bei den untersuchten Tieren<br />

nicht auf<br />

4a) Gut ausgeprägt<br />

√ Vulpes vulpes<br />

X 4b)<br />

4b) Ausgeprägt<br />

√ Canis lupus familiaris, Canis<br />

lupus lycaon (caudad stärker)<br />

X 4c)<br />

4c) Vorhanden (= vorhanden, aber nicht<br />

auffällig deutlich oder schwach)<br />

√ Feloidea<br />

♦ Durchgehend Puma concolor,<br />

Lynx lynx; weiter mit 6)<br />

♦ Caudal zweigeteilt Panthera pardus<br />

X Weiter mit 4d)<br />

4d) Kaum vorhanden (= schwach)<br />

♦ Caudad stark, durchgehend Canis<br />

lupus<br />

♦ Caudad stärker und dreigeteilt <br />

Meles meles<br />

5) Form der Facies articularis caudalis<br />

gestreckt sechseckig<br />

√ Canis sp.(Vulpes: fünf- bis sechseckig),<br />

weiter mit 8)<br />

X Weiter mit 6)<br />

6) Form der Facies articularis caudalis<br />

halbnierenförmig<br />

√ Lynx lynx, Panthera pardus und<br />

Meles meles, weiter mit 6a)<br />

X Weiter mit 7)<br />

6a) Halbnierenförmig mit 2 Crista<br />

ventralis-Enden sichtbar<br />

√ Lynx lynx, Panthera pardus<br />

X Meles meles (mit 3 Crista<br />

ventralis-Enden)<br />

7) Form der Facies articularis caudalis<br />

gestreckt fünfeckig<br />

√ 7a)<br />

X Zurück zu 5) oder anderen Punkt<br />

wählen<br />

7a) Mit deutlichem Crista ventralis-<br />

Ende<br />

√ Vulpes vulpes (kann fünf- oder<br />

sechseckig erscheinen)<br />

X Weiter mit 7b)<br />

7b) Ohne sichtbares Crista ventralis-<br />

Ende<br />

√ Puma concolor<br />

X Zurück zu 5) oder anderen<br />

Punkt wählen<br />

8) Form Processus spinalis<br />

♦ Kaum vorhanden bis vorhanden, im<br />

Bogen durchgehend C .l .familiaris<br />

♦ Ausgeprägt, durchgehend, ab medial<br />

höherer Bogen C .l .lycaon<br />

♦ Ausgeprägt, durchgehend, gleichmäßiger<br />

Bogen Vulpes vulpes<br />

♦ Gut ausgeprägt, durchgehend, Bogen<br />

ca. medial am höchsten C. lupus<br />

♦ Schwach vorhanden, sehr niedriger<br />

Bogen durchgehend Cuon alpinus<br />

♦ Gut ausgeprägt, steigt gleichmäßig<br />

caudad an, abruptes Ende caudal <br />

Meles meles<br />

♦ Gut ausgeprägt, durchgehend, ab<br />

medial steiler Bogen Puma concolor<br />

(könnte beschädigt sein)<br />

♦ Gut bis sehr gut ausgeprägt,<br />

Haifischflossenartig ab kurz hinter<br />

cranial Lynx lynx<br />

♦ Wellenförmig, medial eingebuchtet,<br />

sonst ausgeprägt Panthera pardus,<br />

möglicherweise beschädigt<br />

Die Form des Processus spinalis kann irreführend<br />

sein (Beschädigungen leicht möglich,<br />

da fragil).<br />

4. Cervicalwirbel<br />

1) Aufsicht auf den Arcus vertebrae:<br />

rechteckig, deutlich tailliert<br />

√ Canis sp., Vulpes vulpes; weiter mit 2)<br />

X Alle anderen, weiter mit 1a)<br />

1a) Rechteckig mit Einbuchtung<br />

medial der Procc. articulares craniales<br />

√ Cuon alpinus<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


96 Anna-Dinah Eßer<br />

X Anders, weiter mit 1b)<br />

1b) Mehr oder weniger quadratisch<br />

bis trapezförmig<br />

√ Felidae<br />

X Weiter mit 1c)<br />

1c) Breit x-förmig<br />

√ Meles meles<br />

X Zurück zu 1) oder weiter mit 2)<br />

2) Merkmal der Processus articulares<br />

caudales<br />

2a) Deutlich dorsad hochgezogen<br />

√ Canis sp.<br />

X Weiter mit 2b)<br />

2b) Dorsad hochgezogen<br />

√ ulpes vulpes<br />

X Weiter mit 2c)<br />

2c) Wenig dorsad hochgezogen<br />

√ Cuon alpinus, Meles meles,<br />

Panthera pardus; weiter mit 3<br />

X Weiter mit 2d)<br />

2d) Annähernd flach<br />

√ Lynx lynx, Puma concolor<br />

X Zurück zu 2) oder weiter mit 3)<br />

3) Form und Ausprägung der Crista<br />

ventralis<br />

3a) Crista ist vorhanden, caudal<br />

dreigeteilt<br />

√ Meles meles<br />

X Alle anderen, weiter mit 3b)<br />

3b) Crista ist caudal zweigeteilt<br />

√ Cuon alpinus, Lynx lynx,<br />

Panthera pardus, Vulpes vulpes;<br />

♦ Crista ist gut ausgeprägt <br />

Vulpes vulpes<br />

♦ Crista ist vorhanden, nicht<br />

auffällig ausgebildet Lynx lynx,<br />

Panthera pardus<br />

♦ Crista ist kaum vorhanden <br />

Cuon alpinus<br />

X Weiter mit 3c)<br />

3c) Crista ist nicht geteilt, caudad stark,<br />

ansonsten nur gut ausgeprägt<br />

√ Canis sp.<br />

X Crista ist nicht geteilt, durchgehend<br />

vorhanden Puma concolor<br />

4) Form der Facies articulares craniales<br />

gestreckt fünf- bis sechseckig<br />

√ Canis sp.<br />

X Weiter mit 4a)<br />

4a) Form ist fünfeckig<br />

√ Cuon alpinus (oder Canis sp.)<br />

X Weiter mit 4b)<br />

4b) Form ist herzförmig<br />

√ Vulpes vulpes<br />

X Felidae, Meles meles, weiter<br />

mit 4c)<br />

4c) Form ist halbnierenförmig<br />

√ Puma concolor, Lynx lynx<br />

X Form ist nierenförmig <br />

Meles meles, Panthera pardus;<br />

weiter mit 5b)<br />

5) Form der Facies articulares caudales<br />

5a) Sechseckig mit einem deutlichem<br />

Crista ventralis-Ende<br />

√ Canis sp., manchmal Vulpes vulpes<br />

X Weiter mit 5b)<br />

5b) Sechseckig mit zwei deutlichen<br />

Crista ventralis-Enden<br />

√ Cuon alpinus, Vulpes vulpes<br />

X Weiter mit 5c)<br />

5c) Sechseckig ohne sichtbares Crista<br />

ventralis-Ende<br />

√ Puma concolor<br />

X Weiter mit 5c)<br />

5d) Halbnierenförmig mit zwei<br />

sichtbaren Crista ventralis-Enden<br />

√ Lynx lynx, Panthera pardus<br />

X Weiter mit 5d)<br />

5e) Halbnierenförmig mit drei<br />

sichtbaren Crista ventralis-Enden<br />

√ Meles meles<br />

X Zurück zu 5)<br />

5. Cervicalwirbel<br />

1) Aufsicht Arcus vertebrae<br />

1a) Rechteckig, tailliert-schmetterlingsförmig,<br />

lateral leicht hochgezogen<br />

√ Canis sp.<br />

X 1b<br />

1b) Rechteckig, tailliert, evtl. lateral<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

97<br />

leicht hochgezogen<br />

√ Vulpes, Cuon<br />

X 1c<br />

1c) Breit x-förmig<br />

√ Meles meles<br />

X 1d<br />

1d) Mehr oder weniger rechteckig,<br />

nicht tailliert<br />

√ Feloidea<br />

X Zurück zu 1a oder weiter mit 2<br />

2) Crista ventralis<br />

♦ Nicht vorhanden Cuon alpinus<br />

♦ Vorhanden, weiter mit 2a)<br />

2a) Wenig vorhanden, caudal breit<br />

√ Panthera pardus<br />

X Weiter mit 2b)<br />

2b) Schwach ausgeprägt, caudad<br />

dreigeteilt aber flach<br />

√ Meles meles, z. T. Vulpes vulpes 2c)<br />

X Weiter mit 2d)<br />

2c) Gut ausgeprägt, caudad zweigeteilt<br />

√ Vulpes vulpes<br />

X Weiter mit 2d)<br />

2d) Schwach ausgeprägt, caudad<br />

zweigeteilt<br />

√ Lynx lynx, evtl. auch Canis sp.<br />

weiter mit 2e)<br />

X Weiter mit 2e)<br />

2e) Ausgeprägt, caudad zweigeteilt<br />

√ Hovawart, Schäferhund, Wolf<br />

X Weiter mit 2f )<br />

2f ) Ausgeprägt, durchgehend ohne<br />

Teilung<br />

√ Canis sp., Puma concolor<br />

X Zurück zu 2) oder weiter mit 3)<br />

3) Form der Facies articularis cranialis annähernd<br />

rund<br />

♦ Mit 1 bis 2 Crista ventralis Canis sp.<br />

♦ Mit 3 Crista ventralis Vulpes vulpes<br />

♦ Ohne Crista ventralis Cuon alpinus<br />

X Weiter mit 3a)<br />

3a) Halbnierenförmig mit dreifacher<br />

Crista ventralis<br />

√ Meles meles<br />

X Feloidea<br />

3b) Breitelliptisch mit zweifacher<br />

Crista ventralis<br />

√ Lynx lynx<br />

X Weiter mit 3c)<br />

3c) Fünf- bis sechseckig ohne Crista<br />

ventralis<br />

√ Puma concolor<br />

Dieses Merkmal konnte für Panthera<br />

pardus aufgrund osteologisch nicht<br />

deutbarer Abweichungen am ausgeliehenen<br />

Originalmaterial nicht bearbeitet<br />

werden, weiter mit 4).<br />

4) Form der Facies articulares caudales<br />

fünfeckig bis herzförmig<br />

√ Canis sp.<br />

X Weiter mit 4a)<br />

4a) Herzförmig<br />

√ Vulpes vulpes<br />

X Weiter mit 4b)<br />

4b) Sechseckig<br />

√ Cuon alpinus<br />

X Weiter mit 4c)<br />

4c) Nierenförmig<br />

√ Meles meles, Panthera pardus,<br />

weiter mit 2)<br />

X Weiter mit 4d)<br />

4d) Halbnierenförmig<br />

√ Lynx lynx, Puma concolor, Cuon<br />

alpinus; weiter mit 2) oder 3)<br />

X Zurück zu 4 oder 1<br />

Die Spitze des Processus spinalis ist bei<br />

Vulpes und Panthera verbreitert bzw. höckerartig<br />

verdickt.<br />

6. Cervicalwirbel<br />

Beim sechsten und siebten Halswirbel ist<br />

eine Zuordnung aufgrund der dorsalen<br />

Form des Arcus dorsalis oder anderer zuvor<br />

benutzter Merkmale nicht mehr sicher<br />

möglich.<br />

1) Form und Ausprägung der Procc. art.<br />

caudd.: Mit Protuberanz dorsad<br />

√ Canidae und Mustelidae ohne<br />

Cuon alpinus<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


98 Anna-Dinah Eßer<br />

X Weiter mit 1a)<br />

1a) Annähernd flach<br />

√ Cuon alpinus, Panthera pardus<br />

X flach Felidae ohne Panthera<br />

pardus<br />

2) Form des Arcus dorsalis cranial (Negativform)<br />

ausgerandet<br />

√ Canis lupus familiares<br />

X Weiter mit 1a)<br />

2a) Abgerundet<br />

√ Canis lupus lycaon, Canis lupus,<br />

evtl. Cuon alpinus<br />

X Weiter mit 1b)<br />

2b) An den Ecken abgerundetes<br />

Quadrat<br />

√ Lynx lynx<br />

X Weiter mit 1c)<br />

2c) Zugespitzt<br />

√ Meles meles<br />

X Weiter mit 1d)<br />

2d) Trapezförmig<br />

√ Vulpes vulpes<br />

X Weiter mit 1e)<br />

2e) Ungefähr trapezförmig, mit durchhängender<br />

Längsseite<br />

√ Panthera pardus<br />

X 1f<br />

2f ) Ungefähr fünfeckig<br />

√ Puma concolor<br />

X Zurück zu 1) oder weiter mit 3)<br />

3) Form Arcus dorsalis caudal (Negativform)<br />

nahezu flach<br />

√ Lynx lynx<br />

X Weiter mit 3a)<br />

3a) Wellenförmig<br />

√ Puma concolor<br />

X Alle anderen, von V-förmig<br />

über spitz eingekerbt bis abgerundet;<br />

Keine sichere Zuordnung zu einer<br />

Gattung oder Art möglich<br />

4) Crista ventralis vorhanden, sichtbar und<br />

tastbar, durchgehend<br />

√ Vulpes vulpes, Felidae, Canis lupus<br />

lycaon<br />

X Weiter mit 4a)<br />

4a) Durchgehend, aber nur schwach vorhanden<br />

(wenig sichtbar, aber tastbar)<br />

√ Meles meles, Canis lupus familiares,<br />

Canis lupus, Cuon alpinus<br />

5) Facies articulares craniales :<br />

♦ Apfelförmig Canis sp.<br />

♦ Annähernd rund Cuon alpinus<br />

♦ Halbnierenförmig Felidae (für<br />

Panthera pardus kein Urteil möglich)<br />

♦ Nierenförmig Meles meles<br />

♦ Herzförmig Vulpes vulpes<br />

6) Facies articulares caudales annähernd<br />

rund<br />

√ Alle außer Meles meles (diese<br />

haben eine halbnierenförmige F. art.<br />

caud.)<br />

Die Spitze des Processus spinalis ist bei<br />

den Canoidea und Panthera pardus caudad<br />

verbreitert (lanzettlich, pfeil- oder löffelförmig),<br />

bei den anderen Felidae ist keine<br />

auffällige Verbreiterung festzustellen. Bei<br />

Meles meles kann die Spitze auch undifferenziert<br />

höckerig verdickt sein. Bei Puma<br />

concolor fällt die starke Biegung des Processus<br />

(konkav nach cranial, konvex nach<br />

caudal) auf.<br />

7. Cervicalwirbel<br />

1) Facies articulares craniales:<br />

♦ Herzförmig Canoidea ohne Meles<br />

meles und Cuon alpinus<br />

♦ Halbnierenförmig Meles meles,<br />

Lynx lynx<br />

♦ Apfelförmig bis rund Cuon alpinus<br />

♦ Ungefähr fünfeckig Puma concolor<br />

Für Panthera pardus kann keine Aussage<br />

getroffen werden.<br />

2) Facies articulares caudales:<br />

♦ mit deutlicher Rippenartikulationsfläche<br />

Meles meles, Puma concolor <br />

Form ist elliptisch 3)<br />

♦ Rippenartikulationsfläche vorhanden<br />

Canis lupus familiares, teilweise<br />

Vulpes vulpes (nicht Nr. 17217) 2a)<br />

♦ Keine Rippenartikulationsfläche <br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

99<br />

Alle anderen 2a)<br />

2a) Form der Facies:<br />

♦ Elliptisch Vulpes vulpes, Meles<br />

meles, Puma concolor<br />

♦ Rund bis annähernd elliptisch <br />

Canis sp., Cuon alpinus, Lynx lynx,<br />

Vulpes vulpes Nr. 17217<br />

3) Crista ventralis:<br />

♦ deutlich ausgebildet, durchgehend,<br />

caudal breiter werdend Vulpes vulpes<br />

♦ Wenig vorhanden, aber durchgehend<br />

Felidae, Meles meles, ein Canis lupus<br />

lycaon (Nr. 19813)<br />

♦ Nur cranial bis medial vorhanden,<br />

schwach ausgeprägt Canis lupus<br />

♦ Nur cranial vorhanden, schwach<br />

ausgeprägt Canis lupus familiares,<br />

Canis lupus lycaon (Nr. 17913)<br />

♦ Nicht vorhanden Cuon alpinus<br />

4) Form und Ausprägung der Processus<br />

articulares caudales:<br />

♦ Mit kleiner Protuberanz dorsal <br />

Canis sp.<br />

♦ Kleine Protuberanz dorsal Richtung<br />

medial Vulpes vulpes, Meles meles<br />

♦ Keine Protuberanz Lynx lynx,<br />

Panthera pardus<br />

♦ Nur eine Aufrauung dorsal Cuon<br />

alpinus, Puma concolor<br />

Anhand der anderen morphologischen<br />

Merkmale ist keine sichere Zuordnung<br />

möglich.<br />

Abb. 13 Atlas. SaNr. 1054 Dorsalansicht, Pfeil =<br />

Richtung cranial; Maßstab 1 cm.<br />

Abb. 14 Atlas. SaNr. 2483 Dorsalansicht, Pfeil =<br />

Richtung cranial; Maßstab 1 cm.<br />

Nachbestimmung der<br />

Sammlungsstücke<br />

Die in der Sammlung des NLMH enthaltenen<br />

Halswirbel von Carnivoren sind<br />

aufgrund der oben erwähnten taphonomischen<br />

Begleiterscheinungen des eiszeitlichen<br />

Kiestransports größtenteils stark beschädigt.<br />

• Atlas: SaNr. 1054 (Abb. 13), SaNr. 2483<br />

(Abb. 14)<br />

• Axis: SaNr. 293 (Abb. 15)<br />

• Restliche Halswirbel (Abb. 16): SaNr.<br />

5101, SaNr. 419, SaNr. 3100, SaNr.<br />

3101, SaNr. 3333<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


100 Anna-Dinah Eßer<br />

Abb. 15 Axis aus der Sammlung. SaNr. 293. Lateralansicht.<br />

Pfeil = Richtung cranial, Maßstab 1 cm.<br />

Bestimmungsschlüssel Atlas<br />

Messwerte, Indices<br />

Der Atlas mit der Sammlungsnummer<br />

2483 ist stark beschädigt. Die Messwerte<br />

erlauben aus diesem Grund keine Zuordnung.<br />

Der Atlas mit der SaNr. 1054 dagegen<br />

ist nahezu vollständig erhalten und hat nur<br />

leichte Beschädigungen an den Foveae articulares<br />

craniales. Die aus den Messwerten<br />

(Einzelmessung) errechneten Indices<br />

sind annähernd gleich denen der rezenten<br />

Schäferhunde. Der GLF/H (Gesamte<br />

Länge von der Facies articularis cranialis<br />

zur Facies articularis caudalis mal 100<br />

geteilt durch die Gesamthöhe) Indexwert<br />

liegt zwischen dem des Schäferhundes und<br />

des Hovawarts.<br />

SaNr. 1054<br />

1) Kein Foramen alare vorhanden.<br />

2) Foramen transversarium beginnt nicht<br />

lateral neben den Facies articulares caudales<br />

6.1) GL > 29 mm<br />

6.2) Foramen transversarium mit sichtbarem<br />

Durchtritt zum Inneren des Arcus<br />

dorsalis<br />

6.3a) Foramen transversarium im Durchmesser<br />

nicht größer als 4 mm<br />

6.3b) Foramen transversarium durchgehend<br />

von lateral nach dorsal, bei Aufsicht<br />

von dorsal und ventral mehr oder weniger<br />

schmaler Durchgang sichtbar, leicht cranial<br />

liegendes Foramen zur Innenseite des<br />

Wirbelkanals<br />

√ Canis lupus familiares<br />

SaNr. 2483<br />

1) Kein Foramen alare vorhanden<br />

2) Foramen transversarium beginnt nicht<br />

lateral neben den Facies articulares caudales<br />

6.1) GL > 29 mm, trotz Beschädigung<br />

deutlich länger<br />

6.2) Foramen transversarium mit sichtbarem<br />

Durchtritt zum Inneren des Arcus<br />

dorsalis<br />

6.3a) Foramen transversarium im Durchmesser<br />

nicht größer als 4 mm<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

101<br />

Abb. 16 Restliche Halswirbel aus der Sammlung.<br />

Dorsalansichten. A = Nr. 3101; B = Nr. 3100; C =<br />

Nr. 3333; D = Nr. 419; E = Nr. 421; Pfeil = Richtung<br />

cranial; Maßstab 1 cm.<br />

6.3c) Foramen transversarium durchgehend<br />

von lateral nach dorsal, Durchgang<br />

nur bei leichter Schräglage des Wirbels<br />

von lateral nach dorsal sichtbar<br />

6.3d) Foramen transversarium (von ventral<br />

gesehen) langgezogen elliptisch, Foramen<br />

zur Innenseite des Wirbelkanals<br />

√ Canis lupus<br />

Da die Ausmaße dieses Atlas nicht an<br />

die der adulten rezenten Wölfe heranreichen<br />

und die Facies articulares craniales<br />

und caudales stellenweise (ebenso wie die<br />

Substantia compacta an anderen Stellen)<br />

abgeplatzt ist, wäre es möglich, dass dieser<br />

Atlas zu einem Jungtier gehört.<br />

Zuordnung Axis, SaNr. 293<br />

Der Wert des SBV/LCDe-Index (kleinste<br />

Breite des Wirbelkörpers x 100 geteilt<br />

durch die Länge des Corpus inkl. des<br />

Dens, der einzige der hier zu berechnen<br />

ist, da der Knochen stark beschädigt ist)<br />

liegt mit 39,1 zwischen dem des Pumas<br />

(35,59) und des Timberwolfes (41,42).<br />

1) Die Form der Facies articularis caudalis<br />

ist gestreckt fünfeckig Canoidea<br />

2) Der Beginn des Processus spinalis liegt<br />

leicht caudad des Dens Canoidea<br />

3) Ende des Processus spinalis schwer zu<br />

beurteilen, da dorsaler Teil stark beschädigt<br />

4) Crista ventralis ist nicht durchgehend<br />

Canoidea<br />

5a) Crista ventralis ist mittig unterbrochen,<br />

cranial und caudal stark ausgeprägt<br />

Canis sp.<br />

6) Aufsicht auf den Processus spinalis caudal<br />

(von dorsal) ist 6a), gespalten<br />

√ Canis lupus familiares<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


102 Anna-Dinah Eßer<br />

Zuordnung Restliche Halswirbel<br />

Die Wirbel mit den Nummern 3100, 419,<br />

3101, 421 und 3333 wurden anhand des<br />

Verlaufes ihrer Crista ventralis und des<br />

Processus spinalis als 3. Halswirbel eingestuft.<br />

Als Bestimmungsbeispiel wird hier<br />

der Wirbel 3333 herangezogen.<br />

Sa.Nr. 3333<br />

Der BFcr/HFcr-Index des Wirbels 3333<br />

liegt mit 162,5 zwischen dem Hovawart<br />

(165,44) und dem Timberwolf (159,06).<br />

Der BFcd/HFcd-Index liegt mit 143,08<br />

zwischen dem Schäferhund (147,3) und<br />

dem Timberwolf (138,9).<br />

Der PL-Wert liegt mit 28,8 mm dem PL-<br />

Median des Schäferhundes am nächsten<br />

(29,05 mm).<br />

1) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />

√ Canoidea<br />

2) Aufsicht Arcus vertebrae rechteckig<br />

und tailliert<br />

√ Canis sp<br />

4) Crista ventralis durchgehend<br />

√ Weiter mit 4a<br />

4a) Gut ausgeprägt<br />

X 4b<br />

4b) Ausgeprägt<br />

X 4c) X 4d<br />

4d) Kaum vorhanden (=schwach)<br />

Caudad stark, durchgehend Canis<br />

lupus<br />

5) Form der Facies articularis caudalis<br />

gestreckt sechseckig<br />

√ Canis sp.<br />

8) Form Processus spinalis<br />

♦ Kaum vorhanden bis vorhanden, im<br />

Bogen durchgehend C .l. familiaris<br />

♦ Gut ausgeprägt, durchgehend, Bogen<br />

ca. medial am höchsten C. lupus<br />

Schlecht zu beurteilen, da möglicherweise<br />

beschädigt. Die Form der<br />

Crista ventralis spricht eher für einen<br />

Wolf, die Messwerte eher für einen<br />

Haushund.<br />

Ergebnis: Canis sp.<br />

Ergebnisse der Nachbestimmung<br />

SaNr. 1054: Canis lupus familiares<br />

SaNr. 2483: Canis lupus<br />

SaNr. 293: Canis lupus familiares<br />

SaNr. 421: Canis lupus familiares (juvenil)<br />

SaNr. 3100: Canis lupus familiares<br />

SaNr. 419: Canis lupus<br />

SaNr. 3101: Canis lupus subadult oder<br />

kleinerer Haushund ohne Crista ventralis.<br />

SaNr. 3333: Canis sp<br />

Diskussion<br />

Die Erstellung des Schlüssels hat einige<br />

Fakten zu Tage gebracht, die nicht in den<br />

zu Rate gezogenen Anatomiebüchern erwähnt<br />

werden. Ein Beispiel hierfür ist die<br />

Unterscheidungsmöglichkeit von Canidae<br />

zu Felidae und Melinae anhand des Verlaufes<br />

des Foramen transversarium.<br />

Merkmale, die häufig zur Bestimmung<br />

herangezogen werden, wie z. B. die Alae<br />

atlantis, haben sich zur Bestimmung als<br />

ungeeignet herausgestellt. Sie sind ebenso<br />

wie die Form der Processus und die<br />

Ausprägung von Protuberanzen eher individual-<br />

und nicht speziesspezifisch. Ihr<br />

Aussehen scheint mit der individuellen<br />

„Fitness“ und Körperform zusammenzuhängen<br />

(Abb. 17). Abgesehen von der Abhängigkeit<br />

der Perspektive (wie auf Abb.<br />

17; Wolfswirbel = leicht dorsolaterale Ansicht,<br />

Wirbel in der Mitte des Bildes = dorsal)<br />

zeigen die Tiere z. B. unterschiedlich<br />

breite Wirbelbögen (z. B. Q, R) und unterschiedlich<br />

hohe Proccessus transversus<br />

(C–E).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

103<br />

Abb. 17 Dritter Cervicalwirbel, Aufsicht von dorsal.<br />

Beispiel der unterschiedlichen Ausprägungen<br />

von Merkmalen. A = Panthera pardus; B = Puma<br />

concolor; C - E = Lynx lynx; F = Cuon alpinus; G - I<br />

= Meles meles; J - L = Vulpes vulpes; M, N = C. l.<br />

familiares, Schäferhund; O = C. l. familiares, Hovawart;<br />

Q, R = C. l. lycaon; S - U = C. lupus. – Pfeil =<br />

Richtung cranial; Maßstab 1 cm.<br />

Bei der Zuordnung der Dachs-Wirbel<br />

traten bemerkenswerte Charakteristika<br />

zu Tage. Der in der aktuellen Systematik<br />

mit den Hundeartigen in eine Überfamilie<br />

gestellte Dachs weist häufig den Feloidea<br />

deutlich ähnlichere Charakteristika<br />

auf als hundeartige Merkmale. Die Autapomorphien,<br />

die er außerdem zeigt, sind<br />

weniger überraschend. Er hat nicht nur<br />

eine andere Ernährungsweise, sondern<br />

auch eine vollständig andere Lebensart<br />

als die Hundeartigen. Für die z. T. hohe<br />

Ähnlichkeit mit den Katzenartigen (beispielsweise<br />

die Form der Facies articulares<br />

caudales der Halswirbel, die häufig mit der<br />

der Katzenartigen übereinstimmt) hat sich<br />

jedoch noch keine Erklärung gefunden.<br />

Weitere osteologische Studien wären hier<br />

sinnvoll.<br />

Die Rassezuordnung der Wirbel von<br />

wolfsähnlichen Haushunderassen mit ungefähr<br />

gleicher Größe ist, soweit in dieser<br />

Studie ersichtlich, nahezu unmöglich.<br />

Die Morphologie der Wirbel gleicht sich<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


104 Anna-Dinah Eßer<br />

in vielen Charakteristika sehr und ist auch<br />

innerhalb der Rassen sehr verschieden.<br />

Eine Unterscheidung vom Wolf ist ebenfalls<br />

in vielen Fällen zumindest schwierig<br />

und fällt mit fossilen, abgerollten oder auf<br />

sonst eine Weise beschädigten Knochen<br />

noch schwerer. Dieses Ergebnis stimmt<br />

mit der Studie von Wayne (1986) überein,<br />

der anhand morphologischer Maße<br />

von Extremitätenknochen keinen signifikanten<br />

Unterschied zwischen Wolfsartigen<br />

Caniden und Haushunden gleicher Größe<br />

feststellen konnte. Hunde anderer Größen<br />

und stärker herausgezüchteten Formen als<br />

die untersuchten besitzen möglicherweise<br />

genügend eigenständige Charakteristika<br />

für eine Artbestimmung. Ein Chihuahua,<br />

Bernhardiner, Dackel oder eine Dogge<br />

sind vermutlich aufgrund der Größenunterschiede<br />

nicht so schwer vom Wolf oder<br />

untereinander zu unterscheiden. Allerdings<br />

wäre die Frage nach den genauen morphologischen<br />

Merkmalen sehr interessant. Für<br />

andere Skelettelemente wurden durchaus<br />

Variationen belegt, die eine Unterscheidung<br />

möglich machen (z. B. Schädel, Fossa<br />

temporalis; Kostadinov et al. 2006).<br />

Eine sichere Zuordnung von Canis lupus<br />

sp. zu Haushund oder Wolf wird weiterhin<br />

hauptsächlich von Schädelmerkmalen und<br />

vor allem dem allgemeinen Umfeld des<br />

Fundes abhängig sein. Sind an der Fundstelle<br />

Hinweise vorhanden, die auf eine<br />

enge Beziehung des gefundenen Tieres<br />

zum Menschen schließen lassen, liegt der<br />

Schluss nahe, dass es domestizierte Tiere<br />

waren. In Pompeji beispielsweise wurden<br />

diverse Überreste von Caniden gefunden<br />

und verschiedenen Haushundtypen zugeordnet<br />

(Zedda et al. 2006). Eine relativ<br />

sichere Bestimmung ist allerdings beim<br />

Cuon alpinus möglich, der sich in vielen<br />

Merkmalen nicht nur stark von den Katzen-,<br />

sondern auch von den Hundeartigen<br />

unterscheidet. Als Beispiel sei hier der<br />

Verlauf des Foramen transversarium beim<br />

Atlas, die caudale Form des Processus spinalis<br />

des Axis und das Fehlen oder die nur<br />

sehr schwache Ausprägung des Processus<br />

spinalis beim dritten bis fünften Halswirbel<br />

erwähnt.<br />

Der geringe Probenumfang und die geringe<br />

Diversität der in dieser Pilotstudie<br />

aufgenommenen Spezies stellen ein Problem<br />

dar. Es ist möglich, dass andere Arten<br />

ähnliche Merkmale aufweisen wie die der<br />

beschriebenen. Um diese Möglichkeit bzw.<br />

dieses Risiko auszuschließen, müssten viele<br />

Exemplare aller mit den Studienobjekten<br />

in näherer und weiterer Verwandtschaft<br />

stehenden Arten untersucht werden. Es<br />

ist zu hoffen, dass die vorliegende Arbeit<br />

nur der erste Schritt zu umfangreicheren,<br />

vollständigeren Schlüsseln darstellt. Durch<br />

eine unwillkürliche Wahl der zwei bzw.<br />

drei verschiedenen Individuen wird ein<br />

Einblick in die intraspezifische Diversität<br />

der Arten Wolf, Timberwolf, Schäferhund,<br />

Fuchs, Luchs und Dachs gewonnen. Um<br />

mittels der Messwerte oder der Beschreibungen<br />

einen exakten, objektiven Schlüssel<br />

erstellen zu können, müssten sehr viel<br />

mehr Exemplare unterschiedlicher Habitate,<br />

Fitnesszustände und Alterstufen untersucht<br />

werden. Trotz der nur geringen<br />

Verwendbarkeit der Messwerte in dieser<br />

Studie bilden sie eine Basis für weitere Studien.<br />

Durch die Erhöhung der Probenzahl<br />

könnten signifikante Unterschiede anhand<br />

der Messwerte herausgearbeitet werden.<br />

Einige der berechneten Indices, Miniund<br />

Maximalwerte geben zumindest Anhaltspunkte<br />

für die Bestimmung. Hierin<br />

rechtfertigt sich der hohe Zeitaufwand,<br />

der für die Messungen erforderlich war.<br />

Die Indices sind nützlich, um eine Zuordnung<br />

durch eine Bestimmung mit anderen<br />

Merkmalen zu unterstützen. Auch zeigen<br />

sie einige Merkmale auf, die ohne die Messungen<br />

und Berechnungen schwieriger zu<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

105<br />

entdecken wären. Ein Beispiel hierfür ist<br />

die Abnahme des Verhältnisses der Breite<br />

zur Höhe der Facies articulares craniales<br />

der Gattung Canis. Im Unterschied zu den<br />

anderen Gattungen verläuft diese Abnahme<br />

nahezu linear von cranial nach caudal,<br />

während bei den anderen Gattungen (Vulpes,<br />

Cuon, Lynx und Puma) einer der mittleren<br />

Halswirbel noch einmal ein deutlich<br />

verändertes Verhältnis zeigt. Auffällig ist<br />

die deutliche Verbreiterung der Facies articulares<br />

caudales des siebten Halswirbels,<br />

die bei allen Arten auftritt. Dieses Merkmal<br />

ist durch den Übergang zu den breiteren<br />

Brustwirbeln zu erklären und bildet<br />

einen guten Anhaltspunkt für die Zuordnung<br />

dieses Wirbels, wenn mehrere Halswirbel<br />

des gleichen Tieres vorliegen.<br />

Aufgrund der kleinen Stichprobe ist keine<br />

Aussage zu der Richtung der jeweiligen<br />

Abweichungen möglich, d. h., es ist nicht<br />

möglich zu entscheiden, ob der Maximalwert<br />

beispielsweise der Dachse ungewöhnlich<br />

hoch oder der Minimalwert besonders<br />

niedrig ist. Diese bei dem geringen Stichprobenumfang<br />

als „Ausreißer“ erscheinenden<br />

Proben (die sich in ihren Werten<br />

deutlich von denen anderer Tiere unterscheiden)<br />

verändern die Mittelwerte dahingehend,<br />

dass keine deutliche Trennung<br />

der Familien möglich ist. Dennoch bilden<br />

sie in Kombination mit anderen Werten<br />

und morphologischen Charakteristika einen<br />

Anhaltspunkt für die Bestimmung.<br />

Es ist davon auszugehen, dass Wildtiere<br />

mit mehr Bewegung und damit stärkerer<br />

Muskulatur und anderen Ernährungsmöglichkeiten<br />

sich zumindest in der<br />

Ausprägung der Merkmale von den Zootieren<br />

unterscheiden. Eine interessante<br />

Frage hierbei wäre, wie stark sich die<br />

Wirbel von Zootieren mit oder ohne Bewegungsmöglichkeiten<br />

und verschiedenen<br />

Ernährungsmethoden von denen wildlebender<br />

Tiere der gleichen Altersstufe unterscheiden<br />

und ob es möglicherweise charakteristische<br />

Merkmale gibt, die eine der<br />

Gruppen von den anderen unterscheidet.<br />

Die Schwierigkeiten eines Schlüssels für<br />

rezente und fossile Wirbel liegen nicht nur<br />

in der hohen intraspezifischen Variabilität,<br />

sondern auch in dem Beschädigungsgrad<br />

der fossilen Wirbel. Viele Werte können<br />

bei den Wirbeln der NLMH-Sammlung<br />

nicht gemessen werden, da die entsprechenden<br />

Bereiche beschädigt sind oder<br />

fehlen. Bei Fossilien aus Lagerstätten, in<br />

denen die Überreste gar nicht oder nur<br />

wenig bewegt wurden, ist dieses Problem<br />

zu vernachlässigen. Bei den Fundstücken<br />

aus den Leinekiesen ist es aber die Regel.<br />

Der Schlüssel ist deshalb so aufgebaut, dass<br />

auch stark beschädigte Wirbel möglichst<br />

sicher zugeordnet werden können. Dafür<br />

wurde auf die Einbeziehung sehr fragiler<br />

Wirbelbereiche weitestgehend verzichtet.<br />

Dies schränkt die Möglichkeiten ein,<br />

macht die Bestimmung allerdings auch sicherer,<br />

da diese Merkmale intraspezifisch<br />

oftmals variieren (z. B. Form der Processus<br />

transversales).<br />

Die vorliegende Arbeit zeigt, dass ein<br />

Schlüssel für die Bestimmung von carnivoren<br />

Halswirbeln möglich ist. Der vorliegende<br />

Bestimmungsschlüssel ist noch<br />

nicht ausgereift. Es sind einige Ergänzungen<br />

nötig, das Grundgerüst aber steht<br />

und führt bei der Bestimmung von Wirbeln<br />

verschiedener Carnivorenarten aus<br />

dem Holozän und späten Pleistozän unter<br />

Berücksichtigung der im Schlüssel enthaltenen<br />

und der im Fundgebiet zu erwartenden<br />

Arten zum Erfolg. Der Schlüssel<br />

bietet Möglichkeiten zur Erweiterung und<br />

Optimierung.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


106 Anna-Dinah Eßer<br />

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Danksagung<br />

Mein besonderer Dank geht an meine<br />

Betreuerinnen Frau Dr. Annette Richter<br />

und Frau Dr. Ute Radespiel, die sich auf<br />

dieses Unternehmen eingelassen und die<br />

Fortschritte jederzeit mit großem Interesse<br />

verfolgt haben. Frau Dr. Richter übernahm<br />

auch die Betreuung dieser Publikation.<br />

Herzlich bedanke ich mich hiermit auch<br />

bei der Master-Geologie- und Paläontologiestudentin<br />

Sashima Läbe (B. Sc.), die<br />

viele der Kontroll-Messungen durchgeführt<br />

und sich damit ehrenamtlich überaus<br />

intensiv eingebunden hat. Ohne die AZA<br />

(Archäologisch-Zoologische Arbeitsgruppe)<br />

Kiel und die NGH (Naturhistorische<br />

Gesellschaft Hannover) wäre diese Studie<br />

nicht möglich gewesen – die einen stellten<br />

das Material, die anderen die Möglichkeit,<br />

dieses Material nach Hannover zu bringen<br />

und es in ihrer Schriftenreihe einem breiten<br />

Publikum zugänglich machen zu können.<br />

Ein großes Dankeschön auch dafür.<br />

Dem NLMH (Niedersächsisches Landesmuseum<br />

Hannover) gilt mein Dank<br />

für die Überlassung des Arbeitsplatzes und<br />

der Gewährung des Zugangs zu der Quartärknochensammlung.<br />

Bei meiner Familie<br />

und meinen Freunden bedanke ich mich<br />

herzlich, sie haben mich während der Masterarbeit<br />

verpflegt, in jeder Weise unterstützt<br />

und mich gelegentlich in den Alltag<br />

zurückgeholt.<br />

Und, last but not least, sage ich meinem<br />

Freund Mario Hönemann für seine unendliche<br />

Geduld und seine Hilfe bei der<br />

Bildbearbeitung vielen Dank.<br />

Kurzfassung der Masterarbeit im Studiengang<br />

Animal biology and biomedical sciences,<br />

Stiftung Tierärztliche Hochschule<br />

Hannover, in Kooperation mit dem Landesmuseum<br />

Hannover.<br />

Arbeit eingereicht: 28.06.2010<br />

Arbeit angenommen: 31.08.2010<br />

Korrespondenz: Dr. Annette Richter,<br />

Oberkustodin Geowissenschaften und<br />

Paläontologie, Landesmuseum Hannover;<br />

Willy-Brandt-Allee 5, 30169 Hannover;<br />

annette.richter@nlm-h.niedersachsen.de<br />

Anschrift der Verfasserin:<br />

Anna-Dinah Eßer<br />

Gießener Straße 79<br />

35415 Pohlheim<br />

DinahEsser@gmx.net<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

109<br />

Anhang<br />

Beschreibende Begriffe für Formen der Wirbel<br />

—————— Aufsicht von dorsal auf den Wirbelkörper ——————<br />

quadratisch rechteckig rechteckig tailliert<br />

schmetterlingsförmig X-förmig W-förmig<br />

—————— Negativform des Wirbelkörperrandes ——————<br />

trapezförmig<br />

trapezförmig mit durchhängender<br />

Längsseite<br />

flach<br />

—————— Aufsicht auf die F. articularis cran./caud. ——————<br />

wellenförmig V-förmig spitz eingekerbt<br />

apfelförmig herzförmig nierenförmig<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


110 Anna-Dinah Eßer<br />

halbnierenförmig fünfeckig gestreckt fünfeckig<br />

sechseckig gestreckt sechseckig breit elliptisch<br />

pfeilförmig<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungs schlüssel für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

111<br />

Glossar<br />

Adult erwachsen<br />

Alae sacralis Kreuzbeinflügel<br />

Alae atlantis Atlasflügel (Pl.) (verbreiterte<br />

Processus)<br />

Antikliner Wirbel der Thorakalwirbel, an<br />

dem sich die Neigung der Procc. spinales<br />

ändert und der selbst nahezu senkrecht<br />

nach dorsal steht<br />

Arcus vertebrae Wirbelbogen<br />

Atlas 1. Halswirbel<br />

Autapomorphie ein abgeleitetes Merkmal,<br />

das nur bei einer Gruppe von Lebewesen<br />

im Laufe der Evolution aufgetreten ist;<br />

„Alleinstellungsmerkmal“<br />

Axis alt: Epistropheus; 2. Halswirbel<br />

Canalis vertebralis Wirbelkanal, verbreitert<br />

sich deutlich im Lendenwirbelbereich<br />

(Intumescentia lumbalis)<br />

Carnivora Fleischfresser<br />

Caudad zum Schwanz hin<br />

Caudal schwanzseitig<br />

Chorda dorsalis ursprünglicher stützender<br />

Knorpelstab<br />

Chordata Chordatiere<br />

Cervicalwirbel Halswirbel<br />

Corpus vertebrae Wirbelkörper<br />

Craniad zum Kopf hin<br />

Cranial kopfseitig<br />

Craniolateral Ansicht von cranial auf den<br />

rückenwärtigen Teil des Wirbels<br />

Crista ventralis Knochenleiste an der<br />

Ventralseite des Wirbelkörpers<br />

Dens „Zahn“ des Axis (knöchener Vorbau<br />

in Richtung des Kopfes)<br />

Diaphragmatischer Wirbel der Thorakalwirbel,<br />

an dem die Procc. art. cran. nach<br />

oben (dorsal), die der Procc. art. caud.<br />

jedoch lateral gerichtet sind<br />

Disartikulierte/ dislokalisierte Knochen<br />

Einzelfunde, die nicht im Verbund (z. B.<br />

Elle, Speiche, Oberarm) gefunden werden<br />

Disci intervertebrales Zwischenwirbelscheiben<br />

(„Bandscheiben“)<br />

Dorsad zum Rücken hin<br />

Dorsal rückenseitig<br />

Dorsolateral Ansicht von seitlich auf den<br />

rückenwärtigen Teil des Wirbels<br />

Eem letzte Warmzeit vor der heutigen<br />

(Holozän); Beginn vor ca. 126 000 Jahren,<br />

Ende vor ca. 115 000 Jahren; im Alpenraum<br />

auch als Riß/Würm-Interglazial<br />

bekannt<br />

Epiphysenfuge Wachstumsfuge zwischem<br />

dem End- und Mittelstück eines Röhrenknochens<br />

Epi-Villafranchian Phase im frühen Pleistozän<br />

Extremitas caudales Wirbelpfannen<br />

Extremitas craniales Wirbelköpfe<br />

Facies articulares … Gelenkfläche, oft mit<br />

entspr. Zusatz verwendet (cranial, caudal);<br />

meist für die Verbindungsstelle zweier<br />

Wirbel verwendet; dort auch als Facies terminales<br />

bezeichnet<br />

Facies dorsalis dorsale Fläche des Kreuzbeines<br />

Feloidea katzenartige, umfassen 7 rezente<br />

Familien<br />

Flandrisches Interglazial auch Flandrische<br />

Warmzeit oder Holozän genannt; derzeitige<br />

Warmzeit; seit ca. 10 000 Jahren bis<br />

heute<br />

Foramen Loch, Durchlass<br />

Foramen alare Flügelloch<br />

Foramen transversarium Loch in der Basis<br />

des Querfortsatzes der Halswirbel; bietet<br />

Durchlass für die Arteriae vertebrales sowie<br />

ihren Begleitvenen und Nervenfasern<br />

Foramen vertebrale laterale seitliches<br />

Wirbelloch<br />

Fossa atlantis Atlasgrube<br />

Fossa temporalis Schläfengrube<br />

Fovea dentis Einstülpung caudal des Atlas,<br />

trägt die Foveae articulares caudales<br />

Foveae articulares caudales caudale Gelenkflächen<br />

des Atlas<br />

Foveae articulares craniales craniale Gelenkflächen<br />

des Atlas<br />

Foveae costales Gelenkflächen zur Rippenartikulation<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


112<br />

Herbivor pflanzenfressend<br />

Holozän Flandrisches Interglazial;<br />

Warmzeit, seit ca. 10 000 Jahren<br />

Hox-Gene Gruppe von Genen, die wichtige<br />

Vorgänge während der Embryonalentwicklung<br />

steuern<br />

Incisura vertebralis cranialis/caudalis Einschnitt,<br />

der den Wirbelkörper vom Arcus<br />

dorsalis trennt; tritt statt eines Foramens<br />

auf<br />

Juvenil Jungtierstadium bis zum Erreichen<br />

der Geschlechtsreife<br />

Konkav nach innen gewölbt<br />

Konvex nach außen gewölbt<br />

Lamina ventralis ersetzt ab dem 6. Halswirbel<br />

das Tuberculum ventrale<br />

Lateral außen (seitlich)<br />

Lumbalwirbel Wirbel im Bereich der<br />

Lendenwirbelsäule<br />

Mediad zur Mitte hin<br />

Medial mittig<br />

Metapodium Mittelhand bzw. Mittelfuß<br />

Monophyletisch Gruppe von Organismen<br />

aus einem unmittelbaren gemeinsamen<br />

Vorfahren und allen seinen Nachfahren.<br />

Neonatal Neugeboren<br />

Omnivor allesfressend<br />

Ossa brevia kurze Knochen<br />

Osteoarthritis Entzündung des Knochens;<br />

Abbau des Gelenkknorpels, Veränderung<br />

der angrenzenden Knochenstrukturen<br />

Osteochondrose Veränderung des Bandscheibenknorpels,<br />

in dessem Zuge sich<br />

auch der knöcherne Teil des Wirbelkörpers<br />

verändert (erhöhte Knochendichte, Knochenwucherungen)<br />

Pleistozän „Eiszeit“, Erdzeitalter vor dem<br />

Holozän; Beginn vor ca. 2,6 Mio. Jahren,<br />

Ende vor ca. 10 000 Jahren<br />

PL Median Median der physiologischen<br />

Länge des Wirbelkörpers<br />

Pleurozentrum der kleinere Teil der heute<br />

bestehenden Wirbelkörper<br />

Processus accessorius Hilfsfortsatz, zwischen<br />

den P. transversus und P. articulares caudales,<br />

nur bei Schwein und Fleischfressern; bei<br />

Flfr. an den letzten V. thoracales und allen<br />

V. lumbales<br />

Processus articulares cranial/caudal Gelenkfortsätze<br />

kopfseitig/schwanzseitig<br />

Processus spinalis Dornfortsatz<br />

Processus transversus Querfortsätze, seitlich<br />

des Corpus vertebrae<br />

Processus vertebrae Wirbelfortsatz<br />

Scapula Schulterblatt<br />

Spondylose Sammelbegriff für degenerative<br />

Veränderungen an Wirbelkörpern (z. B.<br />

Wülste, Zacken, Erhebungen)<br />

Stratum Geologie: eine räumlich-zeitliche<br />

Gesteinsschicht<br />

Substantia spongiosa schwammartige<br />

Gerüststruktur des Knochens<br />

Substantia compacta dichter Knochen mantel<br />

Taphonomie, taphonomisch Wissenschaft<br />

von den Prozessen, die vom Tod bis zur<br />

abgeschlossenen Fossilierung auf ein<br />

Lebewesen einwirken (Verwesung, Transport<br />

etc.)<br />

Thorakalwirbel Wirbel im Bereich der<br />

Brust<br />

Tuberculum dorsale/ventrale eine erhabene,<br />

höcker- oder knötchenförmige Struktur;<br />

entweder dorsal (auf der Rückenwärts gewandten<br />

Seite) oder ventral (Bauchwärts)<br />

ventrad zum Bauch hin<br />

ventral bauchseitig<br />

Vertebra anticlinalis Antikliner Wirbel, diaphragmatischer<br />

Wirbel; der Brustwirbel, an<br />

dem der Dornfortsatz senkrecht nach dorsal<br />

zeigt. Hier ändert sich die Ausrichtung<br />

der Dornfortsätze.<br />

Vertebrae Wirbel (Pl.)<br />

Vertebrae cervicales Halswirbel<br />

Vertebrae lumbales Lendenwirbel<br />

Vertebrae sacrales Kreuzwirbel<br />

Vertebrae thoracales Brustwirbel<br />

Wirbelkanal Canalis vertebralis<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


113<br />

Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

Vergleich des fossilen irregulären Seeigels Nucleolites mit<br />

dem rezenten Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />

Heiko Steinke<br />

© Pauline s Mills, istockphoto.com<br />

Zusammenfassung<br />

In der vorliegenden Arbeit werden<br />

oberjurassische, irreguläre Seeigel der Gattung<br />

Nucleo li tes (Ordnung: Cassiduloida,<br />

Familie: Nucleolitidae) der historischen<br />

„Sammlung Struckmann“ des Niedersächsi<br />

schen Landesmuseums Hannover<br />

(NLMH) hinsichtlich Größe, Größenverteilung,<br />

Morphologie und Fossilerhaltung<br />

beschrieben und biometrisch vermessen.<br />

Mithilfe dieser Messungen wird<br />

überprüft, ob sich die Sammlungsstücke<br />

in verschiedene Arten differenzieren lassen.<br />

Die Messergebnisse zei gen jedoch,<br />

dass es sich um Individuen derselben Art<br />

handelt. Zum Vergleich wird der rezente<br />

Nord see-Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />

(Ordnung: Spatangoida, Familie: Loveniidae)<br />

hinzugezogen und hin sichtlich<br />

Größe, Größenverteilung, Morphologie,<br />

Lebensweise und Lebensraum beschrieben<br />

und ausgewählte Coronen aus der<br />

„Sammlung Richter“ ebenfalls biometrisch<br />

vermessen. Anhand der Untersuchungen<br />

werden vorhandene Unter schiede und Gemeinsamkeiten<br />

in der Gestalt beider Arten<br />

herausgearbeitet und diskutiert. Weiterhin<br />

werden die Grö ßen verteilungen beider<br />

Gattungen dargestellt und diskutiert.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


114 Heiko Steinke<br />

Abstract<br />

In this bachelor-thesis, Late Jurassic irregular<br />

sea urchins of the genus Nucleolites<br />

(Order: Cassiduloida, Family: Nucleolitidae)<br />

are described with respect to size, size<br />

distribution, morphology and fossili sation.<br />

The samples were morphologically examined,<br />

using means of biometrical measuring.<br />

The fossils are part of the historical<br />

“Struckmann” collection of the “Niedersächsisches<br />

Landesmuseum Han nover”<br />

(Lower Saxonian State Museum Hannover).<br />

Using the measurement results, it is<br />

checked if the samples can be divided into<br />

different species. But the measurements<br />

show that the samples are individuals of<br />

only one species. For comparison, the recent<br />

North Sea heart urchin Echi nocardium<br />

cordatum (Order: Spatangoida, Family:<br />

Loveniidae) is studied with respect to size,<br />

size distribution, way of life and preferred<br />

habitat. The samples were also morphologically<br />

examined, using means of biometrical<br />

measurement. Using these data,<br />

existing differences and similarities in<br />

shape of both genera are elaborated and<br />

discussed. Their size distributions are illustrated<br />

and discussed, too.<br />

Ziel der Arbeit<br />

Ziel dieser Arbeit ist es, oberjurassische,<br />

irreguläre Seeigel der Gattung Nucleolites<br />

(Ordnung: Cassiduloida, Familie: Nucleolitidae)<br />

aus der historischen „Sammlung<br />

Struckmann“ des Niedersächsischen Landesmuseums<br />

Hannover morphometrisch<br />

zu vermessen und in Bezug auf Größe,<br />

Grö ßen verteilung, Morphologie und Fossilerhaltung<br />

zu untersuchen. Die Stücke<br />

stammen aus Fund lokali täten in Hannover<br />

und Umgebung. Des Weiteren wird<br />

unter Einbeziehung der sedimentologischen<br />

Befunde und der Be gleitfauna versucht,<br />

den Lebensraum von Nucleolites zu<br />

rekonstruie ren. Mit hilfe der biometri schen<br />

Vermessungen wird außerdem geprüft, ob<br />

sich hinter den nur als Gattung inventarisier<br />

ten Stücken nur eine oder möglicherweise<br />

mehr Arten verbergen. Als Beispiel<br />

eines rezenten, irregu lären Seeigels<br />

wird der Nordsee-Herzseeigel Echinocardium<br />

cordatum (Ordnung: Spatan goida,<br />

Familie: Love niidae) hinsichtlich Größe,<br />

Größenverteilung, Morphologie, Lebensweise<br />

und Lebens raum unter sucht und beschrieben.<br />

Weiterhin wird die Gestalt beider<br />

Gattungen verglichen und un tersucht,<br />

ob sich trotz unterschiedlicher Habitate<br />

eher unterschiedliche oder ähnliche Morphologien<br />

entwi ckelt haben.<br />

Material und Methoden<br />

Material<br />

Die bearbeiteten Nucleolites Exemplare<br />

gehören zur Sammlung des Niedersächsischen<br />

Landesmuseums Hannover<br />

und stammen ursprünglich aus der<br />

Privatsammlung von Carl Eberhard Friedrich<br />

Struckmann. Die Stücke wurden von<br />

Struckmann in der zweiten Hälfte des<br />

neunzehnten Jahrhunderts gesammelt. Die<br />

von Struckmann verwendete Gattungsbezeichnung<br />

Echinobrissus wird in diesem<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

115<br />

Text durch die derzeit valide Gattungsbezeichnung<br />

Nucleolites ersetzt (s. Synonymliste<br />

zu Nucleolites). Struckmann lebte von<br />

1833 bis 1898 und war landwirtschaftlicher<br />

Amtsrat der Stadt Hannover. Er war<br />

zeitlebens ein engagierter Hobbygeologe<br />

und -paläontologe und stand in reger Korrespondenz<br />

mit Wissenschaftlern europaweit.<br />

So finden sich noch heute Fundstücke<br />

Struckmanns, insbesondere Zähne<br />

von Meereskrokodilen des Oberjura, in<br />

naturkundlichen Museen in ganz Europa.<br />

Bevorzugte Grabungsstätten von Carl<br />

Struckmann waren der Kalksteinbruch am<br />

Lindener Berg im Dorf Linden, der Tönniesberg<br />

oder das Dorf Ahlem. Diese Orte<br />

gehörten zu Lebzeiten Struckmanns noch<br />

nicht zum Stadtgebiet von Hannover und<br />

waren ländlich geprägt. Mit zunehmender<br />

Industrialisierung wurden die Fundstellen<br />

jedoch überbaut und zäh len heute zum<br />

Stadtgebiet Hannovers. Damit sind sie für<br />

weitere geologische Untersu chungen nicht<br />

mehr bzw. nur noch bedingt zugänglich.<br />

Insofern können die Funde Struckmanns<br />

einen wichtigen Beitrag zum Verständnis<br />

der regionalen Geologie Hannovers<br />

leisten. Ein weiterer Teil der Sammlung<br />

stammt aus Lauenstein am Ith. Nach seinem<br />

Tod ging die Struckmann-Samm lung<br />

in den Besitz der Naturhistorischen Gesellschaft<br />

Hannover (NGH), dessen Mitglied<br />

er war, über und wurde 1906 mit der<br />

gesamten NGH-Sammlung in die Obhut<br />

des damaligen „Provinzial-Museums am<br />

Maschpark“, dem heutigen NLMH, übergeben.<br />

Der Erhaltungszustand der Stücke variiert,<br />

es sind sowohl Steinkerne vorhanden<br />

als auch Stücke mit Schalenerhaltung.<br />

Von den 94 untersuchten Exemplaren ist<br />

etwa ⅓ wenig bis gar nicht deformiert, der<br />

Rest weist ge ringe bis starke Deformationen<br />

auf. Am häufigsten sind die Gehäuse<br />

von der Rücken- zur Bauchseite hin<br />

eingedrückt („dorsoventral verformt“). Einige<br />

Exemplare sind auch seitlich oder<br />

entlang der Körperachse von vorn nach<br />

hinten ge quetscht.<br />

Die untersuchten 61 Echinocardium-<br />

Exemplare stammen aus der Privatsammlung<br />

von Frau Dr. Annette Richter, Oberkustodin<br />

der Sektion Geowissenschaften<br />

Abb. 1 Messstrecken bei Nucleolites.<br />

a) Oberseite mit l = max. Länge des Gehäuses,<br />

PB = Abstand Periprokt zu Hinterseite,<br />

Pp = Periprokt.<br />

b) Unterseite von Nucleolites<br />

mit b = max. Breite des Gehäuses, PV = Abstand<br />

Peristom zu Vorderseite, Ps = Peristom.<br />

c) Hinteransicht von Nucleolites mit h = max. Höhe<br />

des Gehäuses. Terminologie nach Ernst (1971).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


116 Heiko Steinke<br />

des NLMH. Die Echi nocardien wurden<br />

auf der Insel Langeoog in den Jahren<br />

1997 bis 2007, zumeist im Juni, am Sandstrand<br />

des Ostendes der Insel gesammelt.<br />

Die Stücke sind unterschiedlich erhalten:<br />

Es gibt von allen Gewebeanteilen befreite,<br />

stachellose Gehäuse aus allen Größenklassen,<br />

welche etwa ⅔ der Samm lung ausmachen.<br />

Diese Funde stammen meist aus<br />

dem Vordünenbereich, wohin sie verweht<br />

worden sind. Weiterhin gibt es Exemplare,<br />

bei denen das Stachelkleid noch ganz<br />

oder teilweise erhalten ist. Diese Exemplare<br />

stammen eher aus kleinen bis mittleren<br />

Größenklassen und wurden meist nach<br />

Sturmereignissen gefunden.<br />

Methoden<br />

Abb. 2 Messstrecken bei Echinocardium<br />

cordatum.<br />

a) Oberseite E. cordatum mit l = max. Länge<br />

und b = max. Breite des Gehäuses.<br />

b) Unterseite von E. cordatum<br />

mit PV = Abstand Peristom zu Vorderseite,<br />

Ps = Peristom.<br />

c) Hinteransicht von E. cordatum<br />

mit h = max. Höhe des Gehäuses, PB = Abstand<br />

Periprokt zu Unterseite, Pp = Periprokt.<br />

Terminologie nach Ernst (1971).<br />

Die Stücke beider Gattungen wurden<br />

eingehend makroskopisch begutachtet,<br />

bezüglich ihres Erhaltungszustandes bewertet,<br />

und anschließend mithilfe eines<br />

Messschiebers biomet risch vermessen. Die<br />

Messungen erfolgten in Anlehnung an<br />

eine Arbeit von G. Ernst (1971) an kreidezeitlichen,<br />

irregulären Seeigeln der Gattungen<br />

Offaster und Galeola. Dabei wurden<br />

die maximale Länge (l), die maximale Breite<br />

(b), die maximale Höhe (h), der Abstand<br />

des Peri stoms (Mund öffnung) zur Vorderseite<br />

inkl. der Peristomöffnung (PV) und<br />

der Abstand des Peri prokts (Afteröff nung)<br />

zur Rückseite inkl. der Periproktöffnung<br />

(PB) gemessen. Die Mess strecken sind<br />

den Abb. 1 (Nucleolites) und 2 (Echinocardium)<br />

zu entnehmen.<br />

Anhand der Länge wurden die Seeigel<br />

in Größenklassen eingeteilt, dabei erfolgte<br />

die Wahl der Klassenzahl nach der Formel<br />

K = 1 + 3,32 log(n), mit K = Klassenzahl<br />

und n = Anzahl der Stücke (Schönwiese<br />

2000). Daraus haben sich für Nucleolites<br />

8 Größenklas sen und für Echinocardium<br />

7 Größenklassen ergeben. Für die<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

117<br />

Untersuchungen zur Artunterschei dung<br />

bei Nucleolites wurden folgende Messwerte<br />

gegeneinander aufgetragen: Länge/Breite,<br />

Länge/Höhe, Länge/PV, Länge/PB sowie<br />

Breite/Höhe. Für die Darstellung der<br />

Morphologie von Nucleolites und Echinocardium<br />

wurden die Längenwerte beider<br />

Gattungen gegen die Breite (Länge/Breite)<br />

und die Längenwerte gegen die Höhe<br />

aufgetra gen (Länge/Höhe). Die Bearbeitung<br />

der Daten und Erstellung der Diagramme<br />

erfolgte mithilfe des Programms<br />

Microsoft Office Excel 2007. Mit einer<br />

Canon Digi talkamera des NLMH sind Fotos<br />

aus gewählter Exemplare beider Gattungen<br />

angefertigt worden. Die Fotos wurden<br />

mit den Program men Microsoft Office<br />

Picture Manager und Paint nachbearbeitet.<br />

Geologischer Rahmen<br />

Hannover liegt am südwestlichen Rand<br />

des Norddeutschen Tieflandes an der<br />

Grenze zu den Mittelgebirgen. Bedingt<br />

durch eine Decke aus quartären Lockersedimenten<br />

ist das Norddeutsche Tiefland<br />

durch geringe Reliefunterschiede<br />

gekennzeichnet, wobei in Niedersachsen<br />

Saale- und Elstereiszeit liche Moränen<br />

Erhebungen ausbilden. Als Teil der Mitteleuropäischen<br />

Senke bildete sich ab dem<br />

Perm, zur Zeit des Oberrotliegenden, das<br />

Südpermbecken heraus. Hier wurden während<br />

der Zech steinzeit mächtige Salzablagerungen<br />

gebildet. Salze beginnen unter<br />

großem Druck plastisch zu flie ßen<br />

und aufgrund ihres relativ geringen spezifischen<br />

Gewichts nach oben zu wandern.<br />

Bereits in der auf das Perm folgenden Trias<br />

begann der Aufstieg dieser Salze, vermutlich<br />

entlang im Untergrund bereits angelegter<br />

Störungszonen. Durch Halokinese<br />

(Salzaufstieg) bildeten sich Salzkissen und<br />

Mau ern, an deren Rändern überlagernde<br />

Gesteine mit aufgeschleppt wurden. Der<br />

Aufstieg der Salze setzte sich während der<br />

Jurazeit und darüber hinaus, z. T. bis in die<br />

Neuzeit, fort. Dadurch konnten auch die<br />

Sedimente des Kimmeridgium in Ahlem<br />

und am Lindener Berg vermutlich durch<br />

den Auf stieg des Benther Salzstocks an die<br />

Oberfläche gelangen (Henningsen & Katzung<br />

2006, Rothe 2006).<br />

Das Zeitalter des Jura umfasst eine Zeitspanne<br />

von ca. 58 Mio. Jahren: von etwa<br />

200 Mio. Jahren bis etwa 142 Mio. Jahren<br />

vor heute. Stratigraphisch ist der Jura<br />

in Unter-, Mittel- und Oberjura unterteilt,<br />

wobei z. T. in Deutschland auch noch die<br />

alten Bezeichnungen „Schwarzer Jura“ für<br />

den Unteren, „Brau ner Jura“ für den Mittleren<br />

und „Weißer Jura“ für den Oberen<br />

Jura gängig sind. Diese Be zeichnungen beschreiben<br />

die vorherrschenden Gesteinsfarben<br />

der jeweiligen Epoche. Auch die<br />

aus Großbritannien stammenden Begriffe<br />

Lias (Unterjura), Dogger (Mitteljura)<br />

und Malm (Oberjura) sind gebräuchlich.<br />

Die Epochen des Jura sind weiterhin in<br />

11 Stufen unterteilt, von denen das Kimmeridgium<br />

die mittlere Stufe des Oberjura<br />

darstellt. Das Kimmeridgium um fasst eine<br />

Zeitspanne von ca. 6,5 Mio. Jahren. Abbildung<br />

3 zeigt die stratigraphische Gliederung<br />

des Oberjura in Niedersachsen.<br />

Die Landmassenverteilung im Jura<br />

ist durch den Zerfall des im Karbon und<br />

Perm gebildeten Superkontinents Pangäa<br />

und der damit verbundenen Öffnung des<br />

Nord atlantiks geprägt. Das Meer konnte,<br />

sowohl von Norden her als auch von dem<br />

südöstlich gelegenen Tethys-Ozean (Vorläufer<br />

des Mittel meeres) kommend, Europa<br />

überfluten. Man unterscheidet dabei<br />

die alpine Entwicklung des Jura, die im<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


118 Heiko Steinke<br />

von der Tethys ge prägten südeuropäischen<br />

Raum ausgebildet ist, und die außeralpine<br />

Entwick lung in Nord- und Osteuropa.<br />

Das Klima im Jura war deutlich wärmer<br />

als heute, nach Angaben von Faupl (2000)<br />

betrug die Durchschnittstemperatur im<br />

Oberjura etwa 20 °C. Es konnte sich eine<br />

breite Warmzone um den Äquator entwickeln,<br />

in der sich auch Europa zu dieser<br />

Zeit befand (Abb. 4).<br />

Abb. 3 Stratigraphische Gliederung des Oberjura<br />

und der basalen Unterkreide in Niedersachsen.<br />

Die Stufe des Kimmeridgium ist rot umrandet.<br />

Aus dieser erdgeschichtlichen Zeit stammen die<br />

Nucleolites-Funde Struckmanns. Quelle: Landesamt<br />

für Bergbau, Energie und Geologie (2007).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

119<br />

Im Unterjura bestand eine Verbindung<br />

zwischen Tethysraum und dem Nordmeer,<br />

dabei wurden in Nordeuropa häufig dunkle,<br />

tonige Sedimente, sogenannte Schwarzschiefer<br />

(„Schwarzer Jura“), abgelagert, deren<br />

Mächtigkeit in Norddeutschland bis<br />

zu 1000 m beträgt. Bekannt ist vor allem<br />

der „Posidonienschiefer“, ein dunkler, bitumenreicher<br />

Mergel, der nach einer in ihm<br />

massenhaft auftretenden Muschel (früher<br />

zur Gattung „Posidonia“, heute jedoch zur<br />

Gattung „Steinmannia“ gezählt) benannt<br />

ist.<br />

Im mittleren Jura kam es im Bereich der<br />

heutigen Nordsee zu einer Aufwölbung<br />

der Erdkruste, die zur Heraushebung einer<br />

Landmasse in diesem Bereich führte.<br />

Eisenreiche Verwitterungsprodukte dieser<br />

Landmasse (Fennoskandische Hochzone),<br />

des London-Brabanter Massivs sowie<br />

der Rheinischen und Böhmischen Masse<br />

(Abb. 5) gelangten ins Meer und bildeten<br />

dort neben ty pisch braun gefärbten<br />

Sand-, Mergel- und Tonsteinen („Brauner<br />

Jura“) auch Eisenoolithe aus. Oolithe sind<br />

Sedimentgesteine, die aus kleinen Mineralkügelchen,<br />

den sogenannten Ooiden,<br />

bestehen. Diese Ooide entstehen durch<br />

Rotationsbewegungen im bewegten Flachwasser.<br />

Das Vordringen des Meeres auf Festlandsgebiete<br />

während der Jurazeit erreichte<br />

im Oberjura seinen Höhepunkt.<br />

Das Vindelizische Land, eine Landmasse<br />

im südosteuropäischen Raum zwischen<br />

Prag, Wien und München, die im Keuper<br />

die Tethys von Osteuropa abgetrennt<br />

hat, wird vollständig überflutet. Allerdings<br />

verbin den sich die Landmassen des<br />

London-Brabanter Massivs, der Rheinischen<br />

Masse und der Böh mischen Masse<br />

zur Mitteldeutschen Landschwelle. Diese<br />

trennt das Jurameer in Deutschland in<br />

ein nord- und süddeutsches Epikontinentalmeer.<br />

Die Kontinentverteilung im<br />

Oberjura zeigt Abb. 4, die paläogeographische<br />

Situation in Europa ist in Abb. 5<br />

zu sehen. Während in Norddeutsch land zu<br />

Abb. 4 Lage und Gestalt der Kontinente und<br />

Ozeane zur Zeit des Oberjura. Mitteleuropa (roter<br />

Kreis) lag zu dieser Zeit weitaus südlicher als<br />

heute und weite Teile waren vom Meer überflutet.<br />

Die Pole waren eisfrei, wie auch das weltweite<br />

Klima insgesamt deutlich wärmer war als heute.<br />

Verändert nach Blakey (2009). http://jan.ucc.nau.<br />

edu/~rcb7/150moll.jpg (02.04.2010)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


120 Heiko Steinke<br />

Abb. 5 Paläogeographie Mitteleuropas im Oberjura.<br />

Das heutige Hannover war zu dieser Zeit von<br />

Wasser bedeckt, es wurden flachmarine Karbonate<br />

(Mauerstein-Signatur) und Tonsteine (gestrichelte<br />

Signatur) abgelagert. Gebiete ohne Signatur waren<br />

landfest. Verändert nach Faupl (2000).<br />

dieser Zeit Wechselfolgen von Kalk- und<br />

Mergelsteinen abgelagert werden (Abb.<br />

5), entstehen in den direkt mit der Tethys<br />

verbundenen süddeutschen Meeresgebieten<br />

ausgedehnte Riffkomplexe aus<br />

Kieselschwämmen. Aufgrund eines Rückganges<br />

des Meeresspie gels zum Ende des<br />

Oberjura, im Obertithon (Abb. 3), beginnen<br />

viele Bereiche Mitteleuropas wieder<br />

trockenzufallen (Faupl 2000).<br />

Einführung Stachelhäuter /Seeigel<br />

Stachelhäuter<br />

Der Stamm der Stachelhäuter (Echinodermata)<br />

wird rezent neben der Klasse<br />

der Seeigel (Echinoidea) noch durch 4<br />

weitere vertreten: die Klasse der Seelilien<br />

und Haarsterne (Crinoidea), die der Seewalzen<br />

(Holothurioidea), die der Seesterne<br />

(Asteroidea) und die Klasse der Schlangensterne<br />

(Ophiuridea). Echinoder men<br />

sind ausschließlich marine Organismen.<br />

Ursprüngliche Echinodermaten sind bereits<br />

aus dem Unter kam brium bekannt und<br />

gehören damit zu den ältesten bekannten<br />

Lebewesen. Diese frühen Stachelhäuter<br />

besaßen aber noch nicht die typische<br />

fünfstrahlige (pentamere) Radialsymmetrie<br />

der meisten heutigen Echinodermaten,<br />

welche sich im Laufe des Kambrium<br />

und des Unterordovi zium entwickelte.<br />

Im Ordovizium haben auch die heute noch<br />

existierenden Klassen ihren Ur sprung; sie<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

121<br />

überlebten das größte Aussterbeereignis<br />

der Erdgeschichte, dem vom Übergang<br />

des Zeitalters des Perm zur Trias fast 90%<br />

der marinen Organismen zum Opfer fielen.<br />

Andere Stachelhäuter-Gruppen, wie<br />

z. B. die Beutelstrahler (Cystoidea) oder<br />

die Knospenstrahler (Blastoidea), sterben<br />

bereits innerhalb des Paläozoi kum wieder<br />

aus (Ziegler 1998).<br />

Kennzeichnend für den Stamm der<br />

Gewichtsprozent MgCO3<br />

Abb. 6 Aufbau des Ambulakralsystems (Wassergefäßsystems)<br />

bei Stachelhäutern. Gut erkennbar<br />

ist die fünfstrahlige Symmetrie mit dem Ringkanal<br />

in der Mitte, von dem die Radialkanäle abzweigen<br />

sowie die Ambulakralfüßchen und der Steinkanal<br />

mit dem Hydroporus, über den das Ambulakralsystem<br />

mit der Außenwelt in Verbindung steht.<br />

Verändert nach Ziegler (1998).<br />

Wassertemperatur [°C]<br />

Abb. 7 Temperaturabhängigkeit des Mg-Anteils in<br />

Seeigelskeletten. Der Anteil an Magnesiumkarbonat<br />

in den Schalen der Seeigel nimmt mit steigender<br />

Wassertemperatur zu. Aus Etter (1994).<br />

überlappende Plattenanordnung<br />

mosaikartige Plattenanordnung<br />

a)<br />

Abb. 8 Anordnung der Skelettplatten bei Stachelhäutern.<br />

a) Dachziegelartige Plattenanordnung bei<br />

Agelacrinites (Devon – Karbon). Die überlappenden<br />

Skelettelemente verleihen dem Körper Flexibilität.<br />

b)<br />

b) Mosaikartige Plattenanordnung bei Echinus<br />

(Tertiär – rezent). Durch diese Anordnung wird dem<br />

Körper Stabilität verliehen. Aus Ziegler (1998).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


122 Heiko Steinke<br />

Ambulakralfeld (= Radius)<br />

A<br />

Interambulakralfeld<br />

(= Interradius)<br />

Ocellarplatten<br />

B<br />

E<br />

Genitalplatten<br />

Periprokt<br />

Madroporenplatte<br />

C<br />

a)<br />

D<br />

b)<br />

Abb. 9 Lage der Interambulakral- und Ambulakralfelder<br />

am Beispiel eines von oben betrachteten,<br />

stilisierten regulären Seeigels.<br />

a) Aus kleineren Platten bestehende Ambulakralfelder<br />

(A – E), dazwischenliegende, aus größeren<br />

Skelettplatten bestehende Interambulakralfelder.<br />

b) Ausschnittvergrößerung des Apikalfeldes mit<br />

den Ocellarplatten, den Genitalplatten sowie der<br />

Madroporenplatte und dem Periprokt. Verändert<br />

nach Westheide (1996).<br />

Echinodermaten ist eine dünne Haut, die<br />

das Stützskelett inklusive der Auswüchse,<br />

wie z. B. die Stacheln der Seeigel, überzieht.<br />

Ein weiteres gemeinsames Merkmal<br />

ist die oben bereits erwähnte pentamere<br />

Symmetrie. Diese ist äußerlich nicht immer<br />

gut zu erken nen, findet sich aber in allen<br />

Gruppen. Besonders deutlich wird diese<br />

Fünfstrahligkeit in dem allen Gruppen<br />

gemeinsamen Ambulakral- oder Wassergefäßsytem.<br />

Dieses – im Tierreich einmalige<br />

– Gefäß system bildet einen Ringkanal<br />

um die Mundöffnung der Tiere und<br />

verzweigt sich in 5 Seitenkanäle (Radialkanäle),<br />

die dann die Symmetrie der äußeren<br />

Gestalt der Tiere bestimmen. Von<br />

diesen Seiten kanälen zweigen wiederum<br />

kleine „Ambulakralfüßchen“ ab, die das<br />

Stützskelett durchstoßen und als Fortbewegungs-<br />

oder Atmungsorgane dienen<br />

(Abb. 6).<br />

Das Stützskelett besteht aus Kalzit (Kalziumkarbonat:<br />

CaCO 3<br />

) mit einem Magnesiumkarbonatanteil<br />

(MgCO 3<br />

) von 3 bis<br />

15 % (Ziegler 1998). Dabei steigt z. B. bei<br />

Seeigeln der Magnesiumanteil mit zunehmender<br />

Wassertemperatur (Etter 1994) an<br />

wie Abb. 7 zeigt.<br />

Das Skelett umschließt die Leibeshöhle<br />

(Coelom) der Stachelhäuter. Die Bereiche,<br />

die über den Radialkanälen (Abb. 6)<br />

liegen und in denen das Ambulakralsystem<br />

das Skelett durchdringt („Ambulakralfüßchen“),<br />

werden Ambu lakralfelder oder Radien<br />

genannt, die Zonen dazwischen Interambulakralfelder<br />

oder Inter radien (Abb. 9).<br />

Die einzelnen Skelettelemente sind maschenartig<br />

aus kleinen Kalkbälkchen aufgebaut.<br />

Dieses Maschengeflecht wird als<br />

Stereom bezeichnet. Die Hohlräume des<br />

Geflechts werden von Bindegewebs zellen<br />

ausgefüllt, die einzelne Skelettplatten<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

123<br />

miteinander verbinden. Überlappen sich<br />

diese Platten dachziegelartig, verleihen sie<br />

dem Körper Flexibilität, sind sie mosaikartig<br />

ohne Überlappung angeordnet, eher<br />

Stabilität (Abb. 8).<br />

Echinodermaten sind in der Regel getrenntgeschlechtlich,<br />

wobei keine ausgeprägten<br />

Unterschiede zwischen den<br />

Geschlechtern vorliegen (kein „Geschlechtsdimorphismus“).<br />

Eier und Samen<br />

werden ins Wasser abgegeben, wo sie<br />

sich vereinen. Aus den befruchteten Eiern<br />

wächst zunächst eine zweiseitig (bilateral)<br />

symmetrische Larve heran, die in der Wassersäule<br />

schwebend (plank tisch) lebt. Nach<br />

eini gen Wochen durchläuft die Larve eine<br />

Metamorphose, und es entwickelt sich die<br />

pentamere Sym metrie. Außerdem sinkt die<br />

Larve zu Boden und lebt fortan benthisch.<br />

Die Lar ven besitzen anfangs drei Leibeshöhlen:<br />

Aus der Mesocoel genannten Leibeshöhle<br />

entwickelt sich das Ambulakralsystem,<br />

aus der Metacoel genannten das<br />

Coelom der adulten Tiere. Eine dritte, das<br />

Protocoel, geht bei eini gen Gruppen verloren,<br />

bei den übrigen umgibt es den Steinkanal<br />

(Abb. 6), eine z. T. kalzifizierte Röhre,<br />

die den Ringkanal über eine Siebplatte<br />

(Madreporenplatte, Abb. 9) an der Coronenoberseite<br />

mit der Außenwelt verbindet<br />

und vermutlich dem Druckausgleich dient<br />

(Ziegler 1998).<br />

Seeigel<br />

Seeigel sind kleine bis mittelgroße Stachelhäuter<br />

mit einer meist rundlichen bis<br />

ovalen Skelettkapsel aus Kalzit, die Corona<br />

genannt wird. Der Mund liegt auf der<br />

Unterseite der Corona (Oralseite). Die<br />

Ambulakralfelder rei chen vom Mund bis<br />

zum Scheitelpunkt, der der Mundöffnung<br />

gegen überliegt.<br />

Die ersten Echinoideen erschienen<br />

bereits im mittleren Ordovizium, ihre<br />

eigentliche Blütezeit erlebten sie aber ab<br />

dem Mesozoikum.<br />

Man unterscheidet zwischen regulären<br />

(Regulares) und irregulären (Irregulares)<br />

Seeigeln. Die Irregulares erschienen erst<br />

im Unteren Jura. Während die Regulares<br />

eher an Hartsubstratböden angepasst sind,<br />

besiedeln die Irregulares bis heute Weichsubstratböden,<br />

in denen sie z. T. eingegraben<br />

leben. Die regulären Seeigel sind annähernd<br />

halbkugelförmig, mit eindeutig<br />

pentamerer Symme trie. Die Mundöffnung<br />

liegt auf der dem Substrat zugewandten<br />

Unterseite, der After liegt direkt ge genüber<br />

im Scheitelpunkt der Corona. Dadurch<br />

verläuft die Körperachse vertikal, und die<br />

Tiere haben keine defi nierte Vorder- oder<br />

Hinterseite. Es ist den Regulares somit<br />

möglich, bei der Fort bewegung die Richtung<br />

zu wechseln, ohne den Körper drehen<br />

zu müssen.<br />

Die irregulären Seeigel sind meist oval<br />

bis herzförmig, bei ihnen verblieb der<br />

Mund zwar auf der Unter seite, wanderte<br />

aber im Laufe der Stammesgeschichte in<br />

Richtung des vorderen Randes. Der After<br />

verlagerte sich innerhalb des hinteren<br />

Interradius aus dem Scheitelpunkt heraus<br />

nach hinten, z. T. so gar bis auf die Unterseite<br />

(Abb. 10). Dadurch ergibt sich eine<br />

sekundär ausgebildete Bilateralsymmetrie<br />

und die Seeigel haben eine definierte Vorder-<br />

und Hinterseite. Die Merkmalsänderungen<br />

bei der Entwicklung der Irregu lares<br />

zeigt Abb. 11.<br />

Der Aufbau des Ambulakralsystems<br />

bleibt jedoch fünfstrahlig. Zur besseren<br />

Orientierung werden die Ambulakralfelder<br />

der Echinoideen durchgehend mit den<br />

Buchstaben A – E benannt. Von oben gesehen<br />

ist A stets das Ambulakralfeld, das<br />

links neben der dorsal gelegenen Madreporenplatte<br />

(Abb. 9) liegt. Des Weiteren<br />

entspricht A immer dem Ambu lakralfeld,<br />

in dessen Richtung der Mund bei den<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


124 Heiko Steinke<br />

(a)<br />

(b)<br />

Abb. 10 Vergleich der Lage und Orientierung<br />

der Ambulakralfelder bei (a) regulären und (b)<br />

irregulären Seeigeln. Oberseiten weiß, Unterseiten<br />

punktiert. Mundöffnung (offener Kreis), Afteröffnung<br />

(Dreieck), Madreporenplatte (schwarzer<br />

Kreis). Die Entstehung der Bilateralsymmetrie aus<br />

der fünfstrahligen Radialsymmetrie ist unverkennbar.<br />

Verändert nach Ziegler (1998).<br />

Abb. 11 Veränderungen der Merkmale und Morphologie<br />

bei der Evolution der irregulären aus den<br />

regulären Seeigeln im Jura. Diese Veränderungen<br />

wurden durch einen Wechsel des besiedelten Substrats<br />

verursacht, vom Leben auf zum grabenden<br />

Leben im Sediment. Verändert nach Ziegler (1998).<br />

irregulären Seeigeln wanderte. Die anderen<br />

Ambu lakralfelder sind dann entgegen dem<br />

Uhrzeigersinn weiter mit B, C, D und E<br />

benannt (Abb. 10).<br />

Im Scheitelpunkt der Echinoideen befinden<br />

sich neben der Afteröffnung (nur<br />

bei den Regulares) auch noch fünf Genitalplatten<br />

in den Interradien (Abb. 9) und<br />

fünf sogenannte Ocellarplatten in den Radien.<br />

Eine der Genitalplatten ist siebartig<br />

perforiert und wird daher auch Sieb- oder<br />

Madreporenplatte genannt. Diese Gesamtkonstruktion<br />

wird Apikalfeld genannt und<br />

kann an hand der Plattenanordnung zur<br />

Art- oder Gattungsbestimmung herangezogen<br />

werden. Unterhalb der Genitalplatten<br />

befinden sich die Geschlechtsorgane<br />

(Gonaden) der Tiere. Über eine Öffnung<br />

in der Platte können Ei- oder Samenzellen<br />

abgelaicht werden. Bei den Irregulares<br />

ist meist die Gonade im hinteren Interambulakralfeld<br />

zurückgebildet, da der After in<br />

diese Richtung gewandert ist.<br />

Die Corona heute lebender Echinoideen<br />

besteht aus 20 Plattenreihen, jeweils 2<br />

pro Ambulakralfeld und Interambulakralfeld.<br />

Paläozoische Echinoideen besaßen<br />

z. T. mehr Plattenreihen, jedoch überleb ten<br />

nur solche mit 20 Reihen den Übergang<br />

zum Mesozoikum. Die Skelettplatten der<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

125<br />

Seeigel sind wie die aller Echinodermaten<br />

maschenartig aufgebaut. Die Hohlräume<br />

des Stereoms sind mit Kollagenfa sern gefüllt,<br />

die die Platten zusammenhalten. Einige<br />

irreguläre Seeigel, wie die Clypeasteroidea<br />

(u. a. „Sand-Dollars“), versteifen<br />

ihre stark abgeflachte Corona noch mit<br />

Querverstrebungen. Die Plat ten der Ambulakralfelder<br />

sind in der Regel kleiner als<br />

die der Interambulakralfelder (Abb. 9). Sie<br />

besitzen au ßerdem Poren, durch die die<br />

Ambulakralfüßchen hinausragen. Je nach<br />

Füßchentyp können ein oder zwei Poren<br />

vorhanden sein. Bei den irregulären Seeigeln<br />

können die Ambulakralfelder auf<br />

der Coronenoberseite sogenannte Petalodien<br />

bilden. Dabei werden die Ambulakralfelder<br />

vom Scheitel punkt aus breiter<br />

und zum Rand hin wieder schmaler. Es<br />

entsteht ein blütenblattähnliches Gebilde,<br />

wie Abb. 12 beispielhaft zeigt.<br />

Die Herzseeigel (Spatangoida) bilden<br />

auf der Coronenunterseite, direkt unter<br />

der Mundöffnung eine Art feste „Unterlippe“,<br />

das Labrum, aus. Irreguläre Seeigel<br />

der Ordnung Cassiduloida bilden um den<br />

Mund herum eine Art Trichter, der Floscelle<br />

genannt wird.<br />

Die Ambulakralfüßchen der Seeigel erfüllen<br />

verschiedene Aufgaben. Bei den regulären<br />

Echino ideen sitzen an der Mundseite<br />

meist Saugfüßchen, mit denen sich<br />

die Tiere fortbewegen können und ohne<br />

die ein Erklettern von Riffen oder Felsen<br />

nicht möglich wäre. An den Körperflanken<br />

sitzen meist Tastfüßchen, an der Oberseite<br />

Kiemenfüßchen. Diese sind gerade bei<br />

den Irregulares in den Petalodien konzentriert.<br />

Die grabenden Herzseeigel besitzen<br />

zusätzlich noch Kittfüßchen, diese sitzen<br />

auf der Oberseite im vorderen Radius und<br />

in der Afterregion und dienen dazu, beim<br />

Graben das Substrat zu stabilisieren. Die<br />

Kiemenfüßchen sind immer durch zwei<br />

Poren in den Ambulakralplatten mit dem<br />

Ambulakralsystem verbunden. Die Ambulakralflüssigkeit<br />

wird hydraulisch durch<br />

eine Pore in die Füß chen ge pumpt, kann<br />

dort schnell Sauerstoff aufnehmen und gelangt<br />

dann durch die zweite Pore in einer<br />

Art Kreislauf zurück in das Coelom. Dort<br />

wird der Sauerstoff wieder abgeben. Andere<br />

Füßchen typen können mit einer oder<br />

zwei Poren mit dem Ambulakralsystem<br />

verbunden sein.<br />

Abb. 12 Die Ambulakralfelder der irregulären<br />

Seeigel können auf der Oberseite des Gehäuses<br />

blütenblattartige Strukturen, die Petalodien, ausbilden.<br />

In diesen befinden sich hauptsächlich an<br />

Atmung angepasste Ambulakralfüßchen.<br />

a) Clypeasteroida (Clypeaster, Tertiär – rezent),<br />

b) Cassiduloida (Echinolampas),Tertiär – rezent),<br />

c) Spatangoida (Micraster, Kreidezeit). Verändert<br />

nach Ziegler (1998).<br />

Petalodium<br />

Petalodium<br />

a) b) c)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


126 Heiko Steinke<br />

Primärstachel<br />

Pedicellarien<br />

Sekundärstacheln<br />

Abb. 13 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme<br />

eines Primärstachelansatzes bei einem<br />

regulären Seeigel. Die Sekundärstacheln schützen<br />

den Ansatz der Primärstacheln mit dazugehörigem<br />

Muskelapparat. Kleine Zangenapparate (Pedicellarien)<br />

dienen der Verteidigung und Reinigung.<br />

Verändert nach Boardman & Cheetham (1987).<br />

Abb. 14 Die „Laterne des Aristoteles“, der komplex<br />

aufgebaute Kiefer- und Kauapparat der regulären<br />

Seeigel. Erkennbar ist auch hier die fünfstrahlige<br />

Symmetrie. Zähne (1), Pyramide (2), Epiphyse<br />

(3), Rotula (4) und Kompass (5) sind Bestandteile<br />

des Kieferapparates. Aus Ziegler (1998).<br />

Wichtigstes äußeres Merkmal der Seeigel<br />

sind die Stacheln. Diese sind über<br />

ein Kugelgelenk mit der Corona verbunden<br />

und können mit einem Muskelapparat<br />

bewegt werden. Die Stacheln kön nen,<br />

abhängig von der Lebensweise der Arten,<br />

verschiedene Formen annehmen. Es sind<br />

schmale, lange und spitze, aber auch bauchige,<br />

abgerundete entwickelt. Aufgabe<br />

der Stacheln ist in erster Linie die Verteidigung,<br />

einige Seeigelarten bewegen sich<br />

auch mithilfe ihrer Stacheln fort. Neben<br />

den großen Primärsta cheln gibt es noch<br />

kleinere Sekundärstacheln, diese schützen<br />

z. B. die Muskulatur der Primärsta cheln,<br />

wie in Abb. 13 zu sehen ist.<br />

Bei einigen Arten tragen die Stachelspitzen<br />

Giftdrüsen. Die Stacheln der irregulären<br />

Echinoideen sind deutlich kleiner<br />

als die der regulären und häufig borstenartig.<br />

Dabei sind sie oft nach hinten orientiert<br />

und bilden ähnlich wie das Fellkleid<br />

bei Säugetieren einen „Strich“. Stacheln an<br />

der Körperunter seite sind bei ihnen schaufelartig<br />

verbreitert und dienen als Grabinstrumente.<br />

Da Saugfüße auf Weichsubstrat<br />

zur Fortbewegung nutzlos sind,<br />

bewegen sich irreguläre Seeigel nur mithilfe<br />

ihrer Stacheln fort. Die Herzseeigel<br />

besitzen zusätzlich sogenannte Fasciolen,<br />

Bänder auf der Oberseite und im Afterbereich,<br />

die mit wimpernbesetzten kleinen<br />

Stacheln (Clavulae) be stückt sind. Diese<br />

erzeugen Wasserströme, die der Sauerstoffversorgung<br />

oder der Entsorgung von<br />

Kot dienen.<br />

Zusätzliche Körperanhänge sind die Pedicellarien,<br />

kleine dreibackige Zangenapparate,<br />

die der Verteidigung und der Reinigung<br />

des Körpers dienen (Abb. 13). Bei<br />

einigen Arten sind auch die Pedicellarien<br />

mit Giftdrüsen ausgestattet.<br />

Der Kieferapparat der Seeigel wird<br />

nach Plinius dem Älteren (23 – 79 n. Chr.)<br />

„Laterne des Aristoteles“ genannt. Er ist<br />

wie das Ambulakralsystem fünfstrahlig<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

127<br />

angelegt und hat kräftige, kalzitische Zähne<br />

(Abb. 14). Bei den meisten irregulären<br />

Seeigeln sind die Kiefer zurückgebildet<br />

bzw. gar nicht mehr vorhanden. Oftmals<br />

sind sie im Jugendstadium noch existent,<br />

bilden sich aber bei den erwach senen Tieren<br />

wieder zurück.<br />

Reguläre Seeigel weiden mit ihren Zähnen<br />

den Meeresboden ab, wobei sie meist<br />

Allesfresser sind. Die Irregulares hingegen<br />

ha ben sich an kleinste Nahrungsteilchen<br />

angepasst. Mithilfe der Saug-oder Kittfüßchen<br />

sammeln sie pflanzliche und tierische<br />

Partikel auf und führen sie zum Mund. Die<br />

Herzseeigel schaben mithilfe ihres Labrums<br />

das Sediment ab und verdauen die<br />

ver wertbaren Anteile, der unverdauliche<br />

Rest wird wieder ausgeschieden (Ziegler<br />

1998).<br />

Der fossile, irreguläre Seeigel Nucleolites<br />

Systematik und Beschreibung<br />

Systematik nach Kier 1966:<br />

Stamm: ECHINODERMATA<br />

Klasse: ECHINOIDEA<br />

Unterklasse: EUECHINOIDEA<br />

Überordnung: ATELOSTOMATA<br />

Ordnung: CASSIDULOIDA<br />

Familie: Nucleolitidae<br />

Gattung: Nucleolites<br />

Verkürzte Synonym-Liste nach Kier 1966:<br />

Nucleolites LAMARCK 1801<br />

Nucleolites scutatus LAMARCK 1816;<br />

Echinobrissus GRAY 1825;<br />

Nucleolites cordatus GOLDFUSS 1826;<br />

Nucleolites subquadratus AGASSIZ 1839;<br />

Nucleolites gracilis AGASSIZ 1840;<br />

Nucleolites elongatus AGASSIZ 1840;<br />

Nucleolites amplus AGASSIZ 1847;<br />

Echinobrissus burgundiae COTTEAU 1871;<br />

Echinobrissus lorioli COTTEAU 1871;<br />

Echinobrissus humilis GAUTHIER 1875.<br />

Die Ordnung der Cassiduloida stellt eine<br />

der ursprünglichsten Gruppen der irregulären<br />

Seeigel dar und ist seit dem Oberen<br />

Unterjura bekannt. Einen besonders hohen<br />

Artenreichtum erlebte sie in der Erdneuzeit<br />

(Känozoikum), im Eozän. Kier (1966)<br />

berichtet im „Treatise On Invertebrate<br />

Paleontology“ von 500 bekannten Spezies<br />

in dieser Zeit. Seitdem hat die Anzahl<br />

der Arten allerdings wieder deutlich abgenommen,<br />

es sind heute nur noch sechzehn<br />

bekannt (Kier 1966, Ziegler 1998). Die Familie<br />

der Nucleolitidae ist seit dem Bajocium<br />

(Mitteljura) bekannt und überlebte<br />

bis ins Campan (Kier 1966). Nach Ziegler<br />

(1998) stammen die Cassiduloida von den<br />

Holectypoida ab (Abb. 22). Die Abstammung<br />

der Cassiduloida nach Kier (1966)<br />

zeigt Abb. 15.<br />

Frühe Cassiduloiden besitzen zwar bereits<br />

die sekundäre Bilateralsymmetrie der<br />

Irregularia, sind aber ansonsten noch nicht<br />

so stark abgeleitet wie spätere Gruppen<br />

(z. B. die Spatan goida) der irregulären Seeigel<br />

(Kier 1966, Ziegler 1998). Während<br />

die Evolution der Cassiduloida im Jura zunächst<br />

noch relativ langsam verläuft, findet<br />

in der Kreide eine deutlich schnellere<br />

Entwicklung statt (Ziegler 1998). Alle<br />

Ambulakralplat ten der jurassischen Cassiduloiden<br />

sind zweiporig, erst in der Kreide<br />

findet eine Differenzierung in ein- und<br />

zweiporige Bereiche statt (Kier 1966). Die<br />

Ambulakralfelder auf der Oberseite sind<br />

petaloid und bis zum Coronenrand ausgebildet<br />

(Abb. 12). Sie sind zum Rand hin offen.<br />

Im Laufe der Entwicklungsgeschichte<br />

der Cassiduloida erhöht sich deren Corona<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


128 Heiko Steinke<br />

Abb. 15 Stammesgeschichte der Ordnung<br />

Cassiduloida. Die Familie der Nucleolitidae (rot<br />

umrandet) erscheint im Mitteljura und stirbt zum<br />

Ende der Kreidezeit wieder aus. Nucleolites (gelbe<br />

Linie) ist seit dem Bajocium bekannt und überlebt<br />

bis ins Cenoman (Oberkreidezeit). Verändert nach<br />

Kier (1966).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

129<br />

und die Petalo dien be schränken sich auf<br />

den Mittelteil der Oberseite des Gehäuses.<br />

Diese Entwicklung zeigt Abb. 16.<br />

Ein weiteres gemeinsames Merkmal<br />

dieser Ordnung ist die Ausbildung einer<br />

sogenannten Floscelle, einer trichterförmigen<br />

Einbuchtung um die Mundöffnung<br />

(Peristom) herum (Ziegler 1998). Die<br />

Ambulakralfelder bilden innerhalb dieser<br />

Floscelle sogenannte Phyllodien aus,<br />

die um das Peristom eine Rosette bil den<br />

(Abb. 17). Die Phyllodien stellen, ähnlich<br />

wie die Petalodien, Bereiche mit angepassten<br />

Ambulakralfüßchen dar. Während<br />

in den Petalodien die Atemfüßchen sitzen,<br />

entwickeln sich in den Phyllodien zur<br />

Nahrungsaufnahme geeignete Füßchen<br />

(Kier 1966).<br />

Die ebenfalls in Abb. 17 gezeigten<br />

Bourrelets sind Ausbuchtungen der Interambulakralfelder,<br />

auf denen Stacheln<br />

zum Schutz des Peristoms sitzen (http://<br />

www.nhm.ac.uk/research-curation/<br />

research/projects/echinoid-directory/taxa/<br />

glossary.jsp?begins=B&showImageID=32,<br />

02.04.2010). Die Entwicklung der Phyllodien<br />

und Bourrelets vollzieht sich ebenfalls<br />

hauptsächlich während der Kreidezeit<br />

(Kier 1966).<br />

Die Rückbildung des Kieferapparates bei<br />

den irregulären Seeigeln ist bei den Cassiduloiden<br />

noch nicht vollständig vollzogen,<br />

zumindest bei Jungtieren ist der Kauapparat<br />

mit abgewandelten Zähnen noch vorhanden<br />

(Ziegler 1998).<br />

Die Afteröffnung ist bei frühen Cassiduloiden<br />

noch in Kontakt mit dem<br />

Scheitelpunkt, wandert aber im Laufe der<br />

Stammesentwicklung im hinteren Interambulakralfeld<br />

aus dem Scheitelpunkt<br />

he raus in Richtung des Hinterrandes der<br />

Corona (Kier 1966). Spätere Cassiduloida<br />

entwickeln unterschiedliche Stacheltypen<br />

auf Mund- und Oberseite, frühe<br />

Gattungen zeigen jedoch noch ähnlich<br />

Jura Kreide tertiär Quartär<br />

oberjura unterkreide oberkreide<br />

Mitteljura<br />

f<br />

e<br />

d<br />

c<br />

B<br />

a<br />

echinolampas<br />

Pliolampas<br />

Gitolampas<br />

Pygorhynchus<br />

Nucleolites<br />

clypeus<br />

Abb. 16 veränderung der lage der Petalodien bei<br />

den cassiduloida vom Mitteljura bis ins Quartär.<br />

der Bereich petaloid ausgebildeter ambulakralfelder<br />

(schattiert) verlagert sich von der Gehäuseoberseite<br />

(a) bis hin zu einer kleinen region im<br />

scheitelbereich (f). damit geht eine erhöhung der<br />

Gehäuse einher. Bereich nicht petaloider ambulakralfelder<br />

(schwarz). linke ansicht (a – f) Gehäuseoberseiten,<br />

vorderseite des tieres oben, rechte<br />

reihe (a – f) linke Gehäuseseite. Nach Kier (1966).<br />

ausgeprägte Stachelwarzen, was einen<br />

Hinweis auf gleiche Stacheltypen darstellt.<br />

Die Gestalt der Cassiduloida wandelt sich<br />

von eher rundlichen jurassischen Formen<br />

ab der frühen Kreide zu mehr ovalen Gehäusen<br />

(Kier 1966).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


130 Heiko Steinke<br />

bp =<br />

Buccal pore<br />

Phyllodium<br />

Bourrelet<br />

Mundöffnung<br />

Abb. 17 Rasterelektronenmikroskopische<br />

Aufnahme einer Floscelle der Cassiduloida, eine<br />

sternförmige, trichterartige Einbuchtung um die<br />

Mundöffnung. Sie vereinfacht die Nahrungsaufnahme.<br />

Die Phyllodien tragen Ambulakralfüßchen, die<br />

der Nahrungsaufnahme dienen. Bourrelets sind<br />

Ausbuchtungen der Interambulakralfelder mit Stacheln<br />

zum Schutz der Mundöffnung. Buccalporen<br />

sind vergrößerte Ambulakralporen mit Nahrungsfüßchen<br />

direkt an der Mundöffnung. Quelle: www.<br />

nhm.ac.uk/research-curation/research/projects/<br />

echinoid-directory/taxa/glossary.jsp (02.04.2010)<br />

Nucleolites war ein früher Cassiduloide<br />

und vom Bajocium (Mitteljura) bis zum<br />

Cenomanium (Unterkreide) in Europa<br />

und Nordafrika verbreitet (Kier 1966).<br />

Es handelt sich um kleine bis mittelgroße<br />

Echinoideen. Die vermessenen Coronen<br />

sind zwischen 10 und knapp 30 mm<br />

lang. Das Gehäuse ist rundlich bis oval,<br />

mit der größten Breite im hinteren Drittel<br />

der Corona. Das Peristom ist aus der<br />

Mitte der Unterseite in Richtung des vorderen<br />

Ambulakralfeldes zum Rand hin<br />

verschoben. Das Peri prokt befindet sich<br />

außerhalb des Scheitelpunktes im hinteren<br />

Interambulakralfeld, wobei unterhalb<br />

der Afteröffnung ein Kanal ausgebildet ist.<br />

Die Petalodien sind gering ausgeprägt und<br />

zum Körper rand hin geöffnet. Alle Ambulakralfelder<br />

sind doppelporig angelegt, des<br />

Weiteren sind keine Fasciolen ausgebildet.<br />

Die Stachelwarzen der Unter- und Oberseiten<br />

der Tiere sind ähn lich ausgebildet,<br />

was auf gleiche Stachelgrößen und -typen<br />

hinweist. Die Unterseite von Nucleolites ist<br />

nach innen gewölbt und bildet eine Floscelle.<br />

Die Nucleolites-Exemplare dieser Untersuchung<br />

stammen aus den Kalksedimenten<br />

des Kimmeridgium (Oberjura) von Hannover<br />

und Umgebung. Struckmann (1878)<br />

beschreibt die Gesteine als Wechselfolgen<br />

von gebankten, gelblichen bis grauen<br />

Kalk- und Mergelsteinen. Laut geologischer<br />

Stadtkarte von Hannover (Rohde<br />

& Becker-Platen 1998) handelt es sich<br />

um ge bankte Kalksteine mit eingeschalteten<br />

Mergelkalklagen. Weitere Gesteinsbeschreibungen<br />

finden sich bei Lepper &<br />

Richter (2008). Die von ihnen als „dichte<br />

graue Kalksteine“ und „gelblich-graue Dolomite“<br />

bezeichneten Steine des Beginenturms<br />

in Hannover stammen vermutlich<br />

zumindest teilweise aus den Kalksteinbrüchen<br />

am Lindener Berg und am Tönniesberg<br />

und damit ebenfalls aus Schichten des<br />

Kimmeridgium (Lepper & Richter 2008).<br />

Betrachtet man die paläogeographische<br />

Karte (Abb. 5) des Fundgebietes, so<br />

wird klar, dass es sich um ein küstenfernes<br />

karbonatisches Sedimentationssystem<br />

ohne Eintrag von terrestrischen Sedimenten<br />

gehandelt haben muss. Da die sedimentologischen<br />

Befunde keine Hinweise<br />

auf wellenverur sachte Strukturen liefern,<br />

kann man davon ausgehen, dass der Lebensraum<br />

von Nucleolites unterhalb der von<br />

Wellen erreichten Zone („Sturmwellenbasis“)<br />

lag. Als auf dem Sediment lebende<br />

Be gleit fauna von Nucleolites wurden in der<br />

Struckmann-Sammlung in der Hauptsache<br />

Armfüßer (Brachio poden, Ordnung:<br />

Terebratula), Schnecken (Gastropoda,<br />

Ordnungen: Nerinea, Natica) sowie einige<br />

reguläre Seeigel (z. B. Pseudodiadema)<br />

gefunden. Die im Sediment lebende Begleitfauna<br />

setzt sich neben weiteren irregulären<br />

Seeigeln der Gattung Pygurus in der<br />

Hauptsache aus Muscheln (Bivalvia) zusammen.<br />

Im Wesentlichen waren folgende<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

131<br />

Gat tungen vorhanden: Cyprina, Turacia<br />

und Lucina. Diese Bezeichnungen stammen<br />

allerdings noch aus den 1870er Jahren<br />

und sind daher veraltet. Sie bedürfen einer<br />

Revision.<br />

Da neben den Brachiopoden weitere filtrierende<br />

Organismen weitestgehend fehlen<br />

und diese in der Lage sind, auch längere<br />

Perioden ohne Nahrung zu überstehen<br />

(mündl. Mit teilung M. Krautter), kann<br />

man auf eine an schwebenden Nahrungspartikeln<br />

verarmte Wassersäule schließen.<br />

In diesem Milieu waren Sedimentfresser<br />

im Vorteil.<br />

Nach Kier (1966) geht eine zunehmende<br />

Eingrabtiefe mit verschiedenen Anpassungen<br />

bei den irregulären Seeigeln einher.<br />

Die zweiporige Ausbildung der Ambulakralfelder<br />

wird in der Re gel mit Atemfüßchen<br />

verbunden und beschränkt sich bei<br />

den Irregularia weitestgehend auf die Petalodien.<br />

Diese wandern mit zunehmender<br />

Eingrabtiefe immer weiter auf die Oberseite.<br />

Bei den Cassiduloida entwickeln sich<br />

die zweiporigen Ambulakralfelder im Bereich<br />

der Phyllodien in einporige, was als<br />

Anpassung an Saugfüßchen zum Nahrungserwerb<br />

gedeutet wird (Kier 1966).<br />

Die Stacheln verändern sich von Verteidigungswerkzeugen<br />

zu Grab- und Fortbewegungshilfen.<br />

Bei den besonders tief<br />

grabenden Spatangoida entwickeln sich<br />

Fasciolen mit bewimperten Stacheln, die<br />

Wasserströme erzeugen (Kier 1966).<br />

Bei Nucleolites sind viele dieser Anpassungen<br />

noch nicht vollzogen: Die Ambulakralfelder<br />

sind durchgängig zweiporig<br />

und die Petalodien ziehen sich bis zum<br />

Coronenrand hin. Die gleichförmig ausgebildeten<br />

Stachelwarzen deuten auf wenig<br />

differenzierte Stacheltypen. Des Weiteren<br />

sind keine Fasciolen ausgebildet. Aufgrund<br />

dieser Merkmale kann angenommen werden,<br />

dass Nucleo lites das Sediment oberflächennah<br />

durchwühlt hat.<br />

Beschreibung ausgewählter<br />

Sammlungsstücke<br />

Die für diese Beschreibungen ausgewählten<br />

Stücke stellen die am besten erhaltenen<br />

Exemplare der „Sammlung<br />

Struckmann“ dar. An ihnen lassen sich besonders<br />

Feinstrukturen und für Nucleolites<br />

typische Merkmale erkennen und aufzeigen.<br />

Der weitaus größere Teil der Sammlung<br />

ist weniger gut erhalten. Zwar zeigen<br />

einzelne Stücke immer wieder auch Teilerhaltung<br />

von feinen Strukturen, jedoch nie<br />

so vollständig wie die für diese Arbeit ausgewählten.<br />

Abb. 18 zeigt das Stück mit der Inventarnummer<br />

4141. Es stellt ein Beispiel<br />

für ein moderat deformiertes Nucleolites-<br />

Exemplar dar. Deutlich erkennbar sind die<br />

Bruchlinien (schwarze Pfeile) am rechten<br />

hinteren Rand der Corona. Trotz der<br />

Deformation sind die Skelettelemente gut<br />

erhalten und man kann die unterschiedlich<br />

großen, zweireihigen Kalzitplatten<br />

der Ambulakralfel der (roter Pfeil) und der<br />

Interambulakralfelder (grüner Pfeil) unterscheiden.<br />

Zudem ist der von Nucleolites<br />

ausgebil dete Analkanal (blauer Pfeil) deutlich<br />

zu erkennen.<br />

In Abb. 19 (Inv. Nr. 4136) ist sehr deutlich<br />

der für Nucleolites typische ovale Umriss<br />

mit der brei tes ten Stelle im hinteren<br />

Drittel der Corona zu erkennen, der<br />

durch die Einbuchtung des Anal kanals<br />

eine leicht herzförmige Form erhält. Gut<br />

erkennbar sind die zum Rand der Corona<br />

hin ge öffneten petaloiden Ambulakralfelder<br />

(schwarze Pfeile) mit leicht<br />

schlitzförmigen Doppelporen. Diese zweiporige<br />

Ausbildung ist auch in den Phyllodien<br />

(grüne Pfeile) zu sehen. Die in der<br />

trich terförmigen Floscelle liegende, nach<br />

vorn verschobene Mundöffnung ist durch<br />

die Verfüllung mit Sediment ebenfalls erkennbar.<br />

In der Vorderansicht (Abb. 19 b)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


132 Heiko Steinke<br />

Abb. 19 Nucleolites-Exemplar der „Sammlung<br />

Struckmann“ (Inventarnummer NLMH 4136).<br />

a) Gehäuseoberseite mit Afteröffnung rechts.<br />

Doppelporig ausgebildete, zum Rand hin offene<br />

petaloide Ambulakralfelder (schwarze Pfeile).<br />

b) Vorderansicht. Stachelwarzen (schwarze Umrandung).<br />

c) Unterseite des Gehäuses. Ebenfalls<br />

doppelporig angelegte Phyllodien (grüne Pfeile).<br />

Deutlich sichtbare mit Sediment verfüllte Mundöffnung.<br />

In a) und c) wird der ovale, leicht herzförmige<br />

Umriss des Seeigels deutlich.<br />

Abb. 18 Nucleolites-Exemplar der „Sammlung<br />

Struckmann“ (Inventarnummer NLMH 4141), hinten<br />

rechts deformiert. a) Hinteransicht b) Gehäuseoberseite,<br />

der After liegt rechts. Bruchkanten der<br />

Deformation (schwarze Pfeile). Skelettplatten sind<br />

trotz Beschädigung gut erhalten. Größere Interambulkralplatten<br />

(grüner Pfeil), kleinere Ambulakralplatten<br />

(roter Pfeil), Analkanal (blaue Pfeile).<br />

a)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

133<br />

Abb. 20 Nucleolites-exemplar der „sammlung<br />

struckmann“ (inventarnummer NlMh 4135). oberseite<br />

des Gehäuses mit afteröffnung rechts. auf<br />

der linken Gehäuseseite, unten rechts, fehlt ein<br />

teil der schale, der steinkern ist jedoch vollständig<br />

erhalten. eine der vier Genitalöffnungen, durch<br />

sedimentverfüllung gut zu erkennen (schwarzer<br />

Pfeil).<br />

Abb. 21 Natürlich gewachsene Kalzitkristalle<br />

(caco3) – tinafields, istockphoto.com.<br />

lassen sich auch hier, ähnlich wie bei Inv.<br />

Nr. 4141 (Abb. 18), die unterschiedlich<br />

großen Skelettplatten der Interambulakralia<br />

und der Ambulakralia un terscheiden.<br />

Zudem sind bei diesem Stück an einigen<br />

Stellen der Corona noch die Stachelwarzen<br />

erhalten, wie hier am Beispiel der Vorderansicht<br />

(schwarze Ellipse) ge zeigt wird.<br />

Sie zeigen überall dort, wo sie erkennbar<br />

sind, eine ähnliche Ausprägung bezüglich<br />

ihrer Form und Größe.<br />

Das Nucleolites-Exemplar mit der Inventarnummer<br />

4135 stellt mit 14,4 mm Länge<br />

eines der kleineren Stücke der Samm lung<br />

dar (Abb. 20). Hier fehlt auf der linken<br />

Körperseite ein Teil der Schale. Da der<br />

Steinkern jedoch vollständig erhalten und<br />

nicht deformiert ist, ist davon auszugehen,<br />

dass die Schale erst nach der Fossilisation<br />

zerstört wurde, vielleicht sogar bei der<br />

Aufsammlung durch Struckmann selbst.<br />

Einige der Bruchkanten reflektieren beim<br />

Drehen das Licht. Das ist ein Hinweis auf<br />

ebene Kristallflächen wie sie bei Einkristallen<br />

vorkommen. Einkristalle bilden ein<br />

homogenes Kristallgitter (Borchardt-Ott<br />

2002). Bei der Fossi lisation der porösen<br />

Skelettelemente (Stereom) werden diese<br />

nicht wie die Lei beshöhle durch Sediment<br />

verfüllt (hier Steinkernbildung!), vielmehr<br />

wachsen in den Hohlräumen kleine Kalzit-Einkristalle<br />

heran, die diese ausfüllen<br />

(Ziegler 1998). Abb. 21 zeigt beispielhaft<br />

Kalzit-Einkristalle.<br />

Im Scheitelpunkt der Corona sind<br />

zudem noch die Genitalöff nungen<br />

(schwarzer Pfeil, Abb. 20) in den Interambulakralfeldern<br />

zu sehen. Es sind nur 4<br />

Öffnungen vor handen. Die bei den regulären<br />

Seeigeln vor handene 5. Genitalöffnung<br />

ist bei den Irregularia durch die Verlagerung<br />

des Periprokts nicht mehr vorhanden.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


134 Heiko Steinke<br />

Der rezente Nordsee-Herzseeigel Echinocardium cordatum<br />

Systematik und Beschreibung<br />

Systematik nach Fischer (1966):<br />

Stamm: ECHINODERMATA<br />

Klasse: ECHINOIDEA<br />

Unterklasse: EUECHINOIDEA<br />

Überordnung: ATELOSTOMATA<br />

Ordnung: SPATANGOIDA<br />

Unterordnung: MICRASTERINA<br />

Familie: Loveniidae<br />

Gattung: Echinocardium<br />

Art: Echinocardium cordatum<br />

Synonym-Liste nach Fischer (1966):<br />

Echinus cordatus PENNANT 1777,<br />

Echinocardium GRAY 1825,<br />

Amphidetus AGASSIZ 1836<br />

Die Ordnung Spatangoida umfasst die<br />

Herzseeigel als solche. Nach Angaben von<br />

Fischer (1966) ist die darin enthaltene<br />

Gattung Echinocardium seit dem Oligozän<br />

bekannt. Laut Au toren des Natural History<br />

Museum London (www.nhm.ac.uk/<br />

research-curation/research/projects/echinoid-directory/taxa/taxon.jsp?id=331,<br />

02.04.2010) erscheinen Echinocar dien ab<br />

dem frühen Miozän und die Art Echinocardium<br />

cordatum ab dem unteren Plio zän.<br />

Die Spa tangoiden bilden die am stärksten<br />

abgeleitete Gruppe unter den irregulären<br />

Seeigeln. Nach Ziegler (1998) entstanden<br />

sie in der Unterkreide aus den Disasteroida,<br />

die sich ihrerseits aus den Cassi duloida<br />

oder Holectypoida ableiten (Abb. 22). Die<br />

Disasteroida waren bereits, wie die heutigen<br />

Spatangoiden, kieferlos (Ziegler 1998).<br />

Fischer (1966) gibt neben dieser Variante<br />

noch die Möglichkeit eines gemeinsamen<br />

un terju rassischen Vorfahren der Cassiduloida<br />

und der Spatangoida an.<br />

Die Spatangoiden unterscheiden sich<br />

von anderen irregulären Seeigelgruppen<br />

Abb. 22 Stammesgeschichte der Hauptgruppen<br />

der Seeigel. Die Ordnung Spatangoida (gelb umrandet)<br />

entsteht in der unteren Kreidezeit, vermutlich<br />

aus den Disasteroida. Aus Ziegler (1998).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

135<br />

durch das abgewandelte, nicht petaloide<br />

vordere Ambulakralfeld mit ausgebildeten<br />

Kittfüßchen, welches sie nur mit den<br />

Holasteroida gemeinsam haben (Ziegler<br />

1998). Des Weiteren bildeten sich im<br />

Laufe der Entwicklungsgeschichte dieser<br />

Abb. 23 Benthische Lebensgemeinschaften in der<br />

Nordsee (Deutsche Bucht). E. cordatum (vertikal<br />

schraffiert) lebt bevorzugt in küstenfernen, eher<br />

schlickigen Sanden außerhalb des Wattbereichs<br />

(gepunktete Linie), ist aber auch in der Lage, Perioden<br />

ohne Wasserbedeckung zu überleben. Aus<br />

Ziegler (1986).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


136 Heiko Steinke<br />

Ordnung die Fasciolen mit den Clavulae,<br />

das sind kleine wimpernbesetzte Stacheln,<br />

die Was serströme erzeugen (s. u.). Die<br />

Micrasterina bilden dabei eine Subanalfasciole<br />

aus, der die Loveniidae noch eine<br />

Internfasciole hinzufügen (Fischer 1966).<br />

Bei Echinocardium cordatum handelt es<br />

sich um eine weltweit verbreitete Art mit<br />

Vorkommen in Westeuropa, im Mittelmeerraum,<br />

in Neuseeland, in Taiwan und<br />

in Japan (www.nhm.ac.uk/research-curation/research/projects/echinoid-directory/<br />

taxa/taxon.jsp?id=331, 02.04.2010). Neben<br />

Echinocardium cordatum sind noch 4 weitere<br />

re zente Arten bekannt sowie einige ausgestorbene.<br />

Echinocardien sind mittelgroße<br />

Seeigel: Die vermessenen Coronen sind<br />

zwi schen 20 und 50 mm lang. Goldschmid<br />

(1996) gibt als Maximalgröße eben falls 5<br />

cm an, Bromley (1990) hinge gen nur 4 cm,<br />

erwähnt dabei aber auch die Größenabhängigkeit<br />

vom bewohnten Substrat. Echinocardien<br />

sind auf das Leben in sandigen<br />

bis schlickigen Substraten angepasst und<br />

finden optimale Lebensbedingungen im<br />

Feinsand (Bromley 1990, Ziegler 1998).<br />

Dabei leben in sandigen Sedimenten größere<br />

Individuen als in schlickigen (Bromley<br />

1990). Neben dem Substrat hat auch<br />

der Salzgehalt Einfluss auf die Größe der<br />

Tiere: Bei geringen Salzge halten von 15 bis<br />

20 ‰ in der Ostsee sind die Individuen im<br />

Abb. 24 E.-cordatum-Exemplar (stachellos)<br />

der „Sammlung Richter“.<br />

a) Gehäuseoberseite, Vorderseite oben. Nicht<br />

petaloides, kanalartig eingewölbtes Ambulakralfeld<br />

A (schwarzer Pfeil). Petaloide Ambulakralfelder E<br />

und D (grüne Pfeile). Internfasciole (roter Pfeil).<br />

b) Gehäuseunterseite, Vorderseite oben. Bohnenförmig<br />

ausgebildete Mundöffnung mit Labrum<br />

(gelber Pfeil), Plastron (blauer Pfeil).<br />

c) Gehäusehinterseite, Oberseite oben. Subanalfasciole<br />

(rote Pfeil); Afteröffnung (violetter Pfeil).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

137<br />

Abb. 25 E.-cordatum-Exemplar (bestachelt)<br />

der „Sammlung Richter“.<br />

a) Gehäuseoberseite, Vorderseite rechts. Kräftige,<br />

lange Schopfstacheln (schwarzer Pfeil).<br />

b) Gehäuseunterseite, Vorderseite rechts.<br />

Schaufelförmige Plastronstacheln (roter Pfeil).<br />

Durchschnitt kleiner als die der Nord see,<br />

in der Salzgehalte von bis zu 35 ‰ vorherrschen<br />

(Ziegler 1998). Allgemein sind<br />

Echinocardien in Wasser tiefen von wenigen<br />

Metern bis in etwa 150 m beobachtet<br />

worden (Ziegler 1998). Doerjes & Reineck<br />

(1977) ha ben bei Arbeiten über die Mellum-Sandbank<br />

in der Nordsee Exemplare<br />

von Echinocardium cordatum in Bereichen<br />

der Bank gefunden, die bei Ebbe trockenfallen.<br />

Die Seeigel sind also in der Lage,<br />

auch im Gezeitenbe reich zu existie ren<br />

und Perioden ohne Wasserbedeckung zu<br />

überstehen. Echi nocardien können hohe<br />

Siedlungs dichten mit bis zu 80 Individuen<br />

pro qm erreichen (Ziegler 1998). Aufgrund<br />

des häufigen Auftre tens, besonders in küstenfernen,<br />

schlickigen Sanden, lässt sich in<br />

der Deutschen Bucht eine Echi nocardiumcordatum-Lebensgemeinschaft<br />

(Biozönose)<br />

defi nieren, wie Abb. 23 zeigt (Ziegler<br />

1986).<br />

Der Umriss der Tiere ist herzförmig mit<br />

der größten Breite etwa in der vorderen<br />

Hälfte der Co rona, wohingegen sich das<br />

Gehäuse zum hinteren Ende hin verjüngt<br />

(Abb. 24 und 25). Das Ambu lakralfeld A<br />

ist nicht petaloid und bildet vom Scheitelpunkt<br />

bis zum Vorderrand einen Kanal<br />

(Abb. 24 a, schwarzer Pfeil). Die restlichen<br />

Ambulakralfelder hingegen sind petaloid<br />

ausgebildet und leicht nach innen<br />

gewölbt (Abb. 24 a, grüne Pfeile). Auf der<br />

Coronenoberseite ist in nerhalb der Petalodien<br />

eine Internfasciole ausgebildet (Abb.<br />

24 a, roter Pfeil). Die Afteröff nung ist innerhalb<br />

des hinteren Interambulakralfeldes<br />

zum Coronenrand verschoben und zeigt<br />

nach hinten (Abb. 24 c, lila Pfeil).<br />

Unterhalb der Afteröffnung ist eine<br />

Subanalfasciole ausgebildet (Abb. 24 c,<br />

roter Pfeil). Die Mundöffnung befindet<br />

sich in Richtung des Ambulakralfeldes A<br />

im vorderen Drittel der Unterseite und<br />

ist bohnenförmig ausgebildet (Abb. 24 b),<br />

der Kieferapparat ist vollständig zu rückgebildet.<br />

An das unterhalb der Mundöffnung<br />

liegende, unterlippenartige Labrum<br />

schließt sich nach hinten das sogenannte<br />

Plastron an (Abb. 24 b, gelber Pfeil = Labrum;<br />

blauer Pfeil = Plast ron).<br />

Echinocardien bilden verschiedene Stacheltypen<br />

aus. Am Rand des vorderen Ambulakralfeldes<br />

befinden sich lange, dicke<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


138 Heiko Steinke<br />

Scheitel- oder Schopfstacheln (Abb. 25<br />

a, schwarzer Pfeil), auf dem Plastron und<br />

am Rand der danebenliegenden Interambulakralia<br />

sind schaufelförmige Stacheln<br />

ausgebildet (Abb. 25 b, roter Pfeil). In den<br />

Fasciolen wachsen kleine wimpernbesetzte<br />

Sta cheln, die Clavu lae genannt werden.<br />

Der Rest des Körpers ist mit weiteren<br />

haarartigen, nach hin ten orientierten Stacheln<br />

bedeckt. In Abb. 26 ist die Lage der<br />

unterschiedlichen, bei Echino cardium cordatum<br />

vorkommenden Stacheltypen dargestellt.<br />

In Sandböden graben sich Echinocardien<br />

bis zu 20 cm tief ein. In größeren Wassertiefen<br />

mit fei nerem Sediment (Schlick)<br />

ist die Eingrabtiefe geringer und liegt nur<br />

noch bei 3 bis 5 cm (Bromley 1990, Ziegler<br />

1998). Die Grabtechnik, mit der sich die<br />

Seeigel eingraben, wird als Schaufelkreisen<br />

bezeich net. Mithilfe der schaufelartig<br />

verbreiterten Seitenstacheln wird Sediment<br />

seitlich und nach oben befördert,<br />

wobei der Körper langsam einsinkt. Dabei<br />

werden die Schopfstacheln (Abb. 25) der<br />

Tiere mit einer Schleimabsonderung der<br />

Kittfüßchen, die sich am Vorderrand der<br />

Corona befinden, eingestrichen und gegen<br />

das Substrat gedrückt. Echinocardien<br />

besitzen ca. 70 dieser Kittfüßchen im Bereich<br />

des Ambulakralfeldes A (Kaestner<br />

1963). Durch den Schleim wird das Substrat<br />

verfestigt und der Atemgang bleibt<br />

frei. Bei horizontaler Fortbewegung innerhalb<br />

des Sediments lockern die vorderen<br />

Stacheln das Substrat und die Seitenstacheln<br />

des Tieres befördern es nach<br />

hinten. Die Plastronstacheln (Abb. 25)<br />

bringen die Echinocardien nach vorn. Dabei<br />

werden die Stacheln stets mit Schleim<br />

versorgt, der die Gangwände stabilisiert<br />

(Ziegler 1998). Diese Art des Grabens<br />

wird Rücktransport genannt. Es entsteht<br />

hinter dem Tier ein Stopfgefüge mit einer<br />

sogenannten „Meniskus-Struktur“ (Abb.<br />

27; Bromley 1990). Im Afterbereich sorgen<br />

ebenfalls Stacheln dafür, dass ein blind<br />

endender Abwasserkanal angelegt wird.<br />

Dieses geschieht auch mithilfe von substratstabilisierendem<br />

Schleim, der hier von<br />

Schutzstacheln der<br />

Ambulakralfelder<br />

Stacheln, die den Atemgang<br />

freihalten (Schopfstacheln)<br />

Seitenstacheln<br />

Schaufelstacheln<br />

Stacheln, die den<br />

Abwasserkanal freihalten<br />

Fortbewegungsstacheln des<br />

Plastrons (Plastronstacheln)<br />

Schutzstacheln der<br />

Ambulakralfelder<br />

Grabstacheln<br />

Schaufelstacheln<br />

Mundbereichsstacheln<br />

Abb. 26 E. cordatum bildet verschiedene Stacheltypen<br />

aus. Ihre Lage auf dem Gehäuse sowie die<br />

Funktionen sind dargestellt. Vorderseite rechts.<br />

Verändert nach Boardmen & Cheetham (1987).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

139<br />

Atemgang<br />

Aufgegebener<br />

verschlossener<br />

Atemgang<br />

Wohngang mit<br />

Abwasserkanal<br />

im Querschnitt<br />

Wohngang mit Abwasserkanal im Längsschnitt<br />

Abb. 27 E. cordatum<br />

im Wohngang. Grabrichtung<br />

nach links.<br />

Rechts im Bild ein verschlossener<br />

Atemgang,<br />

dieser kann 20 cm<br />

Länge erreichen. Hinter<br />

E. cordatum ist das<br />

Stopfgefüge des Ganges<br />

mit dem Abwasserkanal<br />

erkennbar. Rechts<br />

über E. cordatum Querschnitt<br />

des Stopfgefüges<br />

mit Abwasserkanal.<br />

Aus Bromley (1990).<br />

Abb. 28 Größenzunahme<br />

und Alter bei<br />

E. cordatum, Maximalalter<br />

7 bis 10 Jahre.<br />

Bis zum Alter von etwa<br />

7 Jahren ist ein deutliches<br />

Wachstum des<br />

Gehäuses festzustellen,<br />

ältere Tiere werden<br />

kaum noch größer.<br />

Verändert nach Ziegler<br />

(1998).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


140 Heiko Steinke<br />

ca. 6 Kitt füßchen gebildet wird (Kaestner<br />

1963). Mit dieser Art der Fortbewegung<br />

legt Echinocardium cordatum wenige Zentimeter<br />

pro Stunde zurück (Bromley 1990).<br />

Mit den Cla vulae der Fasciolen erzeugen<br />

die Tiere Wasserströme, die Frischwasser<br />

durch den Atemgang über die Petalodien<br />

mit den Kie menfüßchen spülen. Die Clavulae<br />

der Subanalfasciole verteilen Abwasser<br />

und Exkremente im Abwasserkanal.<br />

Der Atemgang bricht im sandigen Substrat<br />

nach einem Voranschrei ten von ca. 2<br />

bis 4 cm zusammen, im stärker schlammhaltigen<br />

Sediment kann er bis zu 10 cm<br />

Bewe gungslänge erhalten bleiben (Abb.<br />

27). Mithilfe der bis zu 30 cm langen Kittfüßchen<br />

wird dann ein neuer Atemschornstein<br />

zur Sedimentoberfläche hin konstruiert<br />

(Kaestner 1963).<br />

Echinocardien sind auf Kleinstlebewesen<br />

spezialisierte Allesfresser. In ihrem Darmtrakt<br />

fand man Diatomeen, Foramini feren,<br />

kleine Schnecken und Krebstierchen sowie<br />

Ringelwürmer. Mit ihren ca. 35 bis 40<br />

mit Saugnäpfen versehenen Mundfüßchen<br />

werden Nahrungsteilchen aufgenommen<br />

und zur Mundöffnung geführt. Weitere 4<br />

bis 6 für den Nahrungserwerb ausgebildete<br />

Füßchen auf dem vorderen Ambulakralfeld<br />

strecken sich durch den Atemkanal<br />

und tupfen Nahrungsbestand teile vom<br />

Mee resboden auf. Diese Bestandteile gelangen<br />

zusammen mit Detritus, der durch<br />

den Atemgang auf das Tier fällt, auf das<br />

vordere Ambulakralfeld, wo die Teilchen<br />

eingeschleimt und durch die Einbuchtung<br />

am Vorderrand der Corona (Abb. 24) auf<br />

die Unterseite transportiert werden. Mithilfe<br />

des Labrums werden diese Teile dann<br />

vom Gangboden abgeschabt. Der Darm<br />

eines Echinocardium cordatum kann etwa<br />

die Hälfte des Lebendgewichts an Sediment<br />

enthalten, dieser Inhalt wird etwa<br />

3-mal am Tag erneuert (Kaestner 1963,<br />

Bromley 1990).<br />

Echinocardien sind getrennt ge schlechtlich,<br />

ohne das ein Geschlechts di mor phismus<br />

ausgeprägt ist.<br />

Nach der Vereinigung der ins Wasser<br />

abgegebenen Samen- und Eizellen entwickelt<br />

sich eine planktisch lebende, bilateral<br />

symmetrische Larve (Echinopluteus).<br />

Nach etwa 4 Wochen durchläuft diese eine<br />

Metamor phose, während der sich die pentamere<br />

Symmetrie des Ambulakralsystems<br />

ausbildet. Der entste hende Seeigel sinkt zu<br />

Boden, wo er zukünftig im Sediment eingegraben<br />

lebt. Als erste Skelettteile entwickeln<br />

sich dabei die Apikalplatten mit<br />

den Genital- und Ocellarplatten. An deren<br />

Außenrand entstehen neue Skelettplatten,<br />

bereits gebildete werden Richtung Unterseite<br />

geschoben. In der Mundregion befinden<br />

sich also die ältesten gebildeten Platten.<br />

Je mehr Platten vorhanden sind, desto<br />

älter ist das Tier. Echinocardien werden ca.<br />

7 bis 10 Jahre alt und sind mit ungefähr einem<br />

Jahr geschlechts reif. Das Wachstum<br />

der Corona hält etwa bis zum 7. Lebensjahr<br />

an und lässt dann nach. Tiere (Abbildung<br />

28), die älter als 7 Jahre sind, werden<br />

kaum noch größer (Ziegler 1998).<br />

Aktuopaläontologische<br />

Betrachtungen<br />

Echinocardien verenden aus Altersgründen<br />

oder sie kommen durch Überschüttung<br />

mit Sediment oder durch Ausspülung zu<br />

Tode. Die bes ten Erhaltungsmöglichkeiten<br />

für ihre Coronen und Stacheln bestehen<br />

beim Verenden im Sedi ment, so fern dieses<br />

danach nicht umgelagert wird. Werden<br />

Tiere bei Sturmereignissen oder anderweitigen<br />

Sedimentumlagerungen überschüttet,<br />

versuchen sie sich aus dem Substrat heraus<br />

nach oben zu wühlen. Häufig sterben<br />

sie dabei und werden mit der Strömung<br />

verfrachtet. Ähn liches geschieht, wenn die<br />

Tiere durch Wellenaufarbeitung aus dem<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

141<br />

Sediment gespült werden. Erfolgt dies in<br />

Ufer nähe bzw. findet die Verfrachtung<br />

schnell statt, werden die Tiere komplett<br />

mit Stacheln ange spült. Um solche handelt<br />

es sich vermutlich bei den aufgesammelten<br />

bestachelten Exemplaren aus der<br />

„Sammlung Richter“. Im Flutsaum können<br />

sie zu Opfern von Möwen oder anderen<br />

Wasser vögeln werden. Intakte Gehäuse<br />

mitsamt Stacheln werden dort durch<br />

Wellenzer schlagung schnell zerstört. Verbleiben<br />

ausgespülte und verendete Individuen<br />

im Wasser, fallen die Stacheln durch<br />

rol lenden Transport der Coronen über den<br />

Meeresboden rasch ab und können mit der<br />

Strömung weitergetrieben werden. Gehäuse<br />

können je nach Wasserenergie länger<br />

erhalten bleiben. Auch die Schnelligkeit,<br />

mit der die Kollagenfasern, die die Skelettplatten<br />

zusammenhalten, verwesen, hat<br />

Einfluss darauf, über welchen Zeitraum ein<br />

Gehäuse komplett erhalten bleibt. Über<br />

kurz oder lang zerfallen aber auch die Gehäuse<br />

– meist entlang der Plattengrenzen.<br />

Angespülte, intakte Gehäuse trocknen<br />

durch die Sonne aus und können mit dem<br />

Wind landeinwärts in den nicht mehr von<br />

den Gezeiten beein flussten Rückstrandoder<br />

Vordünenbereich verfrachtet werden.<br />

Sofern sie nicht durch Mensch oder Tier<br />

zerstört werden, bleiben diese Panzer über<br />

längere Zeit intakt und können von Sediment<br />

überdeckt werden. Solcherart erhaltene<br />

Exemplare stellen einen Großteil der<br />

„Sammlung Richter“ dar. Ausgetrocknete<br />

Exemplare, die ins Wasser zurückgespült<br />

werden, können treibenderweise verfrachtet<br />

werden (Schäfer 1962).<br />

Ergebnisse<br />

Größe und Größenverteilung<br />

Die untersuchten Nucleolites-Exemplare<br />

unterscheiden sich von den Echinocardium-Exemplaren<br />

deutlich in der Größe.<br />

Bei Nucleolites liegen die vermessenen Coronen<br />

im Bereich zwischen knapp 10 und<br />

etwas über 30 mm, bei Echinocardium sind<br />

die Gehäuse zwischen ca. 20 und knapp 52<br />

mm groß. Damit sind die größten Exemplare<br />

von Echinocardium cordatum etwa<br />

1,7mal größer als die größten von Nucleolites.<br />

Die Aufsammlung der Nucleolites-Stücke<br />

durch Struckmann erfolgte an verschiedenen<br />

Lokalitäten. Sie stammen aus unterschiedlichen<br />

Horizonten. Die Einteilung<br />

der 90 ver messenen Nucleolites-Exemplare<br />

erfolgte nach Schönwiese (2000) in die folgendermaßen<br />

besetzten 8 Größenklassen:<br />

9 – 12 mm = 8,9 %,<br />

12 – 15 mm = 13,3 %<br />

15 – 18 mm = 14,4 %<br />

18 – 20 mm = 13,3 %<br />

20 – 22 mm = 26,7 %<br />

22 – 25 mm = 15,6 %<br />

25 – 28 mm = 4,4 %<br />

28 – 31 mm = 3,3 %.<br />

Diese Verteilung ist in Abb. 29 dargestellt.<br />

Die Echinocardium-Exemplare der<br />

„Sammlung Richter“ wurden vorwiegend<br />

am Nord- und Oststrand der Insel Langeoog<br />

über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren<br />

aufgesammelt. Die Sammlung erfolgte<br />

meist im Juni des jeweiligen Jahres. Die<br />

Einteilung der 61 vermessenen Exemplare<br />

erfolgte in 7 Größen klassen (Schönwiese<br />

2000), welche folgende prozentuale Verteilung<br />

besitzen:<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


30,00<br />

142 Heiko Steinke<br />

25,00<br />

20,00<br />

Nucleolites<br />

% 15,00<br />

30,00<br />

10,00<br />

25,00<br />

Nucleolites<br />

5,00<br />

20,00<br />

0,00<br />

% 15,00<br />

10,00<br />

Nucleolites<br />

5,00<br />

Klassen [mm]<br />

Abb. 29 Größenverteilung<br />

0,00<br />

der 90 vermessenen Nucleolites-Exemplare<br />

in Prozent.<br />

Abb. 29<br />

Die Einteilung in 8 Größenklassen<br />

erfolgte nach Schönwiese<br />

Klassen [mm]<br />

(2000).<br />

Abb. 29 35,00<br />

%<br />

%<br />

Abb. 30<br />

30,00<br />

25,00<br />

20,00<br />

35,00 15,00<br />

30,00 10,00<br />

25,00<br />

20,00<br />

15,00<br />

10,00<br />

5,00<br />

0,00<br />

Nucleolites<br />

Echinocardium<br />

Echinocardium<br />

Klassen [mm]<br />

Echinocardium cordatum<br />

Echinocardium cordatum<br />

Abb. 30 Größenverteilung<br />

der 61 vermessenen<br />

E.-cordatum-Exemplare in<br />

Prozent. Die Einteilung in 7<br />

Größenklassen erfolgte nach<br />

Schönwiese (2000).<br />

Klassen [mm]<br />

Abb. 30<br />

19 – 24 mm = 8,2 %<br />

24 – 28 mm = 22,9 %<br />

28 – 32 mm = 31,1 %<br />

32 – 37 mm = 6,6 %<br />

37 – 42 mm = 1,6 %<br />

42 – 47 mm = 14,8 %<br />

47 – 52 mm = 14,8 %.<br />

Das Säulendiagramm in Abb. 30 zeigt<br />

die Größenverteilung von Echinocardium<br />

cordatum.<br />

Morphologie<br />

Obwohl Nucleolites und Echinocardium<br />

unterschiedliche Lebensräume besiedeln<br />

bzw. besiedel ten, wobei Nucleolites Kalksedimente<br />

bevorzugte und Echinocardium<br />

cordatum in Sandböden lebt, gibt es einige<br />

grundlegende Ähn lichkeiten. Gemeinsam<br />

ist beiden die Ausbildung länglicher Gehäuse,<br />

die ihnen einen ovalen Um riss verleihen.<br />

Dieser Trend zeigt sich auch in der<br />

Abb. 31, in der die Längenwerte beider<br />

Gattungen gegen die jeweilige Breite aufgetragen<br />

sind.<br />

Die Coronen von Echinocardium sind<br />

um einen Faktor zwischen 1,01 und 1,1<br />

länger als breit, bei Nucleolites ist der Streubereich<br />

etwas höher, einige Gehäuse sind<br />

sogar breiter als lang. Das Gros der Werte<br />

liegt jedoch auch hier im Bereich längerer<br />

Gehäuse, mit einem Faktor zwischen 1<br />

und 1,2. Die eher breiteren Coronen könnten<br />

eventuell auf Deformationen zurückzuführen<br />

sein.<br />

Irreguläre Seeigel bilden meist flachere<br />

Coronen aus als die Regularia. Auch hier<br />

finden sich Ähnlichkeiten bei Nucleolites<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

55<br />

Länge / Breite<br />

143<br />

Breite [mm]<br />

Breite [mm]<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

55<br />

20<br />

50<br />

15<br />

45<br />

10<br />

40<br />

5<br />

35<br />

0<br />

30<br />

25<br />

20<br />

Abb. 31<br />

15<br />

10<br />

5<br />

35<br />

0<br />

30<br />

25<br />

Höhe [mm]<br />

Abb. 3120<br />

Höhe [mm]<br />

15<br />

10<br />

5<br />

35<br />

0<br />

30<br />

25<br />

Abb. 3220<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

Abb. 32<br />

Länge / Breite<br />

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

Länge [mm]<br />

Länge / Höhe<br />

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

Länge [mm]<br />

Länge / Höhe<br />

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

Länge [mm]<br />

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

Länge [mm]<br />

Echinocardium cordatum<br />

Nucleolites<br />

x=y<br />

x=1,1y<br />

x=1,2y<br />

Abb. 31 Darstellung Länge gegen Breite<br />

bei Nucleolites (90 Ex.) und E. cordatum<br />

(61 Ex.). Echinocardium Gehäuse, cordatum die auf der Gerade x<br />

= y (durchgezogene Nucleolites Linie) liegen, haben<br />

die gleiche Länge und Breite. Gehäuse,<br />

x=y<br />

die auf den Geraden x = 1,1y (gepunktete<br />

Linie) und x = 1,2y (gestrichelte<br />

x=1,1y<br />

Linie) x=1,2y liegen, sind 1,1-mal bzw. 1,2-mal<br />

länger als breit. Nucleolites weist nur<br />

eine Punktwolke auf. Bei E. cordatum<br />

fehlen die Größen zwischen 35 bis 45<br />

mm, daher ergibt sich eine Lücke in der<br />

Punktwolke.<br />

Abb. 32 Darstellung Länge gegen Höhe<br />

bei Nucleolites (87 Ex.) und Echinocardium<br />

(61 Ex.). Gehäuse, die auf der<br />

Geraden Echinocardium x = 1,5y (durchgezogene cordatum Linie)<br />

liegen, sind 1,5-mal länger als hoch. Gehäuse,<br />

die auf der Gerade x = 2y liegen,<br />

Nucleolites<br />

sind doppelt x=1,5y so lang wie hoch. Bei Nucleolites<br />

x=2y ist nur eine Punktwolke zu sehen,<br />

E. cordatum weist die bekannte, geteilte<br />

Punktwolke auf. Sie zeigt ein ähnliches<br />

Streuverhalten wie die von Nucleolites.<br />

Echinocardium cordatum<br />

Nucleolites<br />

x=1,5y<br />

x=2y<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


144 Heiko Steinke<br />

und Echinocardium. In Abb. 32 sind die<br />

Längenwerte beider Gattun gen gegen die<br />

Coronenhöhe aufgetragen.<br />

Die Länge-zu-Höhe-Verhältnisse beider<br />

Untersuchungsgruppen liegen nicht ganz<br />

so dicht beiei nander wie die Länge-zu-<br />

Breite-Verhältnisse. Nucleolites bildet demnach<br />

tendenziell flachere Ge häuse aus als<br />

Echinocardium, allerdings gibt es auch hier<br />

einen Überschneidungsbereich. Ein Teil<br />

der Coronen beider Gattungen ist zwischen<br />

1,5-mal und 2-mal länger als hoch.<br />

Auch hier könnte der et was größere Streubereich<br />

bei Nucleolites durch leicht deformierte<br />

Coronen zustande kommen.<br />

Neben der äußeren Gestalt zeigen sich<br />

bei den Nucleoliten und Echinocardien<br />

weitere Gemeinsamkeiten. Die Mundöffnung<br />

ist bei beiden Gattungen aus dem<br />

Zentrum der Unterseite heraus zum Vorderrand<br />

der Corona verschoben. Ebenso<br />

befindet sich die Afteröffnung beider nicht<br />

mehr im Scheitelpunkt der Corona, sondern<br />

ist in Richtung des Hinterrandes gewandert.<br />

Neben den Gemeinsamkeiten bestehen<br />

aber auch deutliche Unterschiede im<br />

Bauplan von Nuc leolites und Echinocardium.<br />

So befindet sich die breiteste Stelle der<br />

Corona bei Nucleolites im hinteren Drittel<br />

der Corona, bei Echinocardium jedoch<br />

in der vorderen Hälfte. Bei Echinocardium<br />

cordatum ist das vordere Am bulakralfeld<br />

kanalartig eingesenkt und bildet am Vorderrand<br />

eine Kerbe im Gehäuse aus. Diese<br />

Kerbe verleiht den Tieren einen leicht<br />

herzförmigen Umriss, der der gesamten<br />

Ordnung Spatangoida ge mein ist und zur<br />

Bezeichnung „Herzseeigel“ geführt hat<br />

(Abb. 12 und Abb. 24). Bei Nucleolites ist<br />

das vordere Ambulakralfeld nicht eingesenkt,<br />

stattdessen ist im hin teren Interambulakralfeld,<br />

unterhalb des Periprokts, ein<br />

Analkanal ausgebildet. Auch dieser kann<br />

bei einigen Indivi duen eine Kerbe, diesmal<br />

im Hinterrand der Corona, ausbilden. Dadurch<br />

kann auch bei einigen Nucleolites-<br />

Exemplaren ein herzförmiger Umriss entstehen<br />

(Abb. 18), in diesem Fall jedoch<br />

genau entgegengesetzt der Orientierung<br />

bei Echinocardium cordatum.<br />

Die Unterseite bei Nucleolites ist trichterförmig<br />

eingesenkt und bildet dort die<br />

sogenannte Floscelle aus (Abb. 17). Bei<br />

Echinocardium hingegen ist die Mundseite<br />

stark abgeflacht und mit dem Plastron und<br />

dem Labrum (Abb. 24) sogar leicht nach<br />

außen gewölbt. Die Mundöffnung selbst<br />

ist bei Nucleolites rundlich bis oval ausgeprägt<br />

(Abb. 19), bei Echinocardium dagegen<br />

bohnenförmig (Abb. 24).<br />

Artbestimmung<br />

Im folgenden Abschnitt wird untersucht,<br />

ob die Nucleolites-Exemplare der „Sammlung<br />

Struck mann“ nur zu einer Art gehören<br />

oder ob sich gegebenenfalls anhand<br />

morphologisch markanter Proportionsunterschiede<br />

zwei oder mehr Arten ermitteln<br />

lassen. Zu diesem Zweck werden die<br />

Längen- gegen die Breitenwerte, die Längenwerte<br />

gegen die Höhe, die Länge gegen<br />

PV (Abstand der Mundöffnung zur<br />

Vorderseite inkl. Mundöffnung), die Länge<br />

gegen PB (Abstand der Afteröffnung<br />

zur Rückseite inkl. Afteröffnung) sowie die<br />

Breite gegen die Höhe aufgetragen. Handelt<br />

es sich um Individuen einer Art, so ergibt<br />

sich eine zusammen hängende Punktwolke,<br />

sind jedoch mehr Arten vorhan den,<br />

so bilden sich entsprechend viele Punktwolken<br />

aus. Da durch die Vermessung der<br />

Echinocardium-cordatum-Stücke die Messwerte<br />

einer klar de finierten Art zur Verfügung<br />

stehen, werden diese den entsprechenden<br />

Nucleolites-Diagrammen zur Seite<br />

gestellt. Damit soll das Allometrieverhalten<br />

und die na türliche Variation einer ähnlichen<br />

Art demonstriert werden. In den<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

Echinocardium-Diagrammen sind einige<br />

Bereiche ohne Punktbele gung der besseren<br />

Darstellbarkeit halber entfernt worden.<br />

Abb. 31 zeigt die Darstellung der Längen<br />

gegen die Breitenwerte.<br />

Die Nucleolites-Werte bilden eindeutig<br />

nur eine Punktwolke, die einen ähnlichen<br />

Streubereich zeigt wie die Punktwolke bei<br />

Echinocardium. Da in der Echinocardium-<br />

Sammlung die entsprechenden Größen<br />

fehlen, ergibt sich in dem Diagramm eine<br />

Lücke zwischen 35 und 40 mm. Diese Lücke<br />

ist somit kein Hinweis auf verschiedene<br />

Arten, zumal der Trend gleich bleibt.<br />

Dies gilt auch für die folgen den Echinocardium-Diagramme.<br />

In Abb. 32 ist die Länge gegen die Höhe<br />

dargestellt. Auch hier ist nur eine Punktwolke<br />

bei den Nucleolites-Werten zu erkennen.<br />

Ähnlich wie die der rezenten Art<br />

zeigt sie einen etwas größeren Streubereich<br />

bei größeren Individuen.<br />

In Abb. 33 sind die Längenwerte gegen<br />

PV (s. o.) aufgetragen. Der Streubereich<br />

bei Nucleolites ist hier etwas höher als bei<br />

Echinocardium cordatum, dennoch erscheint<br />

nur eine Punktwolke. Neben den natürlichen<br />

Variationen können auch Deformationserscheinungen<br />

zum größeren Streubereich<br />

bei Nucleolites beitragen.<br />

Das Diagramm in Abb. 34 zeigt die<br />

Auftragung der Längenwerte gegen PB<br />

(s. o.).<br />

Diese Darstellung ergibt für Nucleolites<br />

ebenfalls nur eine Punktwolke, die allerdings<br />

ähnlich wie in Abb. 33 einen etwas<br />

größeren Streubereich zeigt als die der<br />

rezenten Art. Auch hier können wiederum<br />

neben natürlichen Variationen auch Deformationseffekte<br />

zum Tragen kommen.<br />

Auch in Abb. 35, der Darstellung von<br />

Coronenbreite gegen Coronenhöhe, zeigt<br />

sich bei Nucleolites nur eine Punktwolke,<br />

die Breite des Streubereiches weicht nicht<br />

von der bisher beobachteten ab.<br />

PV in mm<br />

PV in mm<br />

5<br />

15<br />

5<br />

Abb. 35a 0<br />

a) Nucleolites Länge/Pv<br />

0<br />

10<br />

0 5 10 15 20 25 30 35<br />

0 5 10 15 20 25 30 35<br />

a)<br />

Länge mm<br />

b) Echinocardium Länge/PV<br />

Abb. 35a 25<br />

PV in mm<br />

PV in mm<br />

15<br />

10<br />

20<br />

15<br />

25<br />

10<br />

20<br />

b) 10<br />

a) Nucleolites Länge/Pv<br />

Länge in mm<br />

b) Echinocardium Länge/PV<br />

145<br />

5<br />

15<br />

15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

Länge in mm<br />

Abb. Abb. 35b 533 Darstellung Länge gegen PV (Abstand<br />

Mundöffnung a) Nucleolites zu Vorderseite) Länge/PB<br />

15 20 25 30 35bei a) 40 Nucleolites 45 50 55<br />

(41 15 Ex.) und b) E. cordatum (60 Ex.). Nucleolites<br />

Länge in mm<br />

zeigt wiederum nur eine Punktwolke. Der Streu–<br />

Abb. bereich 35b<br />

10 ist etwas höher als bei E. cordatum.<br />

PB in mm<br />

PB in mm<br />

5<br />

15<br />

5<br />

Abb. 36a 0<br />

a) Nucleolites Länge/PB<br />

0<br />

10<br />

0 5 10 15 20 25 30 35<br />

0 5 10 15 20 25 30 35<br />

a)<br />

Länge mm<br />

b) Echinocardium Länge/PB<br />

Abb. 36a 25<br />

PB in mm<br />

PB in mm<br />

20<br />

15<br />

25<br />

10<br />

20<br />

b) 10<br />

Länge in mm<br />

b) Echinocardium Länge/PB<br />

5<br />

15<br />

15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

Länge in mm<br />

Abb. Abb. 36b 34 Darstellung Länge gegen PB (Abstand<br />

5<br />

Afteröffnung zu Rückseite/Unterseite) bei<br />

15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

a) Nucleolites (66 Ex.) und b) E. cordatum (50 Ex.).<br />

Länge in mm<br />

Nucleolites zeigt auch hier nur eine breiter ge–<br />

streute Punktwolke. Bei E. cordatum ist wieder<br />

Abb. 36b<br />

die bekannte, zweigeteilte Punktwolke mit einem<br />

geringeren Streubereich als bei Nucleolites zu<br />

erkennen.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


14620<br />

Heiko Steinke<br />

Höhe in mm<br />

Höhe in mm<br />

20 10<br />

155<br />

100<br />

0<br />

Abb. 37a<br />

0 5 10 15 20 25 30<br />

a)<br />

Abb. 37a<br />

35<br />

Höhe in mm<br />

Höhe in mm<br />

15<br />

a) Nucleolites<br />

Breite/Höhe<br />

0 5 10 15 20 25 30<br />

5<br />

Breite in mm<br />

35 25<br />

30 20<br />

25 15<br />

20 10<br />

a) Nucleolites<br />

Breite/Höhe<br />

Breite in mm<br />

b) Echinocardium Breite/Höhe<br />

b) Echinocardium Breite/Höhe<br />

30<br />

15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

15<br />

b)<br />

Breite in mm<br />

10<br />

Abb.<br />

Abb.<br />

37b<br />

35 Darstellung Breite gegen Höhe bei<br />

15 20 25 30 35 40 45 50 55<br />

a) Nucleolites (87 Ex.) und b) E. cordatum (60 Ex.).<br />

Breite in mm<br />

Auch in dieser Darstellung ergibt sich für Nucleolites<br />

nur eine Punktwolke, der Streubereich ist<br />

Abb. 37b<br />

geringfügig größer als der von E. cordatum, der<br />

die erwartete Zweiteilung zeigt, mit etwas breiter<br />

gestreuten Werten bei größeren Individuen.<br />

In allen gezeigten Diagrammen lässt<br />

sich für Nucleolites nur jeweils eine Punktwolke<br />

ausmachen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit<br />

handelt es sich also bei den<br />

Exemplaren der „Sammlung Struckmann“<br />

um Individuen nur einer Art.<br />

Diskussion<br />

Größenverteilung<br />

Seeigel sind Organismen, die, mit wenigen<br />

Ausnahmen (Ziegler 1998), keine<br />

Brutpflege betrei ben. Es ist daher zum<br />

Art erhalt von Vorteil, eine große Nachkommenschaft<br />

zu erzeugen. Natürlicherweise<br />

fallen große Anteile der Seeigel-Populationen<br />

besonders epibenthischer Arten<br />

Fressfeinden zum Opfer. Dabei haben jüngere<br />

Indivi duen eine höhere Sterblichkeitsrate<br />

als ältere. Nur wenige Seeigel erreichen<br />

ihr artspezi fisches Maximal-Alter<br />

und die damit verbundene Größe. Daraus<br />

resultiert bei einer homogenen Population<br />

eine von kleinen Tieren zu Großen hin abfallende<br />

Kurve, wie sie in Ab b. 36 idealisiert<br />

darge stellt ist.<br />

Morphologie<br />

Anzahl der Individuen<br />

Größe der Individuen<br />

Abb. 36 Qualitative Darstellung einer Größenverteilungskurve<br />

38<br />

bei Seeigeln ohne Angabe von<br />

Abb.<br />

Einheiten. Alter und Größe der Tiere nehmen nach<br />

rechts hin zu, ihre Anzahl ab.<br />

In Kapitel 8.2 werden neben den Unterschieden<br />

in der Morphologie von Nucleolites<br />

und Echinocardium cordatum auch<br />

Gemeinsamkeiten wie die länglichen Coronen,<br />

die Abflachung der Gehäuse und<br />

die Verlagerung der Mundöffnung und des<br />

Afters festgestellt. Dabei handelt es sich<br />

um grundlegende Anpassungen der irregulären<br />

Seeigel an Weichbodensubstrate,<br />

unabhängig von der Zusam mensetzung<br />

des Substrates (Abb. 11). Während die Regulares<br />

Hartböden abwei den, sind die Irregulares<br />

Sedimentfresser und leben meist<br />

innerhalb des Sedimentes. Dafür sind<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

147<br />

verschie dene Anpas sungen notwendig. Um<br />

zu verhindern, dass bereits gefressenes Sediment<br />

nochmals durchgearbei tet wird, ist<br />

eine gerichtete Fortbewegung nötig. Aus<br />

der ursprünglichen Radialsymmetrie muss<br />

sich also eine sekundäre Bilateralsymmetrie<br />

mit definiertem Vorder- und Hinterteil<br />

entwi ckeln. Dabei muss auch die Afteröffnung<br />

aus dem Scheitelpunkt nach hinten<br />

verlagert werden. Bei regulä ren Seeigeln<br />

besteht kaum die Gefahr, dass Kot, der<br />

aus dem im Scheitelpunkt liegendem Periprokt<br />

ausgeschieden wird, auf die Weidegründe<br />

der Tiere gelangt und diese bereits<br />

verdaute, also zu wenige Nährstoffe enthaltende<br />

Nahrung zu sich nehmen. Vielmehr<br />

werden die Ausschei dung en durch<br />

das Meerwasser abgeführt. Bei innerhalb<br />

des Sediments lebenden Seeigeln hingegen<br />

kann sehr wohl Kot ins Sediment gelangen<br />

und gefressen werden, da dieser nicht mehr<br />

ins Meer ab geführt werden kann. Eine<br />

Verlagerung des Afters an das Hinterende<br />

schützt die Tiere also davor, für sie wertlose<br />

Nahrung zu fressen. Diese Ausbildung einer<br />

Bilateralsymmetrie führt so auch zu einer<br />

Elon gation der Gehäuse (Etter 1994).<br />

Die Abflachung der Coronen stellt eine<br />

Anpassung an neue Fortbewegungsstrategien<br />

dar. Im Weichsubstrat ist eine Fortbewegung<br />

mit Saugfüßchen nicht mehr<br />

möglich, Irregulares bewegen sich mithilfe<br />

ihrer umgebauten Stacheln fort. Um eine<br />

größere Auflagefläche zu bekommen, wird<br />

die Mundseite des Gehäuses abgeflacht.<br />

Somit haben mehr Stacheln Kontakt zum<br />

Sediment und das Tier kann sich effizienter<br />

fortbewegen (Etter 1994).<br />

Bei den hier diskutierten Gemeinsamkeiten<br />

handelt es sich nicht um Konvergenz.<br />

Von Konvergenz spricht man, wenn<br />

Tiere unterschiedlicher Arten ähnliche<br />

Körperformen entwickeln, weil sie den<br />

gleichen Lebensraum besiedeln und dem<br />

gleichen ökologischen Stress ausgesetzt<br />

sind. Beispiele sind Haie und Delphine,<br />

aber auch Thunfische, Seehunde oder<br />

Ichthyosaurier, die alle eine torpedo artige<br />

Form besitzen oder besaßen. Da sich die<br />

Lebensräume von Nucleolites und Echinocardium<br />

cordatum jedoch unter scheiden,<br />

z. B. in der Zusammensetzung des Substrates,<br />

handelt es sich hier nur um<br />

Ähnlichkei ten, nicht um Konvergenz.<br />

Artbestimmung<br />

Die Diagramme in Kapitel 8.3. belegen<br />

relativ eindeutig, dass die Nucleolites-<br />

Exemplare der „Sammlung Struckmann“<br />

nur zu einer Art gehören. Nach Autoren<br />

des Natural History Museum London<br />

(www.nhm.ac.uk/research-curation/<br />

research/projects/echinoid-directory/taxa/<br />

taxon.jsp?id=574, 02.04.2010) könnte es<br />

sich dabei um Nucleolites scutatus Lamarck<br />

handeln. Diese Art war vom Bajocium bis<br />

ins Kimmeridgium in Europa verbreitet.<br />

An dere Arten sind bisher nur aus enger<br />

begrenzten Fundregionen z. B. in Großbritannien<br />

oder Frank reich bekannt. Des<br />

Weiteren hat man sie bisher nicht in den<br />

Schichten des Kimmeridgiums gefunden<br />

(www.nhm.ac.uk/research-curation/research/projects/echinoid-directory/taxa/<br />

taxon.jsp?id=574, 02.04.2010).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


148 Heiko Steinke<br />

Literatur<br />

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im Oberjura. – http://jan.ucc.nau.<br />

edu/~rcb7/150moll.jpg (02.04.2010).<br />

Boardman, Richard S.; Cheetham, Alan H.<br />

(ed.) (1987): Fossil Invertebrates. –<br />

Palo Alto.<br />

Borchardt-Ott, Walter (2002): Kristallographie.<br />

– Berlin, Heidelberg.<br />

Bromley, Richard G. (1990): Trace Fossils. Biology<br />

and Taphonomy. – London.<br />

Doerjes, Jürgen; Reineck, Hans-Erich (1977):<br />

Fauna und Fazies einer Sandplate (Mellum<br />

Bank, Nordsee). – Senkenbergiana maritima,<br />

9 (1/2): 19 – 45; Frankfurt a. M.<br />

Ernst, Gundolf (1971): Biometrische Untersuchungen<br />

über die Ontogenie und Phylogenie<br />

der Offaster/Galeola-Stammesreihe (Echin.)<br />

aus der nordwesteuropäischen Oberkreide. –<br />

Neues Jahrbuch für Geologie und Paläontologie,<br />

139,2: 169 – 225; Stuttgart.<br />

Etter, Walter (1994): Palökologie. Eine methodische<br />

Einführung. – Basel.<br />

Faupl, Peter (2000): Historische Geologie.<br />

Eine Einführung. – Wien.<br />

Fischer, Alfred G. (1966): Spatangoids. – In:<br />

Moore, Raymond C. (ed.): Treatise On Invertebrate<br />

Paleontology, Part U: Echinodermata<br />

3 Vol. 2, U543-U613. – The Geological<br />

Society of America and The University of<br />

Canada Press; Lawrence.<br />

Goldschmid, Alfred (1996): Echinodermata.<br />

– In: Westheide, Wilfried; Rieger, Reinhard<br />

(Hrsg.): Spezielle Zoologie. Erster Teil: Einzeller<br />

und Wirbellose Tiere. – Stuttgart.<br />

Henningsen, Dierk; Katzung, Gerhard (2006):<br />

Einführung in die Geologie Deutschlands. –<br />

München.<br />

Kaestner, Alfred (1963): Lehrbuch der Speziellen<br />

Zoologie. Teil 1: Wirbellose. 2. Halbband.<br />

– Stuttgart.<br />

Kier, Porter M. (1966): Cassiduloids. – In:<br />

Moore, Raymond C. (ed.): Treatise On Invertebrate<br />

Paleontology, Part U: Echinodermata<br />

3 Vol.2, U492-U503. – Lawrence.<br />

Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie<br />

(Hrsg.) (2007): GeoBerichte 6: Erdgeschichte<br />

von Niedersachsen. Geologie und Landschaftsentwicklung.<br />

– Hannover.<br />

Lepper, Jochen; Richter, Annette (2008): Steine<br />

an der Leine: Heimische Naturwerksteine<br />

im Stadtbild von Hannover. Exkursionsführer<br />

zur 75. Tagung der Arbeitsgemeinschaft<br />

Norddeutscher Geologen 2008. – Hannover.<br />

Rohde, Peter; Becker-Platen, Jens-Dieter (Koord.)<br />

(1998): Geologische Stadtkarte Hannover<br />

1 : 25000, Festgestein, Grundwasser,<br />

Geotechnik, mit Erläuterungen. – Niedersächsisches<br />

Landesamt für Bodenforschung;<br />

Hannover.<br />

Rothe, Peter (2006): Die Geologie Deutschlands.<br />

– Darmstadt.<br />

Schäfer, Wilhelm (1962): Aktuo-Paläontologie<br />

nach Studien in der Nordsee. –<br />

Frankfurt a. M.<br />

Schönwiese, Christian-Dietrich ( 2000):<br />

Praktische Statistik für Meteorologen und<br />

Geowissenschaftler. – Stuttgart.<br />

Struckmann, Carl E. F. (1878): Der Obere Jura<br />

der Umgegend von Hannover. Eine paläontologisch-geognostisch-statistische<br />

Darstellung.<br />

– Hannover.<br />

Westheide, Wilfried; Rieger, Reinhard (Hrsg.)<br />

(1996): Spezielle Zoologie. Erster Teil: Einzeller<br />

und Wirbellose Tiere. – Stuttgart.<br />

Ziegler, Bernhard (1986): Einführung in die<br />

Paläobiologie Teil 1. Allgemeine Paläontologie.<br />

– Stuttgart.<br />

Ziegler, Bernhard (1998): Einführung in die<br />

Paläobiologie Teil 3. Spezielle Paläontologie.<br />

Würmer, Arthropoden, Lophophoraten,<br />

Echinodermen. – Stuttgart.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

149<br />

Danksagung<br />

Ich danke meinem Erstprüfer Herrn<br />

Prof. Dr. Manfred Krautter für seine Bereitschaft,<br />

diese Arbeit zu betreuen und für<br />

seinen großartigen Einsatz dafür. Meiner<br />

Zweitprüferin Frau Dr. Annette Richter<br />

danke ich für die bestmögliche Betreuung,<br />

die Motivation und natürlich das Untersuchungs<br />

material. Frau Dipl.-Geol. Annina<br />

Böhme danke ich dafür, mich auf die richtige<br />

Spur ge bracht zu ha ben und Frau Marijke<br />

Taverne und Herrn Eike F. Rades für<br />

die Möglichkeit, ihre Arbei ten einsehen<br />

zu dürfen. Meiner Freundin Anja Weise<br />

danke ich für ihr Verständnis und die Hilfe<br />

in allen Zweifelsfragen, die deutsche<br />

Grammatik betreffend. Wei terhin möchte<br />

ich meinen Eltern Gonda und Günter<br />

Steinke für ihre Hilfe in allen Lebenslagen<br />

dan ken, ohne sie wären weder mein Studium<br />

noch diese Arbeit möglich gewesen.<br />

Arbeit eingereicht: 04.2010<br />

Arbeit angenommen: 08.07.2010<br />

Anschrift des Autors:<br />

Heiko Steinke<br />

Emmernstraße 8<br />

31785 Hameln<br />

Glossar<br />

Aboral Vom Mund weggelegen. Bei den regulären<br />

Seeigeln die der Mundseite (unten)<br />

gegenüberliegende Körperseite (oben).<br />

Aktuopaläontologie Disziplin innerhalb der<br />

Paläontologie, in der Lebensweise, Lebensraum<br />

und vor allem taphonomische<br />

Prozesse der heutigen Organismen und<br />

ihrer anorganischen Umgebung studiert<br />

werden. Da physikalische und biologischökologische<br />

Prozesse heutzutage denen<br />

der Vergangenheit gleichen, lassen sich aus<br />

aktuopaläontologischen Vergleichen Rückschlüsse<br />

auf die Erhaltung fossiler Arten<br />

ziehen.<br />

Allometrie/Allometrieverhalten Entwicklung<br />

der Körperproportionen und/oder<br />

–funktionen (z. B. Stoffwechsel) während<br />

des Wachstums. Wachstum der Gliedmaßen<br />

oder Organe im Verhältnis zum Rest<br />

des Körpers bzw. zueinander. Bei positiver<br />

Allometrie wächst ein bestimmter Körperteil<br />

im Verhältnis schneller als der Rest des<br />

Körpers, bei negativer Allometrie ist das<br />

Gegenteil der Fall. Wachsen alle Körperteile<br />

immer im selben Verhältnis zueinander,<br />

spricht man von Isometrie.<br />

Apikalfeld Im oben gelegenen Scheitelpunkt<br />

des Seeigelgehäuses liegende Konstruktion<br />

aus der Madreporenplatte, den<br />

Genitalplatten und den Ocellarplatten.<br />

Die Anordnung dieser Skelettplatten kann<br />

von Experten zur Art- oder Gattungsbestimmung<br />

benutzt werden.<br />

Bajocium Chronostratigraphisch (Chronostratigraphie)<br />

zweite Stufe des Mitteljura<br />

(Jura); umfasst ca. 4 Mio. Jahre: von etwa<br />

171,6 Mio. bis 167,7 Mio. Jahre vor heute.<br />

Bourrelet(s) Ausbuchtungen der Skelettplatten<br />

der Interambulakralfelder direkt an<br />

der Mundöffnung. Hier sitzen Stacheln,<br />

die die Mundöffnung bedecken und schützen.<br />

Campan (Campanium) chronostratigraphisch<br />

vorletzte Stufe der Oberkreide<br />

(Kreide); umfasst ca. 13 Mio. Jahre: von<br />

etwa 83,5 bis 70,6 Mio. Jahren vor heute.<br />

Chronostratigraphie Zeitliche Einordnung<br />

von Gesteinseinheiten.<br />

Clavula/ae Kleine wimpernbesetzte Stacheln,<br />

die Fasciolen bilden. Diese Wimpern<br />

erzeugen Wasserströme, die über das<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


150 Heiko Steinke<br />

Seeigelgehäuse fließen, damit wird z. B.<br />

Frischwasser über die Atmungsorgane gespült.<br />

Elsterzeit/Elstereiszeit Nach ihrer weitesten<br />

Verbreitung bis zum Fluss Weiße Elster<br />

(Nebenfluss der Saale bei Halle) benannte<br />

Kaltzeit, die auf einen Zeitraum von etwa<br />

400.000 bis 320.000 Jahren vor heute datiert<br />

wird.<br />

Fasciole(n) Feine Bänder auf dem Gehäuse<br />

der Herzseeigel, die mit besonderen,<br />

wimperntragenden Stacheln (Clavulae)<br />

besetzt sind. Sie sind meist im Bereich der<br />

Atmungsorgane (Internfasciole) oder des<br />

Afters (Subanalfasciole) angelegt.<br />

Floscelle Trichterförmige Einbuchtung um<br />

die Mundöffnung bei Seeigeln der Ordnung<br />

Cassiduloida.<br />

Genitalplatte(n) Die in den fünf Interambulakralzonen<br />

des Apikalfeldes liegenden<br />

Gehäuseplatten, die die Öffnungen (Gonoporen)<br />

der Geschlechtsorgane tragen.<br />

Internfasciole(n) Fasciolen innerhalb der<br />

Petalodien.<br />

Jura Der Jura bildet ein chronostratigraphisches<br />

System der Erdgeschichte und umfasst<br />

eine Spanne von etwa 58 Mio. Jahren:<br />

von ca. 200 Mio. bis 142 Mio. Jahren vor<br />

heute. Es ist die mittlere Periode innerhalb<br />

des Mesozoikums (Erdmittelalter)<br />

und wird in Unter-, Mittel- und Oberjura<br />

unterteilt, in Deutschland meist in Lias<br />

(Schwarzer Jura), Dogger (Brauner Jura)<br />

und Malm (Weißer Jura).<br />

Kambrium/Unterkambrium Unterstes<br />

chronostratigraphisches System des Paläozoikum<br />

(Erdaltertum). Es umfasst eine<br />

Spanne von etwa 54 Mio. Jahren: von ca.<br />

542 Mio. bis 488 Mio. Jahren vor heute.<br />

Im Fossilbericht des Kambrium erscheinen<br />

bereits fast alle heute noch existierenden<br />

Tierstämme.<br />

Känozoikum Erdneuzeit. Sie begann vor<br />

etwa 65,5 Mio. Jahren mit dem Ende der<br />

Kreidezeit und dauert bis heute an. Das<br />

Känozoikum ist unterteilt in die Systeme<br />

Paläogen, Neogen und Quartär.<br />

Keuper Oberste lithostratigraphische<br />

(Lithostratigraphie) Einheit der Germanischen<br />

Trias (Trias), umfasst eine<br />

Spanne von etwa 34 Mio. Jahren: von ca.<br />

235 Mio. bis 201 Mio. Jahren vor heute. Es<br />

handelt sich beim Keuper um kein chronostratigraphisches<br />

Zeitintervall im geologischen<br />

Sinne, da die zeitlichen Grenzen regional<br />

unterschiedlich sein können. Zudem<br />

ist er auf das Gebiet nördlich der Alpen<br />

beschränkt.<br />

Kimmeridgium Chronostratigraphisch<br />

mittlere Stufe des Oberjura. Sie umfasst<br />

eine Zeitspanne von ca. 5 Mio. Jahren: von<br />

etwa 155 Mio. bis 150 Mio. Jahren vor<br />

heute.<br />

Kreidezeit Nach einem ihrer Erscheinungsbilder<br />

meist als „Kreide“ bezeichnet. Sie<br />

stellt das jüngste chronostratigraphische<br />

System des Mesozoikums (Erdmittelalter)<br />

dar und umfasst eine Zeitspanne von ca. 80<br />

Mio. Jahren: von etwa 145 Mio. bis 65 Mio.<br />

Jahren vor heute. Sie wird in Ober- und<br />

Unterkreide unterteilt.<br />

Labrum Bei den Herzseeigeln eine Gehäuseplatte<br />

direkt unterhalb der Mundöffnung.<br />

Diese ist oft „unterlippenartig“ vorgewölbt<br />

und dient dem Abschaben des Sediments<br />

zur Nahrungsaufnahme.<br />

Lithostratigraphie Einteilung von Gesteinspaketen<br />

aufgrund ihrer lithologischen (gr.<br />

lithos = Stein) Eigenschaften. Sie bietet<br />

keine zeitliche Einordnung.<br />

Madreporenplatte/Siebplatte Eine der<br />

Genitalplatten trägt neben der Gonopore<br />

auch noch ein Porensystem, das dem<br />

Druckausgleich des Ambulakralsystems<br />

dient.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

151<br />

Oberrotliegendes Eine lithostratigraphische<br />

Einheit des Perm in Westeuropa. Zeitlich<br />

umfasst es eine Spanne von etwa 39<br />

Mio. Jahren: von ca. 299 Mio. bis 260 Mio.<br />

Jahren vor heute. Der Name leitet sich von<br />

den rötlich gefärbten Sandsteinen ab.<br />

Ocellarplatte(n) Die fünf in den Ambulakralzonen<br />

des Apikalfeldes liegenden Gehäuseplatten.<br />

Oligozän Jüngste chronostratigraphische<br />

Serie im Paläogen, dem untersten System<br />

im Känozoikum. Es umfasst eine Zeitspanne<br />

von ca. 11 Mio. Jahren: von etwa 34<br />

Mio. bis 23 Mio. Jahren vor heute.<br />

Pedicellarium/Pedicellarien Mehrbackige<br />

Zangenapparate, die der Verteidigung, aber<br />

auch der Reinigung des Gehäuses dienen.<br />

Periprokt Afteröffnung und die direkte<br />

Umgebung davon.<br />

Perm Jüngstes chronostratigraphisches System<br />

des Paläozoikums (Erdaltertum). Es<br />

umfasst eine Zeitspanne von ca. 48 Mio.<br />

Jahren: von etwa 299 Mio. bis 251 Mio.<br />

Jahren vor heute. Es wird in Deutschland<br />

lithostratigraphisch in Rotliegendes und<br />

Zechstein unterteilt.<br />

Petalodium/Petalodien Blütenblattartig<br />

ausgebildete Ambulakralfelder auf der<br />

Aboralseite vieler irregulärer Seeigel. Hier<br />

sitzen in der Regel die Kiemenfüßchen, die<br />

der Atmung dienen.<br />

Phyllodium/Phyllodien Bei den Cassiduloida<br />

besonders angepasste Ambulakralfelder<br />

im Bereich der Floscelle mit auf Nahrungsaufnahme<br />

spezialisierten Ambulakralfüßchen.<br />

Plastron (franz. Hemdbrust oder Harnisch)<br />

Bei Seeigeln der Überordnung<br />

Atelostomata die Interambulakralplatten<br />

hinter der Mundöffnung inklusive des Labrums.<br />

Quartär Jüngstes chronostratigraphisches<br />

System des Känozoikums, dauert zurzeit<br />

noch an. Der Beginn wird mit etwa 2,6<br />

Mio. Jahren vor heute angegeben.<br />

Saalezeit/Saale-Eiszeit Nach ihrer weitesten<br />

Verbreitung bis zum Fluss Saale<br />

benannte Kaltzeit, die auf einen Zeitraum<br />

von etwa 300.000 bis 130.000 Jahren vor<br />

heute datiert wird.<br />

Stereom Aus kleinen Kalkbälkchen oder<br />

Kalkplättchen aufgebautes poröses Skelett,<br />

aus dem die Gehäuseplatten der Stachelhäuter<br />

bestehen.<br />

Subanalfasciole(n) Fasciole, die sich unterhalb<br />

der Analöffnung befindet.<br />

Tithon/Obertithon Die letzte chronostratigraphische<br />

Stufe des Oberjura. Sie umfasst<br />

einen Zeitraum von etwa 5 Mio. Jahren:<br />

von ca. 150 Mio. bis 145 Mio. Jahren vor<br />

heute.<br />

Trias Ältestes chronostratigraphisches<br />

System im Mesozoikum (Erdmittelalter).<br />

Es umfasst einen Zeitraum von etwa 51<br />

Mio. Jahren: von ca. 251 Mio. bis 200 Mio.<br />

Jahren vor heute. Benannt wurde sie nach<br />

der in Mitteleuropa üblichen lithostratigraphischen<br />

Dreiteilung in Buntsandstein,<br />

Muschelkalk und Keuper. Diese Dreiteilung<br />

wird auch als „Germanische Trias“ bezeichnet.<br />

Die im alpinen und mediterranen<br />

Raum ausgeprägte alpine Trias weist diese<br />

Unterteilung nicht auf.<br />

Zechstein Lithostratigraphische Einheit<br />

des Perm in Mitteleuropa. Sie umfasst<br />

eine Zeitspanne von etwa 6 Mio. Jahren:<br />

von ca. 257 Mio. bis 251 Mio. Jahren<br />

vor heute. Der Name kommt vermutlich<br />

aus der Bergmannssprache und leitet<br />

sich möglicherweise von den „Zechen“,<br />

also Bergwerksgebäuden, ab. Während des<br />

Zechsteins wurden in Deutschland große<br />

Salzlagerstätten gebildet.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


<strong>152</strong><br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


153<br />

Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem<br />

oberen Jura Hannovers<br />

Schädelelemente und Osteoderme der „Sammlung Struckmann“<br />

Marijke Taverne<br />

Einleitung<br />

Diese Arbeit beinhaltet die Untersuchung<br />

verschiedener historischer Fundstücke,<br />

die aus der geowissenschaftlichen<br />

Sammlung des Niedersächsischen Landesmuseums<br />

Hannover (NLMH) stammen.<br />

Da diese Stücke bisher noch nicht<br />

ausführlich beschrieben oder weitergehend<br />

bearbeitet wurden, ist eine genaue Untersuchung<br />

vorgenommen worden. Die Fossilien<br />

wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts<br />

in der Umgebung von Hannover<br />

entdeckt und von Karl Eberhard Friedrich<br />

Struckmann gesammelt und der Meereskrokodilgattung<br />

Steneosaurus aus dem<br />

Oberen Jura zugeordnet.<br />

Die Bearbeitung der Stücke setzt sich<br />

aus einer genauen makroskopischen Untersuchung,<br />

Zeichnungen von Kieferbruchstücken<br />

und Osteodermen, Vergleichen<br />

mit Stücken aus der Sammlung<br />

des Geowissenschaftlichen Zentrums der<br />

Universität Göttingen (GZG) sowie einer<br />

Röntgenaufnahme eines der Kieferbruchstücke<br />

zusammen.<br />

Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zur<br />

genauen Dokumentation der umfangreichen<br />

Sammlung zu leisten und die Zuordnung<br />

der Stücke zur Gattung Steneosaurus<br />

zu überprüfen.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


154 Marijke Taverne<br />

Material und Methoden<br />

Material<br />

Alle untersuchten Stücke stammen aus<br />

der historischen „Sammlung Struckmann“,<br />

des Niedersächsischen Landesmuseums<br />

Hannover. Die untersuchten Stücke haben<br />

die Inventarnummern NLMH 16646,<br />

NLMH 101388, NLMH 16710 und<br />

NLMH 16645.<br />

Sowohl in seiner Freizeit als auch während<br />

seiner Dienstreisen sammelte Amtsrat<br />

Karl Eberhard Friedrich Struckmann<br />

(*1833, †1898), der ein aktives Mitglied<br />

der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

(NGH) war und verschiedene geologische<br />

Arbeiten verfasste, eine beachtliche<br />

Anzahl von Objekten aus der Umgebung<br />

von Hannover (Ude 1900, Putzer 1988). In<br />

dieser Sammlung befinden sich neben Resten<br />

mariner und terrestrischer Wirbeltiere<br />

wie Krokodile, Schildkröten und Theropoden<br />

auch zahlreiche Funde von wirbellosen<br />

Tieren wie Echinodermaten, Gastropoden<br />

und Bivalvier.<br />

Das bearbeitete Material stammt von<br />

Meereskrokodilen der Gattung Steneosaurus<br />

aus den Schichten des Oberen Jura<br />

(Kimmeridgium: ~ vor 155 – 150 Mio. Jahren)<br />

und lässt sich in zwei Gruppen aufteilen:<br />

Zum einen werden zwei Bruchstücke<br />

von Unterkiefern und ein weiteres zerstörtes<br />

Kieferelement, das nur der Vollständigkeit<br />

halber fotografisch dokumentiert und<br />

aufgeführt werden soll, untersucht. Eines<br />

der Kieferbruchstücke ist in einer Zahnarztpraxis<br />

geröntgt worden. Zum anderen<br />

werden sechs von etwa 22 in der Sammlung<br />

befindlichen Osteoderme (verknöcherte<br />

Hautschilde) bearbeitet. Sie stellen<br />

eine gute, repräsentative Auswahl dar.<br />

Die Stücke aus dieser Sammlung stammen<br />

alle von Fundorten aus dem Stadtgebiet<br />

von Hannover (Tönniesberg,<br />

Mönkeberg), die heute nicht mehr zugänglich<br />

sind. Sie sind entweder komplett<br />

abgebaut und als Baustein, z. B. im Mittelalter<br />

für die Stadtmauer und den berühmten<br />

Beginenturm von Hannover verwendet,<br />

als Rohstoff für die Mörtel- und<br />

Zementherstellung u. ä. genutzt (Luppold<br />

et al. 2001) oder überbaut worden. Der<br />

Mönkeberg bildet die einzige Ausnahme.<br />

Er ist zwar noch zugänglich, es ist aber auf<br />

den kleinräumigen Arealen mit anstehendem<br />

Gestein nicht mehr erlaubt, weiterhin<br />

nach Fossilien zu suchen. Daher kommt<br />

den Sammlungsstücken eine besondere<br />

Bedeutung zu.<br />

Methoden<br />

Zur Bearbeitung der dieser Arbeit zugrunde<br />

liegenden Stücke wurden sie zuerst<br />

einer genauen makroskopischen Untersuchung<br />

unterzogen. Aufgrund dieser Beobachtungen<br />

konnten Zeichnungen von allen<br />

Stücken, z. T. auch aus unterschiedlichen<br />

Blickwinkeln, hergestellt werden. Für diese<br />

Art der Dokumentation wurden Fettstiftund<br />

Tusche-Zeichnungen auf Runzelkornpapier<br />

gewählt. Materialien für diese<br />

Zeichentechnik waren schwarze Fettstifte<br />

der Sorte All STABILO, Tusche der Marke<br />

KOH-I-NOOR und Runzelkornpapier der<br />

Marke IGEPA Bilddruck.<br />

Eines der Kieferbruchstücke mit teilgefüllten<br />

Zahnhöhlen konnte mit der Technik<br />

der digitalen Volumentomographie<br />

(DVT) in der Praxis von Dr. med. Dr. med.<br />

dent. Kai Witte in Bassum geröntgt werden.<br />

Bei dieser Technik wird das zu untersuchende<br />

Objekt mit dem Gerät einmal<br />

umfahren und mit einem auf der Röntgentechnik<br />

basierenden Strahl für etwa<br />

eine halbe Minute durchleuchtet. Während<br />

dieser Prozedur wird das Objekt wie bei<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

155<br />

einer Computertomographie Schicht für<br />

Schicht erfasst, sodass sich nach Auswertung<br />

der Daten ein dreidimensionales Bild<br />

des Objektes ergibt (www.zm-online.de/<br />

m5a.htm?/zm/2_05/pages2/zmed1.htm,<br />

17.03.2010).<br />

Ausgewertet werden die Daten mit<br />

dem Programm eXamVision. Damit besteht<br />

die Möglichkeit, die Schnittbilder<br />

des Objektes unter verschiedenen Winkeln<br />

darzustellen. Dabei kann der Kontrast<br />

verändert werden, um die jeweils<br />

interessanten Aspekte deutlicher hervorzuheben.<br />

Außerdem besteht die Möglichkeit,<br />

sich Teile des untersuchten Objektes<br />

als dreidimensionale Darstellung anzeigen<br />

zu lassen. Das erlaubt nicht nur einen Blick<br />

auf das Äußere, sondern auch auf die innere<br />

Struktur. Die dabei entstandenen Ansichten<br />

des Kiefers wurden mit Hilfe von<br />

Bildschirmfotos und dem Bildbearbeitungsprogramm<br />

Irfan View weiter bearbeitet<br />

und in diese Arbeit übertragen.<br />

Das zweite Kieferbruchstück konnte<br />

vom Tomographen nicht erfasst werden.<br />

Ob dies am Durchmesser des Stückes oder<br />

aber am Grad der Umkristallisation lag,<br />

konnte im Vorfeld dieser Arbeit nicht abschließend<br />

geklärt werden und bedarf einer<br />

vertieften zukünftigen Bearbeitung.<br />

Geologie Hannovers<br />

Hannover liegt innerhalb des Norddeutschen<br />

Flachlandes. Dieses nimmt das gesamte<br />

norddeutsche Gebiet ein und wird<br />

nach Süden in etwa begrenzt durch die<br />

Linie Rheine-Hannover-Braunschweig-<br />

Magdeburg-Köthen-Leipzig-Riesa-Görlitz<br />

(Henningsen & Katzung 2006). Dieses<br />

Gebiet bildet heute eine Senke, die durch<br />

den Einfluss der Kaltzeiten eiszeitliche<br />

Strukturen wie Moränen – Ablagerungen<br />

des von Gletschern transportierten Materials<br />

– enthält. Generell aber ist das Gebiet<br />

dadurch gekennzeichnet, dass keine großen<br />

Reliefunterschiede vorhanden sind.<br />

Das liegt daran, dass das Norddeutsche<br />

Flachland von einer mächtigen Schicht<br />

aus quartären Lockersedimenten bedeckt<br />

ist (Henningsen & Katzung 2006). Diese<br />

eiszeitlichen Lockersedimente umfassen<br />

ein breites Spektrum und reichen von Silt<br />

(vor allem durch Winde transportiert) über<br />

diverse Sande, Kies (z. B. Weserkiese) bis<br />

zu Findlingen (durch Gletscher transportiert).<br />

Diese Bedeckung wird an den Stellen<br />

durchbrochen, an denen ältere Schichten<br />

beispielsweise durch Halokinese an die<br />

Oberfläche gelangen. Dies ist in Hannover<br />

der Fall. Durch Salzkissen, die aufgrund<br />

ihrer geringeren Dichte im Vergleich zum<br />

umgebenden Gestein nach oben steigen,<br />

wurden ältere Schichten relativ zu ihrer<br />

eigentlichen Tieflage im Sedimentkörper<br />

in Richtung Oberfläche gedrückt und so<br />

zugänglich gemacht. Südlich der Fundstellen<br />

steigt ein permisches Salzkissen<br />

(Zechstein: ~ vor 257 – 251 Mio. Jahren),<br />

der „Salzstock Benthe“, nach oben, sodass<br />

Schichten aus dem Jura sowie der Trias<br />

(~ vor 251 – 200 Mio. Jahren) und der<br />

Kreide (~ vor 145 – 65 Mio. Jahren) an die<br />

Oberfläche gelangen konnten (Abb. 1).<br />

Die jurassischen Schichten bestehen aus<br />

marinen, im Oberen Jura (Malm: ~ vor<br />

161 – 145 Mio. Jahren) aus marin-brackischen<br />

Ablagerungen und umfassen Ton,<br />

Tonmergelstein, Kalksandstein, Mergelstein,<br />

oolithischen Kalkstein, Sandstein<br />

und Dolomitstein (www.bgr.bund.de,<br />

17.03.2010).<br />

Diese Ablagerungen entstanden während<br />

des Aufbrechens der riesigen<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


156 Marijke Taverne<br />

Letter<br />

Ahlem<br />

Limmer Hannover<br />

Letter<br />

Ahlem<br />

Limmer<br />

Trias<br />

Trias, Keuper<br />

Trias, Muschelkalk<br />

Trias, Buntsandstein<br />

Jura<br />

Jura, Oberer<br />

Jura, Mittlerer<br />

Jura, Unterer<br />

Kreide, Ober-<br />

Kreide, Unter-<br />

Kreide, Unter-, Wealden<br />

Alle anderen Farben<br />

des Kartenausschnitts<br />

beschreiben<br />

Schichten aus dem<br />

Quartär und Tertiär<br />

Salzstock, Bedeckung durch marine Unterkreide oder ältere Sedimente<br />

Salzstock, Bedeckung durch jüngere Sedimente als Unterkreide<br />

Salzkissen, Perm-Salinar<br />

Abb. 1 Geologische Situation Hannovers<br />

(Kartenmaterial zusammengestellt aus www.bgr.<br />

bund.de, 17.03.2010).<br />

Landmasse „Pangaea“ in die heutigen<br />

Nordkontinente durch eine Erhöhung des<br />

Meeresspiegelstands, welche eine Überflutung<br />

des Festlandes zur Folge hatte.<br />

Bei diesem sog. Jurameer handelte es sich<br />

allerdings eher um ein flaches Randmeer<br />

(Epikontinentalmeer), das phasenweise<br />

mit der heutigen Ostsee vergleichbar ist.<br />

Steneosaurus<br />

CROCODYLOMORPHA<br />

CROCODYLIFORMES<br />

MESOEUCROCODYLIA<br />

NEOSUCHIA<br />

THALATTOSUCHIA<br />

TELEOSAURIDAE<br />

(Fortier & Schultz 2009)<br />

Synonyme nach Kuhn (1973):<br />

Steneosaurus Geoffroy 1825<br />

[Stenosaurus Wagler 1830, Streptospondylus<br />

Meyer 1830, Macrospondylus Meyer<br />

1830, Engyomasaurus Kaup & Scholl<br />

1834, Mystriosaurus Münster 1834,<br />

Leptocranius Bronn 1837, Engyommasaurus<br />

Bronn 1841, Glaphyrorhynchus Meyer<br />

1842, Engyonimasaurus Agassiz 1844,<br />

Sericodon Meyer 1845, Sericosaurus Leonhardt<br />

& Bronn 1845]<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

157<br />

Abb. 2 Rekonstruktion eines Steneosaurus<br />

(www.geologie.tu-clausthal.de/bibo/cgw5/CG5_<br />

Brauckmann4.pdf, 17.03.2010).<br />

Steneosaurus (Abb. 2) gehört neben vier<br />

weiteren Gattungen zu der Familie der<br />

marinen Teleosauriden. Diese durchweg<br />

langschnauzige Familie war stark an eine<br />

aquatische Lebensweise angepasst, beispielsweise<br />

mit einem paddelähnlichen,<br />

seitlich abgeflachten, sehr muskulösen<br />

Schwanz. Die Familie der Teleosauriden<br />

wird der Unterordnung Mesoeucrocodylia<br />

zugeordnet, die sich von den anderen drei<br />

Unterordnungen vor allem dadurch unterscheidet,<br />

wie weit die inneren Nasenöffnungen<br />

im Laufe der Evolution zum hinteren<br />

Teil des Gaumendachs gewandert<br />

sind und sich dadurch gleichzeitig der sekundäre<br />

Gaumen ausweitet. Dieses Merkmal<br />

befähigt die Krokodile dazu, auch unter<br />

Wasser ihre Beute zu verschlingen, da<br />

die Verbindung zwischen den inneren Nasenöffnungen<br />

(Choanen) und der Luftröhre<br />

(Trachea) mit einem Hautsegel aktiv<br />

verschlossen werden kann und die Atmung<br />

somit unabhängig vom Fressvorgang und<br />

von Tauchgängen ist. Die Lage der Choanen<br />

der Mesoeucrocodylier ähnelt eher<br />

der der modernen Krokodile als der von älteren<br />

Vertretern der Crocodylier, wie beispielsweise<br />

den Protosuchiern (Abb. 3).<br />

Abb. 3 Vergleich der Lage der Choanen (blau)<br />

von Orthosuchus (Obertrias: ~ vor 229 – 200 Mio.<br />

Jahren), Steneosaurus (Jura: ~ vor 200 – 145 Mio.<br />

Jahren) und Albertochampsa (Oberkreide: ~ vor<br />

100 – 65 Mio. Jahren); (Buffetaut 1979)<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


158 Marijke Taverne<br />

Fossilien von Steneosaurus sind aus der<br />

Zeit des Toarcium (~ vor 183 – 175 Mio.<br />

Jahren) bis ins Berriasium (~ vor 145 – 140<br />

Mio. Jahren) aufzufinden. Geografisch gesehen<br />

verteilen sich die Fossilien auf Südamerika,<br />

Afrika und Europa (England,<br />

Frankreich, Deutschland). Fundstellen in<br />

Deutschland sind unter anderem: Solnhofen,<br />

Hannover, Oker, Schandelah/Haverlahwiese<br />

(bei Braunschweig), Holzmaden<br />

und Dotternhausen.<br />

Das Aussehen von Steneosaurus erinnert<br />

an die heutigen Gaviale, jedoch sind sie<br />

nicht mit ihnen verwandt. Die Linie der<br />

Teleosauriden starb in der Unteren Kreide<br />

(~ vor 145 – 100 Mio. Jahren) aus. Trotzdem<br />

ist die Ähnlichkeit von Steneosaurus<br />

mit rezenten Gavialen wie Gavialis gangeticus<br />

oder dem Sunda-Gavial Tomistoma<br />

schlegelii erstaunlich. Besonders beim Vergleich<br />

der Schädel besticht die Ähnlichkeit<br />

durch die extrem lang gezogene Schnauze<br />

und die lange Verbindung (Symphyse) der<br />

beiden Unterkieferknochen (Mandibeln).<br />

Steneosaurus konnte eine Länge von ca. 5<br />

m erreichen und war rückseitig (dorsal, inklusive<br />

Schwanz) wie bauchseitig (ventral)<br />

stark gepanzert. Dieser Panzer war nicht<br />

starr, sondern die Platten waren durch eine<br />

bindegewebliche Verbindung untereinander<br />

beweglich. Da sich die Tiere durch eine<br />

Körperachsen-Bewegung, d. h. mit Hilfe<br />

der Wirbelsäule (= axial) und einer seitlichen<br />

wellenförmigen Bewegung fortbewegten,<br />

wäre ein starrer Panzer unvorteilhaft<br />

gewesen.<br />

Die vorderen Extremitäten waren nur<br />

etwa halb so lang wie die hinteren. Da Anzeichen<br />

von Schwimmhäuten als Hautschatten<br />

zwischen den vier Zehen der<br />

Hinterfüße nachgewiesen werden konnten<br />

(Ulrichs et al. 1994), wie sie auch heute<br />

noch bei den Crocodyliern vorhanden<br />

sind, liegt eine Spezialisierung an das<br />

aquatische Milieu nahe. Eine vorzugsweise<br />

marine Lebensweise ist abzüglich weniger<br />

Ausnahmen wahrscheinlich. Diese Ausnahmen<br />

werden durch einige Funde von<br />

Steneosaurus-Skeletten aus dem Posidonien-Schiefer<br />

von Holzmaden belegt. Hier<br />

wurden Skelette entdeckt, die fast spiralförmig<br />

aufgerollt waren. Da eine derartige<br />

Krümmung der Wirbelsäule eines Kadavers<br />

nur durch Mumifizierung an Land<br />

entstehen konnte, müssen die Tiere direkt<br />

nach dem Eintritt des Todes an Land gelegen<br />

haben (Ulrichs et al. 1994). Die Funde<br />

von Steneosaurus-Skeletten mit Magensteinen<br />

werden als Belege für den Aufenthalt<br />

an Land gesehen. Da sich diese Skelette in<br />

ausnahmslos sehr feinkörnigem Sediment<br />

befinden, könnten die Tiere die Steine<br />

während Landgängen aufgenommen haben<br />

(Müller 1985).<br />

Ein weiteres Zeichen für eine sehr deutlich<br />

an das Wasser adaptierte Lebensweise<br />

sind die sehr kurzen vorderen Extremitäten.<br />

Mit diesen kurzen Vorderbeinen waren<br />

längere Landaufenthalte eher unwahrscheinlich.<br />

Die sehr lang gestreckte Schnauze weist<br />

an der Spitze eine kolbenartige, massiv<br />

knöcherne Verbreiterung auf.<br />

Das thekodonte Gebiss von Steneosaurus<br />

zeigt viele schlanke und relativ lange Zähne,<br />

die nicht direkt senkrecht auf den Kiefern,<br />

sondern etwas schräg aus ihnen heraus<br />

stehen (Müller 1985). Dadurch bildet<br />

die Schnauze eine Art Reuse. Die Beschaffenheit<br />

der Zähne, die nicht dazu genutzt<br />

werden konnten, um wehrhafte Beute zu<br />

reißen und die reusenartige Konstruktion<br />

der Kiefer lassen eine Spezialisierung<br />

auf eine vorwiegend fischbezogene (piscivore)<br />

Ernährung annehmen (Kuhn 1968).<br />

Auch hier lässt sich ein Vergleich zu rezenten<br />

Gavialen ziehen, welche sich ebenfalls<br />

piscivor ernähren. Die Nahrungsaufnahme<br />

geschieht dabei auf zwei Arten. Größere<br />

Fische werden mit den langen, spitzen<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

159<br />

Wirbelkörper<br />

doppelt konkav<br />

Steneosaurus<br />

Wirbelkörper<br />

konkav-konkav<br />

Albertochampsa<br />

Abb. 4 Vergleich der<br />

Wirbel von Steneosaurus<br />

aus dem Jura und Albertochampsa<br />

aus der Oberkreide<br />

(Buffetaut 1979).<br />

Zähnen aufgespießt. Danach werden sie<br />

von den Zähnen geschüttelt und verspeist.<br />

Bei kleineren Fischen kommt das reusenartige<br />

Gebiss zum Einsatz, um das Wasser<br />

aus der Schnauze herauszupressen.<br />

Neben der Lage der inneren Nasenöffnungen<br />

lassen auch die Wirbelkörper von<br />

Steneosaurus im Vergleich mit denen eines<br />

moderneren Krokodils aus der Oberen<br />

Kreide erkennen, wie sich die körperlichen<br />

Merkmale evolutionär veränderten.<br />

Sind die Wirbelkörper von Steneosaurus<br />

noch an beiden Enden konkav (amphicoel),<br />

so sind die moderneren Wirbel vorne<br />

konkav und hinten konvex (procoel)<br />

(Abb. 4).<br />

Osteoderme<br />

Der Panzer der Krokodile besteht neben<br />

den äußerlich sichtbaren Hornschuppen<br />

(Keratin) aus knöchernen Osteodermen.<br />

Diese bestehen aus den jeweiligen einzelnen<br />

Knochenplatten, die mit einer der<br />

Knochen-Morphologie folgenden Hornschicht<br />

überzogen sind. Auf den Osteodermen<br />

befinden sich unregelmäßig angeordnete<br />

Gruben. Durch diese wird eine<br />

Verbindung zum Inneren der nicht durchgängig<br />

massiven Knochenschilde hergestellt.<br />

In den Gruben als auch im Inneren<br />

der Schilde befinden sich Bindegewebe,<br />

Blutgefäße und Nerven. Diese Gewebe<br />

bilden den „lebendigen“ Teil der Osteoderme<br />

und die Basis zur Regulation der Körpertemperatur.<br />

Wird der Panzer nun durch<br />

Sonneneinstrahlung erhitzt, wird diese<br />

Wärme über die Osteoderme direkt an die<br />

in ihnen liegenden Blutgefäße übertragen,<br />

und die Wärme wird über das Blut durch<br />

den Körper gepumpt.<br />

Eine weitere wichtige Aufgabe der Panzerung<br />

besteht darin, die Tiere bei interund<br />

intraspezifischen Konflikten sowie<br />

beim recht dynamischen Paarungsakt zu<br />

schützen.<br />

Alle hier beschriebenen Osteoderme<br />

stammen vom Tönniesberg in Hannover.<br />

Das erste Stück (A, Abb. 5) ist diagenetisch<br />

am stärksten beansprucht und nicht<br />

vollständig erhalten. Zum Teil wird dieses<br />

Stück von dem noch anhaftenden, umgebenden<br />

Sediment (Matrix) zusammengehalten.<br />

Auf der Außenseite sind 21 Gruben<br />

erkennbar, die größtenteils nicht mit<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


160 Marijke Taverne<br />

Abb. 5 Osteoderm: Stück A (NLMH 16645).<br />

2,5 cm<br />

4,1 cm<br />

Abb. 6 Osteoderm: Stück B<br />

(NLMH 16645), Pfeil zeigt auf<br />

Längskiel.<br />

1,1 cm<br />

Abb. 7 Osteoderm:<br />

Stück C<br />

(NLMH 16645), Pfeil<br />

zeigt auf Längskiel.<br />

Sediment verfüllt sind. Die Innenseite<br />

weist abgesehen von den diagenetisch verursachten<br />

Schäden keine großen Reliefunterschiede<br />

auf. Nur an einer Ecke des<br />

Stücks ist zu sehen, wie sich der Knochen<br />

zum Rand hin verflacht.<br />

Auf dem zweiten Stück (B, Abb. 6) sind<br />

16 Gruben zu erkennen, in denen noch Sediment<br />

vorhanden ist. An der Unterseite<br />

dieses Stücks kann ebenfalls eine Verflachung<br />

des Materials beobachtet werden. Diese<br />

Verflachung zieht sich über zwei nebeneinander<br />

liegende Seiten. Abgesehen<br />

davon ist auch dieses Stück an der Innenseite<br />

von einer glatten Beschaffenheit. Auf<br />

dem nächsten Stück (C, Abb. 7) befinden<br />

sich 15 Gruben. Auch hier ist die Verflach<br />

ung des Materials an einer Seite zu erkennen.<br />

Stellenweise ist die Innenseite dieses<br />

Stückes etwas rau. Diese zwei Stücke<br />

weisen einen Längskiel auf, der sich nicht<br />

ganz mittig auf der Außenseite befindet.<br />

Zwölf Gruben befinden sich auf dem<br />

vierten Stück (D, Abb. 8). An der Unterseite<br />

lässt sich nur an wenigen Stellen eine<br />

feine Struktur erkennen, ansonsten ist sie<br />

von einer glatten Beschaffenheit. Beim<br />

nächsten Stück (E, Abb. 9) lassen sich die<br />

Gruben z. T. nur schwer erkennen und sind<br />

teilweise mit Sediment verfüllt. Insgesamt<br />

lassen sich elf Gruben ausmachen. Auch<br />

auf der Innenseite dieses Stücks lassen<br />

sich neben einer diagenetisch verursachten<br />

Struktur kaum weitere Reliefunterschiede<br />

ausmachen. Da ein Teil des letzten Stücks<br />

(F, Abb. 10) noch vom umgebenden Sediment<br />

(Matrix) bedeckt ist, sind nicht alle<br />

Gruben sichtbar. Neun Gruben sind dennoch<br />

zu sehen und größtenteils komplett<br />

mit Sediment verfüllt. Anders als bei den<br />

bisher beschriebenen Stücken ist die Innenseite<br />

in diesem Fall rau, größere Strukturen<br />

sind aber nicht vorhanden. Bei den<br />

Stücken D, E und F fällt jeweils eine<br />

Längsseite der Außenseite stark ab, sodass<br />

sich wieder eine Verflach ung des Knochens<br />

ergibt. Ebenso verhält es sich mit den jeweils<br />

gegenüberliegenden Längsseiten der<br />

Innenseiten dieser Stücke. Außerdem weisen<br />

diese Stücke Bruchkanten auf, sie sind<br />

also fragmentiert.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

161<br />

1,4 cm<br />

2 cm<br />

2,3 cm<br />

Abb. 8 Osteoderm: Stück D (NLMH<br />

16645), Pfeil zeigt auf Bruchkante.<br />

Abb. 9 Osteoderm:<br />

Stück E (NLMH 16645),<br />

Pfeil zeigt auf Bruchkante.<br />

Abb. 10 Osteoderm: Stück F<br />

(NLMH 16645), Pfeile zeigen auf<br />

Bruchkanten.<br />

Kiefer<br />

Unterkiefer 1<br />

Dieses Stück (Abb. 11 und 12, Fundort:<br />

Hannover/Limmer) hat eine Länge von<br />

etwa 18 cm. An der breitesten Stelle weist<br />

es ca. 5,4 cm auf, an der schmalsten Stelle<br />

ca. 4,4 cm.<br />

Das Bruchstück hat eine schmutziggraue<br />

Farbe. Im mittleren Bereich weisen<br />

die bläulich ergänzten Stellen darauf hin,<br />

dass das Stück in drei Teile zerbrochen war<br />

und geklebt wurde. Die Zahnhöhlen (Alveolen)<br />

sind mit sehr feinem, grau-weißem<br />

Sediment verfüllt.<br />

Von der Seite gesehen weist das Stück<br />

am vordersten Teil eine wellenförmige Silhouette<br />

auf.<br />

Die Alveolen liegen eher an der Außenseite<br />

als direkt auf dem Unterkiefer.<br />

Es lassen sich insgesamt 19 Alveolen<br />

ausmachen, von denen manche nur erahnt<br />

werden können oder nur noch halb vorhanden<br />

sind. Dabei befinden sich 10 davon<br />

auf der linken Seite.<br />

In den Alveolen R2, R3, R4, R5, R8 und<br />

R10 sowie L1, L5, L6, L8, L10 (Abb. 13)<br />

lassen sich makroskopisch die Spitzen,<br />

oder auch abgebrochene Reste von Zähnen<br />

ausmachen. Auf diese wird nachfolgend<br />

mit Hilfe der Röntgenaufnahmen näher<br />

eingegangen.<br />

Sowohl an der Bruchkante als auch an<br />

einigen Stellen, an denen die Oberfläche<br />

des Knochens nicht mehr erhalten ist, ist<br />

die innere Struktur des Kiefers erkennbar<br />

(Abb. 13, 14). Am vordersten Teil ist<br />

eine Einkerbung zu sehen, die z. T. mit<br />

Sediment verfüllt ist. An der Unterseite<br />

des Unterkiefers sind einige kleine Gruben<br />

vohanden.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


162 Marijke Taverne<br />

Abb. 11 Unterkiefer 1 (NLMH 16646), kleine Pfeile<br />

zeigen beispielhaft auf Alveolen, großer Pfeil<br />

zeigt in Richtung des vorderen Endes des Kiefers,<br />

Ansicht von oben.<br />

18 cm<br />

Abb. 12 Unterkiefer 1, Pfeil zeigt in Richtung des<br />

vorderen Endes des Kiefers, Ansicht von unten.<br />

18 cm<br />

Unterkiefer 2<br />

Das zweite Unterkieferbruchstück (Abb.<br />

15) stammt aus den Schichten des oberen<br />

Korallenoolith vom Mönkeberg in Hannover.<br />

Die Länge dieses Stücks beträgt<br />

29,5 cm und ist 2,3 bis 3,9 cm hoch und 2,2<br />

bis 2,6 cm breit.<br />

Dieser unvollständige rechte Unterkieferast<br />

hat eine braune Färbung. Auch dieses<br />

Stück wurde vermutlich in den 1950er<br />

Jahren an einer Stelle mit braun-grauer<br />

Klebemasse zusammengefügt. An einem<br />

Ende ist der Rest einer Beschriftung zu<br />

erkennen, die aber nicht mehr lesbar ist.<br />

Die Alveolen sowie weitere Hohlräume<br />

an der Unterseite sind mit Sediment verfüllt,<br />

das kugelförmige Ooide (konzentrische<br />

Karbonatablagerungen um einen<br />

Kern, z. B. ein Stück einer Muschelschale)<br />

und Bruchstücke von Muschelschalen und<br />

Schneckenhäusern (Bruchschill) enthält.<br />

Hier lassen sich 17 Alveolen erkennen.<br />

In einer Alveole ist ein Bruchstück eines<br />

Zahnes zu erkennen.<br />

Auch an diesem Stück ist die oberste,<br />

normalerweise feste und sehr glatte<br />

Schicht des Knochenmaterials (Substantia<br />

compacta) an einigen Stellen abgeplatzt.<br />

Der untere Teil dieses Unterkieferstücks<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

163<br />

Areale mit abgelöster oberster Schicht<br />

von Sediment verdeckte Areale<br />

von Kleber verdeckte Areale<br />

Abb. 13 Zeichnung der Dorsalseite von Unterkiefer<br />

1 mit Nummerierung der Alveolen (L = linke<br />

Seite des Kiefers, R = rechte Seite des Kiefers),<br />

Pfeil zeigt in Richtung des vorderen Endes des<br />

Kiefers.<br />

Abb. 14 Zeichnung der Ventralseite von Unterkiefer<br />

1, Pfeil zeigt in Richtung des vorderen Endes<br />

des Kiefers.<br />

Abb. 15 Unterkiefer 2 (NLMH 101388); Ansicht<br />

von dorsal, kleine Pfeile markieren beispielhaft<br />

Alveolen, großer Pfeil zeigt in Richtung des<br />

vorderen Endes des Kiefers.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


164 Marijke Taverne<br />

fehlt völlig, sodass hier die Sicht auf die<br />

innere, spongiöse Struktur des Knochens<br />

freiliegt.<br />

Kiefer 3<br />

Das zerstörte Kieferelement (Abb.<br />

16 und 17, NLMH 16710, Fundort:<br />

Mönkeberg in Hannover) ähnelt in der<br />

Beschaffenheit dem zweiten beschriebenen<br />

Stück in der Farbe, sowie auch im umgebenden<br />

Sedimentgestein, das ebenfalls aus<br />

Ooiden und Bruchschill besteht. An einem<br />

der insgesamt sieben Bruchstücke sind<br />

zwei Reste von Zähnen vorhanden. Die<br />

genaue Lage dieser Fragmente in einem<br />

Kiefer ließ sich nicht ermitteln.<br />

Abb. 16 Teilstück des zerstörten Kieferelements<br />

NLMH 16710.<br />

Abb. 17 Sechs Bruchstücke des zerstörten Kieferelements<br />

NLMH 16710.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

165<br />

Ergebnisse<br />

Osteoderme<br />

Die Lage der beschriebenen Osteoderme<br />

war im Vorfeld der Bearbeitung noch<br />

nicht eindeutig zu erkennen. Bei der Untersuchung<br />

eines artikulierten, kompaktierten<br />

Steneosaurus-Skeletts in Tonstein-<br />

Matrix der Universität Göttingen (Abb.<br />

18, Schausammlung der Universität Göttingen)<br />

konnten gekielte Osteoderme nur<br />

in der Schwanzregion ausgemacht werden.<br />

Die Beschreibung des Panzers von Teleosaurus<br />

cadomensis, einer weiteren Gattung<br />

aus der Familie der Teleosauriden (Abb.<br />

19) unterstützt diese Erkenntnis.<br />

Bei dieser dem Steneosaurus sehr ähnlichen<br />

Gattung treten Osteoderme mit einem<br />

Längskiel erst in der Schwanzregion<br />

auf. Die asymmetrische Lage der Kiele auf<br />

den Osteodermen von Teleosaurus lassen<br />

bei gleicher Orientierung der Steneosaurus-Osteoderme<br />

den Schluss zu, dass auch<br />

hier die Kielseite in Richtung des Panzerzentrums<br />

liegt.<br />

Dadurch lassen sich die Stücke der linken<br />

(sinistralen) oder rechten (dextralen)<br />

Körperseite zuordnen. Dies setzt allerdings<br />

voraus, dass an den Stücken eine vordere<br />

beziehungsweise hintere Seite lokalisiert<br />

werden kann. Das wiederum kann anhand<br />

Abb. 18 Steneosaurus-Hinterbein mit Schwanzansatz;<br />

gekielte Osteoderme (Pfeile); der großer Pfeil<br />

zeigt in Kopfrichtung des Tieres (Schausammlung<br />

Universität Göttingen).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


166 Marijke Taverne<br />

Abb. 19 Dorsalpanzer von Teleosaurus cadomensis<br />

(Kuhn 1973); gekielte Osteoderme (Pfeile).<br />

der abgeflachten Seiten der Osteoderme<br />

erkannt werden. Die Abflachungen des<br />

Materials der Stücke an einer bzw. zwei<br />

Seiten der einzelnen Osteoderme belegen<br />

ihre dachziegelartige (imbrikate) Anordnung<br />

auf dem Körper der Krokodile.<br />

Wie man am Panzer von Teleosaurus cadomensis<br />

erkennen kann, schiebt sich jeweils<br />

eine vordere Platte der Schwanzpanzerung<br />

leicht über die dahinter liegende (Abb. 19).<br />

Dieses Prinzip ist nicht nur bei den Crocodyliern,<br />

sondern beispielsweise auch sehr<br />

ausgeprägt bei fossilen und rezenten Echsen<br />

zu beobachten (Richter 1994).<br />

Wendet man dieses Prinzip bei den vorliegenden<br />

Stücken an, lassen sich die zwei<br />

gekielten Stücke (B und C) der Panzerung<br />

des Schwanzes und sogar einer Schwanzseite<br />

zuordnen. Wenn man beide Stücke so<br />

Abb. 20 Osteoderme B und C (NLMH 16645); die<br />

großen Pfeile zeigen in Richtung des vorderen Endes<br />

vom Panzer, kleine Pfeile weisen auf die Kiele<br />

orientiert, dass das abgeflachte Ende zum<br />

Schwanzende zeigt, und daher die nächste<br />

Platte darunter geschoben werden könnte,<br />

liegt bei beiden Stücken der Kiel auf<br />

der sinistralen Seite. Und da sich den Vergleichsobjekten<br />

nach zu urteilen der Kiel<br />

zum Körpermittelpunkt hin verschiebt,<br />

lassen sich beide Stücke der dextralen Seite<br />

des Schwanzes (der Caudalregion) zuordnen<br />

(Abb. 20).<br />

Eine genaue Lage der Osteoderme auf<br />

dem Schwanz ist aber mit dem vorliegenden<br />

Material schwer zu bestimmen, da beispielsweise<br />

auch bei rezenten Krokodilen<br />

die Panzerung des Schwanzes große Variationen<br />

aufweist (Abb. 21).<br />

Das mit A gekennzeichnete Stück (Abb.<br />

5, Abb. 23) lässt sich aufgrund der Form<br />

im Vergleich mit der Rekonstruktion des<br />

Panzers von Teleosaurus cadomensis (Abb.<br />

22) der Bauchpanzerung (Ventralpanzerung)<br />

zuordnen. Bei dieser Gattung scheinen<br />

die unregelmäßig geformten Platten<br />

der Ventralpanzerung passgenau fest „verfugt“<br />

zu sein.<br />

Kann man an den Osteodermen des<br />

Rückenpanzers (Dorsalpanzer) von Steneosaurus<br />

eine annähernd viereckige Form<br />

ausmachen, so weisen die Osteoderme der<br />

ventralen Panzerung überwiegend mehr als<br />

vier Ecken auf und sind unregelmäßiger<br />

geformt, polygonal (Abb. 22 und 23).<br />

Die Lage der Stücke D, E und F (Abb.<br />

8 bis 10, Abb. 24) ist schwer zu bestimmen.<br />

Diese Stücke sind nicht vollständig<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

167<br />

Abb. 21 verlauf der Kiele auf den beiden<br />

mittleren längsreihen der osteoderme innerhalb<br />

der schwanzpanzerung rezenter Krokodilier (aus<br />

trutnau 1994).<br />

a) Parallel verlaufende Kiele auf dem schwanzpanzer<br />

von Alligator mississippiensis, allen arten der<br />

Gattungen Crocodylus, Tomistoma und Gavialis.<br />

b) Zu einem unpaaren Kiel vereinigte Kiele von<br />

Melanosuchus niger und den beiden arten der<br />

Gattung Caiman.<br />

c) Kiele biegen hinter der schwanzwurzel beiderseits<br />

nach außen aus und gehen dann in den<br />

schwanzkamm über bei Alligator sinensis und<br />

Paleosuchus palpebrosus.<br />

d) Keine längskiele auf der oberseite der schwanzwurzel<br />

von Osteolaemus tetraspis.<br />

e) Zwei Paare von längskielen, die sich auf der<br />

schwanzpanzerung von Paleosuchus trigonatus<br />

hintereinander nach außen biegen und dort<br />

enden.<br />

Abb. 22 ventrale Panzerung von Teleosaurus<br />

cadomensis (Kuhn 1973).<br />

Abb. 23 osteoderm a (NlMh 16645), schraffierte<br />

flächen zeigen von sediment verdeckte areale;<br />

stück der ventralpanzerung zugeordnet.<br />

erhalten, sodass sich die tatsächliche Form<br />

nicht ausmachen lässt. Zumindest eine anteroposteriore<br />

Orientierung ist anhand der<br />

Abflachung des Materials möglich (Abb.<br />

24). Da diese Stücke jeweils Abflachungen<br />

an der Ober- und Unterseite aufweisen,<br />

lässt sich die Funktionsweise der Imbrikation<br />

gut erkennen.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


168 Marijke Taverne<br />

Abb. 24 Oberseite der Osteoderme<br />

D, E, F (NLMH 16645);<br />

schraffierte Flächen zeigen von<br />

Sediment verdeckte Areale, kleine<br />

Pfeile zeigen auf Abflachungen<br />

des Materials, großer Pfeil<br />

zeigt in Richtung des vorderen<br />

Teils des Panzers (vgl. Abb. 8<br />

bis 10).<br />

Unterkiefer<br />

Unterkiefer 1 (NLMH 16646) bildet den<br />

vordersten Teil der Dentalia und zeigt somit<br />

auch das kolbenartig verbreiterte Stück<br />

der Schnauzenspitze (vgl. Abb. 11 bis 14,<br />

25). Die Einkerbung im vordersten Teil<br />

deutet die Verbindung der beiden Unterkieferknochen<br />

an.<br />

Die Gruben an der Unterseite des Unterkiefers<br />

enthielten Nervenstränge und<br />

Blutgefäße, die gemeinsam die Hornhaut<br />

versorgten (Abb. 26). Durch diese Empfindlichkeit<br />

der Haut wird in Analogie<br />

zu Beobachtungen an rezenten Krokodilen<br />

die Information von Bewegungen im<br />

Wasser ans Gehirn weitergeleitet (www.<br />

spektrum.de/artikel/828872, 17.03.2010).<br />

Dies war und ist ein wichtiger Vorteil für<br />

die Jagd im Wasser, denn auch bei rezenten<br />

Abb. 25 rechte Hälfte des Unterkiefers eines<br />

Breitschnauzen-Kaimans, von lateral; 1: Dentalia<br />

(Starck 1979).<br />

Krokodilen spielt diese Empfindlichkeit<br />

der Haut eine große Rolle als Sinneswahrnehmung.<br />

Ökologisch vergleichbar ist diese Fähigkeit<br />

mit den Lorenzinischen Ampullen in<br />

der Kopfregion der Haie, mit denen von<br />

anderen Lebewesen ausgesendete elektrische<br />

Potentiale wahrgenommen werden<br />

können.<br />

Mit der vorhandenen Schnauzenspitze<br />

und vergleichbaren Unterkieferrekonstruktionen<br />

lässt sich eine grobe Skizze<br />

Abb. 26 Querschnitt durch einen Tastfleck in der<br />

Haut eines Krokodils. Die mit Nerven verbundenen<br />

Tastkörperchen liegen direkt unter der Stratum<br />

malpighii. Hier ist die Hornschicht unterbrochen.<br />

a: Stratum corneum aufgebaut aus abgestorbenen,<br />

verhornten Zellen (Hornschuppen Keratin),<br />

b: Stratum intermedium (Zwischenschicht),<br />

c: Stratum malpighii: veralteter Ausdruck für<br />

innerste Schicht der Haut, d: Tastkörperchen mit<br />

Nerven (verändert nach Trutnau 1994).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

169<br />

Abb. 27 Unterkieferrekonstruktion anhand der<br />

bearbeiteten Schnauzenspitze, zusammengesetzt<br />

aus der Zeichnung des untersuchten Unterkiefers 1<br />

und Skizze des abgeschätzten restlichen Unterkieferteils,<br />

von dorsal gesehen.<br />

Abb. 28 seitliche (laterale) Ansicht der Schnauzenspitze<br />

eines Steneosaurus-Schädels der Universität<br />

Göttingen (Vitrinenstück).<br />

Abb. 29 Kiefer 1; seitliche (laterale) Ansicht der<br />

sinistralen Seite (NLMH 16646), Pfeil zeigt in Richtung<br />

des vorderen Endes der Schnauze.<br />

des kompletten Unterkiefers herstellen<br />

(Abb. 27), die die lange Verbindung des<br />

rechten und linken Unterkieferastes deutlich<br />

zeigt. Aufgrund dieser Skizze lässt sich<br />

die Länge des Unterkiefers (der Mandibula)<br />

auf etwa 80 bis 100 cm abschätzen.<br />

Bei einem Vergleich mit einem komplett<br />

erhaltenen Schädel von Steneosaurus<br />

aus der Universität Göttingen zeigt sich<br />

die krokodiltypische wellenförmige Kieferrandlinie,<br />

wie sie auch bei dem bearbeiteten<br />

Material zu sehen ist (Abb. 28 und 29).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


170 Marijke Taverne<br />

Abb. 30 Zeichnung der Innenseite von<br />

Unterkiefer 2 (NLMH 101388), Pfeil zeigt in<br />

Richtung des vorderen Teils des Kiefers.<br />

Abb. 31 Zeichnung der Außenseite von Unterkiefer<br />

2 (NLMH 101388) mit markierten Alveolen und<br />

Bruchstück eines Zahns, Pfeil zeigt in Richtung des<br />

vorderen Teils des Kiefers.<br />

Unterkiefer 2 (NLMH 101388) stellt einen<br />

rechten Unterkieferast dar (Abb. 30<br />

und 31). Er war nicht Teil der rostralen<br />

Verbindung (Symphyse) der beiden Unterkieferknochen.<br />

Ausgehend von der Länge<br />

dieses Stücks (etwa 29,5 cm) lässt sich eine<br />

grobe Abschätzung der Größe des kompletten<br />

Unterkiefers machen. Aufgrund<br />

der extrem langen Symphyse der Unterkieferknochen<br />

von Steneosaurus, und der Tatsache,<br />

dass der Unterkieferast auch im hinteren<br />

Teil nicht komplett erhalten ist, muss<br />

er mindestens 70 cm lang gewesen sein.<br />

Diese Länge ergibt sich aus der Annahme,<br />

dass die Symphyse mindestens die Hälfte<br />

des Unterkiefers ausmachte, und dass zwischen<br />

dem hinteren Ende des Stücks und<br />

dem nicht mehr erhaltenen Kiefergelenk<br />

noch mindestens 10 cm Knochen ohne Alveolen<br />

vorhanden gewesen sind.<br />

DVT-Aufnahmen Kiefer 1<br />

Hier soll ein kleiner Überblick über die<br />

umfangreichen Aufnahmen der DVT gegeben<br />

werden.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

171<br />

Neben einer herkömmlichen Röntgenaufnahme<br />

des Stückes (Abb. 32), die einen<br />

groben Einblick in den Aufbau des Kiefers<br />

gibt, lässt sich durch die Betrachtung ausgewählter<br />

Schnittbilder der interne Aufbau<br />

genau untersuchen.<br />

Untersucht man den Kiefer ausgehend<br />

von der oberen Seite, lassen sich als erstes<br />

Zahnreste in den Alveolen im Inneren<br />

des Kiefers erkennen. Die Zahnreste geben<br />

dabei Aufschluss über den Aufbau der<br />

Zähne. So lassen Abbildungen ringförmiger<br />

Zahnreste beispielsweise aus den Alveolen<br />

L8 (Abb. 33) oder auch L10 (Abb.<br />

35) deutlich einen Hohlraum im Inneren<br />

des Zahns erkennen. Dieser Hohlraum<br />

enthielt die Zahnpulpa (Zahnmark), die<br />

aus einem Zahnnerv, Blut- und Lymphgefäßen<br />

und Bindegewebe besteht (Hildebrand<br />

& Goslow 2004).<br />

Geht man nun einige Schichten tiefer in<br />

den Kiefer hinein, lässt sich sehr gut erkennen,<br />

wie weit die Alveolen in den Kiefer<br />

hineinragen (Abb. 34). An der Lage und<br />

Ausrichtung der Alveolen lässt sich auch<br />

die Stellung der Zähne nachvollziehen.<br />

Die jeweiligen Alveolen der gegenüberliegenden<br />

Seiten reichen so weit in das Innere<br />

des Kiefers hinein, dass sie sich berühren<br />

(Abb. 35). Diese „fiederförmige“ Ausrichtung<br />

der Alveolen bedingt den geneigten<br />

Sitz der Zähne auf dem Kiefer und dadurch<br />

das reusenartige Aussehen des Kiefers.<br />

Die Spitze des Zahnes aus L10 lässt<br />

sich in der Ansicht aus einer Schicht, die<br />

wiederum etwas weiter in Richtung Kieferunterseite<br />

reicht, weiter in die Alveole<br />

hinein verfolgen. Hier wird sichtbar, dass<br />

der Zahn tief in der Alveole steckt. Da raus<br />

lässt sich schließen, dass die Zahnspitze zu<br />

einem gerade nachwachsenden Zahn gehörte.<br />

Abb. 32 Röntgenaufnahme von Kiefer 1 mit<br />

verstärktem Kontrast (Aufnahme Dr. med. Dr. med.<br />

dent. Kai Witte).<br />

Abb. 33 Alveolen L7, L8, R7 und R8; weiße Stellen<br />

(Pfeil) in L8 und R8 zeigen deutlich Reste von Zähnen<br />

(Aufnahme Dr. med. Dr. med. dent. Kai Witte).<br />

Abb. 34 Lage, Länge und Ausrichtung der Alveolen<br />

(Pfeile) innerhalb des Kiefers (Aufnahme Dr.<br />

med. Dr. med. dent. Kai Witte).<br />

Abb. 35 Zahn in L10 (Pfeil), Berührung der Alveolen<br />

gegenüberliegender Zähne (Aufnahme Dr. med.<br />

Dr. med. dent. Kai Witte).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


172 Marijke Taverne<br />

Paläobiogeografie<br />

Fossile Überreste von Steneosaurus wurden<br />

auf drei Kontinenten gefunden. Dabei<br />

kommen alle Funde aus Horizonten des<br />

Jura.<br />

Fundorte aus dem frühen Jura (Abb. 36)<br />

waren Argentinien, Marokko, England,<br />

Frankreich und Deutschland. Diese Gebiete<br />

waren durch den im frühen Jura stattfindenden,<br />

gleichsam global wirkenden<br />

Meeresspiegelanstieg (Transgression) von<br />

einem Epikontinentalmeer bedeckt. Viele<br />

höher gelegene Gebiete bildeten in dieser<br />

Zeit Inseln. Diese Inseln in Kombination<br />

mit den umgebenden Flachmeerzonen waren<br />

der perfekte Lebensraum für Steneosaurus.<br />

Zur Zeit des Oberen Jura (Abb. 37) hatte<br />

sich Amerika bereits deutlich von der<br />

ursprünglichen Pangäa entfernt bzw. der<br />

Atlantik begonnen, sich auszuweiten. Weite<br />

Teile des Festlandes waren noch immer<br />

von Epikontinentalmeeren bedeckt.<br />

Deutschland, die Schweiz, England,<br />

Marokko und Madagaskar sind Fundorte<br />

von Steneosaurus aus dem Oberen Jura.<br />

Ausgehend von den Fundorten kann<br />

angenommen werden, dass auch in Bezug<br />

auf den Lebensraum Ähnlichkeiten zwischen<br />

fossilen und rezenten Krokodilen<br />

vorhanden sind. Krokodile sind wechselwarm<br />

und kommen nur in Gebieten mit<br />

warmem Klima vor.<br />

Zur Zeit des Jura befanden sich die<br />

Fundorte auf Breitengraden, die ein warmes<br />

Klima aufwiesen. Diese tropischen<br />

Temperaturen werden auch durch Sedimentgesteine<br />

belegt, in denen Steneosaurus-Skelette<br />

gefunden wurden, da Oolith-Bildungen<br />

nur in tropischem Klima<br />

vorkommen, zum Beispiel auf den heutigen<br />

Bahama Banks.<br />

Auch die Verbreitung der Krokodilier<br />

über den Jura hinaus zeigt ihre Abhängigkeit<br />

vom warmen Klima. So lässt sich<br />

anhand von Funden unterschiedlicher<br />

Krokodilgattungen ihr Rückzug in Richtung<br />

Süden und damit in wärmere Gefilde<br />

nachvollziehen.<br />

Bis zum oberen Miozän (~ vor 23 – 5<br />

Mio. Jahren) zogen sich die Krokodilier<br />

bis in die heutige Toskana zurück. Dieser<br />

Trend lässt sich nicht nur in Europa, sondern<br />

beispielsweise auch an fossilen Krokodilen<br />

und Schildkröten, die in den USA<br />

gefunden wurden, nachvollziehen. Dort<br />

zogen sich die Tiere über Nebraska und<br />

Oklahoma in den Süden zurück (Kuhn<br />

1968).<br />

Diskussion<br />

Es ist möglich, das vorliegende Material<br />

nach einem Vergleich mit den anderen<br />

Gattungen der Familie der Teleosauridae –<br />

Machimosaurus, Platysuchus, Pelagosaurus,<br />

Teleosaurus – eindeutig der Gattung Steneosaurus<br />

zuzuordnen.<br />

Machimosaurus kann zuallererst definitiv<br />

ausgeschlossen werden. Dies geschieht<br />

zum einen aufgrund der Zähne von<br />

Machimosaurus. Die Zähne sind im Gegensatz<br />

zu denen von Steneosaurus kegelförmig<br />

und abgestumpft (Müller 1985) und ausgelegt<br />

auf eine Ernährung, die Tiere mit<br />

einem zu knackenden Panzer einschließt,<br />

wie beispielsweise Schildkröten (Abb. 38).<br />

Zum anderen ist die Schnauze verglichen<br />

mit der von Steneosaurus weit weniger lang<br />

gezogen (Müller 1985).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

173<br />

Abb. 36 Erde zur Zeit des Unteren Jura mit Fundorten<br />

von Steneosaurus-Resten (Scotese 2003).<br />

Abb. 37 Erde zur Zeit des Oberen Jura mit<br />

Fundorten von Steneosaurus-Resten (Scotese 2003)<br />

Fundorte von Steneosaurus.<br />

≈ Fundorte von Steneosaurus<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


174 Marijke Taverne<br />

Abb. 38 links: Zahn eines Machimosaurus (NLMH<br />

16383); rechts: Zahn eines Steneosaurus (NLMH<br />

16655); Fotos: Rades 2008.<br />

Die Gattung Platysuchus gehört ebenfalls<br />

in die Familie der Teleosauridae. Die Gestalt<br />

an sich ist zwar der von Steneosaurus<br />

sehr ähnlich, Platysuchus ist aber viel kleiner<br />

und besitzt einen kürzeren Schädel.<br />

Skelette von Platysuchus wurden bis heute<br />

nur in den Horizonten des frühen Jura<br />

(Lias: ~ vor 200 – 175 Mio. Jahren) gefunden<br />

und die hier bearbeiteten Stücke<br />

stammen aus der Zeit des späten Jura. Die<br />

heute bekannten Skelette weisen eine Größe<br />

von etwa 2,80 m auf. Stellt man dieser<br />

Größe die geschätzte Länge der den bearbeiteten<br />

Stücken zugehörigen kompletten<br />

Kiefer gegenüber (zwischen 70 cm und<br />

100 cm), lässt sich Platysuchus ebenfalls<br />

ausschließen.<br />

Des Weiteren lässt sich die Gattung<br />

Pelagosaurus ausschließen. Fossilien dieser<br />

Gattung wurden ebenfalls bis heute<br />

nur aus den Schichten des Lias geborgen<br />

(Pierce & Benton 2006). Skelette dieser<br />

Gattung erreichen eine Länge von bis zu<br />

1,75 m (Kuhn 1973). Das zeigt, dass die<br />

untersuchten Stücke wie auch beim Platysuchus<br />

zu groß sind, um von der Gattung<br />

Pelagosaurus zu stammen. Außerdem weist<br />

die Schnauze von Pelagosaurus keine kolbenartig<br />

verbreiterte Schnauze auf, wie sie<br />

bei Steneosaurus und den vorliegenden Stücken<br />

vorhanden ist.<br />

Die fünfte Gattung aus der Familie der<br />

Teleosauridae ist der namengebende Teleosaurus.<br />

Skelette von Teleosaurus sind aus<br />

den Schichten des kompletten Jura bekannt<br />

(Müller 1985). Die Schnauze von<br />

Teleosaurus ist der von Steneosaurus (verglichen<br />

mit den anderen Gattungen) am ähnlichsten.<br />

Da Teleosaurus aber nur eine Größe<br />

von bis zu 2,50 m erreichte, können die<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

175<br />

Abb. 39 Metriorhynchidae (Buffetaut 1979).<br />

bearbeiteten Stücke auch dieser Gattung<br />

nicht zugeordnet werden (Kuhn 1973).<br />

Die Kieferstücke lassen sich also nur der<br />

Gattung Steneosaurus zuordnen.<br />

Die Frage, ob Steneosaurus eine rein marine<br />

oder generell aquatische Lebensweise<br />

mit „Ausflügen“ in Delta-Bereiche aufwies,<br />

ist unter Vorbehalt zu beantworten.<br />

Der Fund von Magensteinen stellt dabei<br />

keinen Beleg für Landgänge dar. Selbst<br />

wenn die Skelette in feinkörnigem Sediment<br />

eingebettet wurden, erstreckte sich<br />

das Revier, in dem sich die Tiere aufhielten<br />

bzw. aufhalten konnten, sicher über<br />

ein großes Gebiet, welches eventuell auch<br />

Deltas und andere Flussmündungen einschloss,<br />

in denen grobes Material vorhanden<br />

war. Es kann kaum ausgeschlossen<br />

werden, dass die Steine unabhängig von<br />

Landgängen aufgenommen wurden.<br />

Ein Vergleich hierzu ist das rezente Leistenkrokodil<br />

Crocodylus porosus. Es hält sich<br />

zum Teil an Land auf, ist aber auf Grund<br />

der Fähigkeit, gut mit Salzwasser zurechtzukommen,<br />

auch in der Lage, weite Strecken<br />

über das Meer zurückzulegen.<br />

Verglichen aber mit den Metriorhynchidae<br />

(Abb. 39), einer Schwesterfamilie der<br />

Teleosauridae, erscheint Steneosaurus nicht<br />

ähnlich intensiv an ein Leben nur im Wasser<br />

angepasst.<br />

Die Metriorhynchidae waren sehr viel<br />

stärker an das aquatische Milieu angepasst.<br />

Sie waren nicht mehr gepanzert, besaßen<br />

paddelförmige Gliedmaßen und eine<br />

durch die nach unten abgeknickte Wirbelsäule<br />

entstandene Schwanzflosse, die an<br />

die Schwanzflosse von Haien, Knochenfischen<br />

und Ichthyosauriern erinnert (Buffetaut<br />

1979).<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


176 Marijke Taverne<br />

Literaturverzeichnis<br />

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mesoeucrocodylia) from the early<br />

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Vol. 52, Part 5.<br />

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Einführung in die Geologie Deutschlands. –<br />

München.<br />

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Vergleichende und funktionelle Anatomie<br />

der Wirbeltiere. – Berlin.<br />

Kuhn, Oskar (1968): Die vorzeitlichen Krokodile.<br />

– Krailing bei München.<br />

Kuhn, Oskar (1973): Handbuch der Paläoherpetologie<br />

116. – Stuttgart.<br />

Luppold, Friedrich W.; Rohde, Peter; Weiss,<br />

Wolfgang (2001): Karte der Festgesteinsverbreitung<br />

1 : 50 000 und neue Gliederung der<br />

Kreide-Schichten durch Mikrofossilien – besonders<br />

Ostrakoden – im Gebiet Hannover;<br />

Bericht der Naturhistorischen Gesellschaft<br />

Hannover, 143: 27 – 97; Hannover.<br />

Müller, Arno Hermann (1985): Lehrbuch der<br />

Paläozoologie. III Vertebraten, Teil 2, Reptilien<br />

und Vögel. – Jena.<br />

Pierce, Stephanie E.; Benton, Michael J.<br />

(2006): Pelagosaurus Typus Bronn 1841<br />

(Mesoeucrocodylia: Thalattosuchia) from<br />

the upper Lias (Toarcian, lower Jurassic) of<br />

Somerset England. – Journal of Vertebrate<br />

Paleontology 26 (3): 621 – 635; Northbrook.<br />

Putzer, Hannfrit (1988): Geologischer Schwerpunkt<br />

im Stadtgebiet von Hannover. –<br />

Bericht der Naturhistorischen Gesellschaft<br />

Hannover, 130: 141 – 149; Hannover.<br />

Rades, Eike Friedrich (2008): Meereskrokodilzähne<br />

aus dem Oberen Jura Hannovers<br />

– Bestandserfassung der „Sammlung<br />

Struckmann“ und ihre paläontologische<br />

Wertung. – <strong>Naturhistorica</strong> – Berichte der<br />

Naturhistorischen Gesellschaft Hannover,<br />

151: 29 – 45; Hannover.<br />

Richter, Annette (1994): Lacertilia aus der Unteren<br />

Kreide von Una und Galve (Spanien)<br />

und Anoual (Marokko). – Berliner Geowissenschaftliche<br />

Abhandlungen, Reihe E, Bd.<br />

14.<br />

Starck, Dietrich (1979): Vergleichende Anatomie<br />

der Wirbeltiere. – Berlin.<br />

Trutnau, Ludwig (1994): Krokodile. –<br />

Magdeburg.<br />

Ude, Hermann (1900): Rückblick auf die Geschäftsjahre<br />

1897/98 und 1898/99. – Jahresbericht<br />

der Naturhistorischen Gesellschaft<br />

zu Hannover, 48/49: 8 – 10; Hannover.<br />

Ulrichs, M.; Wild, Rupert; Ziegler, Bernhard<br />

(1994): Der Posidonien-Schiefer und seine<br />

Fossilien. – Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde,<br />

Serie C 36; Stuttgart.<br />

Danksagung<br />

Zuallererst danke ich Dr. Annette Richter<br />

dafür, dass sie sich dazu bereit erklärt<br />

hat, die Betreuung dieser Arbeit mit einer<br />

erheblichen Portion Geduld zu übernehmen.<br />

Sie hat mir damit die Chance gegeben,<br />

mich mit diesem Thema zu beschäftigen.<br />

Meinem zweiten Betreuer Prof. Dr.<br />

Helmut Willems danke ich ebenfalls für<br />

die geduldige Unterstützung bei der Fertigstellung<br />

dieser Arbeit.<br />

Beiden Betreuern danke ich dafür, dass<br />

sie mich bei allen Fragen und Schwierigkeiten<br />

gut beraten und unterstützt und<br />

mich immer wieder motiviert haben.<br />

Dr. med. Dr. med. dent. Kai Witte danke<br />

ich herzlich für die Röntgenaufnahmen<br />

der Kiefer und seinen Enthusiasmus und<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Das Meereskrokodil Steneosaurus aus dem oberen Jura Hannovers<br />

177<br />

sein Interesse an der Arbeit.<br />

Dr. Mike Reich danke ich für die Möglichkeit,<br />

in der Sammlung der Universität<br />

Göttingen nach zusätzlichem Material zu<br />

suchen.<br />

Edith Meyfarth möchte ich für die guten<br />

Tipps, Tricks und die Unterstützung<br />

beim Zeichnen danken.<br />

Dipl.-Geol. Annina Böhme danke ich<br />

für Hilfestellungen aller Art, angefangen<br />

von der Suche nach Literaturquellen bis<br />

hin zu einem gemeinsamen „Roadtrip“<br />

nach Göttingen.<br />

Außerdem danke ich Eike Friedrich<br />

Rades für die Überlassung seiner Arbeit<br />

und die Abdruckgenehmigung der<br />

Abbildungen a und b in Abbildung 38 und<br />

für alle hilfreichen Hinweise.<br />

Meiner Familie danke ich für die verständnisvolle<br />

Unterstützung.<br />

Zum Schluss danke ich Jacques Cousteau<br />

für die Erkenntnis, dass es kaum<br />

etwas Schöneres, Faszinierenderes und<br />

Wertvolleres als die Natur gibt.<br />

Arbeit eingereicht: 08.06.2010<br />

Arbeit angenommen: 02.07.2010<br />

Anschrift der Verfasserin:<br />

Marijke Taverne<br />

Ristedter Hauptstraße 2<br />

28857 Syke-Ristedt<br />

marijke.t@gmx.de<br />

Glossar<br />

Alveole Zahnfach<br />

amphicoel beidseitig konkav geformter<br />

Wirbel<br />

anteroposterior von vorne nach hinten verlaufend<br />

Bivalvia Muscheln<br />

caudal schwanzseitig<br />

Choanen innere Nasenöffnungen<br />

cranial schädelwärts<br />

Dentalia Teilstück des Unterkiefers<br />

dextral rechtsseitig<br />

Diagenese durch Druck und Temperatur<br />

voranschreitende Verfestigung von Sedimenten<br />

dorsal rückenseitig<br />

Echinodermaten Stachelhäuter<br />

Gastropoden Schnecken<br />

Halokinese Bewegung/Aufstieg von Salzkörpern<br />

imbrikat überlappend angeordnet<br />

Kimmeridgium Chronostratigraphisch<br />

mittlere Stufe des oberen Jura, vor 155–150<br />

Mio. Jahren<br />

lateral seitlich<br />

Lorenzinische Ampulle(n) Sinnesorgan(e)<br />

zur Wahrnehmung elektrischer Felder bei<br />

Haien und Rochen<br />

Mandibel(n) Kieferknochen<br />

Osteoderm(e) verknöcherte Hautschilde<br />

piscivor vorwiegend oder ausschließlich<br />

fischbezogene Ernährung<br />

Posidonienschiefer während des Jura abgelagerter<br />

Tonstein mit sehr guter Fossilerhaltung<br />

Procoel vorne konkav, hinten konvex geformter<br />

Wirbel<br />

Rostrum verknöcherter Teil der Schnauze<br />

Silt Sediment mit einem Korndurchmesser<br />

von 2 bis 63 µm<br />

sinistral linksseitig<br />

Stratum corneum Hornschicht, in der Epidermis<br />

gelegen<br />

Substantia compacta oberste Schicht der<br />

Knochen<br />

Symphyse Verbindung/Verwachsung der<br />

Unterkieferknochen<br />

thekodont Zahnverankerung der Zähne mit<br />

den Wurzeln in den Zahnfächern<br />

Theropoden Gruppe der Echsenbeckendinosaurier<br />

Toarcium chronostratigraphisch oberste<br />

Stufe des unteren Jura, vor 183 – 175 Mio.<br />

Jahren<br />

Trachea Luftröhre<br />

ventral bauchseitig<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


178<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


179<br />

Bericht über die Marokko-Exkursion der<br />

Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

24. Oktober 2009 bis 7. November 2009*<br />

Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

Einleitung<br />

Im Norden Afrikas liegt die bekannteste<br />

Wüste der Welt, die Sahara. In diesem riesenhaften<br />

Lebensraum, der nur dem oberflächlichen<br />

Betrachter tot erscheint, geht<br />

z. Z. ein Artensterben vor sich, das auch<br />

von vielen der sonst in Sachen Natur- und<br />

Artenschutz Aktiven unbemerkt bleibt.<br />

Ein Grund für dieses Unbemerktbleiben<br />

ist sicherlich darin zu sehen, dass die Sahara<br />

nicht gerade ein Ort mit besonders hoher<br />

Artenvielfalt ist.<br />

Die hier lebenden Pflanzen und Tierarten<br />

sind alle an das Leben unter den extremen<br />

Bedingungen des Wüstenklimas<br />

angepasst. Ihre Ausrottung erfolgt nicht<br />

durch Klimawandel, sondern in der Regel<br />

ganz einfach dadurch, dass der Mensch<br />

seine Aktivitäten immer weiter in Lebensräume<br />

ausdehnt, die eine Nutzung, und sei<br />

sie auch noch so gering, durch den technisch<br />

wirtschaftenden Menschen nicht<br />

vertragen.<br />

Betroffen von diesem Artensterben sind<br />

durchaus nicht nur Kleintiere und Pflanzen,<br />

sondern auch die großen Säugetierarten.<br />

So ist die Säbelantilope (Oryx dammah<br />

Cretzschmar) in den 1970er-Jahren im<br />

Freiland ausgerottet worden, und die einst<br />

im gesamten Sahararaum durchaus verbreitete<br />

Mendesantilope (Addax nasomaculatus<br />

de Blainville) steht heute unmittelbar<br />

vor ihrer Ausrottung. Lediglich in<br />

einem Nationalpark in Niger ist noch ein<br />

vitaler Bestand von ungefähr zweihundert<br />

Tieren vorhanden (Newby, J. Sahara Conservation<br />

Fund SCF mdl. Mitteilung).<br />

Bereits seit den 1970er-Jahren arbeitet<br />

der Zoo Hannover an der<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


180 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

Wiederansiedlung dieser Tierarten in den<br />

Nationalparks im Norden Afrikas. Hier<br />

besteht seit dieser Zeit eine intensive Zusammenarbeit<br />

mit den staatlichen Stellen<br />

Marokkos und Tunesiens.<br />

Da Herr Dr. Engel Mitglied der NGH<br />

ist und durch Vorträge und Gespräche<br />

über diese Aktivitäten berichtet hat, wurde<br />

der Wunsch nach einer Marokko-Exkursion<br />

mehrfach geäußert. 2009 war es<br />

dann endlich so weit. Aus terminlichen<br />

Gründen konnte zwar Herr Dr. Engel diese<br />

Reise nicht selbst durchführen, hat aber<br />

den exkursions- und organisationserfahrenen<br />

Joachim Haßfurther (Leiter der Zooschule<br />

Hannover) gebeten, diese Arbeiten<br />

zu übernehmen. Dieser willigte ein und es<br />

konnte nach sehr umfangreichen Vorbereitungen<br />

in Deutschland und Marokko am<br />

24.10.2009 endlich losgehen.<br />

* Reiseleitung: Dipl.-Biol. Joachim Haßfurther,<br />

Beratung in Deutschland:<br />

Dr. Heiner Engel, in Marokko: H. P. Müller<br />

und M. Ribi.<br />

24.10.2009: Hannover – Casablanca<br />

Die Gruppe erreichte pünktlich um<br />

23:40 Uhr Marokko am Flughafen Mohamed<br />

V. in Casablanca und wurde vom<br />

Reiseleiter des marokkanischen Reisebüros<br />

Terratour begrüßt. Nach kurzer Busfahrt<br />

wurde im Zentrum der 6-Millionen-Stadt<br />

übernachtet.<br />

25.10.2009: Casablanca – Rabat<br />

Nach einer Besichtigung der Hauptstadt<br />

Rabat mit dem Palais Royal, dessen Inneres<br />

für die Gruppe leider tabu war, der<br />

von Kalif Yaqub al-Mansur in seiner Regierungszeit<br />

begonnenen riesigen Moschee<br />

und der Medina (Altstadt), die nur zu Fuß<br />

besichtigt werden konnte, ergab sich am<br />

Nachmittag für den Reiseleiter ein nicht<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

181<br />

nachzuvollziehender Planungsfehler seitens<br />

der Marokkaner. Der Besuch des Zoos<br />

von Rabat (abgesprochen mit Kurator und<br />

Tierarzt des Zoos) scheiterte, da der alte<br />

Zoo bereits abgerissen und der neue noch<br />

im Bau war.<br />

Im Hotel konnte der Reiseleiter die Einzelheiten<br />

der Reise mit Herrn Müller (ehemaliger<br />

Mitarbeiter der GTZ in Nordafrika<br />

mit hervorragenden Verbindungen zu<br />

den Ministerien in Marokko) und Herrn<br />

Ribi vom Ministerium für Landwirtschaft,<br />

Forsten und Wüstenbekämpfung abklären.<br />

26.10.2009: Rabat – Meknes<br />

Auf der Fahrt nach Meknes, der Hauptstadt<br />

von Marokko am Ende des 17. Jahrhunderts<br />

unter Moulay Ismail, wurde die<br />

alte römische Hauptstadt Volubilis der<br />

Provinz Mauretania Tingitana besucht.<br />

42 n. Chr. wurde diese auch heute noch<br />

mit ihren Ruinen beeindruckende Stadt<br />

zum Zentrum des nordafrikanischen Handels<br />

der Römer ausgebaut. In ihrer Glanzzeit<br />

lebten hier über 10 000 Menschen, die<br />

sich jeglichen Komfort der damaligen Zeit<br />

leisten konnten. Von der Rückseite eines<br />

kleinen Restaurants war ein wunderschöner<br />

Blick auf das nächste Ziel möglich –<br />

Moulay Idriss. Diese auf einem Hügel liegende<br />

Stadt gilt als eine heilige Stätte der<br />

Moslems in Marokko.<br />

Die Königsstadt Meknes ist durch ihre<br />

Vielzahl von Stadtmauern und Toren berühmt<br />

geworden. Sie ist heute mit 700 000<br />

Einwohnern eine der größten Städte Marokkos<br />

und wurde 1996 zum Weltkulturerbe<br />

der UNESCO erklärt.<br />

27.10.2009: Meknes – Erfoud<br />

An diesem Tag führte der Weg über den<br />

Mittleren und Hohen Atlas in die östlichen<br />

Teile von Marokko nach Erfoud, mit<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


182 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

fast 400 km eine der längsten Wegstrecken<br />

der Reise. Schon kurz nach Meknes erreichten<br />

wir über eine Serpentinenstraße<br />

den Ifrane Nationalpark. Bei einem Halt in<br />

wunderschönen Atlaszedernwäldern stießen<br />

wir auf eine Gruppe Berberaffen, die<br />

sich durch Touristen nur dann stören ließen,<br />

wenn sie Essbares bei ihnen vermuteten.<br />

Der kleine Ort Ifrane auf 1 660 m<br />

üNN bot den Mitreisenden eine Überraschung.<br />

Die Häuser mit ihren spitzen Giebeln<br />

und den gepflegten Anlagen ähneln<br />

sehr denen im Harz.<br />

In der Ebene zwischen dem Mittleren<br />

und dem Hohen Atlas liegt auf 1 440 m<br />

üNN der kleine Ort Midelt in sehr aridem<br />

Gebiet.<br />

Durch die Schlucht des Ziz, an deren<br />

Anfang der Tunnel der Legionäre liegt, erreichten<br />

wir in malerischen Serpentinen<br />

den Stausee Hassan Abdhakhil. Kurz danach<br />

machten wir in der Universität Moulay<br />

Ismail von Errachidia Halt, um mit den<br />

beiden Wissenschaftlern M. Chabib (Bodenkundler)<br />

und M. Boudat (Geologe) die<br />

Termine für die beiden folgenden Tage abzustimmen.<br />

28.10.2009: Erfoud – Merzouga<br />

Bekannt ist das Gebiet um Erfoud durch<br />

seine Versteinerungen, die an vielen Stellen<br />

in Marokko zum Kauf angeboten werden.<br />

M. Boudat erläuterte die geologische<br />

Situation und direkt vor Ort die Aufschlüsse<br />

mit den deutlich sichtbaren Ammoniten<br />

und Belemniten. Bei der Gruppe<br />

trat ein gut sichtbares Sammelfieber<br />

ein, das nur durch die Einsicht gemildert<br />

wurde, dass das Fluggepäck maximal 20 kg<br />

wiegen darf. Die Menge der Petrefakten<br />

und die Ausdehnung der Fundstelle beeindruckten<br />

sehr. Trilobiten wurden allerdings<br />

an dieser Stelle nicht gefunden.<br />

Am Nachmittag brachen wir zum Zeltlager<br />

am Rande des Dünengebietes Erg<br />

Chebbi auf. Diese Dünen sind das einzige<br />

größere zusammenhängende Sandgebiet in<br />

Marokko.<br />

29.10.2009: Merzouga –<br />

Todra-Schlucht – Merzouga<br />

Mit Jeeps ging es am frühen Morgen an<br />

den Rand des Hohen Atlas in die weltberühmte<br />

Todra-Schlucht. Auf dem Weg<br />

wurde die hier seit Jahrhunderten funktionierende<br />

Toggara-Bewässerung bewundert.<br />

Die bis 40 Meter tiefen Schächte führen zu<br />

einem waagerecht in leichtem Gefälle verlaufenden<br />

Stollen, der von höhergelegenen<br />

wasserführenden Schichten zu tiefergelegenen<br />

wasserarmen Gebieten führt, z. T.<br />

über viele Dutzende von Kilometern. Eine<br />

oberirdische Wasserführung ist in Wüsten<br />

nicht zu empfehlen, da das Wasser zu<br />

schnell verdunstet. Es ist erstaunlich, dass<br />

diese Form der Wasserverteilung, die sehr<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

183<br />

arbeitsaufwendig und für die Arbeiter sehr<br />

gefährlich ist, sich bis heute erhalten hat.<br />

Nach einer mehrstündigen Fahrt entlang<br />

des Flusses Rheris und des Südhangs des<br />

Hohen Atlas erreichten wir die Stadt Tineghin<br />

am Eingang der Todra-Schlucht,<br />

die eines der wichtigen Ziele für Marokko-<br />

Reisende ist. Hier reiht sich Hotel an Hotel<br />

und zahlreiche Restaurants sind auf die<br />

vielen Touristen vorbereitet. An der engsten<br />

Stelle ist die Schlucht nur knapp 10<br />

Meter breit und wird von bis zu 300 Meter<br />

hohen Felswänden begrenzt. Die Wanderung<br />

zu Fuß ist für einige Teilnehmer<br />

sicher ein Höhepunkt der Reise gewesen.<br />

Auf der Rückfahrt machten wir nach einigem<br />

Suchen eine Pause bei einem Bauern,<br />

der in Zusammenarbeit mit der Universität<br />

Moulay Ismail von Errachidia eine<br />

neue Form der Bewässerung seiner Felder<br />

ausprobiert. Er berichtete stolz über seine<br />

Erfolge beim Anbau von verschiedenen<br />

Gemüsesorten, bei Mais und anderen<br />

Getreidearten. Alles wurde von M. Chabib<br />

ebenso stolz in Französisch übersetzt und<br />

mit Abbildungen von Gruppen ergänzt,<br />

die diese Versuchsfelder bereits besichtigt<br />

hatten. Grundlage dieser in Marokko<br />

zum ersten Mal zum Einsatz gebrachten<br />

Bewässerungsform sind Plastikschläuche,<br />

die im Halbmeterabstand über die Felder<br />

gezogen werden und alle 5 bis 10 cm<br />

durchlöchert sind. Mit genügendem Druck<br />

des Wassers in den Schläuchen kann ein<br />

Feld gleichmäßig bewässert werden, ohne<br />

dass es zu einem nennenswerten Verlust<br />

durch Verdunstung kommt. Die eingesetzte<br />

Wassermenge und der Ernteertrag wurden<br />

von den Wissenschaftlern der Universität<br />

Moulay Ismail verglichen. Sie sind<br />

sicher, dass sich die benötigte Wassermenge<br />

bei gleichbleibendem Ernteertrag mit<br />

dieser Methode um über 50 % reduzieren<br />

lässt.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


184 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

30.10.2009: Merzouga – Zagora<br />

Auf dieser Tagesfahrt war als Höhepunkt<br />

die Besichtigung eines Schutzgebietes<br />

in der Nähe des Dorfes Mcissi eingeplant.<br />

Wir wurden schon von dem jungen<br />

Forstbeamten Yussef Zaidi in seiner besten<br />

Uniform erwartet. Er ließ uns ohne Probleme<br />

in das normalerweise für Touristen<br />

gesperrte Gebiet hineinfahren. Hier findet<br />

der zweite Schritt der Auswilderung der<br />

Oryx-Antilopen statt. In der ersten Eingewöhnungsphase<br />

werden die aus europäischen<br />

Zoos überführten Antilopen in dem<br />

im Süden von Agadir gelegenen Nationalpark<br />

Sousse Massa vermehrt und auf ihre<br />

Fähigkeit überprüft, ob sie in dem semiariden<br />

Gebiet nahe der Atlantikküste überleben<br />

können. Hier in Mcissi östlich des<br />

Atlasgebirges können die Antilopen dann<br />

zeigen, dass sie auch nach mehreren Generationen<br />

in zoologischen Gärten unter<br />

extrem ariden Bedingungen im Freiland<br />

überlebensfähig sind. Erst danach wird<br />

über eine endgültige Auswilderung in die<br />

ursprünglichen Verbreitungsgebiete entschieden.<br />

Nach einer Vorstellung des Auswilderungsprogramms<br />

versuchten die Teilnehmer<br />

und M. Zaidi einige der Antilopen an<br />

der einzigen, selten genutzten Wasserstelle<br />

im Gelände zu beobachten. Dies gelang<br />

leider nur wenigen Teilnehmern, da die<br />

Tiere schon sehr scheu zu sein scheinen,<br />

was für die Veränderung des Verhaltens zugunsten<br />

ihres natürlichen Freilandverhaltens<br />

spricht. Zootiere zeigen eine erheblich<br />

geringere Fluchtdistanz, die sich z. T.<br />

bis auf wenige Meter verringert. Hier kann<br />

eine Störung durch Menschen in über 100<br />

Metern Entfernung Flucht auslösen.<br />

Auf dem Weg nach Zagora fuhren wir<br />

an den nordöstlichen Ausläufern des Anti-Atlas<br />

entlang, einem Gebirgszug, der<br />

von Geologen der afrikanischen Platte zugeordnet<br />

wird. Der Hohe Atlas und der<br />

Mittlere Atlas sind dagegen Teil der europäischen<br />

Kontinentalplatte, die sich im<br />

Tertiär vor 65 Millionen Jahren zu bilden<br />

begann. Im Vergleich dazu ist der Anti-<br />

Atlas im Präkambrium entstanden, in einer<br />

Zeitspanne von 4 Milliarden Jahren, bis zu<br />

542 Millionen Jahre vor unserer Zeit. In<br />

diesen Erdschichten sind keine deutlich<br />

sichtbaren Versteinerungen zu erwarten<br />

wie nahe Erfoud. Die vom Bus aus erkennbaren<br />

Gesteinsschichtungen sind auf viele<br />

Kilometer parallel verlaufend und kaum<br />

durch Störungen unterbrochen.<br />

Bei der weiteren Fahrt ging es an malerischen<br />

Kasbahs vorbei, die im östlichen<br />

Marokko Wehrburgen für die Berberstämme<br />

darstellten. Heute sind nur noch wenige<br />

bewohnt und dann recht gut erhalten.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

185<br />

31.10.2009: Zagora – Ouarzazate<br />

Auch Zagora war noch vor 50 Jahren<br />

ein wichtiger Ausgangspunkt für Karawanen<br />

durch die Sahara. Ein Schild am<br />

Ortsausgang wies auf die typische Route<br />

hin: „Tombouctou 52 jours“. Wir entschieden<br />

uns für die entgegengesetzte Richtung<br />

wieder entlang der Draa, dem mit 1100<br />

km längsten Fluss in Marokko, der z. T.<br />

Grenzfluss zu Algerien ist und südlich des<br />

Anti-Atlas in den Atlantik mündet. Allerdings<br />

ist er in seinem östlichen und südlichen<br />

Verlauf häufig ausgetrocknet und erreicht<br />

nur sehr selten das Meer, so dass der<br />

Name Wadi Draa (= Trockental der Draa)<br />

gerechtfertigt ist. Das Hotel „Le Berbère<br />

Palace in Quarzazate“ war überwältigend.<br />

Könige und Präsidenten haben hier<br />

übernachtet. Die ehemaligen Gästelisten<br />

lesen sich wie ein „Who is Who“ der Filmund<br />

Musikwelt. Aber das ist verständlich,<br />

da es in dieser Stadt 4 Filmstudios gibt,<br />

in denen berühmte Filme gedreht worden<br />

sind. Auf dem Hotelgelände sind viele Requisiten<br />

verteilt – der Thron von „Ramses<br />

II“, Statuen von „Asterix und Kleopatra“,<br />

Streitwagen von „Die 10 Gebote“.<br />

01.11.2009:<br />

Ouarzazate – Marrakesch<br />

Die Kasbah Tiffoultoute konnte wegen<br />

aufwendiger Renovierungsarbeiten nicht<br />

besucht werden. Als Ersatz stand die Kasbah<br />

Ait Ben Haddou auf dem Plan. Der<br />

Weg durch die bewohnte Anlage, die seit<br />

1987 als Weltkulturerbe unter dem Schutz<br />

der UNESCO steht, lässt ahnen, wie Berberfamilien<br />

über Jahrhunderte in diesem<br />

Labyrinth aus Häusern, Türmen und Getreidespeichern<br />

lebten.<br />

Die weitere Strecke nach Marrakesch<br />

führte uns zum höchsten Punkt an diesem<br />

Tag, zur Passhöhe des Tiz-n-Tichka<br />

auf 2260 m üNN. Der Jebel Tistouit rechts<br />

der Straße erreicht 3224 m üNN, der Jebel<br />

Bou Ourioul auf der linken Seite sogar<br />

3573 m üNN. Während der sehr kurvenreichen<br />

Abfahrt beginnt die Landschaft<br />

wieder grün zu werden, Terrassenbau,<br />

Obstbäume und Koniferen in Reihen zeugen<br />

von Landwirtschaft. Wir erreichen die<br />

Ebene, die letzten Ausläufer des Hohen<br />

Atlas liegen hinter uns und das geheimnisvolle<br />

Marrakesch vor uns. Nur ein sehr<br />

später nächtlicher Spaziergang über den<br />

Platz der Gehängten (= Djamaa el-Fna)<br />

mit der unbeschreiblichen Atmosphäre<br />

blieb. Aber auch dies war schon lohnenswert.<br />

Hier versteht man, dass an diesem<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


186 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

Platz die UNESCO die Geräusche, die Gerüche<br />

und die Menschen, die Gaukler, die<br />

Märchenerzähler, die Zuschauer und Zuhörer<br />

zum Weltkulturerbe erklärte.<br />

02.11.2009:<br />

Marrakesch – Taroudant<br />

Noch einmal ging es in den Hohen Atlas.<br />

Diesmal allerdings auf einer Nebenstraße<br />

nach Süden, wieder mit geländegängigen<br />

Wagen, in den Nationalpark rund<br />

um den höchsten Berg in Marokko, dem<br />

Djabal Toubkal (4165 m üNN). Da am vorigen<br />

Tag ein Treffen mit der Direktorin<br />

des Nationalparks zwecks Absprache dieses<br />

Tages nicht zustande kam, war es erst<br />

einmal schwierig, den jungen offiziellen<br />

Mitarbeiter der Parkverwaltung zu finden.<br />

Er berichtete mit Blick auf den Toubkal<br />

von den verschiedenen Schutzmaßnahmen<br />

dieser Region, von den Vegetationsstufen<br />

und den Tieren, die nur mit viel Ausdauer<br />

und Glück zu finden sind. In einem ausgedehnten<br />

Gehege ließ er eine große Gruppe<br />

von Mähnenspringern (= Mähnenschafen<br />

– Ammotragus lervia) mit Futter bis an<br />

den Zaun heranlocken. Diese Art ist in<br />

den ariden Berggebieten Nordafrikas nischenartig<br />

verbreitet. Allerdings ist der Bestand<br />

durch Bejagung erheblich gefährdet<br />

und derzeit nur in Marokko gesichert.<br />

03.11.2009: Taroudant – Agadir<br />

Am Morgen geht es mit den Jeeps weiter<br />

Richtung Agadir. Entlang der ausgebauten<br />

Straße fahren wir an intensiv landwirtschaftlich<br />

genutzten Flächen vorbei,<br />

die ersten Arganbäume stehen zu beiden<br />

Seiten. Hier sieht man Ziegen, die in den<br />

Bäumen kletternd Blätter, Knospen und<br />

sogar die Fruchthüllen der Argannüsse<br />

fressen. Diese Nüsse fallen zu Boden und<br />

werden dann gesammelt. Die Behauptung,<br />

dass diese Nüsse erst durch den Verdauungstrakt<br />

der Ziegen gelangen müssen,<br />

um genutzt zu werden, ist wohl interessant,<br />

aber falsch.<br />

Das Zustandekommen des Treffens mit<br />

Madame Oubrou, der verantwortlichen<br />

Biologin im Nationalpark Sousse Massa,<br />

war nicht ganz einfach. Durch Handykontakt<br />

erreichten wir endlich das Verwaltungsgebäude<br />

im nördlichen Bereich<br />

des 338 km² großen Parks, wo wir schon<br />

erwartet wurden. Frau Oubrou berichtete<br />

über die Situation des Schutzgebietes, das<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

187<br />

derzeit für Touristen gesperrt ist, und nur<br />

für Schüler mit ihren Lehrern oder mit<br />

einer Sondergenehmigung befahren werden<br />

darf. Die verschiedenen Antilopenarten<br />

leben in drei voneinander getrennten<br />

größeren Arealen, die wir dann mit vielen<br />

Fotostopps durchfuhren. Auch der Nordafrikanische<br />

Strauß vermehrt sich hier.<br />

Im ersten Freigehege leben die ursprünglich<br />

vor allem aus dem Zoo Hannover<br />

kommenden Mendesantilopen (= Addax),<br />

die mit den Straußen vergesellschaftet<br />

sind. In dem zweiten Gebiet konnte man<br />

Säbelantilopen (= Oryx) zusammen mit<br />

Dorcas-Gazellen auch aus der Nähe beobachten.<br />

In beiden Gebieten wird zugefüttert<br />

und die Tiere auch mit Wasser versorgt.<br />

Hier ist vor allem von Bedeutung,<br />

dass sie sich in dieser freilandnahen Situation<br />

vermehren können. Es ist der erste<br />

Schritt zur Auswilderung in der zentralen<br />

Sahara. Als wir an die Atlantikküste zum<br />

Fischerdorf Tifnite fuhren, wurde der Tag<br />

für die Ornithologen in der Gruppe zum<br />

schönsten der Reise. Sie sahen 80 Waldrappe,<br />

eine braune Ibisart, die nur hier<br />

noch im Freiland vorkommt. In den Alpen<br />

und in der Türkei sind sie ausgerottet<br />

worden und mit maximal 400 Individuen<br />

in Marokko einer der seltensten Vögel<br />

weltweit. Zoologische Gärten, speziell der<br />

Alpenzoo Innsbruck, versuchen die Population<br />

zu vergrößern, um vielleicht in den<br />

Alpen eine neue aufzubauen, erste Versuche<br />

wurden schon unternommen.<br />

Der Fluss Massa bot den Ornithologen<br />

gute Beobachtungsmöglichkeiten verschiedener<br />

Vogelarten, allerdings waren die<br />

Parkwachen gar nicht über unsere Anwesenheit<br />

erfreut, da dieser Stopp nicht angemeldet,<br />

sondern als zusätzlicher Tagespunkt<br />

kurzfristig im Programm war. Gerne<br />

wären wir näher Richtung Mündung gewandert,<br />

um die nur als Punkte auszumachenden<br />

Flamingos und weitere Limikolen<br />

zu sehen.<br />

04.11.2009: Agadir – Essaouira<br />

An diesem Tag führt der Weg mit dem<br />

Bus nördlich an der zerklüfteten Atlantikküste<br />

entlang nach Essaouira. Kurz vor<br />

Essaouira gab es dann den unvermeidlichen<br />

Stopp an einer Produktionsstätte des<br />

Argan öls. Die einheimischen Damen erklärten<br />

ausführlich und mit sichtlichem<br />

Stolz die Herstellung des weltberühmten<br />

Öls, das sowohl als Nahrungsmittel als<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


188 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

auch in der Kosmetik Anwendung findet.<br />

Am Nachmittag wurde die Hafenstadt<br />

Essaouira besichtigt. 2001 wurde der Altstadtbereich<br />

von der UNESCO in die Liste<br />

der Weltkulturgüter aufgenommen.<br />

05.11.2009: Essaouira – Casablanca<br />

Bei der Abfahrt in Richtung Casablanca<br />

bezog sich der Himmel, es wurde merklich<br />

kühler. Wieder fuhren wir mit dem Bus<br />

direkt an der Küste entlang mit mehreren<br />

Fotostopps.<br />

Im weiteren Verlauf der Fahrt konnte<br />

man die Gewinnung von Meersalz aus Lagunen<br />

sehen, die hinter den vorgelagerten<br />

Dünen in großem Umfang erfolgt. Das in<br />

die Lagune hereinströmende Meerwasser<br />

verdunstet durch die Sonneneinstrahlung<br />

und die strahlend weiße Salzkruste wird<br />

auf Förderbänder geschaufelt und zu großen<br />

Halden aufgeschichtet. Sowohl auf<br />

den Dünen, als auch im Hinterland liegen<br />

große landwirtschaftlich genutzte Flächen,<br />

die für die 6-Millionen-Stadt Casablanca<br />

die Nahrung liefern.<br />

Casablanca, die größte Stadt Marokkos,<br />

lädt nicht gerade zur Entspannung<br />

ein: übergroße Werbeschilder, nicht enden<br />

wollende Staus, McDonalds-Filialen,<br />

DHL, riesige Supermärkte und nervende<br />

Huperei.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der NaturhistorischeN Gesellschaft haNNover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

189<br />

06.11.2009: Casablanca – Frankfurt<br />

Casablanca ist nicht nur der größte Hafen<br />

Nordafrikas, sondern auch das bedeutendste<br />

Handels- und Industriezentum<br />

Marokkos. Ein Höhepunkt des Tages<br />

war der Besuch der Moschee Hassan II.,<br />

der größten Moschee im arabischen Raum<br />

nach der Moschee in Mekka. 200 Meter<br />

hoch ragt das Minarett am Strand in den<br />

Himmel, gekrönt von 3 Goldkugeln. Besonders<br />

im Morgendunst wirkt dieses beeindruckende<br />

Bauwerk manchmal unwirklich.<br />

König Hassan II. verfügte, dass dieses<br />

beeindruckende Bauwerk auch Nichtmoslems<br />

zu bestimmten Zeiten zugänglich ist.<br />

Allerdings zu ebenso beeindruckenden<br />

Preisen und in Begleitung von speziellen<br />

Führern.<br />

06.11.2009: Frankfurt – Hannover<br />

Damit endete eine Reise mit vielen Höhepunkten<br />

für die Teilnehmer. Es war<br />

nicht nur eine Exkursion, sondern durch<br />

die Vermittlung von Herrn Dr. Engel und<br />

der Hilfe von Herrn Müller und den marokkanischen<br />

Wissenschaftlern und Ministerialbeamten<br />

eine nicht alltägliche<br />

Fahrt in die Welt Maghrebiniens.<br />

Sämtliche Fotos in diesem Bericht<br />

stammen von Frank-Dieter Busch.<br />

Anschriften der Verfasser:<br />

Joachim Haßfurther<br />

Kerbelweg 19<br />

30629 Hannover<br />

E-Mail: jhassfurther@gmx.de<br />

Frank-Dieter Busch<br />

Goethestraße 43<br />

31275 Lehrte<br />

Tabelle „Vogel-Beobachtungen am Rande<br />

einer Rundreise“ auf den folgenden Seiten >><br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


190 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

Anhang Tab. 1 Marokko im Spätherbst – Vogel-Beobachtungen am Rande einer Rundreise von 4900 km, 25.10. – 06.11.2009<br />

Frank-Dieter Busch<br />

Goethestraße 43, 31275 Lehrte<br />

Mengen: x = 300 x<br />

5 Seidenreiher - Egretta garzetta am Qued Draa 1 >10 3 4 40<br />

6 Küstenreiher - Egretta gularis Flussmündung bei Essaouira 1<br />

7 Graureiher - Ardea cinerea See auf Hochfläche nach Ifrane 1 1 1 1 >5 2 3<br />

8 Löffler - Platalea leucorodia Massa-Mündung 9 1 1<br />

9 Waldrapp -Geronticus eremita Küstendünen Sousse-Massa-NP >80<br />

10 Rosaflamingo - Phoenicopterus ruber Massa-Mündung >150 1<br />

11 Brandgans - Tadorna tadorna Massa-Mündung 1<br />

12 Rostgans - Tadorna ferruginea See auf Hochfläche nach Ifrane > 70<br />

13 Stockente - Anas platyrhynchos See auf Hochfläche nach Ifrane >50 >50<br />

14 Spießente - Anas acuta Massa-Mündung 9<br />

15 Trauerente - Melanitta nigra über Meer vor Sousse-Massa-NP >30<br />

16 Fischadler - Pandion haliaetus Qued Bou Regreg, Rabat 1 1<br />

17 Gleitaar - Elanurus caeruleus bei Meknes 2 4<br />

18 Rohrweihe - Circus aeruginosus bei Meknes 1 1<br />

19 Sperber - Accipiter nisus in Sidi Kacem 1<br />

20 Adlerbussard - Buteo rufinus Hochfläche nach Ifrane 3 1 1 2 2<br />

21 Lannerfalke - Falco biarmicus Fahrt zum Erg Chebbi 1<br />

22 Turmfalke - Falco tinnunculus bei Rabat 2 2 >5 2 1 >5 1 2 2 1 >5 4<br />

23 Felsenhuhn - Alectoris barbarus im Toubkal-NP - fliegt neben Auto 1<br />

24 Blässhuhn - Fulica atra See auf Hochfläche nach Ifrane xx >20<br />

25 Stelzenläufer - Himantopus himantopus am Qued Draa 1 2 >200<br />

26 Sandregenpfeifer - Charadrius hiaticula Lagune bei Loualidia >10<br />

27 Flussregenpfeifer - C. dubius Flussmündung bei Essaouira 46<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

191<br />

17 Gleitaar - Elanurus caeruleus bei Meknes 2 4<br />

18 Rohrweihe - Circus aeruginosus bei Meknes 1 1<br />

19 Sperber - Accipiter nisus in Sidi Kacem 1<br />

20 Adlerbussard - Buteo rufinus Hochfläche nach Ifrane 3 1 1 2 2<br />

21 Lannerfalke - Falco biarmicus Fahrt zum Erg Chebbi 1<br />

22 Turmfalke - Falco tinnunculus bei Rabat 2 2 >5 2 1 >5 1 2 2 1 >5 4<br />

23 Felsenhuhn - Alectoris barbarus im Toubkal-NP - fliegt neben Auto 1<br />

24 Blässhuhn - Fulica atra See auf Hochfläche nach Ifrane xx >20<br />

25 Stelzenläufer - Himantopus himantopus am Qued Draa 1 2 >200<br />

26 Sandregenpfeifer - Charadrius hiaticula Lagune bei Loualidia >10<br />

27 Flussregenpfeifer - C. dubius Flussmündung bei Essaouira 46<br />

28 Seeregenpfeifer - C. alexandrinus Lagune bei Loualidia >15<br />

29 Kiebitzregenpfeifer - Pluvialus squatarola Felswatt bei Hassan II. Moschee, Cas. 3<br />

30 Alpenstrandläufer - Calidris alpina Flussmündung bei Essaouira 1 >80<br />

31 Sichelstrandläufer - C. ferruginea Lagune bei Loualidia 3<br />

32 Sanderling - C. alba Lagune bei Loualidia >15<br />

33 Zwergstrandläufer - C. minuta Lagune bei Loualidia >15<br />

34 Kampfläufer - Philomachus pugnax Lagune bei Loualidia 9<br />

35 Regenbrachvogel - Numenius phaeopus Felswatt bei Hassan II. Moschee, Casl. 1<br />

36 Rotschenkel - Tringa totanus Lagune bei Loualidia >50<br />

37 Grünschenkel - Tringa nebularia Flussmündung bei Essaouira 1<br />

38 Flussuferläufer - Tringa hypoleuca Flussmündung bei Essaouira 1 2<br />

39 Steinwälzer - Arenaria interpres Felswatt bei Hassan II. Moschee, Cas. 1<br />

40 Korallenmöwe - Larus audoinii Strand von Agadir 9<br />

41 Lachmöwe - Larus ridibundus am Qued Bou Regreg, Rabat 1 >40 >30<br />

42 Mittelmeermöwe - Larus michahellis Strand von Agadir xxxx xxxx xxx<br />

43 Heringsmöwe - Larus fuscus am Qued Bou Regreg, Rabat xxx xxxx xxxx xxx<br />

44 Brandseeschwalbe - Sterna sandvicensis am Qued Bou Regreg, Rabat 1 1+1<br />

45 Felsentaube - Columba livia Todra-Schlucht 20 >5<br />

46 Ringeltaube - Columba palumbus Marrakesch 30 2<br />

47 Türkentaube - Streptopelia decaocto Rabat x x xx xxx xxx xx xx xx xx xx xx xxx xxx<br />

48 Palmtaube - Streptopelia senegalensis Erfoud 1 4<br />

49 Waldkauz - Strix aluco Taroudant, Hotelgarten Palais Salam 1<br />

50 Haussegler - Apus affinis über Sidi Kacem >20 >10 1 >20 >20<br />

51 Alpensegler - Apus melba über Sidi Kacem >20<br />

52 Eisvogel - Alcedo atthis am Draa 1<br />

53 Wiedehopf - Upupa epops Erfoud 1 1<br />

54 Atlasgrünspecht - Picus vailantii im Toubkal-NP 1<br />

55 Haubenlerche - Galerida cristata bei Volubilis 2 5 x<br />

56 Theklalerche - Galerida theklae in Volubilis 3<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


192 Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

42 Mittelmeermöwe - Larus michahellis Strand von Agadir xxxx xxxx xxx<br />

43 Heringsmöwe - Larus fuscus am Qued Bou Regreg, Rabat xxx xxxx xxxx xxx<br />

44 Brandseeschwalbe - Sterna sandvicensis am Qued Bou Regreg, Rabat 1 1+1<br />

45 Felsentaube - Columba livia Todra-Schlucht 20 >5<br />

46 Ringeltaube - Columba palumbus Marrakesch 30 2<br />

47 Türkentaube - Streptopelia decaocto Rabat x x xx xxx xxx xx xx xx xx xx xx xxx xxx<br />

48 49 Palmtaube Frank-Dieter - Streptopelia Busch senegalensis Waldkauz Goethestraße - Strix 43, aluco 31275 Lehrte<br />

Erfoud Mengen: x = 10 1 >20 >20<br />

Nr. 51 Alpensegler Artnamen - (Deutsch/Latein) Apus melba über Erste Sidi Beobachtung: Kacem Ort<br />

>20<br />

52 1 Eisvogel Haubentaucher- - Alcedo Podiceps atthis cristatus See am Draa auf Hochfläche nach Ifrane 4<br />

1<br />

53 2 Basstölpel Wiedehopf - Morus Upupa bassanus epops über Erfoud Meer vor Sousse-Massa NP 1 1<br />

>15<br />

54 3 Kormoran Atlasgrünspecht - Phalacrocorax - Picus vailantii carbo Meer im Toubkal-NP vor Sousse-Massa NP 1 1 4<br />

55 4 Haubenlerche Kuhreiher - Bubulcus - Galerida ibis cristata bei Volubilis Rabat xx xxxx 2 xx 10 5 2 x 3 x 4 >300 x<br />

56 5 Theklalerche Seidenreiher - Egretta Galerida garzetta theklae in am Volubilis Qued Draa 3<br />

1 >10 3 4 40<br />

57 6 Sandlerche Küstenreiher - - Ammomanes Egretta gularis cincturus bei Flussmündung Erg Chebbi bei Essaouira 13<br />

1<br />

58 7 Steinlerche Graureiher - Ardea Ammomanes cinerea deserti See bei Erfoud auf Hochfläche nach Ifrane 1 1 2 1 4 1 >5 2 3<br />

59 8 Löffler Wüstenläuferlerche - Platalea leucorodia - Alaemon alaudipes Massa-Mündung bei Erg Chebbi 1 2+1<br />

9 1 1<br />

60 9 Waldrapp Rauchschwalbe -Geronticus - Hirundo eremita rustica Küstendünen Dorf vor Todra-Schlucht Sousse-Massa-NP 2 1 >80 >50<br />

61 10 Steinschwalbe Rosaflamingo - - Phoenicopterus Ptyonoprogne fuligula ruber Pass Massa-Mündung vor Quarzazate 5<br />

>150 1<br />

62 11 Felsenschwalbe Brandgans - Tadorna - Ptyonoprogne tadorna rupestris Schlucht Massa-Mündung zwischen Errachidia und Erfoud 2 1<br />

4<br />

63 12 Braunkehl-Uferschwalbe Rostgans - Tadorna ferruginea - Riparia paludi. Fluss See auf bei Hochfläche Essaouira nach Ifrane > 70<br />

2<br />

64 13 Wiesenpieper Stockente - Anas - Anthus platyrhynchos pratensis Lagune See auf bei Hochfläche Loualidia nach Ifrane >50 >50<br />

2<br />

65 14 Bachstelze Spießente - - Anas Motacilla acuta alba bei Massa-Mündung Volubilis 1 5 2 1 1 x >20 9 1 x<br />

65a 15 Bachstelze Trauerente - M. Melanitta a. subpersonata nigra Marrakesch, über Meer vor am Sousse-Massa-NP Hotel-Pool 1 >30 1 2<br />

66 16 Gebirgsstelze Fischadler - Pandion - Motacilla haliaetus cinerea Todra-Schlucht Qued Bou Regreg, Rabat 1 2<br />

1<br />

17 67 Gleitaar Graubülbül - Elanurus -Pycnonotus caeruleus barbatus bei Rabat, Meknes Andalusischer Garten >10 2 2 >5 >5 3 >5 >5 2 >5 >10 4<br />

18 68 Rohrweihe Rotkehlchen - Circus -Erithacus aeruginosus rubecula bei Rabat, Meknes Andalusischer Garten 1 1 1 3 1 1<br />

19 69 Sperber Schwarzkehlchen - Accipiter - nisus Saxicola torquata in bei Sidi Volubilis Kacem >10 1 2 1 2 1 2 2 1 2 2 6<br />

20 70 Adlerbussard Hausrotschwanz - Buteo - Phoenicurus rufinus ochruros Hochfläche Rabat, Andalusischer nach Ifrane Garten 2 3 1 1 2 1 2 1 2<br />

1 2<br />

21 71 Lannerfalke Diademrotschwanz - Falco - biarmicus P. moussieri Fahrt Gebirge zum vor Erg Quarzazate Chebbi 1<br />

1 4<br />

22 72 Turmfalke Saharasteinschm. - Falco tinnunculus - Oenanthe leucopyga bei vor Rabat Errachidia 2 2 >5 >20 2 1 x x >5 x 1 2 2 1 >5 4<br />

23 73 Felsenhuhn Trauersteinschmätzer - Alectoris - barbarus O. leucura im vor Toubkal-NP Errachidia - fliegt neben Auto 2 2 2 1<br />

24 74 Blässhuhn Blaumerle - Monticola Fulica atra solitarius See Mittlerer auf Hochfläche Atlas - Hochfläche nach Ifrane xx 1 3 1 1 1<br />

>20<br />

25 75 Stelzenläufer Amsel - Turdus - Himantopus merula himantopus am Rabat, Qued Andalusischer Draa Garten 4 1 1 >10 >10 >10 2 1 >200 1<br />

26 76 Sandregenpfeifer Cistensänger - Cisticola - Charadrius juncidis hiaticula Lagune bei Loualidia >10 2<br />

27 77 Flussregenpfeifer Mönchsgrasmücke - C. - Sylvia dubius atricapilla Flussmündung Gärten Ait Ben bei Haddou Essaouira 1<br />

46<br />

28 78 Seeregenpfeifer Samtkopfgrasmücke - C. alexandrinus - S. melanocephala Lagune Volubilis bei Loualidia 3 >5 >15 >5<br />

29 79 Kiebitzregenpfeifer Zilpzalp - Phylloscopus - Pluvialus collybita squatarola Felswatt Rabat, Andalusischer bei Hassan II. Garten Moschee, Cas. 1 3 3 1 3 3<br />

25.10.<br />

26.10.<br />

27.10.<br />

28.10.<br />

29.10.<br />

30.10.<br />

31.10.<br />

01.11.<br />

02.11.<br />

03.11.<br />

04.11.<br />

05.11.<br />

06.11.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


Bericht über die Marokko-Exkursion der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover<br />

193<br />

69 Schwarzkehlchen - Saxicola torquata bei Volubilis >10 2 1 2 1 2 2 1 2 2 6<br />

70 Hausrotschwanz - Phoenicurus ochruros Rabat, Andalusischer Garten 2 1 1 2 1 1 2<br />

71 Diademrotschwanz - P. moussieri Gebirge vor Quarzazate 1 4<br />

72 Saharasteinschm. - Oenanthe leucopyga vor Errachidia >5 >20 x x x<br />

73 Trauersteinschmätzer - O. leucura vor Errachidia 2 2 2 1<br />

74 Blaumerle - Monticola solitarius Mittlerer Atlas - Hochfläche 1 3 1 1 1<br />

75 Amsel - Turdus merula Rabat, Andalusischer Garten 4 1 >10 >10 >10 1 1<br />

76 Cistensänger - Cisticola juncidis Lagune bei Loualidia 2<br />

77 Mönchsgrasmücke - Sylvia atricapilla Gärten Ait Ben Haddou 1<br />

78 Samtkopfgrasmücke - S. melanocephala Volubilis 3 >5 >5<br />

79 Zilpzalp - Phylloscopus collybita Rabat, Andalusischer Garten 1 3 3 1 3<br />

80 Akaziendrossling - Turdoides fulvus Schutzgebiet Mcissi 5<br />

81 Kohlmeise - Parus major Toubkal NP 1<br />

82 Süd-Raubwürger - Lanius meridionalis Erfoud 1 2 2 >5 >10 >5<br />

83 Elster - Pica pica mauretanica nach Rabat 1 2 2 >50<br />

84 Alpenkrähe - Pyrrhocorax pyrrhocorax Col du Tichka 3 xx<br />

85 Dohle - Corvus monedula bei Moulay Idriss >150<br />

86 Kolkrabe - Corvus corax tingitanus bei Moulay Idriss 2 >10<br />

87 Wüstenrabe - Corvus ruficollis bei Erfoud 3 >5 xx<br />

88 Star - Sturnus vulgaris Marrakesch 1<br />

89 Einfarbstar - Sturnus unicolor Rabat >200 xxx xxx xx xxx xxx xxx<br />

90 Weidensperling - Passer hispaniolensis bei Essaouira 1<br />

91 Haussperling - Passer domesticus Casablanca xxx xxx xxx xx xx xxx xxx xxx xxx xxx xxx xxx xxx<br />

92 Buchfink - Fringilla coelebs im Mittleren Atlas 10 2 1<br />

93 Girlitz - Serinus serinus Tichka 3<br />

94 Erlenzeisig - Carduelis spinus Toubkal NP >10<br />

95 Stieglitz - Carduelis carduelis bei Meknes 6 2 1 10<br />

96 Grünling - Carduelis chloris Quarzazate, Hotelanlage 1 4<br />

97 Grauammer - Emberiza calandra vor Volubilis 1<br />

98 Hausammer - Emberiza striata Rabat, Royal Palace 2 2 2 2 1 3 3 >5 2 >5 2<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


194<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


195<br />

Rückblick auf den Festakt am 17.12.2009<br />

Dieter Schulz<br />

Dr. Hilde Moennig, Ronald Clark, Dr. Dieter Schulz, Martin Schmidt<br />

Ein herausragendes Ereignis am Ende<br />

des letzten Jahres (17.12.2009) war zweifellos<br />

der Festakt zur Übergabe unseres<br />

Jubiläumsbandes 150 „Der Große Garten<br />

Herrenhausen“ in der Kuppelhalle des<br />

Landesmuseums Hannover an den stellvertretenden<br />

Direktor Herrn Martin Schmidt<br />

(Landesmuseum Hannover), Herrn Prof.<br />

Dr. Axel Priebs (Erster Regionsrat der Region<br />

Hannover), Frau Dr. Hilde Moennig<br />

(Bürgermeisterin der Stadt Hannover)<br />

und Herrn Ronald Clark (Leiter der Herrenhäuser<br />

Gärten). Es war eine gelungene<br />

Veranstaltung in dem auf angenehme Weise<br />

mit Palmen, Orchideen und dezentem<br />

Weihnachtsschmuck verschönerten Ambiente<br />

der Kuppelhalle des Landesmuseums.<br />

Ein Übriges tat die musikalische Umrahmung<br />

des Abends durch die Cello Chicas,<br />

einem Cello-Quartett der Musikschule<br />

Hannover, das auch die monumentalen<br />

Figuren in der Halle in wärmeren Tönen<br />

Die Cello Chicas der Musikschule Hannover<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


196<br />

Martin Schmidt<br />

Prof. Dr. Axel Priebs<br />

Dr. Hilde Moennig<br />

Ronald Clark<br />

Prof. Dr. Joachim Knoll<br />

erscheinen ließ. Die Tontechnik war ausgezeichnet<br />

(Herr Hannes Frischat). Herr<br />

Matthias Winter führte ein Video mit Bildern<br />

aus dem Buch vor, es folgten sehr positive<br />

Grußworte von Herrn Schmidt, Frau<br />

Dr. Moennig, Herrn Prof. Dr. Priebs und<br />

Herrn Clark, der einmal ein ganz anderes<br />

Grußwort hielt, indem er anhand von<br />

Bildern die Entstehung der „neuen“ alten<br />

vergoldeten Figuren im Gartentheater des<br />

Großen Gartens prägnant und ansprechend<br />

erläuterte. Es war eine eindrucksvolle<br />

Feier, die unserem Autor Herrn Prof. Dr.<br />

Joachim Knoll gewidmet war.<br />

Der Jubiläumsband 150 ist etwas Besonderes<br />

in der Reihe <strong>Naturhistorica</strong> der<br />

NGH. Er ist nicht nur recht umfangreich,<br />

sondern berührt sehr unterschiedliche<br />

Themenkreise: Naturgeschichte, Welfengeschichte,<br />

Kunstgeschichte, Geschichte<br />

der Gartenkunst und ein bisschen Leibniz.<br />

Das ist für die NGH ungewöhnlich. Die<br />

große Resonanz nicht nur aus dem Mitgliederkreis<br />

belegt, dass der Band eine sehr<br />

gelungene Einheit darstellt.<br />

Allerdings haben die Planungen zum<br />

Wiederaufbau des Herrenhausen Schlosses<br />

dazu geführt, dass einiges in dem Beitrag<br />

schon nicht mehr aktuell ist. Der Plan<br />

des Gartens in Band 150 wird demnächst<br />

nicht mehr stimmen und für einige Aussagen<br />

im Text gilt das ebenso. Das müsste in<br />

einer eventuellen zweiten Auf lage berücksichtigt<br />

werden.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


197<br />

Die Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />

Gesellschaft zur Pflege der Naturwissenschaften · Gegründet 1797<br />

Die Naturhistorische Gesellschaft Hannover versteht sich als eine Vereinigung<br />

von Menschen jeden Alters mit besonderem Interesse an der Natur und<br />

den Naturwissenschaften.<br />

Ein kurzer Blick zurück<br />

Im Jahr 1797 gründeten 26 Bürger<br />

von Hannover eine Lesegesellschaft.<br />

Sie schafften gemeinsam kostspielige<br />

Bücher an, die den Mitgliedern dann<br />

reihum zur Verfügung standen. Daraus<br />

entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />

eine umfangreiche Bibliothek.<br />

Initiativen der NGH<br />

· Treibende Kraft für die Errichtung des<br />

„Museums für Kunst und Wissenschaft“<br />

(das heutige Künstlerhaus)<br />

· Gründungsmitglied des Niedersächsischen<br />

Landesmuseums Hannover<br />

· Gründung des Zoologischen Gartens<br />

Die NGH heute<br />

Nach über 200 Jahren verfolgt die<br />

NGH immer noch die gleichen Ziele.<br />

Sie bedient sich dabei allerdings zeitgemäßer<br />

Methoden und beschäftigt sich<br />

mit aktuellen Fragen. In Berichten,<br />

Exkursionen und Vorträgen geht es um<br />

naturwissenschaftliche Themen –<br />

unter anderem aus der<br />

Aus dieser Lesegesellschaft ging 1801<br />

die „Naturhistorische Gesellschaft in<br />

Hannover“ hervor. Sie hatte sich das Ziel<br />

gesetzt, „bei allen Bevölkerungsschichten<br />

eine genauere Kenntnis der Naturpro ducte<br />

hiesiger Lande zu befördern“.<br />

· Bau eines Schlachthofs in Hannover<br />

· Mitwirkung in einer „Commission für<br />

die allgemeine Gesundheitspflege“<br />

· Gründungsmitglied des Niedersächsischen<br />

Heimatbundes<br />

· Geologie,<br />

· Paläontologie,<br />

· Archäologie,<br />

· Botanik,<br />

· Zoologie,<br />

· Landschaftskunde und<br />

· Technik.<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


198<br />

Die jährlich erscheinende <strong>Naturhistorica</strong><br />

– Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft<br />

Hannover ist das wissenschaftliche<br />

Sprachrohr der NGH. Er befasst sich mit<br />

den verschiedensten Bereichen der Naturwissenschaften<br />

und nicht zuletzt mit dem<br />

Schutz der Umwelt. Dabei werden auch<br />

die besonderen Verhältnisse in Hannover<br />

berücksichtigt. Besonders begehrt sind die<br />

geologischen Wanderkarten.<br />

Der Natur unmittelbar begegnen kann<br />

man auf den etwa zehn pro Jahr stattfindenden<br />

Exkursionen. Vom Frühjahr bis in<br />

den Herbst führen sie zu den unterschiedlichsten<br />

Zielen und werden von Fachleuten<br />

geleitet. Dabei kommen biologische,<br />

geologische sowie techno logische Themen<br />

zur Sprache, aber auch kulturgeschichtlich<br />

interessante Stätten werden besichtigt.<br />

Die NGH möchte dazu beitragen, über<br />

die Notwendigkeit und die Ergebnisse<br />

naturwissenschaftlicher Forschung zu<br />

informieren. Dies geschieht vor allem<br />

durch Vorträge im Winterhalbjahr, denen<br />

sich spannende Diskussionen anschließen.<br />

Vorstand und Beirat<br />

Vorstand<br />

Gewählt von 03.2008 bis 03.2011<br />

1. Vorsitzender: Dr. Dieter Schulz<br />

2. Vorsitzender: Prof. Dr. Hansjörg Küster<br />

Schatzmeister: Dr. Wolfgang Irrlitz<br />

Schriftführer:<br />

Dr. Wolfgang Irrlitz (Geowissenschaften)<br />

Prof. Dr. Hansjörg Küster (Botanik)<br />

Dr. Annette Richter (Paläontologie,<br />

Geologie, Zoologie)<br />

Beirat<br />

Gewählt von 03.2010 bis 03.2015<br />

Birga Behrendt<br />

Dr. Heiner Engel<br />

Prof. Dr. Bernd Haubitz<br />

Prof. Dr. Joachim Knoll<br />

Ole Schirmer<br />

Ludger Schmidt<br />

Dr. Renate Schulz<br />

Dr. Stephan Veil<br />

Klaus Wöldecke<br />

Naturhistorische Gesellschaft Hannover<br />

Gesellschaft zur Pflege<br />

der Naturwissen schaften<br />

Willy-Brandt-Allee 5<br />

30169 Hannover<br />

Germany<br />

Telefon (0511) 9807-871<br />

Fax (0511) 9807-844<br />

E-Mail: info@N-G-H.org<br />

www.N-G-H.org<br />

<strong>Naturhistorica</strong> Berichte der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover <strong>152</strong> · 2010


<strong>Naturhistorica</strong> <strong>152</strong>· 2010<br />

Geheimnisvoll:<br />

Sind die rätselhaften Höhlenkrebse vielleicht<br />

doch eher Insekten? Erste Forschungsergebnisse<br />

liegen vor.<br />

Vorbildlich:<br />

Aus dem Bestand der „Sammlung Struckmann“<br />

gingen zwei weitere paläontologische Arbeiten<br />

hervor, die schöne Beispiele für die konsequente<br />

Vorgehensweise des Landesmuseums Hannover<br />

bei der Aufarbeitung historischer Sammlungen<br />

sind.<br />

Aufwendig:<br />

Versuchen Sie einmal, einen Bestimmungsschlüssel<br />

für die vielleicht 15 bis 20 in Ihrer<br />

Umgebung oder Ihrem Garten vorkommenden<br />

Vogelarten zu erstellen. Wenn Sie schon dabei<br />

stöhnen, werden Sie die Arbeit über die Bestimmung<br />

fleischfressender Säugetiere anhand der<br />

Halswirbel angemessen würdigen können.<br />

Darüber und mehr lesen Sie in der vorliegenden<br />

<strong>Naturhistorica</strong> <strong>152</strong>.<br />

Torben Stemme, Gerd Bicker,<br />

Steffen Hartzsch, Stefan Koenemann<br />

Die rätselhaften Grottenkrebse der Blue Holes<br />

Sind Remipedia primitive Crustaceen<br />

oder schwimmende Insekten?<br />

7<br />

Marco Neiber<br />

Die Ilex-Minierfliege im Stadtgebiet von Hannover<br />

Beobachtungen zur Parasitierung und Mortalität<br />

der Ilex-Minierfliege Phytomyza ilicis Curtis 1846<br />

(Diptera, Agromycidae)<br />

29<br />

Ingo Geestmann<br />

Vegetation eines Hainbuchen-<br />

Niederwaldes bei Wittenburg<br />

45<br />

Carsten Brauckmann, Elke Gröning<br />

Insekten aus dem Ober-Jura in Norddeutschland<br />

63<br />

Anna-Dinah Eßer<br />

Wolf, Luchs & Co. – Ein Bestimmungsschlüssel<br />

für Carnivoren anhand der Halswirbel<br />

69<br />

Heiko Steinke<br />

Vom Jurameer bis zur heutigen Nordsee<br />

Vergleich des fossilen irregulären Seeigels<br />

Nucleolites mit dem rezenten Herzseeigel<br />

Echinocardium cordatum<br />

113<br />

Marijke Taverne<br />

Das Meereskrokodil Steneosaurus aus<br />

dem Oberen Jura Hannovers<br />

Schädelelemente und Osteoderme<br />

der „Sammlung Struckmann“<br />

153<br />

Joachim Haßfurther, Frank-Dieter Busch<br />

Bericht über die Marokko-Exkursion 2009<br />

der Naturistorischen Gesellschaft Hannover<br />

179<br />

Dieter Schulz<br />

Rückblick auf den Festakt am 17.12.2009<br />

195<br />

www.<strong>Naturhistorica</strong>.de<br />

ISSN 1868-0828

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