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dräum | ausgabe 4 | 12/2015

dräum ist ein periodikum von andreas leonhard hilzensauer – dräum is a periodical by andreas leonhard hilzensauer

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glücklich sein. Anschließend werde ich eine<br />

zweite Tasse bis zum Rand füllen, hoffen,<br />

dass sie etwas bewirkt. Schließlich werde ich,<br />

wie so oft, die Hoffnung aufgeben und mich<br />

selbst beschwichtigen, dass vielleicht in der<br />

Arbeit noch was geht. Ich werde überlegen,<br />

heute den schweren Don Quixote daheim zu<br />

lassen, mich dann aber dagegen entscheiden,<br />

schließlich muss ich ein paar Seiten weiter<br />

kommen. Die Erkenntnis, dass es inzwischen<br />

viel zu spät sein wird, um noch pünktlich ins<br />

Büro zu kommen, kann mir keinen Schrecken<br />

mehr einjagen. Ich werde dann einfach beschließen,<br />

meinen Aufbruch nicht mehr länger<br />

aufzuschieben. Ich werde die Tür zum Vorraum<br />

öffnen, überlegen, welche Jacke dem heutigen<br />

Wetter wohl am genehmsten sein mag, werde<br />

aus all den Schuhen, die im Kasten gammeln,<br />

wieder das eine Paar nehmen, dessen Ende<br />

ich schon schlimm befürchte – so tolle Schuhe<br />

zu so einem tollen Preis, das findet man leider<br />

selten. Nach der Einsicht, dass beim Bücken<br />

fast der Kaffee auf die Schuhe gegangen wäre,<br />

sammle ich alle meine Überwindung und<br />

drehe mich zur Tür. Ich werde bei dem Anblick<br />

einen Schritt zurück machen, dabei die heilige<br />

Grenze zum Wohnraum überschreiten und<br />

Äußeres ins Innere tragen, dann werde ich wie<br />

kaltes Blut gerinnen, wie Mayonaise stocken.<br />

Meine Augäpfel werden in den Höhlen brennen,<br />

meine Härchen auf Habtacht sich stellen,<br />

meine Ohren taubes Pfeifen anstimmen. Ich<br />

werde langsam realisieren, dass vor meiner<br />

Haustüre aus Sichtschutzglas eine Silhouette<br />

steht, ein gigantischer Schatten, der in gleichmäßigem<br />

Takt wächst und wieder schrumpft,<br />

er atmet, schnaubt, röchelt, scheint auf mich<br />

zu warten mit einem Berg von Nacken und<br />

einem Fass von Kopf. In seiner Rechten ruht<br />

etwas langes, schweres, vielleicht ein Stock,<br />

ein Schläger, möglicherweise ein Satz oder gar<br />

eine Erinnerung. Wer weiß das schon. Während<br />

ich warten werde, bis mein Gefühl zurück<br />

in meine Zehen fließt, werde ich bemerken,<br />

dass auch er zu warten scheint. Reglos wird<br />

er hinter der Scheibe stehen, aufgetürmt zum<br />

Gipfel aller Drohung. Ich werde merken, dass<br />

ich nun doch gerne Stuhl absetzen würde.<br />

Zwei Wochen werden in die Lande ziehen, er<br />

wird weiter vor der Türe stehen. Er wird, wie<br />

vom ersten Tage an, den Schläger, die Erinnerung,<br />

die Waffe fester greifen, sich scheinbar<br />

auf den Angriff freuen, wenn ich mich der<br />

Türe näher, den Schlüssel drehe, die Klinke<br />

drücke. Auf Nachfragen wird er mit Knurren,<br />

auf Drohungen nur mit Schweigen kontern,<br />

und wenn ich ihn überlisten, ihn durch den<br />

Hinterausgang umgehen will, dann wird er<br />

mich auch dort – egal, wie schnell ich renne<br />

– im Sichtschutzglas der Türe immer schon erwarten.<br />

Ich werde ein Gefangener in meinem<br />

eigenen Heim sein, mir Gedanken übers Rationieren<br />

machen. Im Keller hab ich noch ein<br />

bisschen was, aber nächste Woche wird schon<br />

schwierig werden.

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