GESUND ARBEITEN IN DER REGION
Broschüre-AgN-Dortmund-verkleinert
Broschüre-AgN-Dortmund-verkleinert
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<strong>GESUND</strong> <strong>ARBEITEN</strong><br />
<strong>IN</strong> <strong>DER</strong> <strong>REGION</strong><br />
<strong>IN</strong>NOVATIVE ANSÄTZE IM<br />
WESTFÄLISCHEN RUHRGEBIET
IMPRESSUM<br />
Diese Publikation basiert auf Ergebnissen des Transferprojekts „Arbeit<br />
gestalten NRW“ (GZ 34-78/V51A/19724St). Das Projekt wurde<br />
2014-2015 aus Mitteln des Landes NRW und dem Europäischen<br />
Sozialfonds der Europäischen Union, kofinanziert durch die Deutsche<br />
Rentenversicherung Westfalen und den DGUV-Landesverband<br />
West, gefördert.<br />
Gestaltung und Satz: q3 design Dortmund, www.q3design.de<br />
Fotos: Pia Rauball, Sabine Schollas, mit freundlicher Genehmigung<br />
der DASA – Deutsche Arbeitsschutzausstellung Dortmund<br />
Titelbild: Dagmar Siebecke, Burnon-Zentrum Düsseldorf<br />
Copyright 2015<br />
gaus gmbh - medien bildung politikberatung<br />
Märkische Str. 86-88, 44141 Dortmund<br />
+49 (0) 231 47 73 79 30, praeview@gaus.de<br />
www.gaus.de, www.zeitschrift-praeview.de<br />
i
<strong>IN</strong>HALTSVERZEICHNIS<br />
Die Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“ <br />
(Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales NRW) 4<br />
„Wertschätzung, Vertrauen und ökonomische Sicherheit sind die <br />
Gesundheitsressourcen der Zukunft“ <br />
Interview mit Prof. Dr. Karl Kuhn (ehemals BAuA) und Dr. Kai Seiler (LIA.nrw) 7<br />
Gut beraten: Fördermöglichkeiten für Unternehmen zur Unterstützung der Einführung <br />
von BGM-Strategien (Christian Jürgenliemke, Ursula Rode-Schäffer, Katja Sträde) 11<br />
Das Memorandum „Arbeit gesund gestalten“ 15<br />
Das MID-Modell der gesunden Führung (Rainer Weichbrodt) 18<br />
„Gesunde Selbstführung“ – Schlüsselkompetenz für Führungskräfte <br />
(Martina Böhler, Susanne Fischer) 22<br />
Kommunikation – Stressfaktor und Gesundheitsressource (Astrid Arens) 26<br />
Körperliche Fitness als Resilienzfaktor bei der Bewältigung von emotionalen <br />
Arbeitsbelastungen: Die Stärke der Frauen (Stefan Diestel, Rüdiger Beck) 30<br />
Rückenbeschwerden als Spiegel der Arbeits- und Lebensbedingungen (Christian Kunert) 35<br />
Fit für den beruflichen Einstieg – Ein potenzialorientierter Blick auf Jugendliche <br />
mit Migrationshintergrund (Christina Huwald) 39<br />
Die gesunde Einstellung – Gesundheitsorientierte Angebote des Job Centers Unna<br />
(Ulrike Schatto, Tina Riedel) 43<br />
„Man darf die kleinen Händler beim Gesundheitsmanagement nicht allein lassen.“<br />
Interview mit RA Thomas Schäfer, Handelsverband NRW Westfalen-Münsterland 47<br />
Mit Gesundheitstagen zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement – Ein kleiner Leitfaden <br />
der Industrie- und Handelskammer (Sandra Schröder, Martina Becker) 51<br />
Stressbewältigung mal ganz anders – wie Mitarbeiter/-innen der Stadtverwaltung <br />
Bochum lernen, gelassen zu bleiben (Manfred Nedler) 55<br />
Der Stressfalle entgehen – Prävention, Beratung und Unterstützung für Beschäftigte<br />
(Bernhard Kaerkes) 59<br />
ii
iii
ARBEIT <strong>GESUND</strong><br />
GESTALTEN<br />
Die Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“ will Unternehmen<br />
und Beschäftigte für Fragen der gesundheitsgerechten<br />
Arbeitsgestaltung sensibilisieren<br />
und Unterstützung bei der Einführung eines<br />
betrieblichen Gesundheitsmanagements anbieten.
Die zunehmende Internationalisierung von Produktion und Warenflüssen führt zu einer enormen Veränderung<br />
der Arbeitswelt. Verkürzte Produktzyklen setzen sich durch, der Arbeitsdruck steigt, anspruchsvollere<br />
Kunden, die die Produkte und Preise auch im Internet vergleichen können, führen zu<br />
Preisdruck und mehr Tempo bei den Lieferwegen. Das alles – und die ständige Erschließung neuer<br />
Märkte – stellt auch für kleine und mittlere Unternehmen eine zunehmende Herausforderung dar. Der<br />
demografische Wandel tut sein Übriges: Wir werden immer bunter, älter und langfristig auch weniger.<br />
Das führt in einzelnen Branchen und einigen Regionen zu einem Fachkräftemangel und zu veränderten<br />
Belegschaftsstrukturen, in denen vor allem die Jungen rar werden. Wichtige Erfahrungen der Älteren<br />
werden dabei oft nur unzureichend weiter gegeben – und wenn, dann meist unter enormem Zeitdruck.<br />
Das alles wird nicht so bleiben. Denn es wird darauf ankommen, länger gesund im Arbeitsprozess<br />
zu verbleiben. Beschäftigte von heute müssen sich darauf vorbereiten, bis zum Renteneintritt<br />
mit unvermindert hohen Anforderungen der Arbeitswelt umzugehen. Denn der Entwicklungsprozess<br />
der vierten industriellen Revolution – Arbeit 4.0 – wird alle nochmal vor weitere Herausforderungen<br />
stellen.<br />
In diesem Zuge gewinnt das betriebliche Gesundheitsmanagement zunehmend an Bedeutung für<br />
die Wirtschaft. Gutes Gesundheitsmanagement in Betrieben kann Arbeitsplätze schaffen und auch<br />
erhalten. Gute Arbeitsbedingungen verbunden mit einem betrieblichen Gesundheitsmanagement<br />
sind wichtige Faktoren beim Werben um Fachkräfte. Denn Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit<br />
der Unternehmen können nur erreicht bzw. erhalten werden, wenn es den Unternehmen gemeinsam<br />
mit ihren Beschäftigten gelingt, die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der arbeitenden Menschen zu<br />
erhalten.<br />
Eine gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung verfolgt das Ziel, sowohl die betrieblichen und individuellen<br />
Ressourcen zu stärken, als auch die Organisation und die betrieblichen Abläufe so zu gestalten,<br />
dass körperliche und psychische Belastungen von Beschäftigten reduziert und Bewältigungsstrategien<br />
gestärkt werden. Hierzu gilt es, das Unternehmen als Ganzes in den Blick zu nehmen und seine<br />
Stärken und Schwächen zu analysieren: Entsprechen die Arbeitsplatzgestaltung, die Arbeitszeiten,<br />
die Ablauforganisation, die Verantwortungsverteilung, die Autonomiegrade, die Leitungsstruktur<br />
und der Führungsstil noch den Anforderungen des Marktes und gleichzeitig denen gesunder und<br />
menschengerechter Arbeit? Ist die Arbeit sicher und schädigungsfrei – und macht sie vielleicht sogar<br />
Spaß? Reichen die Kompetenzen und Qualifikationen der Beschäftigten aus, um den neuen Anforderungen<br />
– auch zukünftig den Anforderungen von Arbeit und Wirtschaft 4.0 – gerecht zu werden? Und<br />
werden die Beschäftigten genügend dabei unterstützt, ihre eigenen Strategien gesunden Lebens<br />
und Arbeitens zu entwickeln und im Alltag umzusetzen, um ihre Ressourcen für motivierte und engagierte<br />
Arbeit zu erhalten?<br />
Die Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“ unterstützt die Unternehmen bei der Beantwortung dieser<br />
Fragen durch Beratung und Information, Fortbildungsangebote und den Transfer guter Praxis.<br />
Die Landesregierung flankiert die Modernisierungs- und Qualifizierungsbemühungen der Unterneh-<br />
5
men durch entsprechende Förderangebote wie beispielsweise die Potentialberatung oder den Bildungsscheck.<br />
Der 2012 gegründete Landesbeirat „Arbeit gestalten NRW“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbreitung<br />
eines betrieblichen Gesundheitsmanagements in kleinen und mittleren Unternehmen im Land aktiv<br />
zu unterstützen. Zu den Mitgliedern des Landesbeirats gehören der DGB Bezirk NRW, die IG Metall<br />
Nordrhein-Westfalen, der IGBCE Landesbezirk Nordrhein, der ver.di Landesbezirk NRW, der Kommunale<br />
Arbeitgeberverband Nordrhein-Westfalen, die Industrie- und Handelskammer Nord- rhein-Westfalen,<br />
der Westdeutsche Handwerkskammertag, die Landesvereinigung der Unternehmensverbände<br />
NRW e.V., die Deutsche Rentenversicherung Westfalen, die AOK Nordwest, der Landesverband West<br />
der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, die Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für<br />
Arbeit, der Verband türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa e.V., die Technologieberatungsstelle<br />
beim DGB NRW e.V. sowie das Landesinstitut für Arbeitsgestaltung NRW.<br />
„Arbeit gestalten NRW“ will so Unternehmen und Beschäftigte für Fragen der gesundheits- und alternsgerechten<br />
Arbeitsgestaltung sensibilisieren und Unterstützung bei der Einführung eines betrieblichen<br />
Gesundheitsmanagements anbieten. Die Landesinitiative richtet sich dabei vor allem an die vielen<br />
kleinen und mittleren Betriebe, die es viel schwerer haben, ein betriebliches Gesundheitsmanagement<br />
einzuführen, als die großen Unternehmen. Diese Betriebe, die den Großteil der Arbeitsplätze in<br />
unserem Land schaffen, will das Land dabei unterstützen, einen Schritt weiter zu gehen in Richtung<br />
gesunder Arbeit und leistungsfähiger Unternehmen.<br />
Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales NRW<br />
6
ZUKUNFT DES AR-<br />
BEITSSCHUTZES<br />
„Wertschätzung, Vertrauen und ökonomische Sicherheit sind<br />
die Gesundheitsressourcen der Zukunft“<br />
Interview mit Prof. Dr. Karl Kuhn (ehem. BAuA) und Dr. Kai Seiler<br />
(LIA.nrw) über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft<br />
des Arbeitsschutzes<br />
Das Gespräch führten Rainer Ollmann und Kurt-Georg Ciesinger,<br />
gaus gmbh – medien bildung politikberatung, Dortmund.<br />
Landesinstitut für<br />
Arbeitsgestaltung<br />
des Landes Nordrhein-Westfalen<br />
7
Fangen wir heute mal mit der Abschlussfrage an: Was hat der Arbeitsschutz noch nicht geschafft?<br />
Kuhn: Ich habe in meiner Arbeit viele Paradigmenwechsel miterlebt, von der Unfallverhütung über<br />
die Abwehr von Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Erkrankungen bis zum Thema Prävention,<br />
das uns seit den frühen 90er Jahren beschäftigt. Der Arbeitsschutz hat sich immer modernisiert und<br />
mit den industriellen und wirtschaftlichen Veränderungen mitentwickelt.<br />
Es ist uns aber nie gelungen, in den kleinen und mittleren Betrieben präsent zu werden. Wir diskutieren<br />
über die Frage, wie wir diese Betriebe ansprechen, seit ich im Arbeitsschutz tätig bin. Wir haben<br />
sensibilisiert, Veranstaltungen gemacht, Flyer, Broschüren und Websites erstellt, vor Ort beraten, mit<br />
Kammern und Verbänden und Gewerkschaften zusammengearbeitet. Die Masse der KMU erreicht<br />
haben wir jedoch nicht.<br />
Seiler: Es gingen viele Impulse von dieser Ära aus, die bis heute nachwirken. Es hat sich z.B. eine<br />
sehr stabile arbeitswissenschaftliche Gemeinschaft gebildet, aber leider sind wir als Community zu<br />
sehr unter uns geblieben. Das hat dazu geführt, dass wir uns fast nur mit unseren eigenen Methoden<br />
beschäftigt haben und zu wenig mit den Denkmodellen der übrigen Wirtschaftsprozesse.<br />
Kuhn: Absolut richtig. Im HdA-Programm sind viele wichtige Instrumente entwickelt worden, aber alles<br />
nur Bewertungsverfahren für den einzelnen Arbeitsplatz. Für Betriebe brauchen wir Verfahren, die<br />
Prozesse analysieren. Die Fokussierung auf den Arbeitsplatz greift angesichts der Mobilität und Flexibilität<br />
der Arbeitswelt heute zu kurz, löst deshalb nicht die Probleme der Unternehmen und findet daher<br />
auch keine Akzeptanz.<br />
Seiler: Das ist auch einer der Gründe, warum wir so schwer an kleine und mittlere Unternehmen herankommen,<br />
denn dort gibt es andere Prozessmuster als bei Großunternehmen. Wenn wir nun die Instrumente,<br />
die für und mit Großunternehmen entwickelt wurden, in den kleineren Betrieben anwenden<br />
wollen, kommen immer Defizite heraus, nicht weil die Betriebe per se schlechtere Arbeitsbedingungen<br />
haben, sondern weil deren Arbeitsschutzmuster durch den Rost der Vorschriften fallen.<br />
Arbeitsschutz und Gesundheitsmanagement stoßen in kleinere Unternehmen ja auch schnell<br />
an die Machbarkeitsgrenzen.<br />
Kuhn: Gerade in KMU fehlen oft das Verständnis und die nötigen Ressourcen für ein elaboriertes Gesundheitsmanagement.<br />
Aber die Erfahrung zeigt, dass das nicht immer ein Nachteil sein muss. Ich<br />
habe mal einen kleineren Betrieb hier im Sauerland kennengelernt, da ging der Chef regelmäßig<br />
durch den Betrieb und kümmerte sich um die Menschen, kannte seine Beschäftigten und ihre Probleme.<br />
Das war der Betrieb mit den geringsten Krankenständen, den ich je gesehen habe. Die persönliche<br />
Anerkennung durch den Vorgesetzten, wenn sie denn authentisch ist, fördert die Gesundheit,<br />
mehr braucht es manchmal nicht. Auch gruppendynamische Prozesse haben einen großen Anteil an<br />
der Gesundheit. Das kriegt man aber schwer instrumentalisiert.<br />
8
Seiler: Bei diesem Beispiel hat der Kleinbetrieb sogar einen Vorteil gegenüber den Großen, denn der<br />
Chef im Sauerland wird mit seinem Handeln von jedem Einzelnen wahrgenommen. In Großbetrieben<br />
ist der „Eigentümer“ meist nicht persönlich sichtbar und Unternehmensleitlinien helfen da wenig. In<br />
den Kleinunternehmen wird aber auch ganz deutlich: Egal, was man im Unternehmen verbessern<br />
will, die wertethische Haltung des Unternehmers ist ausschlaggebend. Das ist aus meiner Sicht der<br />
Ansatzpunkt für erfolgreiches Gesundheitsmanagement in KMU. Vielleicht ist ein neuer Weg nicht nur<br />
die Typisierung der Unternehmensprobleme, sondern auch der Unternehmensführung bzw. der Unternehmerpersönlichkeit.<br />
Aus der Persönlichkeit des Unternehmers leiten sich dann instrumentelle<br />
Vorgehensweisen ab.<br />
Kuhn: Je nachdem, wer an der Spitze des Unternehmens steht, erreichst du viel oder wenig. Man<br />
muss als Berater mit einem Bündel von Instrumenten an die Betriebe herangehen, damit für jeden etwas<br />
dabei ist. Den einen Unternehmer kriegst du so, den anderen so.<br />
Vielfältige und nützliche Information sollte in Zeiten des Internets ja nicht mehr das Problem<br />
sein.<br />
Seiler: Heute ist die Informationsbeschaffung nicht mehr das Problem, sondern die Wissensprüfung<br />
und -selektion. Ich brauche heute „Reduktionsmanager“. Von staatlicher Seite sollte Information nicht<br />
einfach gesammelt und bereitgestellt, sondern kontextspezifisches Wissen aufgebaut werden. Der<br />
Beratungsservice KomNet in NRW z.B. sammelt und bearbeitet echte betriebliche Probleme und<br />
stellt die Lösungen dafür bereit – also keine Musterlösungen für konstruierte Probleme. Das läuft seit<br />
Jahren sehr gut, allerdings nutzen diesen Expertenservice vor allem Beratungsdienste und die Arbeitswissenschaftler<br />
selber, allenfalls noch die Sicherheitsfachkräfte – weniger die Unternehmer direkt,<br />
was sicherlich verständlich ist.<br />
Kuhn: Ich glaube, wir müssen sogar noch einen Schritt weiter gehen. Wenn man auf das Ausland<br />
schaut, so gibt es ganz andere Ideen, wie Information und Wissen auch im Internet dargeboten werden.<br />
Ich denke da z.B. an Websites wie „beyond blue“ in Australien. Dieses Onlineangebot zum Thema<br />
Angst und Depression geht sehr viel weiter in Richtung Beratung als unsere Ansätze, die bei Information<br />
stehenbleiben. Unsere Datenbanken beinhalten hochwertige Texte, aber sie „coachen“ nicht.<br />
Ich glaube, unsere Informationspolitik muss in Zukunft dialogfähig werden. Die Onlineangebote müssen<br />
helfen, auch dann weiterzumachen, wenn die reine Information nicht das Problem löst. Niedrigschwellige<br />
Coachingverfahren sind für mich ein absolutes Zukunftsfeld.<br />
Seiler: Ich beobachte diesen Trend auch schon seit Längerem. Intelligente, individualisierbare Instrumente<br />
im Internet können funktionierender Teil eines Coachingprozesses sein, wenn die Schnittstellen<br />
zwischen Online- und Expertenberatung klar definiert und nahtlos sind. Aber auch hier gilt: Wir<br />
müssen die Nutzer nicht mit Informationsfülle erschlagen, sondern an ihren alltäglichen Problemen<br />
abholen.<br />
9
Stellt der demografische Wandel neue Herausforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz?<br />
Kuhn: Mit der Alterung der Gesellschaft bekommt Qualifikation und deren Erhalt eine neue Bedeutung.<br />
Gute, passende und zukunftsfähige Qualifikation ist eine Ressource für persönliche Entwicklung<br />
und Gesundheit – aber wenn sie fehlt, ein Belastungsfaktor. Daher ist Qualifikation eine arbeitspolitische<br />
und gesundheitspolitische Frage. Die Rolle der Qualifikation bei der Gesundheit in diesem<br />
Kontext ist bisher noch vernachlässigt.<br />
Wir müssen auch unsere traditionellen Karrierewege überdenken. Horizontale Karrieren zum Belastungswechsel<br />
sind bestimmt in vielen Fällen eine Lösung, aber so wird Karriere in Deutschland noch<br />
nicht verstanden. Auch hier können wir von anderen Ländern lernen, die weniger hierarchisch denken<br />
als wir.<br />
Seiler: Ein Aspekt, der im Zuge der demografischen Diskussion wiederentdeckt wurde, ist die biografische<br />
Betrachtung des Arbeitslebens. Die Belastung wird heute noch viel zu punktuell analysiert, sie<br />
besteht aber über das ganze Arbeits- und auch Privatleben. Das ist gerade besonders wichtig mit<br />
Blick auf die teils dramatischen Folgen psychischer Beanspruchung. Die Bedeutung so verstandener<br />
kumulativer Belastung für die Gesundheit ist noch unklar, insbesondere bei Diskontinuitäten und bei<br />
atypischen Arbeitsverhältnissen.<br />
Und in die Zeit der größten beruflichen Belastungen fallen auch private Anforderungen, die im Übrigen<br />
auch immer weiter ansteigen. Die Work-Life-Balance-Problematik ist längst nicht gelöst, denn<br />
hochflexibilisierte Arbeitspolitik und starre Unterstützungsstrukturen der Betreuungs- und Pflegepolitik<br />
passen nicht zusammen. Hier brauchen wir neue staatliche Ansätze, denn über Arbeitsschutz und<br />
Gesundheitsmanagement im Betrieb lösen wir diese Versorgungsprobleme nicht.<br />
Durch die Arbeitsverdichtung, denken Sie nur an die permanente simultane Bearbeitung mehrerer<br />
Vorgänge und die immer kürzeren Reaktionszyklen, verschleißen gerade die Hochqualifizierten heute<br />
sehr früh. Allerdings ist die Höchstrisikogruppe unserer Arbeitsgesellschaft ist gekennzeichnet durch<br />
hohes körperliches und psychisches Belastungsaufkommen plus schlechte Arbeitsbedingungen plus<br />
kritisch geringes Einkommen plus soziale und ökonomische Unsicherheit. Wenn dann noch die Ressourcenseite<br />
wegbricht, wie z. B. das Sozialsystem aus Vertrauensbeziehungen und Familie, dann<br />
wird es wirklich kritisch.<br />
Kuhn: Wir entdecken erst in letzter Zeit diese soziale Dimension: Zwei Millionen arbeiten in Deutschland<br />
an der Grenze des Existenzminimums, das ist ein wesentlicher Belastungsfaktor und muss auch<br />
ein Kriterium menschenwürdiger Arbeit sein. Diese Belastung durch ökonomische Unsicherheit zu<br />
quantifizieren und zu benchmarken, ist eine zentrale Herausforderung für die Zukunft. Prekäre Beschäftigung<br />
ist zwar ein unbequemes, aber ein umso wichtigeres Handlungsfeld für den modernen<br />
Arbeitsschutz.<br />
10
FÖR<strong>DER</strong>MÖG-<br />
LICHKEITEN<br />
Gut beraten: Fördermöglichkeiten für Unternehmen zur Unterstützung<br />
der Einführung von BGM-Strategien<br />
Christian Jürgenliemke, Ursula Rode-Schäffer, Katja Sträde<br />
11
Die demografischen Herausforderungen der Gesellschaft sowie der globale Wandel der Wirtschaftsmärkte<br />
verändern die Anforderungen an die Unternehmen und ihre Beschäftigten. Zudem erschwert<br />
in einigen Branchen bereits jetzt der Mangel an geeigneten Fachkräften die Zukunftsfähigkeit vieler<br />
Betriebe. Besonders für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kleinen und mittelständischen Unternehmen<br />
steigen Arbeitsdichte und -tempo stetig. Gleichzeitig wachsen die psychomentalen Belastungen.<br />
Um auch in Zukunft für Fachkräfte attraktiv und ebenso betrieblich leistungsfähig sein zu können, benötigen<br />
vor allem kleinere Betriebe geeignete Angebote zur Förderung der physischen und psychischen<br />
Gesundheit der Beschäftigten und Führungskräfte. In modernen Gesundheitsförderungskonzepten<br />
spielen Führungskräfte dabei eine Schlüsselrolle. Das Thema „Gesundes Arbeiten“ sollte zur<br />
Chefsache gemacht und in der Firmenphilosophie verankert werden. Gesundheit, Engagement und<br />
Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden aber nicht nur von individuellem Gesundheitsverhalten,<br />
sondern vor allem auch von Rahmenbedingungen, besonders dem Führungsverhalten,<br />
beeinflusst.<br />
Unternehmen, die in die psychische Widerstandsfähigkeit ihrer Beschäftigten investieren, machen<br />
das Thema Gesundheit zu einem festen Bestandteil ihrer sozialen Nachhaltigkeit.<br />
Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung manifester Fehlzeiten, denn nicht alle Beschäftigten, die<br />
zur Arbeit kommen, sind auch automatisch gesund und leistungsfähig. Fehlende Gesundheit in der<br />
Arbeitsorganisation, die durch ungesunde Strukturen, misslingende Kommunikation, mangelnde Transparenz<br />
oder unzureichendes Führungsverhalten entsteht, führt zu Demotivation, psychosomatischen<br />
Symptomen und mangelndem Engagement der Beschäftigten. Diese Produktivitätsverluste<br />
sind deutlich höher als die durch reine Fehlzeiten bedingten Kosten.<br />
Aber die Durchführung von unverbundenen Einzelmaßnahmen, die nicht einem übergeordneten strategischen<br />
Plan (d.h. einem betrieblichen Gesundheitsmanagement) folgen, ist nicht nur kostenintensiv,<br />
sondern bringt auch wenig Resultate. Nur gezielte Maßnahmen, die in die allgemeine Unternehmenskultur<br />
integriert sind, zeigen Wirkungen.<br />
Ein betriebliches Gesundheitsmanagement führt zudem zu einem deutlichen Imagevorteil, denn Unternehmen,<br />
die in eine ganzheitliche Personalstrategie investieren, haben in Zeiten des Fachkräftemangels<br />
einen deutlichen Wettbewerbsvorteil.<br />
Kleinen und mittleren Unternehmen, die ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement einführen möchten,<br />
stehen zwei Fördermöglichkeiten durch das Land NRW und den Bund offen: die „Potentialberatung“<br />
und die „unternehmensWert:Mensch“-Beratung.<br />
Egal, welche Förderung in Anspruch genommen wird, das Ziel ist gleich: Gemeinsam mit Beraterinnen<br />
und Beratern entwickeln Betriebe dabei einen strategischen Plan zur individuellen Gesundheits-<br />
12
förderung und Gesunderhaltung der Beschäftigten sowie der zukunftssichereren und gesunden Organisation<br />
und dem Aufbau von Resilienz.<br />
Potentialberatung NRW<br />
• Unternehmen bis 249 Beschäftigte<br />
• Unternehmen hat seinen Sitz in NRW und ist mindestens 2 Jahre am Markt<br />
• 50% Förderung der Beratungskosten, max. 500 € Förderung pro Beratertag<br />
• gefördert werden bis zu 10 Beratungstage (à 8 Stunden)<br />
Die Potentialberatung ist ein bewährtes Arbeitsmarktinstrument. Sie wird vom NRW-Arbeitsministerium<br />
mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert und hilft kleinen und mittleren Unternehmen<br />
(KMU), erfolgreicher zu arbeiten. Beratungsschwerpunkte sind Arbeitsorganisation, Personalentwicklung,<br />
Fachkräftebedarf, Qualifizierungsbedarf sowie Gesundheit bei der Arbeit. Die Beratungsstellen<br />
für Potentialberatung klären in Beratungsgesprächen Ziele, Inhalte und Umfang der Potentialberatung.<br />
Sind alle Fördervoraussetzungen gegeben, wird der Beratungsscheck ausgestellt.<br />
Gemeinsam mit einem Unternehmensberater wird zu Beginn des Beratungsprozesses zunächst eine<br />
Stärken-Schwächen- Analyse durchgeführt. Darauf aufbauend werden gemeinsam mit den Führungskräften<br />
und Beschäftigten Ziele definiert. Basierend auf diesen Zielen werden erste Umsetzungsschritte<br />
eingeleitet. Die Vorgehensweise wird in einem Handlungsplan dokumentiert, sodass das Unternehmen<br />
nach der Beratung in der Lage ist, die Ziele zu erreichen. Der Unternehmensberaterin bzw. der<br />
Unternehmensberater unterstützt mit ihrem Fachwissen den partizipativen Prozess.<br />
unternehmensWert:Mensch<br />
• Unternehmen bis 10 Beschäftigte, mindestens 2 Jahre am Markt<br />
• Jahresumsatz bis zu 2 Mio. €<br />
• Jahresbilanzsumme unter 2 Mio. €<br />
• 80% Förderung, max. 800 € Förderung pro Beratertag<br />
• gefördert werden bis zu 10 Beratungstage (à 8 Stunden)<br />
Das Förderprogramm „unternehmensWert:Mensch“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales<br />
(BMAS) und des ESF wurde im Oktober 2015 neu aufgelegt. Es soll kleinen und mittleren Unternehmen<br />
eine Fachberatung in den Handlungsfeldern Personalführung, Chancengleichheit & Diversity,<br />
Gesundheit sowie Wissen & Kompetenz ermöglichen. Diese Beratung ist in drei Schritte unterteilt:<br />
13
Erstberatung: Die regionale Beratungsstelle ermittelt mit dem Unternehmen in einer kostenlosen Erstberatung<br />
den Beratungsbedarf in den vier oben genannten personalpolitischen Handlungsfeldern.<br />
Sind alle Förderkriterien erfüllt, wird der Beratungsscheck ausgestellt.<br />
Prozessberatung: Mit dem Beratungsscheck kann die individuelle Prozessberatung bei autorisierten<br />
Prozessberaterinnen und -beratern in Anspruch genommen werden.<br />
Bilanzgespräch: Sechs Monate nach Abschluss der Prozessberatung zieht das Unternehmen mit der<br />
regionalen Erstberatungsstelle Bilanz, um den Erfolg der Prozessberatung langfristig zu sichern.<br />
Die Regionalagenturen Westfälisches Ruhrgebiet und Hellweg-Hochsauerland sind sowohl Beratungsstelle<br />
für die Potentialberatung NRW als auch Erstberatungsstelle im Bundesprogramm<br />
unternehmensWert:Mensch.<br />
Kontaktdaten<br />
Regionalagentur Westfälisches Ruhrgebiet<br />
• Antje Rothenberg, 0231 / 50 22 62 97, antje.rothenberg@stadtdo.de<br />
• Katja Sträde, 02303 / 27 17 61, k.straede@wfg-kreis-unna.de<br />
• Christian Jürgenliemke, 02381 / 9 29 32 03, E-Mail: christian.juergenliemke@wf-hamm.de<br />
Regionalagentur Hellweg – Hochsauerland<br />
• Ursula Rode-Schäffer, 02921 / 30 34 99, rode-schaeffer@r-h-h.de.<br />
14
MEMORANDUM<br />
„ARBEIT <strong>GESUND</strong><br />
GESTALTEN“<br />
In der Region Dortmund wurde in intensiven Diskussionen zwischen<br />
Akteuren aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen<br />
ein gemeinsames Verständnis betrieblicher Gesundheitsförderung<br />
erarbeitet und in einem Memorandum niedergelegt.<br />
Das Memorandum dient in Dortmund als Selbstverpflichtung der<br />
Berater auf eine gemeinsame Philosophie.<br />
Dieses Memorandum können Sie bei der Regionalagentur Westfälisches<br />
Ruhrgebiet (www. beziehen und unterzeichnen und<br />
sich so auch ganz persönlich zu den Zielen gesunder Arbeit in<br />
NRW bekennen.<br />
15
Gesundheit ist nach WHO „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens<br />
und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Die Erhaltung und Förderung<br />
der Gesundheit ist eine der zentralen Aufgaben jeder modernen Gesellschaft. Alle gesellschaftlichen<br />
Gruppen stehen in der Pflicht, ihren Beitrag hierzu zu leisten.<br />
Arbeit – sei es sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder Selbstständigkeit, Ehrenamt, Familienarbeit,<br />
Ausbildung oder auch Arbeitsuche – ist ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen und individuellen<br />
Lebens. Alle Menschen haben daher ein Recht auf gesunde Arbeitsbedingungen und sind<br />
ihrerseits auch verpflichtet, ihr Möglichstes zu tun, um Arbeit gesund zu gestalten.<br />
Dabei geht es nicht nur darum, Gesundheitsbeeinträchtigungen durch die Arbeit zu verhindern. Es<br />
muss auch darum gehen, den Lebensbereich Arbeit so zu gestalten, dass die Gesundheit der Menschen<br />
gefördert wird. Denn von der Gesundheit der Menschen hängen die Qualität unserer Lebenswelt<br />
und auch die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft ab.<br />
Die Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“ mit dem regionalen Netzwerk von verschiedensten Akteuren<br />
aus der Region Westfälisches Ruhrgebiet, hat es sich zum Ziel gesetzt, im Rahmen der jeweiligen<br />
Möglichkeiten daran mitzuwirken, dass Arbeit zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit beiträgt.<br />
Gesundheitsförderung in einem umfassenden Verständnis ist vielschichtig und anspruchsvoll, eröffnet<br />
aber auch Handlungsmöglichkeiten für jeden Akteur in seinem je eigenen Bereich.<br />
Die Mitglieder des Netzwerks Demografie Westfälisches Ruhrgebiet haben folgende 12 Grundsätze<br />
zur Förderung der Gesundheit bei der Arbeit formuliert und erkennen diese als handlungsleitend für<br />
ihre Arbeit an.<br />
1. Das Ziel der Gesundheitsförderung ist die Erhaltung und Entwicklung des körperlichen, geistigen<br />
und sozialen Wohlergehens. Damit steht der Mensch in seiner ganzen Individualität im Mittelpunkt<br />
der Gesundheitsförderung.<br />
2. Die Förderung der Gesundheit in der Arbeit muss „Verhalten und Verhältnis“ gleichermaßen betrachten:<br />
die gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen ebenso wie die Stärkung<br />
der individuellen Ressourcen. Das Fundament hierfür bildet ein funktionierender Arbeitsschutz<br />
im Betrieb. In der praktischen Umsetzung ist dabei insbesondere der Präventionsgedanke<br />
leitend.<br />
3. Die Förderung der Gesundheit in der Arbeit ist ein partizipativer Prozess, in dem allen relevanten<br />
Akteure und Gruppen einschließlich der Betroffenen selbst gehört und aktiv einbezogen werden<br />
müssen.<br />
4. Gesundheitsförderung in der Arbeit umfasst alle Formen, Kontexte und Orte von Arbeit. Die Konzentration<br />
der Gesundheitsförderung auf sozialversicherungspflichtig Beschäftige in Großunternehmen<br />
ist nicht unser Bestreben.<br />
16
5. Gesundheitsförderung muss unter allen, auch unter ungünstigen Bedingungen stattfinden. Es ist<br />
eine Verpflichtung aller betrieblichen Akteure, für diese Bedingungen geeignete Maßnahmen zu<br />
wählen und ggfs. zu entwickeln.<br />
6. Gesundheitsförderung darf nicht „an den Werkstoren“ enden. Menschen müssen in ihrer komplexen<br />
Lebenssituation, in der ihre Arbeit nur ein Teilaspekt ist, unterstützt werden.<br />
7. Gesundheitsförderung darf sich nicht in unverbundenen Einzelmaßnahmen erschöpfen, sondern<br />
muss integrative Konzepte zur Unterstützung schaffen und abgestimmte Maßnahmen anbieten.<br />
8. Strategien der Gesundheitsförderung müssen sich explizit an alle richten. Angebote müssen für<br />
die jeweiligen Adressatengruppen in der Breite offen sein. Jeder Interessierte muss Zugang zu<br />
den Gesundheitsangeboten haben.<br />
9. Gesundheitsförderung muss langfristig angelegt werden. Die Schaffung nachhaltiger und selbsttragender<br />
Strukturen ist ein zentrales Ziel der Gesundheitsförderung.<br />
10. Betriebliche Akteure, die besonderen Einfluss auf die Förderung der Gesundheit in der Arbeit haben,<br />
tragen auch eine besondere Verantwortung. Sie sind intensiv einzubinden, zu überzeugen<br />
und zu verpflichten.<br />
11. Betriebliche Akteure mit Gesundheitsverantwortung sind andererseits in besonderem Maße zu<br />
unterstützen, auch bei der Gestaltung der eigenen Arbeitsbedingungen und dem Erhalt der eigenen<br />
Gesundheit.<br />
12. Gesundheitsförderung in der Arbeit entbindet die Menschen nicht von ihrer Verantwortung für<br />
die eigene Gesundheit. In der Ausübung dieser Verantwortung werden die Menschen unterstützt.<br />
Die Mitglieder des Netzwerks Demografie Westfälisches Ruhrgebiet verpflichten sich mit der Unterzeichnung<br />
des Memorandums, diese Grundsätze in ihrem Verantwortungsbereich umzusetzen und<br />
sich für die Ziele auch im Rahmen einer öffentlichen Diskussion einzusetzen.<br />
17
<strong>GESUND</strong>E<br />
FÜHRUNG<br />
Das MID-Modell der gesunden Führung<br />
Rainer Weichbrodt<br />
18
Wir lesen und hören es täglich in den Medien. Die psychischen Belastungen von Mitarbeitern nehmen<br />
zu, Stress und Burnout sind die Folgen. Mitarbeiter werden arbeitsunfähig geschrieben und fallen<br />
gänzlich aus (Absentismus) oder kommen zwar zur Arbeit, sind aber mental nicht zu 100% bei<br />
der Sache. Oft entwickelt sich dies zur inneren Kündigung und einem starken Leistungsabfall (Präsentismus).<br />
Insbesondere durch den demografischen Wandel erhöht sich die Notwendigkeit zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit<br />
bis ins hohe Alter. Insbesondere die Studien von Prof. Juhani Imarinen haben ergeben,<br />
dass die Arbeitsfähigkeit, gemessen mit dem Work Ability Index (WAI), in den letzten 20 Berufsjahren<br />
eines Menschen durchschnittlich um ca. 30% sinkt. Wesentliche Faktoren für die Arbeitsfähigkeit seien<br />
Personalführung, Arbeitsorganisation, Gesundheit sowie Wissen und Kompetenz.<br />
Führung, die Mitarbeiter krank macht, kann nicht richtig sein, weder sozial noch ökonomisch. Gesunde<br />
Führung ist nicht mehr vom Gleichen, es ist eine andere Art der Führung. Weniger bestimmend<br />
und kontrollierend, mehr auf Vertrauen, Sinn und Gestaltungsspielräume orientiert. Selbst die Kosten<br />
für Management und Führung würden signifikant sinken.<br />
Führung sollte sich zunehmend auf die Rahmenbedingungen konzentrieren, die als „energiestiftend“<br />
bezeichnet werden können. Die Idee hinter dem Energie-Modell der gesunden Führung des Management<br />
Instituts aus Dortmund war, den Begriff der Energieeffizienz aus der Technologiebewertung auf<br />
ein Unternehmen zu übertragen. Letztlich bilden elf Bereiche die Handlungsfelder gesunder Führung,<br />
die das Ziel hat, eine positive Energiebilanz zu erzielen.<br />
1. Werte: Werte sind der Ursprung von Verhalten. Wertekonflikte rauben Energie, deshalb ist der offene<br />
Dialog darüber wichtig. Eine Gemeinschaft braucht belastbare Erwartungen darüber, wie man<br />
miteinander umgeht. Dabei muss eine Wertevielfalt gar nicht schädlich sein. Werte dürfen aber<br />
nicht so sehr differieren, dass dies einen toleranten und wertschätzenden Umgang ausschließt.<br />
2. Wissen: Natürlich ist es trivial. Habe ich für eine Aufgabe nicht ausreichendes Wissen und Kompetenz,<br />
benötige ich mehr Energie. Informationen beschaffen, nachlesen, Leute fragen, negative Gedanken<br />
über das Scheitern machen, über den Chef ärgern, dass er mir eine solche Aufgabe gibt<br />
usw. Auch der Umgang mit Wissen ist ein kultureller Aspekt. Ein effektiver Wissenstransfer und<br />
Rahmenbedingungen, die eine wertschätzende Zusammenarbeit fördern, schaffen Energie.<br />
3. Kommunikation: Eine offene, ehrliche und wertschätzende Kommunikation gibt Energie. Der Ansatz<br />
der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg ist ein Ansatz, der auch in der Mitarbeiterführung<br />
genutzt werden kann. Nach Rosenberg wäre selbst Loben Gewalt, weil der Lobende<br />
sich wertend über den Gelobten setzt. Es ist ein Dialog auf Augenhöhe, ein achtsamer und bewusster<br />
Umgang miteinander gefragt. Dazu bedarf es einer entsprechenden Haltung in der Personalführung.<br />
19
4. Wertschätzung und Zuwendung: Jeder kennt das Gefühl aus dem Privatleben. Die Kraft durch das<br />
Geben und Nehmen menschlicher Zuwendung ist spürbar hoch. Prof. Otto Scharmer hat mit seiner<br />
Theorie U ganz bewusst auch den Gefühlen von Menschen im Wandel Rechnung geschenkt.<br />
Es werden zunehmend mehr, die dieser Erkenntnis folgen. Deutlich wird, dass viele Menschen<br />
sich mehr Wertschätzung und Respekt wünschen als sie im heutigen Arbeitsleben noch empfinden.<br />
Menschen dürfen sich nicht als beliebig austauschbare Ressource empfinden.<br />
5. Resilienz: Resilienz ist die Fähigkeit, einer hohen Belastung standzuhalten und sich wieder regenerieren<br />
zu können. Das verlangt Kraft und Stärke. Wir unterscheiden zwischen der individuellen Resilienz<br />
und der organisationalen Resilienz. Die individuelle Resilienz wird typischerweise durch<br />
Kompetenzen erreicht, gut mit Stress umzugehen. Organisationale Resilienz wird durch eine Intelligenz<br />
des „Wirs“ eine „We-dentity“ geschaffen. Beschäftigte unterstützen sich gegenseitig.<br />
6. Leidenschaft: „Geht raus und habt Spaß“, so ein Fußballtrainer vor dem Spiel. Kein leerer Spruch,<br />
sondern authentische Einstellung einer Führungskraft, die es begriffen hat. Manager, die sich als<br />
Spaßbremsen geben, sind out. Freude muss strikt erlaubt sein, wenn man diese Energiequelle nutzen<br />
will.<br />
7. Verbundenheit: Der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther berichtet von den Erkenntnissen, dass neben<br />
einem wahrgenommen persönlichen Wachstum (11.) das Verbundenheitsgefühl ein wichtiges<br />
Bedürfnis des Menschen ist. Haben Mitarbeiter dieses Verbundenheitsgefühl, dann schöpfen sie<br />
daraus Energie für ihre Arbeit. Informiertheit, Transparenz und Partizipation sind hier Elemente, die<br />
Führung nutzen kann, um eine solche Verbundenheit zu erzeugen. Oftmals gibt es informelle Verbindungen<br />
im Unternehmen, die es nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu nutzen gilt.<br />
8. Physische Gesundheit: Das klassische betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) zielt darauf,<br />
hier Energieverluste zu vermeiden. Durch die Verbesserung von Wohlbefinden und Gesundheitsverhalten<br />
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden Ausfälle vermieden.<br />
9. Mentale Gesundheit: Das subjektive Empfinden, sein Leben (auch sein Arbeitsleben) selbstbestimmt<br />
gestalten zu können, geht den Menschen aus unterschiedlichen Gründen zunehmend verloren.<br />
Und damit auch ihre mentale Gesundheit. Führung wird Rahmenbedingungen schaffen müssen,<br />
die Gestaltungsspielräume geben. Partizipation und Eigenverantwortlichkeit bei den Beschäftigten<br />
spielen hier eine große Rolle. Standardisierungen, Regulierungen und Rollouts verbrauchen<br />
viel zu viel Energie.<br />
10.Tagesgeschäft und Routinearbeit: Die Routine-Arbeit ist zu erledigen. Eingangskörbchen abarbeiten,<br />
Kommunikationskanäle bedienen, dokumentieren und ablegen. Wie schafft man hier Energie?<br />
Moderne IT und optimierte Prozesse helfen, Effizienz zu steigern und Energien freizusetzen. Arbeiten<br />
4.0 mit einer intensiven digitalen Transformation soll hier Abhilfe schaffen. Aber bitte die Rechnung<br />
mit den Menschen machen!<br />
20
11.Innovation, Wachstum und Potenzialentwicklung: Unternehmen müssen agil, dynamisch und flexibel<br />
sein, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Tradierte Managementmodelle haben dies kaum auf<br />
dem Schirm, da sie noch ihren Ursprung im sogenannten Taylorismus haben. Winslow Taylor war<br />
der Ansicht, dass das Management denken muss und die Mitarbeiter das Gedachte lediglich ausführen<br />
sollten. Dieser anti-partizipative Ansatz beruhte auf einem negativen Menschenbild, bei<br />
dem der Mensch sich nicht freiwillig einem engagierten Arbeitsprozess stellen würde. Diese Einstellung<br />
vernichtet Energie-Potenzial. Vertrauen, Sinnstiftung und Raum für Potenzialentwicklung<br />
sind die Joker des Modells, da es Energieverwendung und Energiequelle gleichermaßen ist. So<br />
schafft man Innovationen quasi mühelos.<br />
Das Modell der gesunden Führung wird im Rahmen einer Potenzialberatung durch das Management<br />
Institut Dortmund angewendet. Mitarbeiter und Führungskräfte werden in allen elf Kriterien befragt,<br />
wie wichtig sie den Faktor sehen und wie sie den Erfüllungsgrad bewerten.<br />
Die Auswertung bildet die Grundlage für den Dialog, die Priorisierung der Handlungsfelder und die<br />
Erstellung eines Handlungsplans. Jedes einzelne der elf Kriterien kann wieder im Fokus einer Potenzialanalyse<br />
stehen. Potenzial ist dabei die Chance, durch Maßnahmen eine Verbesserung in der Energiebilanz<br />
zu ziehen.<br />
Das MID-Modell der Führung ermittelt die Energie-Klasse, in der das Unternehmen geführt wird. Gesund<br />
können Mitarbeiter nur sein, wenn sie eine positive Energiebilanz ausweisen. Am Ende liegt ein<br />
mit den Beschäftigten entwickelter Handlungsplan vor, um Rahmenbedingungen für eine gesunde<br />
und erfolgreiche Unternehmenskultur zu schaffen.<br />
21
<strong>GESUND</strong>E<br />
SELBSTFÜHRUNG<br />
„Gesunde Selbstführung“ – Schlüsselkompetenz für Führungskräfte<br />
Martina Böhler, Susanne Fischer<br />
22
Gerade in den letzten Jahren haben sich die Anforderungen an Führungskräfte stark verändert. Die<br />
globalisierte Arbeitswelt ist geprägt von hohen Anforderungen, Arbeitsverdichtung und Reizüberflutung.<br />
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Führungsarbeit wird damit in allen<br />
Branchen zunehmend anspruchsvoller.<br />
Hinzu kommen die Auswirkungen des demografischen Wandels. Aus den neuesten Berechnungen<br />
des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass Deutschland dramatisch altert. Während heute jeder<br />
Fünfte 65 Jahre und älter ist, wird es 2060 schon jeder Dritte sein. Diese Entwicklung wird in den<br />
kommenden Jahren zunehmend den Pool an jungen Fachkräften begrenzen und Belegschaften werden<br />
weiter altern.<br />
Spätestens jetzt müssen die Unternehmen reagieren und Strategien entwickeln, um ihre Mitarbeiter<br />
ans Unternehmen zu binden und lange gesund im Arbeitsprozess zu halten. Eine gesundheitsorientierte<br />
Mitarbeiterführung ist dabei oberstes Gebot und entscheidender Teil einer zukunftsfähigen Personalstrategie<br />
und einer wirksamen betrieblichen Gesundheitsförderung.<br />
Es ist eine gut belegte Tatsache, dass Leitungskräfte durch ihr Führungsverhalten das Wohlbefinden<br />
und die Gesundheit ihrer Mitarbeiter beeinflussen – im positiven wie im negativen Sinne. Gesundheitsorientierte<br />
Führung trägt zu einem guten Betriebsklima, Mitarbeiterzufriedenheit und Leistungsfähigkeit<br />
bei. Die Umsetzung gesunder Führung im Unternehmen setzt dabei die Fähigkeit zu gesunder<br />
Selbstführung bei den Leitungskräften voraus.<br />
Um allen Anforderungen gerecht zu werden und um die eigene Gesundheit und die der Mitarbeiter<br />
mit im Blick zu behalten, müssen Führungskräfte spezielle Bewältigungsmechanismen entwickeln<br />
und die eigene Resilienz stärken. Sie müssen lernen, sich selbst gesund zu führen. Nur so können<br />
sie als Vorbild ins Unternehmen hineinwirken und Motor für eine mitarbeiter- und gesundheitsorientierte<br />
Unternehmenskultur werden.<br />
Was bedeutet „Gesunde Selbstführung“?<br />
Bei der Entwicklung gesunder Selbstführung geht es für Führungskräfte darum, Gesundheitskompetenz<br />
aufzubauen, indem sie die Wahrnehmung von sich selbst schärfen, lernen, die eigenen Belastungsgrenzen<br />
zu spüren, und den eigenen Stressoren auf die Schliche kommen.<br />
Die realistische Einschätzung der eigenen Grenzen hilft dabei, rechtzeitig die „Notbremse“ zu ziehen<br />
und so nicht ständig am Limit oder darüber hinaus zu agieren. Erst die Kenntnis der eigenen Stressoren<br />
ermöglich es, gezielte Maßnahmen zu ergreifen und Ressourcen zu aktivieren, um das eigene<br />
Wohlbefinden positiv zu beeinflussen. Ziel ist es, wirksame Mittel und Wege einzusetzen, um Stress<br />
abzubauen und sich zu erholen, insgesamt gelassener zu werden sowie für sich ein „vorbildliches<br />
Gesundheitsverhalten“ zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist ein empathischer und wertschätzender<br />
Umgang mit sich selbst.<br />
23
Die Entwicklung gesunder Selbstführung kann maßgeblich vonseiten des Unternehmens gestützt<br />
und gefördert werden. Entsprechende Coachings und Weiterbildungen, die die Kompetenzen von<br />
Führungskräften zur gesunden Selbstführung stärken, sollten fester Bestandteil von Personalentwicklungskonzepten<br />
und des betrieblichen Gesundheitsmanagements sein.<br />
Führungskräfte mit guter Gesundheitskompetenz und einem entsprechend gesunden Lebensstil können<br />
den Gesundheitsaspekt besser in ihr Führungsverhalten integrieren und im zweiten Schritt gesunde<br />
Mitarbeiterführung besser umsetzen. Ein „gesunder“ Führungsstil setzt immer eine Orientierung<br />
an den Mitarbeitern voraus, ist demokratisch und ermöglicht Partizipation. Davon profitiert das gesamte<br />
Unternehmen.<br />
Gesunde Führung ist dabei insbesondere gekennzeichnet durch klare Benennung von Arbeitsaufgaben,<br />
Anerkennung und Wertschätzung, Klarheit und Transparenz, konstruktive Kommunikation, Handlungsspielraum,<br />
Beteiligung an Entscheidungsprozessen und soziale Unterstützung. Zur Verwirklichung<br />
gesunder Selbstführung benötigen Vorgesetzte deshalb neben der Fähigkeit zur gesunden<br />
Selbstführung eine ausgeprägte Sozialkompetenz.<br />
Darüber hinaus ist es notwendig, dass vonseiten der Unternehmen die organisationalen Voraussetzungen<br />
geschaffen werden. So sollten sorgsam definierte Leitlinien den Rahmen für das Führungsverhalten<br />
abstecken. Die Arbeits- und Organisationsgestaltung sollte selbstverständlich gesundheitsförderliche<br />
Aspekte in den Fokus setzen. Betriebliches Gesundheitsmanagement gewinnt in diesem Zusammenhang<br />
zunehmend an Bedeutung. Die Unternehmen sind hier in der Pflicht, den Weg zu bereiten,<br />
damit „Gesunde Führung“ gelingen kann.<br />
In unserer Beratungspraxis begegnet uns allerdings immer wieder, dass gerade der wichtige Aspekt<br />
der „Gesunden Selbstführung“ als erster Schritt zur gesunden Mitarbeiterführung vernachlässigt<br />
wird. Führungskräfte agieren in Bezug auf ihre eigenen Belastungsgrenzen und ihr eigenes Gesundheitsverhalten<br />
nicht als Vorbild im Unternehmen.<br />
In unseren Beratungsprojekten in kleinen und mittleren Unternehmen zeigte sich nach der Analysephase<br />
häufig, dass ein effektiver Hebel zur Verbesserung in den Bereichen Arbeitsorganisation, Effizienz<br />
der Arbeitsabläufe, Mitarbeiterzufriedenheit und Gesundheitsförderung in der Stärkung der Leitungskompetenz<br />
und des Führungsverhaltens liegt. Eine zentrale Rolle spielte hier jeweils der Aspekt<br />
der mangelnden gesunden Selbstführung. Aus eigener Überlastung war eine adäquate Aufgabenerfüllung<br />
und Mitarbeiterführung schlicht nicht mehr möglich.<br />
Die Führungskräfte empfanden diesen Mangel auch selber in ihrer täglichen Arbeit. Durch die hohe<br />
Belastung fanden sie aber keinen Ansatz für eine Verbesserung der Situation. Im Laufe des Beratungsprozesses<br />
wurde an einer Strategie zur Umsetzung von gesunder Selbst- und Mitarbeiterführung<br />
gearbeitet. Erste Effekte zeigten sich schon während des Beratungsprozesses. Leitungskräfte<br />
sorgten z.B. für mehr soziale Unterstützung im eigenen Kreis, reflektierten regelmäßig ihr eigenes Verhalten<br />
und organisierten Weiterbildungen im Bereich Stressmanagement und gesunde Führung. Ins-<br />
24
gesamt wurde der Fokus stärker auf die Wichtigkeit von Pausen- und Erholungszeiten gelenkt und<br />
die Möglichkeiten betrieblicher Gesundheitsförderung ausgelotet.<br />
Unsere Erfahrung der letzten Jahre zeigt uns: „Gesunde Selbstführung“ ist eine Schlüsselkompetenz,<br />
ohne die gesunde Führung im Unternehmen Makulatur ist. Viele Führungskräfte erkennen diesen Zusammenhang<br />
und wünschen sich Veränderung sowie persönliche Unterstützung.<br />
25
KOMMUNIKATION<br />
Kommunikation – Stressfaktor und Gesundheitsressource<br />
Astrid Arens<br />
26
In den letzten Monaten befinden sich Führungskräfte verstärkt unter Druck. Nicht zuletzt durch die aktuelle<br />
Veröffentlichung der Mitarbeiterzufriedenheit in deutschen Unternehmen Anfang März dieses<br />
Jahres durch das Meinungsforschungsinstitut Gallup. Erneut beträgt der Anteil jener Mitarbeiter, die<br />
lediglich eine geringe emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen aufweisen oder sogar bereits innerlich<br />
gekündigt haben, über 85% (Kestel, 2015). Die Hauptursache für dieses Dilemma sind laut Gallup<br />
die Führungskräfte: Viel zu wenig kommunizieren sie mit ihren Mitarbeitern und wenn, dann üben<br />
sie Druck aus, der zu Stress führt.<br />
Konfrontiert man Führungskräfte mit den Ergebnissen der Engagement-Studie von Gallup, die das<br />
Unternehmen bereits seit 2001 regelmäßig in Deutschland durchführt, entgegnen diese, dass der<br />
Wettbewerbsdruck stetig zunehme, wodurch gleichzeitig der Erfolgsdruck wachse. Dies führe sicherlich<br />
zu einem härteren Umgangston, doch den müsse ein Mitarbeiter heutzutage aushalten.<br />
Aber es geht auch anders. Das beweisen wissenschaftlich fundierte Konzepte aus dem modernen<br />
Leistungs- und Gesundheitstuning. Sie basieren auf Erkenntnissen der Hirnforschung. Die Erfolgsformel<br />
für ein effektives, gut umsetzbares und vor allem nachhaltiges Konzept baut auf folgenden Säulen<br />
auf: einer neuen Einstellung, einer neuen Sprache, höherer Motivation und daraus resultierender<br />
besserer Gesundheit.<br />
Kommunikation ist einer der größten Stressoren überhaupt. Oft erfahren wir in der Praxis, dass viele<br />
Führungskräfte gute Absichten hegen, jedoch unbewusst in Sprachfallen geraten, die eher demotivierend<br />
in der Wirkung sind. Gut gemeint, falsch gesagt – ein weit verbreitetes Konzept. Von daher gilt<br />
es in Zukunft für die Führungskräfte, Brücken zu den Mitarbeitern zu bauen, Hände zu reichen und<br />
dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter weniger Mauern hochziehen und sich zurückziehen.<br />
Wenn jetzt noch der Aspekt Berücksichtigung findet, dass jeder Mensch ein Individuum ist, dass jeder<br />
den Gedanken an Gesundheit anders verankert, dass jeder andere Sportvorlieben und Gangarten<br />
hat, dass jeder die Möglichkeit hat, typgerecht mit diesem Thema umzugehen, dann ist eine neue<br />
Stufe der Mitarbeiterbindung erreicht. Der erfolgreiche duale Lösungsansatz dazu lautet: Ein alltagstaugliches,<br />
praxisnahes, gut umsetzbares Methodenkonzept in Kombination mit typgerechter Kommunikation<br />
erzielt hohe Nachhaltigkeit und messbar mehr Unternehmensgesundheit.<br />
Ziel ist es, gesunde, begeisterte und hoch motivierte Mitarbeiter in den Teams zu haben. Die emotionale<br />
Bindung an das Unternehmen steigt und Ausfallquoten und Krankenstände sinken. Wertschätzung<br />
und Anerkennung werden als feste Größen im Rahmen der gelebten Führungskultur gesehen,<br />
womit die emotionale Intelligenz im Rahmen der Führung eine neue Dimension erfährt.<br />
Worum handelt es sich bei dieser Kommunikationstechnik, die immer stärker von heimischen Betrieben<br />
eingesetzt wird? Grundlage ist der interdisziplinäre Ansatz aus Neurowissenschaften, Kommunikationswissenschaften,<br />
Stressforschung und Medizin. Er erklärt, wie Information und Kommunikation<br />
im Gehirn aufgenommen, verarbeitet und gelernt werden und wie sie auf den Körper wirken (Bittner<br />
& Schwarz, 2010).<br />
27
Die neuromentale Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie Sprache,<br />
Kommunikation und soziale Interaktion zwischen Menschen als fundamentale Wechselwirkung funktionieren.<br />
Dabei zeigt sich: Die Assoziationsfähigkeit unseres Gehirns ist der Schlüssel für den Aufbau<br />
von Emotionen und basiert auf einer guten Sprachqualität. Jedes Wort wird im Kopf des Gesprächspartners<br />
in eine neuromentale „Suchmaschine“ eingegeben, die wir als „Google-Prinzip“ (Bittner &<br />
Schwarz, 2010) bezeichnen. Jedes Wort löst gespeicherte Erinnerungen und Assoziationen aus und<br />
somit auch eine Emotion. Auch hier gilt es, möglichst positive Gefühle beim Anderen hervorzurufen,<br />
womit z.B. die Bereitschaft steigt, weiter zuzuhören.<br />
Unser Gehirn durchsucht also jeden Begriff, den unser Gesprächspartner nennt, nach Möglichkeiten,<br />
diesen einzuordnen. Automatisch führen wir Bewertungen durch und diese wiederum beeinflussen<br />
unsere Reaktion darauf.<br />
Ein Beispiel: Ein negativ assoziiertes Wort wie „Problem“ löst im Körper eines Menschen eine messbare<br />
Stressreaktion aus. Entscheidend ist also weniger das, was wir sagen, als das, was wir im Kopf unseres<br />
Gegenübers bewirken. Die Attraktivität eines Gespräches ist abhängig von der Assoziation, die<br />
sich beim Anderen aufbaut und dem sich darauf bildenden guten oder schlechten Gefühl.<br />
Die Neurowissenschaften haben klar gezeigt: Es kommt auf jedes einzelne Wort an. Es ist eine neue<br />
Sensibilität und Qualität der Sprache erforderlich. „Neuro-Google“ läuft immer ab, unbewusst und extrem<br />
schnell (Bittner & Schwarz, 2010).<br />
Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter nach dem Prinzip der Neurokommunikation führen, entwickeln eine<br />
positive Sprachqualität. Die Vorteile, die sich aus dieser neuen Qualität ergeben: Sie senkt Stressreaktionen<br />
und führt so zu mehr Leistung, mehr Lebensqualität und das wiederum erhöht die Motivation<br />
und verbessert den Gesundheitsstand im Unternehmen.<br />
Valesca Blau, HR-Leiterin und Ansprechpartner für Gesundheitsmanagement der Firma Delphi<br />
Deutschland, unterstreicht diese Aussage: „Wir haben natürlich als großes Unternehmen sehr viel mit<br />
Lieferanten und Kunden zu tun, aber eben auch mit Führungskräften, ihren Teams und den Mitarbeitern.<br />
Da ist es einfach sehr wichtig, um effizient sein zu können, dass die Auswirkungen von Kommunikation<br />
auch den Mitarbeitern und Führungskräften bewusst sind, wodurch wiederum ganzheitlich<br />
Wettbewerbsvorteile entstehen.“<br />
Der Körper wird durch physiologische Stressreaktionen belastet, wenn eine emotional negativ assoziierte<br />
Kommunikation gelebt wird. Dabei reicht schon der Gebrauch einzelner negativer Worte bzw.<br />
Formulierungen aus, damit ein Überlebensmechanismus ausgelöst wird. Walter B. Cannon beschrieb<br />
diese Reaktion als „Kampf-Flucht-Reaktion“. Die entscheidende Erkenntnis war, dass der Körper auf<br />
psychophysische Belastungen („Stress“) immer mit einer Aktivierung reagiert. Das Grundmuster dieser<br />
Aktivierung ist evolutionär bewährt und in jedem Menschen verankert: Der Körper wird in Bruchteilen<br />
von Sekunden aktiviert (Bittner & Koepchen, 2006).<br />
28
Letztlich gilt es für Führungskräfte immer, bei den Mitarbeitern eine hohe Leistungsbereitschaft mit<br />
gleichzeitig hoher Motivation zu erzeugen und dabei die Gesundheit eines jeden Einzelnen zu gewährleisten<br />
(Buckingham & Coffman, 2012). Da Stress inzwischen als Auslöser für die häufigsten Erkrankungen<br />
im beruflichen Alltag gilt und laut der WHO (Weltgesundheitsorganisation) der Risikofaktor<br />
Nr. 1 im 21. Jahrhundert ist, sollte es in der Verantwortung eines jeden Unternehmens liegen, ein<br />
aktives Stressmanagement zu betreiben. 2012 waren in Deutschland psychische Störungen für mehr<br />
als<br />
53 Millionen Krankheitstage verantwortlich (Ursula von der Leyen im Vorwort zum Stressreport<br />
Deutschland, Lohmann-Haislah, 2012). Es gilt hier, im Rahmen der Unternehmenspflichten die Verantwortung<br />
dafür im Sinne eines neuen Führungsdenkens zu übernehmen.<br />
Literatur<br />
Bittner, G. & Koepchen, J. (2006). Mentale Medizin: Gesundheit beginnt im Kopf – eine Einführung.<br />
Mülheim: Point Consulting.<br />
Bittner, G. & Schwarz, E. (2010). Emotion Selling: Messbar mehr verkaufen durch neue Erkenntnisse<br />
der Neurokommunikation. Wiesbaden: Gabler.<br />
Lohmann-Haislah, A. (2012). Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen<br />
und Befinden. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.<br />
Buckingham, M. & Coffman, C. (2012). Erfolgreiche Führung gegen alle Regeln: Wie Sie wertvolle Mitarbeiter<br />
gewinnen, halten und fördern. Frankfurt, New York: Campus<br />
Kestel, C. (2015). Bindung steigt, Leidenschaft dümpelt. Harvard Business Manager Online Magazin.<br />
http://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/gallup-index-mitarbeiterbindung-steigt-a-1022614.html<br />
(zuletzt besucht am 11.05.2015).<br />
29
FITNESS UND<br />
RESILIENZ<br />
Körperliche Fitness als Resilienzfaktor bei der Bewältigung<br />
von emotionalen Arbeitsbelastungen: Die Stärke der Frauen<br />
Stefan Diestel, Rüdiger Beck<br />
30
In ihrem epochemachenden Werk „Das gekaufte Herz“ (1983) widmet sich Arlie Hochschild der besonderen<br />
Bedeutung der Emotionsarbeit in zahlreichen Berufen, wie etwa bei Hotelangestellten, Flugbegleitern,<br />
Lehrern sowie auch Bankangestellten. Ihr Interesse gilt der intentionalen Steuerung der<br />
eigenen tatsächlich erlebten und im sozialen Interaktionsprozess gezeigten Gefühle zugunsten eines<br />
von der Arbeitsrolle geforderten emotionalen Ausdrucks. Hochschild hat insbesondere den entfremdenden<br />
sowie psychisch belastenden Charakter der Emotionsarbeit thematisiert, die nicht selten starke<br />
Erschöpfungszustände und Unzufriedenheit hervorruft. Nach mehr als drei Jahrzehnten international<br />
umfangreich betriebener Forschung zur Beanspruchungswirkung der willentlichen Emotionssteuerung<br />
dokumentieren Studienergebnisse, dass<br />
1. Emotionsarbeit insbesondere dann Erschöpfungszustände auslöst, wenn Angestellte Personen in<br />
ihrer Arbeitsrolle Gefühle zeigen müssen, die nicht im Einklang mit zu den tatsächlich erlebten E-<br />
motionen stehen,<br />
2. dieser als emotionale Dissonanz bezeichnete Rollenkonflikt eine begrenzte psychische Ressource<br />
verbraucht und über die Erschöpfung dieser Ressource beanspruchungswirksam wird<br />
3. und im Vergleich zu anderen emotionalen Anforderungen emotionale Dissonanz die stärksten ungünstigen<br />
Effekte auf psychische Gesundheit (Burnout, Depression und psychosomatische Beschwerden)<br />
sowie Leistungsfähigkeit (mangelnde Arbeitszufriedenheit und Absentismus) zur Entfaltung<br />
bringt (Hülsheger & Schewe, 2011).<br />
Ungeachtet dieser alarmierenden Befunde hat Emotionsarbeit als potenzielle Belastungsquelle kaum<br />
in integrierten Systemen des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) Beachtung gefunden.<br />
Ferner fehlen Erkenntnisse über potenzielle Resilienzfaktoren, die die Bewältigung der häufig unvermeidlich<br />
erlebten emotionalen Dissonanz stärken und Angestellte vor deren Beanspruchungswirkung<br />
präventiv schützen. In Anbetracht dieser ernüchternden Situation hat die prevent.on GmbH gemeinsam<br />
mit dem Leibniz-Institut für Arbeitsforschung (www.ifado.de) ein Instrument der psychischen Gefährdungsanalyse<br />
entwickelt und validiert, das als Komponente eines medizinisch-psychologischen<br />
Check-ups diagnostische Informationen über Arbeitsanforderungen (u.a. Emotionsarbeit), Beanspruchungsfolgen<br />
und arbeitsbezogene sowie persönliche Resilienzfaktoren zur Evaluation des individuellen<br />
Gesundheitszustands liefert. Der medizinische Teil des Check-ups umfasst u.a. die Analyse des<br />
Körperfetts, des Genussmittelkonsums, der Gefäßstrukturen in der Halsschlagader sowie nicht zuletzt<br />
der Sauerstoffaufnahmekapazität der Lunge (VO2max) unter sportlicher Belastung als valider Indikator<br />
der körperlichen Fitness.<br />
Aufgrund der hohen Probandenzahl bei prevent.on ermöglichen die aus den Check-ups resultierenden<br />
Datensätze umfangreiche sowie differenzierte empirische Analysen, deren Ergebnisse relevante<br />
Implikationen für das BGM haben. Insbesondere für die individuelle Bewältigung von Arbeitsbelastungen,<br />
wie etwa emotionale Dissonanz, liefern solche Ergebnisse Hinweise auf wirksame Resilienzfaktoren,<br />
die die Zusammenhänge zwischen Belastungen und Beanspruchungsfolgen abschwächen.<br />
31
Integratives Ressourcenmodell<br />
der Anforderungsbewältigung<br />
Ein Beispiel ist die bereits oben erwähnte Sauerstoffaufnahmekapazität<br />
(VO2max), die im Falle ihrer hohen Ausprägung einerseits eine gute Fitness<br />
sowie hiermit assoziierte und effektive parasympathische Aktivität<br />
indiziert. Andererseits dürften Personen mit hoher VO2max über eine<br />
allgemein gut ausgeprägte Erholungsfähigkeit verfügen, die eine effiziente<br />
Regeneration der psychischen Ressourcen außerhalb der Arbeit<br />
gewährleistet. Insofern sollte eine hohe VO2max in der Funktion als Resilienzfaktor<br />
die negativen Wirkungen von emotionaler Dissonanz auf<br />
die psychische Gesundheit abschwächen.<br />
An einer Stichprobe von 619 Mitarbeitern aus einem Dienstleistungsunternehmen<br />
(Frauenanteil: 48,3%; durchschnittliches mittleres Alter: 49,1<br />
Jahre, 36-64) haben wir mittels statistischer Zusammenhangsanalysen<br />
die kombinierten Wirkungen von VO2max (körperlicher Fitness) und e-<br />
motionaler Dissonanz auf Erschöpfungssymptome getestet. Die Ergebnisse<br />
dieser Analysen weisen auf eine geschlechtsspezifische Wirkung<br />
der VO2max hin.<br />
In der Abbildung sind die Wirkungsmuster Wirkungen grafisch dargestellt.<br />
Bei Frauen steigt die akute Erschöpfung unter Einfluss zunehmender<br />
emotionaler Dissonanz nur im Falle niedriger VO2max (rote Linie)<br />
32
an, während bei hoher VO2max die Wirkung von emotionaler Dissonanz auf akute Erschöpfung deutlich<br />
schwächer ist (blaue Linie). D.h. selbst bei hoher emotionaler Dissonanz bleibt die akute Erschöpfung<br />
weitgehend auf relativ niedrigem Niveau, wenn die körperliche Fitness stark ausgeprägt ist. Frauen<br />
mit niedriger VO2max leiden deutlich stärker unter akuten Erschöpfungssymptomen als Folge hoher<br />
emotionaler Dissonanz. Bei Männern hingegen scheint die VO2max kein Resilienzfaktor zu sein:<br />
Unabhängig von der VO2max nimmt die akute Erschöpfung unter Einfluss häufig erlebter emotionaler<br />
Dissonanz zu. Beide Zusammenhänge (rot/blau) haben etwa die gleiche Steigung. Insofern profitieren<br />
weibliche Angestellte deutlich mehr von einer hohen VO2max in der Bewältigung von emotionaler<br />
Dissonanz als Männer.<br />
Ergänzende Analysen zeigen, dass im Vergleich zu Frauen Männer in dem untersuchten Unternehmen<br />
ungünstigere Lebensweisen (mehr Alkoholkonsum, weniger Obst/Gemüse-Verzehr) an den Tag<br />
legen sowie schlechtere medizinische Werte (höheres metabolisches Risiko, höhere BMI- und Blutdruckwerte)<br />
aufweisen. Offenbar sind Männer dieses Unternehmens aufgrund ihrer ungünstigeren<br />
medizinischen Situation weniger gut in der Lage, die Potenziale von körperlicher Fitness in der Stressbewältigung<br />
zu nutzen.<br />
Die hier dargestellten Ergebnisse liefern Hinweise für eine nachhaltige Gestaltung des BGM des untersuchten<br />
Unternehmens:<br />
1. Die ungünstige Wirkung von emotionaler Dissonanz auf die psychische Gesundheit lässt sich<br />
durch VO2max abschwächen. D.h. die Förderung der körperlichen Fitness sollte zentraler Bestandteil<br />
des BGM sein, um die psychischen Folgen von emotionaler Dissonanz zu verhindern.<br />
2. Männer des hier untersuchten Dienstleisters sollten gezielt in ihrem gesundheitlichen Verhalten<br />
sowie in ihrer medizinischen Situation angesprochen werden.<br />
In Ergänzung zu diesem Befundmuster ermöglicht das Spektrum der im Check-up erhobenen Parameter<br />
weitere integrierte Analysen von Wirkzusammenhängen zwischen Arbeitsanforderungen, medizinischen,<br />
persönlichen sowie arbeitsbezogenen Resilienz- und Vulnerabilitätsfaktoren sowie Indikatoren<br />
der psychischen und physischen Gesundheit. Derartige Analysen geben differenzierte Auskunft<br />
über die spezifische gesundheitliche Situation von Angestellten einer Organisation und liefern präzise<br />
Hinweise für Implikationen der effektiven sowie nachhaltigen Verhaltens- und Verhältnisprävention.<br />
Wenngleich sich die von Arlie Hochschild erstmalig gegenüber einer breiten Öffentlichkeit thematisierte<br />
Emotionsarbeit aufgrund der wachsenden Dynamik im Dienstleistungssektor nicht verhindern<br />
lässt, so können durch eine körperlich gesunde Lebensweise die verheerenden Folgen abgeschwächt<br />
werden. Der vorliegende Beitrag soll die Bedeutung von körperlicher Fitness, gesunder Ernährung<br />
und bewusster Lebensweise akzentuieren, die nicht nur „das schlechte Gewissen“ lindern<br />
oder gar die Eitelkeit fördern, sondern bei hohen emotionalen Anforderungen vor akuter Erschöpfung<br />
schützen.<br />
33
Literatur<br />
Hochschild, A. R. (1983). The managed heart. Berkeley, CA: University of California Press.<br />
Hülsheger, U. R., & Schewe, A. F. (2011). On the costs and benefits of emotional labor: A meta-analysis<br />
of three decades of research. Journal of Occupational Health Psychology, 16, 361–389.<br />
34
Rückenbeschwerden als Spiegel der Arbeits- und Lebensbedingungen<br />
RÜCKENBE-<br />
SCHWERDEN<br />
Christian Kunert<br />
35
Aktuelle wissenschaftliche Studien belegen, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine Veränderung<br />
im Auftreten von Krankheiten stattgefunden hat. Während früher Infektionskrankheiten dominierten,<br />
bestimmen heute nicht übertragbare, chronisch-degenerative Erkrankungen das Krankheitsgeschehen.<br />
Stark zugenommen haben seither vor allem Beschwerden und Erkrankungen im Bereich<br />
des aktiven und passiven Bewegungsapparates, wobei insbesondere die verschiedenen Rückenleiden<br />
zu einer neuen Volkskrankheit geworden sind.<br />
Nach der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2012) geben je nach Region 32% bis 49% der<br />
Bundesbürger an, zum aktuellen Zeitpunkt Rückenschmerzen zu haben (Stichtagsprävalenz). Nach<br />
demselben Bericht, geben zwischen 74% bis sogar 85% der Befragten an, davon mindestens schon<br />
einmal betroffen gewesen zu sein (Lebenszeitprävalenz).<br />
Charakteristisch für Rückenschmerzen ist, dass sie in den allermeisten Fällen (bei ca. 80-90% der Betroffenen)<br />
zunächst spontan, d.h. auch ohne medizinische Interventionen, innerhalb von vier bis<br />
sechs Wochen wieder abklingen. Rund zwei Drittel der Personen mit Rückenbeschwerden erleiden<br />
jedoch in der Folgezeit weitere Schmerzepisoden, sodass man davon ausgehen kann, dass früher<br />
aufgetretene Rückenbeschwerden ein wichtiger Risikofaktor für das zukünftige Auftreten von Rückenschmerzen<br />
sind.<br />
Eine reine Primärprävention zur Vermeidung von Rückenbeschwerden ist vor diesem Hintergrund nahezu<br />
unmöglich. Vielmehr muss es innerhalb der bestehenden Konzepte darum gehen, eine Chronifizierung<br />
der Beschwerden zu verhindern und die Ausbildung individueller Strategien zum Umgang<br />
mit bzw. zur Bewältigung von Beschwerden zu fördern. Dabei ist man auf die nachhaltige Unterstützung<br />
eines jeden Betroffenen angewiesen, der kognitiv erkennen muss, dass ein gewisses Maß an<br />
Eigeninitiative und Mitwirkung erforderlich ist, um die individuelle Gesundheitssituation positiv zu beeinflussen.<br />
Dabei spielt der Bildungsgrad eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines Gesundheitsbewusstseins.<br />
Und obwohl Rückenschmerzen in Deutschland weit verbreitet sind, bleiben die eigentlichen Ursachen<br />
häufig unklar und sind auch durch modernste Untersuchungstechniken und bildgebende Verfahren<br />
oft nicht eindeutig zu identifizieren. Eindeutige Befunde wie z.B. Bandscheibenvorfälle oder<br />
andere, durch Infektionen, Brüche oder rheumatische Erkrankungen hervorgerufene strukturelle Veränderungen<br />
der Wirbelsäule können nur in etwa 15-20% der Fälle diagnostiziert werden. Die weitaus<br />
größere Zahl der Patienten leidet an sogenannten unspezifischen Rückenbeschwerden, bei denen<br />
keine eindeutige Diagnose gestellt werden kann.<br />
Rückenbeschwerden und ihre Ursachen<br />
Aufgrund der hohen Fallzahlen an unspezifischen Rückenbeschwerden, sind die Risikofaktoren für<br />
die Entstehung bzw. Chronifizierung von Rückenschmerzen nach heutigem Kenntnisstand nicht eindeutig<br />
zu klassifizieren. Man geht jedoch davon aus, dass ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher<br />
Parameter aus sozialen, psychologischen, arbeitsplatzbezogenen und individuellen Ein-<br />
36
flüssen verantwortlich ist, wobei jeder einzelne Parameter für sich noch keine Aussage über das Auftreten<br />
von Rückenbeschwerden zulässt.<br />
Häufig sind die Ursachen der Erkrankung eng mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen bzw. unserem<br />
Lebensstil verbunden. Infolge der fortschreitenden Industrialisierung, Automatisierung und Technisierung<br />
vieler Arbeitsabläufe, wird der Mensch in vielen Berufen körperlich weniger gefordert. Auch<br />
im privaten Alltag sind körperliche Arbeit und Bewegung weitgehend durch technische Geräte ersetzt<br />
worden. Hinzu kommen in vielen Berufen monotone und einseitige körperliche Belastungen<br />
(z.B. Heben und Bücken bei Material- oder Patientenbewegungen in der Produktion oder der Pflege).<br />
Laut DKV-Report (2015) sitzt der Bundesbürger im Tagesdurchschnitt ca. 7,5 Stunden. Und auch das<br />
Aktivitätsniveau bei sitzender Tätigkeit hat sich mittlerweile auf 1.500 Schritte am Tag reduziert. Die<br />
empfohlenen 150 Minuten pro Woche, bei moderater bis intensiver körperlicher Anstrengung, erreichen<br />
in Deutschland nur wenige Menschen. Demnach definiert auch die WHO in ihrem Statusreport<br />
bereits 2011 mehr als 60% der Weltbevölkerung als inaktiv und schreibt 3,2 Mio. Todesfälle pro Jahr<br />
den Folgen von Bewegungsmangel zu. Körperliche Inaktivität ist somit ein zentraler und massiver Risikofaktor<br />
für das Auftreten vieler gesundheitlicher Probleme der modernen Zeit, insbesondere im<br />
Kontext von Rückenbeschwerden.<br />
Neben diesen physischen Determinanten stellen aber auch zunehmend die psychischen Belastungen<br />
im Alltag oder am Arbeitsplatz eine wichtige Ursache vieler Beschwerden dar. Mentale und emotionale<br />
Einflüsse oder private sowie beruflich bedingte Stresssituationen übertragen sich häufig auf<br />
den Körper und lösen dort vermehrt z.B. schmerzhafte Verspannungen, Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden<br />
aus.<br />
Der Umgang mit Rückenbeschwerden<br />
Entscheidend im Umgang mit Rückenbeschwerden ist die Entwicklung eines Gesundheitsbewusstseins<br />
und damit verbunden die aktive Übernahme der persönlichen Verantwortung für die positive Beeinflussung<br />
der eigenen Gesundheit. Viele Menschen verlagern jedoch genau diese Verantwortung<br />
auf externe Institutionen. Darüber hinaus fehlt häufig auch der Glaube an das Entwicklungspotenzial<br />
der Gesundheit durch gesundheitssportliche Bewegungsansätze. Und so gehören Rückenbeschwerden<br />
zum Alltag der deutschen Bevölkerung. Sie kommen und gehen, der Arzt verordnet Krankengymnastik,<br />
verschreibt Medikamente oder gibt eine Spritze, der Patient schont sich und so, wie die Beschwerden<br />
gekommen sind, so verschwinden sie auch wieder innerhalb der nächsten vier bis sechs<br />
Wochen. Rückenschmerzen haben sich etabliert und werden wie eine normale Erkältung akzeptiert.<br />
Doch genau hier gilt es den Hebel anzusetzen und die Lethargie im Umgang mit der Volkskrankheit<br />
Rückenschmerzen aufzubrechen.<br />
37
Konzepte in der Prävention<br />
Dabei kommen aktuell unterschiedliche Konzepte zum Tragen, die jeweils einen eigenen Ansatz haben.<br />
Weit verbreitet sind in diesem Kontext Angebote der Verhaltensprävention. Diese befassen sich<br />
in der Regel mit praktischen Inhalten der Bewegungsförderung und Entspannung und zielen auf eine<br />
individuelle Gesundheitsförderung einzelner Teilnehmer ab. So lassen sich zahlreiche Bewegungsoder<br />
Entspannungskurse in örtlichen Sportvereinen und Fitnessstudios finden. Und auch im Kontext<br />
der betrieblichen Gesundheitsförderung sind entsprechende Ansätze mittlerweile dokumentiert.<br />
Doch gerade im betrieblichen Setting gehen moderne Unternehmen mittlerweile einen Schritt weiter<br />
und haben im Sinne einer modernen und gesunden Unternehmenskultur erkannt, dass neben der Verhaltensprävention<br />
auch die Verhältnisprävention implementiert werden muss. So werden durch Maßnahmen<br />
des betrieblichen Gesundheitsmanagements einerseits die Auswirkungen des demografischen<br />
Wandels auf immer älter werdende Mitarbeiter positiv beeinflusst. Andererseits streben die Unternehmen<br />
dadurch den Erhalt und/oder den Gewinn junger Nachwuchskräfte an.<br />
Angelehnt an traditionelle Management-Zyklen geht es dabei um die grundsätzliche Analyse des Ist-<br />
Zustandes, die Interventionsplanung und -durchführung sowie eine anschließende Evaluation der eingeleiteten<br />
Maßnahmen als Soll-Vergleich.<br />
Zu den Inhalten des betrieblichen Gesundheitsmanagements gehören dann detaillierte Arbeitsplatzanalysen,<br />
Führungskräfteentwicklungen und Gesundheitszirkel in Unternehmen, die mit Unterstützung<br />
externer Berater und deren Fachexpertise durchgeführt werden.<br />
38
JUGENDLICHE<br />
MIT MIGRATIONS-<br />
H<strong>IN</strong>TERGRUND<br />
Fit für den beruflichen Einstieg – Ein potenzialorientierter<br />
Blick auf Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />
Christina Huwald<br />
39
Allein im Ausbildungsjahr 2013 blieben insgesamt 33.500 angebotene Ausbildungsstellen unbesetzt<br />
(BMBF,2014). Trotz dieser Vielzahl an vakanten Stellen haben viele junge Menschen mit niedrigen<br />
Schulabschlüssen, darunter insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund, Probleme, auf<br />
dem Ausbildungsmarkt Fuß zu fassen, und verbleiben langfristig in Übergangssystemen. Die Arbeitslosigkeit<br />
beeinträchtigt das Selbstbewusstsein der jungen Menschen und kann sogar gesundheitliche<br />
Auswirkungen haben. Ein potenzialorientiertes Coaching, das sowohl die Jugendlichen selbst<br />
als auch potenzielle Arbeitgeber für die Kompetenzen der jungen Menschen sensibilisiert, kann der<br />
Schlüssel zu einem Ausbildungsplatz sein. Hier setzt das Projekt Kompetenzcenter an.<br />
Für viele Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss gestaltet sich die Suche nach einem Ausbildungsplatz<br />
nach wie vor schwierig. Laut einer Analyse der IHK-Lehrstellenbörse durch den Deutschen<br />
Gewerkschaftsbund bleibt Hauptschülerinnen und Hauptschülern der Zugang zu rund 61%<br />
der ausgeschriebenen Stellen verwehrt, da die Formulierung der Stellenangebote diese Gruppe von<br />
vornherein ausschließt (Anbuhl, 2015). Unter diesen Jugendlichen, die als höchsten Bildungsabschluss<br />
einen Hauptschulabschluss vorweisen können, befinden sich überdurchschnittlich viele junge<br />
Menschen mit einem Migrationshintergrund. Durch niedrige Schulabschlüsse und eine defizitäre<br />
Sichtweise, die von außen auf sie gerichtet wird, werden die Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt<br />
oft doppelt benachteiligt. So zeigt eine repräsentative Unternehmensbefragung der Bertelsmann-Stiftung,<br />
dass ca. 60% der befragten Unternehmen angaben, noch nie einem Jugendlichen mit<br />
Migrationshintergrund eine Ausbildungsstelle gegeben zu haben (Enggruber & Rützel, 2014). Die erfolglose<br />
Suche nach einem Ausbildungsplatz führt oftmals bereits in jungen Jahren zu einem Eintritt<br />
und häufig zu einem Verbleib im Bezug des Arbeitslosengeldes II.<br />
Arbeitslosigkeit macht krank<br />
Jugendliche Langzeitarbeitslose mit Migrationshintergrund benötigen eine individuelle Unterstützung<br />
und Förderung, um den Einstieg in den Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt zu schaffen. Gerade in Zeiten<br />
des Fachkräftemangels geht dem Arbeitsmarkt andernfalls ein wichtiges Arbeitskräftepotenzial<br />
verloren. Dabei verfügen die jungen Menschen über vielfältige Potenziale und Kompetenzen, die häufig<br />
jedoch durch die lange Zeit der Arbeitslosigkeit verloren gegangen sind. Dieser Kompetenzen<br />
müssen sich sowohl die Jugendlichen selbst als auch die Arbeitgeber/-innen (wieder) bewusst werden.<br />
Genau hierbei setzt die potenzialorientierte Arbeit des Multikulturellen Forums e.V. im Projekt<br />
Kompetenzcenter an.<br />
Mithilfe eines Coachings wird an den individuellen Problemlagen des Einzelnen gearbeitet. Hierzu<br />
können auch psychische oder körperliche Belastungen gehören, die durch die Arbeitslosigkeit entstehen<br />
oder verstärkt werden. Da kulturelle Faktoren bei der Interpretation und dem Umgang mit Erkrankungen<br />
eine große Rolle spielen, gehen Migrantenfamilien häufig anders mit diesen Themen um. So<br />
werden in einigen Kulturen Krankheiten zum Teil nicht vordergründig unter naturwissenschaftlichen<br />
Gesichtspunkten interpretiert, sondern als vorgegebenes Schicksal angesehen. Insbesondere psychische<br />
Erkrankungen stellen häufig ein Tabuthema dar. Migrantenfamilien tendieren daher dazu, dies-<br />
40
ezügliche Auffälligkeiten in der Familie aufzufangen, anstatt externe Hilfe in Anspruch zu nehmen.<br />
Die Arbeit an diesen Fragestellungen benötigt interkulturell sensibel durchgeführte Einzelberatungen.<br />
Im Projekt wird darauf geachtet, die Unterstützung von spezialisierten Facheinrichtungen, Psychologen<br />
und Ärzten einzuholen bzw. die Teilnehmer/-innen gezielt an diese Einrichtungen zu verweisen<br />
und sie bei deren Inanspruchnahme zu unterstützen. Die Auswahl einer geeigneten Einrichtung, die<br />
über interkulturelle Sensibilität verfügt, spielt dabei eine wichtige Rolle.<br />
Hinzu kommt bei den jungen Menschen häufig mangelndes Wissen über alltägliche Gesundheitsrisiken<br />
wie eine unausgewogene Ernährung oder mangelnde Bewegung. Durch die regelmäßige Teilnahme<br />
an sportlichen Aktivitäten, gemeinsames Einkaufen und gesundes Kochen in der Gruppe wird<br />
das Gesundheitsbewusstsein der Jugendlichen gestärkt. Zudem schafft die Teilnahme an regelmäßigen<br />
sportlichen Aktivitäten einen strukturierten Tagesablauf – etwas, das Teilnehmende nach langer<br />
Arbeitslosigkeit häufig neu erlernen müssen.<br />
„Bewerbung mal anders“<br />
Neben der Arbeit an gesundheitlichen Fragestellungen geht es auf dem Weg zu einem Ausbildungsplatz<br />
auch um die Stabilisierung und die Stärkung der Person sowie um den Erwerb von Schlüsselkompetenzen.<br />
Auf den ersten Blick hat eine Arbeitsgruppe, in der die Jugendlichen lernen, Handpuppen<br />
zu nähen, eigene Kurzfilme zu drehen oder ein Theaterstück zu inszenieren, nicht viel mit der Heranführung<br />
an eine Ausbildung im Berufsbild Verkäufer/-in oder Fachkraft in der Lagerlogistik zu tun.<br />
Doch die Arbeit an einer konkreten Aufgabe stärkt das Selbstbewusstsein und fördert das Erlangen<br />
von Schlüsselkompetenzen. Als bewährtes Instrument auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz<br />
hat sich das Format „Bewerbung mal anders“ erwiesen, im Rahmen dessen potenzielle Arbeitgeber/-<br />
innen aus der Region Zeugen einer Bewerbung der besonderen Art werden. Die Bewerber/-innen präsentieren<br />
auf der Bühne ein kreatives, von ihnen selbst erarbeitetes Produkt wie ein Theaterstück und<br />
zeigen auf diesem Wege den Arbeitgeber/-innen ihre Schlüssel- und Sozialkompetenzen wie Kreativität,<br />
Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit. Bei diesem unkonventionellen „Vorstellungsgespräch“<br />
geht es nicht um Zeugnisnoten und Abschlüsse. Stattdessen erhalten die Arbeitgeber/-innen<br />
die Möglichkeit, Potenziale und Kompetenzen hautnah zu erleben. Ihr Blick fällt zuerst auf die Person<br />
und ihre Potenziale und Talente und erst im Anschluss auf die Bewerbungsunterlagen. Bei den eingeladenen<br />
Arbeitgeber/-innen erfolgt ein Perspektivwechsel: Durch einen ganzheitlichen Blick auf die<br />
Bewerber/-innen relativieren sich eventuelle Schwachstellen im Lebenslauf. Junge Menschen, die in<br />
einem konventionellen Bewerbungsprozess nicht auf den ersten Blick mit einem guten Schulabschluss<br />
herausstechen würden, erhalten hierdurch eine reale Chance auf einen Ausbildungsplatz.<br />
Wer einen potenzialorientierten Blick auf die jungen Menschen mit Migrationshintergrund richtet, öffnet<br />
sein Unternehmen für den Gedanken der Diversity und kann so durch eine neue Offenheit für I-<br />
deen und Weltanschauungen für Wettbewerbsvorteile seines Unternehmens sorgen. So begegnen<br />
Unternehmen dem Fachkräftemangel proaktiv.<br />
41
Literatur<br />
Anbuhl, M. (2015). Kein Anschluss mit diesem Abschluss? DGB-Expertise zu den Chancen von Jugendlichen<br />
mit Hauptschulabschluss auf dem Ausbildungsmarkt. Eine Analyse anhand der Zahlen<br />
der DIHK – Lehrstellenbörse vom 26. März 2015. Berlin: DGB-Bundesvorstand Abteilung Bildungspolitik<br />
und Bildungsarbeit.<br />
Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg., 2014). Berufsbildungsbericht 2014. Bonn:<br />
BMBF.<br />
Enggruber, R. & Rützel, J. (2014). Berufsausbildung junger Menschen mit Migrationshintergrund. Eine<br />
repräsentative Befragung von Betrieben. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.<br />
42
ARBEITGEBER-<br />
SERVICE DES<br />
JOBCENTERS<br />
Die gesunde Einstellung – Gesundheitsorientierte Angebote<br />
des Jobcenters Unna<br />
Ulrike Schatto, Tina Riedel<br />
43
Unternehmen müssen ihre betriebliche Personalarbeit zu einer zentralen Aufgabe der eigenen Sicherung<br />
der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit entwickeln. Daher kann die ganzheitliche Beratung<br />
des Arbeitgeberservices des Jobcenters Kreis Unna unterstützen, betriebliches Gesundheitsmanagement<br />
in den Fokus zu rücken. So kann ein betriebliches Gesundheitsmanagement nicht nur Fehler im<br />
Arbeitsablauf, Absentismus oder Versetzungswünschen entgegenwirken, sondern kann sich z.B. aktiv<br />
in der Mitarbeiterzufriedenheit widerspiegeln. Gesunde und zufriedene Mitarbeiter sind effiziente<br />
Mitarbeiter!<br />
Das Jobcenter Kreis Unna setzt auf die ganzheitliche Dienstleistungsorientierung, Arbeitgeber und<br />
Arbeitnehmer langfristig zusammenzubringen. Das sogenannte Matching ist dabei das A und O der<br />
Vermittlungsarbeit. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen möglichst gut zusammenpassen, damit ein<br />
nachhaltiges Beschäftigungsverhältnis entsteht.<br />
Der Arbeitgeberservice des Jobcenters Kreis Unna dient hier besonders kleinen und mittleren Unternehmen<br />
(KMU) in Fragen der betrieblichen Personalarbeit als kompetenter Ansprechpartner und<br />
steht ihnen beratend zur Seite. Eine Zielsetzung ist dabei, auch den Fachkräftebedarf der Region zu<br />
decken.<br />
Unternehmen sollen bei Einstellungsverfahren uneingeschränkt begleitet werden: Bereits bei der Beratung<br />
einer ansprechenden Stellenbeschreibung über die Bewerberauswahl bis hin zur Einstellung<br />
des Wunschkandidaten sollen Unternehmen professionell unterstützt werden. Auch darüber hinaus<br />
bietet die Arbeitsverwaltung an, eine (Weiter-)Bildungsberatung im Betrieb durchzuführen.<br />
Wirtschaftlich notwendige Rationalisierungsprozesse ziehen u.a. Arbeitsverdichtungen, Zeitdruck,<br />
Doppelbelastungen, Stellenabbau sowie technische Veränderungen nach sich. Wenn der Druck im<br />
Job zu groß wird, Angestellte sich ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen fühlen, unter Angstzuständen<br />
leiden, nicht mehr schlafen können und weniger leistungsfähig sind, folgt meist die Diagnose:<br />
Burnout-Syndrom.<br />
Die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund eines Burnouts stieg in Deutschland zwischen 2004<br />
und 2012 um 700 Prozent. „Millionen Menschen fühlen sich heute schon ruhelos und ausgebrannt.<br />
Ein Zustand, der zur Volkskrankheit zu werden droht“.<br />
Studien verschiedener Krankenkassen belegen, dass die Zahl der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen<br />
in den letzten Jahren rasant angestiegen ist. Ein Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen,<br />
insbesondere vielfältigen, komplexen und dynamischen Anforderungen in der Arbeitswelt,<br />
haben zugenommen. Burnout ist längst keine Managerkrankheit mehr. Besonders gefährdet sind die,<br />
die sich im Job stark engagieren. Daher hat das Jobcenter Kreis Unna im Jahr 2014 zusammen mit<br />
der Wirtschaftsförderung Kreis Unna, dem Kreis Unna unter der Schirmherrschaft des Bündnisses für<br />
Familie Kreis Unna eine kurze, praxisnahe Broschüre unter dem Titel „Burnout, psychische Erkrankungen<br />
und Gesundheitsförderung – eine Handreichung für Arbeitgeber“ herausgebracht (vgl. hierzu<br />
44
http://www.jobcenter-kreis-unna.de/projekte-und-kooperationen/vereinbarkeit-von-familie-und-beruf.ht<br />
ml).<br />
Der Arbeitgeberservice des Jobcenters Kreis Unna bietet neben einer Beratung möglicher Eingliederungsförderungen<br />
zur Schaffung neuer bzw. zusätzlicher Arbeitsplätze auch an, seine neutrale Funktion<br />
und Rolle auf die gesundheitlichen Rahmenbedingungen eines Unternehmens zu richten. Der Arbeitgeberservice<br />
kann dabei z.B. auf die ergonomische Ausstattung der Arbeitsplätze und des -umfeldes,<br />
den Einsatz und ggf. die Förderung von technischen Arbeitshilfen sowie auf Arbeitszeiten und<br />
Pausenregulierungen für ältere Arbeitnehmer im Unternehmen achten.<br />
Betriebliche Gesundheitsförderung ist daher ein idealer Ansatz,<br />
• die Stärkung der gesundheitsbezogenen Ressourcen der Mitarbeiter,<br />
• die Reduzierung der Fehlzeiten,<br />
• die Steigerung der Arbeitsqualität,<br />
• die Maximierung der Mitarbeiterproduktivität,<br />
• die Verringerung der Mitarbeiterfluktuation sowie<br />
• die Vermeidung von Arbeitsunfällen<br />
gemeinschaftlich zu lösen. Dabei stehen die individuelle Gesundheit und der gesunde Betrieb gleichermaßen<br />
im Fokus.<br />
Hier setzt das Jobcenter Kreis Unna an. Sowohl die individuelle Arbeitsberatung als auch der Arbeitgeberservice<br />
nehmen die drei Stufen der Prävention in ihr Aufgabenportfolio:<br />
• Primärprävention: dauerhafte Sicherung der Arbeitsfähigkeit durch menschengerechte Gestaltung<br />
der Arbeit,<br />
• Sekundärprävention: Früherkennung von Gesundheitsrisiken,<br />
• Tertiärprävention: Vermeidung von Rückfällen und Vorbeugung einer Verschlimmerung von Gesundheitsschäden.<br />
Der Arbeitgeberservice kann im Rahmen seiner Dienstleistung Unternehmen dabei unterstützen, Arbeitsplätze<br />
gesünder zu gestalten und potenzielle Arbeitnehmer und Arbeitgeber möglichst passgenau<br />
zusammenzubringen.<br />
Die Arbeitsvermittlung ist hingegen seit 2007 bemüht, gesundheitsorientierende Beratung an arbeitsuchende<br />
Bewerber zu vermitteln. Im Rahmen von Maßnahmen erhalten diese Bewerber Angebote zu<br />
einer gesünderen Lebensweise. Sie erlangen dabei z.B. eine Vermittlung von Basiswissen zu Ursa-<br />
45
chen und Wirkungszusammenhängen zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit sowie Einflussfaktoren<br />
auf die gesundheitliche Situation, eine Reflexion des eigenen Gesundheitsverhaltens, Informationen<br />
zu Präventionsangeboten der gesetzlichen Krankenkassen, eine Beratung bzgl. des Transfers<br />
gesundheitsorientierender Lebensweisen in den Alltag (z.B. Entspannungstechniken, Ernährungsgewohnheiten,<br />
Bewegung) sowie hinsichtlich der weiterführenden beruflichen Eingliederung (z.B. Bewerbungsverhalten,<br />
Umgang mit Rückschlägen).<br />
46
<strong>GESUND</strong>HEITS-<br />
MANAGEMENT<br />
IM E<strong>IN</strong>ZELHANDEL<br />
„Man darf die kleinen Händler beim Gesundheitsmanagement<br />
nicht allein lassen.“<br />
Interview mit RA Thomas Schäfer, Hauptgeschäftsführer des Handelsverband<br />
Nordrhein-Westfalen Westfalen-Münsterland e.V.<br />
Die Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“ konzentriert sich in<br />
der Region Westfälisches Ruhrgebiet auf den Einzelhandel und<br />
wird dabei unterstützt durch den regionalen Branchenverband.<br />
Die Zeitschrift transfær sprach mit dem Hauptgeschäftsführer<br />
Thomas Schäfer über die Problemlage der Branche und die Ziele<br />
des Verbandes bei der Beteiligung an der Landesinitiative Arbeit<br />
gestalten NRW.<br />
47
Warum beteiligt sich der Handelsverband Nordrhein-Westfalen Westfalen-Münsterland e.V. so<br />
engagiert in der Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“?<br />
Gesundheit am Arbeitsplatz ist eine der ganz wichtigen (und leider immer noch nicht gelösten) Fragen<br />
unserer heutigen Gesellschaft. Als Arbeitgeberverband sehen wir uns hier auch in einer besonderen,<br />
aber wenn auch nicht der alleinigen Verantwortung. Deshalb freuen wir uns sehr, dass das Land<br />
NRW in einer Gemeinschaftsaktion mit allen wichtigen Akteuren des ganzen Landes Sorge dafür tragen<br />
will, dass Arbeit in NRW nicht nur sicherer, sondern auch gesünder wird.<br />
Um auf die Frage zurückzukommen: Wir beteiligen uns an der Landesinitiative, weil wir so die Interessen<br />
unserer Mitglieder einbringen können. Denn die wollen, dass ihre Beschäftigten trotz gestiegener<br />
Belastungen gesund und leistungsfähig bleiben.<br />
Was sind die besonderen Belastungen im Einzelhandel?<br />
Einerseits haben wir sehr hohe körperliche Belastungen, z.B. durch das oftmals lange Stehen im Verkauf,<br />
das lange Sitzen an der Kasse, wechselnde Klimaeinflüsse und die Arbeit im Lager. Wir haben<br />
es aber auf der anderen Seite mit zunehmenden psychischen Belastungen zu tun, die aus der Verkaufssituation<br />
und der Interaktion mit dem Kunden entstehen. Den ganzen Tag freundlich und zuvorkommend<br />
zu wirken, kann manchmal sehr anstrengend sein. Die Psychologen nennen das „Emotionsarbeit“.<br />
Hinzu kommt der „ganz normale“ Stress unserer heutigen Zeit: die zunehmende Arbeitsverdichtung,<br />
die dynamische Veränderung der Arbeit und der Technik. Das gibt es überall, aber eben auch im Einzelhandel.<br />
Wir haben zudem eine sehr hohe Frauenquote im Einzelhandel und die Vereinbarkeitsproblematik<br />
zwischen der Arbeit, der Familie und zunehmend auch Pflege der Eltern trifft ja faktisch immer<br />
noch vorwiegend die Frauen. Von daher ist und bleibt dies auf Sicht ein großes Thema im Einzelhandel.<br />
Die Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“ richtet sich ja vorwiegend an kleine und mittlere<br />
Unternehmen. Beim Handel denkt man eher an die Big Player.<br />
Der Handel ist, das wissen die wenigsten, geprägt durch kleine und kleinste Kleinstunternehmen. In<br />
Deutschland gibt es etwa 400.000 Einzelhandelsunternehmen, davon sind aber nicht einmal 1% große<br />
Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten. 14% haben zwischen 10 und 250 Beschäftigte und<br />
ganze 85% sind kleine Geschäfte mit weniger als 10 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Von diesen<br />
vielen Kleinen hört man aber natürlich in den Medien viel weniger als von den Riesenunternehmen.<br />
Wir als Verband vertreten die Interessen von 1.300 Mitgliedern – von ganz groß (Kaufhaus) bis ganz<br />
klein (Kiosk), von A wie Apotheke bis Z wie Zoofachgeschäft. Und wir denken natürlich immer an alle<br />
unsere Mitglieder, auch und gerade die kleineren.<br />
48
Ist die Gesundheit der Beschäftigten denn überhaupt ein Thema bei den kleinen Händlern?<br />
Na klar, Gesundheit ist ja in aller Munde, der Stress nimmt überall zu, auch im Handel. Denken Sie<br />
nur an die Öffnungszeiten, den Kostendruck, den Qualitätswettbewerb. Und letztlich auch die gestiegenen<br />
Dienstleistungsansprüche der Kunden selbst. Das führt zu Druck auf die Händler und deren<br />
Beschäftigte, und der kann langfristig krank machen.<br />
Schon jetzt haben wir zunehmende Schwierigkeiten, qualifizierten Nachwuchs zu finden. Gleichzeitig<br />
werden unsere Beschäftigten immer älter. Wir müssen alle älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
gesund und leistungsfähig halten, denn wir sind darauf angewiesen, dass sie bis zur Rente mit 67<br />
durchhalten. Wenn man sich den demografischen Wandel vergegenwärtigt, haben wir den Gipfel der<br />
Belastung unserer Unternehmen und deren Belegschaften wahrscheinlich noch lange nicht erreicht.<br />
Ich glaube, ein weiterer Grund dafür ist aber auch die Verantwortung, die die Inhaber, Geschäftsführer<br />
und Führungskräfte für ihre Mitarbeitenden verspüren. Man arbeitet in kleineren Einzelhandelsunternehmen<br />
ja sehr eng zusammen, kennt sich und nimmt Anteil. Wenn es da jemandem nicht gut<br />
geht, er oder sie gestresst wirkt oder körperlich abbaut, dann will man als Chef etwas tun. Nur was,<br />
das ist dann oft die Frage.<br />
Was können denn die kleinen Händler tun?<br />
Die grundsätzlichen Handlungsmöglichkeiten sind dieselben wie bei großen Unternehmen: Ressourcenaufbau<br />
und Belastungsreduktion, Verhalten und Verhältnis. Wir können die Menschen stärken im<br />
Umgang mit dem Stress oder wir können die Arbeitsbedingungen stressfreier gestalten.<br />
Große Unternehmen haben aber bessere Möglichkeiten dies umzusetzen. Sie haben die notwendigen<br />
finanziellen Möglichkeiten, bekommen günstigere Preise bei Gesundheitsdienstleistern, weil sie<br />
große Leistungskontingente einkaufen können. Und auch die Krankenkassen kümmern sich in erster<br />
Linie um Großbetriebe. Dieser Vorteil gilt übrigens auch für die Geschäfte, die Franchise-Ketten angeschlossen<br />
sind. Dort wird Gesundheitsförderung gelegentlich schon als zentrale Dienstleistung angeboten,<br />
die man „dazuordern“ kann.<br />
Also keine Chance für gesunde Arbeit in kleinen Geschäften?<br />
Im Gegenteil! Gerade kleine Unternehmen und Geschäfte können exzellente Gesundheitsförderung<br />
betreiben, weil sie Ihre Beschäftigten sehr gut kennen, sehr nah an ihnen und ihren Problemen dran<br />
sind. Die Wege sind kurz, die Kommunikation funktioniert. Man kennt und mag sich. Das sind eigentlich<br />
sehr gute Voraussetzungen.<br />
Was die Kleinen aber nicht können, ist das ganze „Management“ der Gesundheit. Hier wird zu viel<br />
gefordert: Man soll analysieren, planen, umsetzen und evaluieren. All das können die Kleinen nicht –<br />
und sie wollen es auch nicht. Gerade Inhaber kleiner Geschäfte sind Unternehmer, weil sie etwas unternehmen<br />
wollen. Nicht reden und planen und diskutieren, sondern machen. Darin sind sie gut.<br />
49
Wer soll die „Managementfunktion“ denn dann übernehmen?<br />
Warum nicht wir? Wir denken, dass es durchaus eine Aufgabe des Verbands sein kann, auch das Gesundheitsmanagement<br />
für unsere Mitglieder als Dienstleistung anzubieten. Das ist doch eigentlich<br />
ganz naheliegend. Wir vertreten die Unternehmen in vielen Belangen, nicht nur in Tarifverhandlungen.<br />
Wir bieten auch individuelle Dienstleistungen in Rechts- oder Bauplanungs- oder Bildungsfragen<br />
an und wir verhandeln bessere Konditionen für unsere Mitglieder bei Versicherungen, Hotels,<br />
Dienstleistern, der Gema und so weiter.<br />
Das Thema Gesundheit passt schon jetzt in unser Dienstleistungsangebot: Wir vertreten die Interessen<br />
unser Mitglieder bei den Krankenkassen, wir betreuen sie in arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen<br />
Fragen und wir führen Veranstaltungen und Schulungen zu gesundheitsrelevanten<br />
Themen durch. Warum nicht einen Schritt weiter gehen und das ganze Paket anbieten?<br />
Wie könnte das ganze Paket denn aussehen?<br />
Wir wissen noch nicht genau, welche speziellen Leistungen unsere Mitglieder benötigen und nachfragen<br />
werden. Daher sind wir gerade dabei, ein bedarfsgerechtes Leistungsportfolio zu arbeiten und<br />
führen dazu eine Mitgliederbefragung durch. Die Ergebnisse werden zeigen, wo genau die Bedarfe<br />
der kleineren Einzelhändler liegen.<br />
Grundsätzlich könnten wir das komplette Gesundheitsmanagement für unsere Mitgliedsbetriebe anbieten,<br />
von der Analyse der Belastungs- und Ressourcensituation über die Planung der Maßnahmen<br />
bis hin zur Verhandlung mit den Gesundheitsdienstleistern und Kassen. Dabei hilft uns übrigens<br />
dann auch die enge Vernetzung mit der Landesinitiative „Arbeit gestalten NRW“, die eine exzellente<br />
Kooperationsplattform darstellt.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.<br />
Das Interview führten Kurt-Georg Ciesinger und Rainer Ollmann, gaus gmbh – medien bildung politikberatung.<br />
50
Mit Gesundheitstagen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement<br />
– Ein kleiner Leitfaden der Industrie- und Handelskammer<br />
<strong>GESUND</strong>HEITS-<br />
TAGE<br />
Sandra Schröder, Martina Becker<br />
51
Fünf Schritte zu einem erfolgreichen Gesundheitstag:<br />
Schritt 1: Bestandsaufnahme<br />
Bevor Sie mit der Bestandsaufnahme starten, sollten Sie einen zuständigen Verantwortlichen bestimmen,<br />
der sich federführend um Ihren Gesundheitstag kümmert. In größeren Unternehmen kann auch<br />
eine Gruppe von mehreren Personen als Steuergremium geeignet sein – bestehend beispielweise<br />
aus Vertretern der Geschäftsleitung, Personalabteilung oder des Betriebsrats, einer Fachkraft für Arbeitssicherheit,<br />
der Gleichstellungs- oder Schwerbehindertenvertretung.<br />
Eine sorgfältige Analyse des „Gesundheitszustands“ Ihres Betriebs ermöglicht einen optimalen Start<br />
Ihres Projekts „Gesundheitstag“. Zu diesem frühen Zeitpunkt ist es besonders wichtig, dass Sie Ihre<br />
Beschäftigten in den Prozess einbeziehen. Sie sollten Meinungen und Wünsche Ihrer Mitarbeiter sammeln<br />
und erste Ideen für den Gesundheitstag zusammentragen, beispielsweise durch eine Befragung<br />
oder Mitarbeitergespräche.<br />
Für größere Unternehmen eignen sich auch komplexere Methoden, um eine solche Analyse zu erstellen.<br />
Liegen für Ihren Betrieb bereits Gefährdungsbeurteilungen oder eine Altersstrukturanalyse vor?<br />
Oder hat zum Beispiel eine Krankenkasse schon einmal einen Gesundheitsbericht erstellt? Diese anonymisierten<br />
Berichte, die alle Krankheitstage und die zugehörigen Diagnosen der Beschäftigten aufzeigen,<br />
werden in der Regel für Unternehmen mit mindestens 50 Mitarbeitern erstellt. Dazu sollten<br />
Sie sich an die Krankenkasse wenden, bei der die meisten Ihrer Mitarbeiter versichert sind.<br />
Nutzen Sie für Ihre Bestandsaufnahme so viele Quellen wie möglich. Auch wenn Sie sich die Personalkennzahlen<br />
Ihres Unternehmens wie Fehlzeitenquote, Fluktuationsquote, Krankheitsquote, Anzahl<br />
der Mehrarbeitsstunden oder die Kosten für Fort- und Weiterbildungen ansehen, bekommen Sie einen<br />
guten Eindruck, wie es aktuell um die Gesundheit und Zufriedenheit Ihrer Mitarbeiter steht.<br />
Schritt 2: Zielsetzung<br />
Was wollen Sie mit dem Gesundheitstag erreichen? Möchten Sie Ihre Beschäftigten für das Thema<br />
Gesundheit sensibilisieren? Geht es Ihnen darum, das Bewusstsein für arbeitsplatzbezogene Gefährdungen<br />
zu verbessern? Oder ist es Ihnen wichtig, mit dem Gesundheitstag etwas Gutes für die Motivation<br />
und Bindung Ihrer Mitarbeiter zu tun? Wichtig ist, dass Sie konkrete Ziele für den Gesundheitstag<br />
festlegen. Generell sollten Sie sich nur auf ein Schwerpunktthema festlegen. Gesunde Ernährung,<br />
Stress und Entspannung, Gesundheit bis ins hohe Alter oder Fitness am Arbeitsplatz sind nur einige<br />
Beispiele dafür. Allgemeine Aktionen wie Gesundheitschecks sind gute Begleiter für jedes Thema<br />
und runden Ihr Angebot ab.<br />
Schritt 3: Planung und Organisation<br />
Holen Sie sich für die Planung und Organisation Ihres Gesundheitstags Unterstützung von Experten.<br />
Krankenkassen, Sozialverbände, Unfall- und Rentenversicherungsträger, Sportfachhändler, Reform-<br />
52
häuser, Gesundheitsämter und professionelle Gesundheitsmanager sind beispielsweise wegen ihres<br />
großen Angebots und der guten Vernetzung beliebte Kooperationspartner für Unternehmen.<br />
Möchten Sie erst einmal klein anfangen? Ein Gesundheitstag muss nicht über acht Stunden laufen.<br />
Sie können auch mit einem Vormittag starten. Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend: Wenn Sie Datum,<br />
Uhrzeit und Dauer Ihrer Aktion festlegen, denken Sie an andere geplante Veranstaltungen, Feiertage,<br />
Schulferien, Zeiten großer Arbeitsanfälle und feste Dienstpläne. Auch Schichtarbeiter, Teilzeitkräfte<br />
oder Eltern schulpflichtiger Kinder möchten dabei sein, wenn Ihr Gesundheitstag stattfindet.<br />
Ganz besonders wichtig ist es, dass der Betriebsinhaber und Geschäftsführer anwesend ist, um die<br />
Glaubwürdigkeit Ihrer Anstrengungen im Bereich betriebliche Gesundheitsförderung zu unterstreichen.<br />
Umso besser ist es, wenn Sie auch Ihre Führungskräfte von einer Teilnahme überzeugen können.<br />
Bringen Sie die einzelnen Programmpunkte in eine gut aufeinander abgestimmte zeitliche Reihenfolge,<br />
denken Sie dabei auch an die Raumplanung. So könnten Vorträge beispielsweise in separaten<br />
Räumen gehalten werden, während in der Aula Infostände und Beratungen ihren Platz finden.<br />
Auch die Verpflegung am Tag der Veranstaltung ist noch zu klären. Die angebotenen Speisen und<br />
Getränke sollten zum Thema Gesundheit passen und für eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung<br />
stehen.<br />
Spätestens wenn die Planung für Ihre Aktion steht und alle Vorbereitungen getroffen sind, beginnen<br />
Sie mit der Öffentlichkeitsarbeit. Eine Ankündigung in der Mitarbeiterzeitschrift, Rundmails, Flyer, Werbeplakate,<br />
ein kurzer Hinweis während der Personalversammlung oder Abteilungsbesprechung und<br />
ein freundliches Einladungsschreiben, das mit der Gehaltsabrechnung ausgegeben wird, sind bewährte<br />
Wege, um Ihre Belegschaft zu erreichen. Damit viele Ihrer Beschäftigten gerne den Gesundheitstag<br />
besuchen, sollten Sie die Arbeitszeitregelung und eventuelle Freistellung für diesen Tag im<br />
Voraus klar formulieren.<br />
Schritt 4: Aktion Gesundheitstag<br />
Die Begrüßung durch die Geschäftsführung gibt dann den offiziellen Startschuss für Ihren Gesundheitstag.<br />
Dokumentieren Sie Ihren Gesundheitstag mit Hilfe von Fotos und Videos.<br />
Bedenken Sie, dass unvorhergesehene Störungen oder Verzögerungen zu Änderungen im zeitlichen<br />
Ablauf führen können, behalten Sie den Überblick über Ihr Programm. Vielleicht müssen Sie den einen<br />
oder anderen Programmpunkt verschieben, damit Sie den Zeitplan dennoch einhalten können.<br />
Ebenso ist es möglich, dass die Nachfrage bei bestimmten Angeboten viel größer oder geringer ist,<br />
als Sie erwartet haben. Versuchen Sie, mit solchen Veränderungen flexibel und gelassen umzugehen.<br />
53
Schritt 5: Nachbereitung und Weiterführung<br />
Ihr Gesundheitstag ist nun vorbei und war hoffentlich ein voller Erfolg. Doch sollten Sie trotzdem kritisch<br />
Bilanz ziehen: Was lief gut, was ging schief, was könnte besser werden? Ganz entscheidend ist<br />
hierfür das Urteil Ihrer Mitarbeiter. Bitten Sie sie um eine ehrliche Bewertung des Gesundheitstags,<br />
zum Beispiel anhand eines Fragebogens oder in einzelnen Gesprächen mit Führungskräften und Beschäftigten.<br />
Auch eine Rücksprache mit den beteiligten Akteuren und Partnern lohnt sich, um zusätzliche<br />
Rückmeldungen zu erhalten.<br />
Um die Nachhaltigkeit Ihres Gesundheitstags als Impulsgeber zu überprüfen, können Sie diese Abfragen<br />
mit einer zeitlichen Verzögerung wiederholen. Die Ergebnisse können Sie nutzen, um längerfristige<br />
gesundheitsfördernde Maßnahmen wie Gesundheits- und Fitnessangebote für Ihre Belegschaft zu<br />
entwickeln. Denn die Durchführung eines Gesundheitstags ist nur einer der Bestandteile eines ganzheitlichen<br />
betrieblichen Gesundheitsmanagements. In erster Linie soll dieser Tag die Mitarbeiter über<br />
gesundheitsrelevante Themen informieren und sie zu einer gesünderen Lebensführung anregen. Damit<br />
die Wirkung nicht verpufft, bieten Sie Ihren Beschäftigten Anreize über diesen Tag hinaus. Sie<br />
könnten zum Beispiel in Mitarbeitergesprächen, Abteilungssitzungen oder Personalversammlungen<br />
das Thema Gesundheit immer wieder ansprechen.<br />
Unternehmen werden übrigens in Form von Steuervorteilen bei der Umsetzung betrieblicher Gesundheitsförderung<br />
unterstützt. Darüber hinaus fördern die gesetzlichen Krankenkassen sowohl individuelle<br />
Prävention als auch die betriebliche Gesundheitsförderung. In der Zusammenarbeit mit Ihren Mitarbeitern<br />
und weiteren kompetenten Partnern können Sie daher im nächsten Schritt den Aufbau eines<br />
betrieblichen Gesundheitsmanagements in Angriff nehmen – falls es ein solches Vorhaben in Ihrem<br />
Betrieb nicht sogar schon gibt.<br />
54
STRESSBEWÄLTI-<br />
GUNG <strong>IN</strong> <strong>DER</strong><br />
VERWALTUNG<br />
Stressbewältigung mal ganz anders – wie Mitarbeiter/-innen<br />
der Stadtverwaltung Bochum lernen, gelassen zu bleiben<br />
Manfred Nedler<br />
55
Die Arbeit im Bürgerbüro stellt hohe Anforderungen an die Beschäftigten. Neben der Belastung aus<br />
der permanenten Bildschirmarbeit an nicht individuell einstellbaren Arbeitsplätzen sind es vor allem<br />
psychische Belastungen, die im Laufe der Zeit an die Substanz gehen können: Konzentrationserschwernisse<br />
durch die Situation im Großraumbüro und viele, teilweise konfliktbehaftete Gespräche<br />
mit den Kunden bei sehr langen Öffnungszeiten und weitgehend vorgegebenen Dienstzeiten. Die<br />
recht hohe Fluktuation bedingt Überforderungen bei den neuen Beschäftigten ohne Verwaltungserfahrung,<br />
die sich noch einarbeiten – aber auch bei den erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, die diese<br />
„nebenbei“ einarbeiten müssen. Unter diesen Bedingungen wäre eine bestmögliche Unterstützung<br />
der täglichen Arbeit durch die Software sehr wichtig. Aber auch hier gibt es häufig Probleme und Ärgernisse.<br />
Es wundert daher nicht, dass der Krankenstand in dieser Abteilung überdurchschnittlich hoch ist und<br />
viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Abteilung nach einiger Zeit wieder verlassen möchten. Hierdurch<br />
verschärfen sich wiederum die Arbeitsbedingungen für die übrigen Beschäftigten.<br />
In dieser Situation bemühen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stabsstelle für Arbeitsschutz,<br />
Arbeitssicherheit und Gesundheit im Betrieb der Stadt Bochum um eine Unterstützung und<br />
Entlastung der Beschäftigten. Hierzu wird nun seit mehr als einem Jahr das Videotraining BESSER<br />
<strong>GESUND</strong> eingesetzt.<br />
Das Videotraining BESSER <strong>GESUND</strong><br />
Ziel des Trainings BESSER <strong>GESUND</strong> ist es, Beschäftigte bei einer sukzessiven Weiterentwicklung ihrer<br />
persönlichen „Gesundheitskompetenz“ zu unterstützen. Zu dieser Kompetenz gehören unter anderem<br />
folgende Fähigkeiten:<br />
• das aktuelle Befinden und die Grenzen der Belastbarkeit beachten,<br />
• eine Balance finden zwischen den eigenen Bedürfnissen und den äußeren Anforderungen und Erwartungen.<br />
Umgang mit diesbezüglichen Ambivalenzen („einerseits …, andererseits …),<br />
• gelassen bleiben in Drucksituationen, also verhindern, dass der Körper unwillkürlich den Stress-Modus<br />
(Adrenalin, Blutzucker, Schwitzen etc.) aktiviert,<br />
• sehr strukturiert und zielgerichtet arbeiten und kommunizieren, „auf den Punkt kommen“, ggf. Gespräche<br />
oder Tätigkeiten abkürzen oder abbrechen,<br />
• offen und selbstbewusst kommunizieren, sich vor Kränkungen schützen, ggf. um Unterstützung bitten,<br />
überzogene Erwartungen ablehnen usw.,<br />
• die eigenen Emotionen kontrollieren können, unfruchtbare Interaktionsmuster („Teufelskreise“)<br />
durchbrechen, unabhängiger von Stimmungen im Umfeld werden.<br />
56
Diese und weitere zentrale Fähigkeiten lassen sich nicht über Input-orientierte Formate („So geht<br />
das!“) erwerben bzw. verbessern, sondern nur über einen hinreichend langen Prozess der persönlichen<br />
Entwicklung in vielen kleinen Schritten. Der Anspruch des Videotrainings BESSER <strong>GESUND</strong> besteht<br />
darin, so einen Coaching-ähnlichen Effekt zu einem Bruchteil der Kosten zu erzielen.<br />
Das Videotraining besteht aus 50 Trainingseinheiten. Jede Trainingseinheit beinhaltet ein Video von 5<br />
bis 10 Minuten Länge sowie schriftliches Begleitmaterial von wenigen Seiten. Für die Teilnehmer/-innen<br />
wird jede Woche eine weitere Trainingseinheit im Internetportal (www.nedler.tv) freigeschaltet. Jede<br />
Trainingseinheit enthält eine kleine Übung für den Alltag. Diese Übungen sind einfach und praktikabel<br />
und ermöglichen schnelle Erfolgserlebnisse. Diese erhöhen die Zuversicht, welche bereits eine<br />
wichtige Gesundheitsressource darstellt. Die Ritualisierung und Rhythmisierung des Trainings ermöglichen<br />
die nachhaltige Überwindung selbst langjähriger Gewohnheiten und die Entwicklung einer gesünderen<br />
Identität (Bild von sich selbst). Jede Trainingseinheit enthält einen prägnanten Merksatz, einen<br />
Slogan, ein Bild, eine Metapher, welche sich einprägt und das Erinnern im Alltag unterstützt. Das<br />
Training kann aufgrund seiner zeitlichen und örtlichen Flexibilität von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />
in den persönlichen Lebensrhythmus integriert werden.<br />
Das Projekt im Bürgerbüro Bochum<br />
Die Teilnehmer/-innen am Videotraining wurden in einer kurzen Einführungsveranstaltung informiert<br />
und motiviert. Dabei ging es um die Ziele und Inhalte, die technischen Voraussetzungen und die persönlichen<br />
Voraussetzungen für den Trainingserfolg, vor allem einen festen verbindlichen Rhythmus in<br />
der Arbeit mit dem Programm.<br />
Die Teilnehmer/-innen durften die Videos (einmal pro Woche ca. 10 Minuten) während ihrer Arbeitszeit<br />
ansehen. Es war aber auch möglich, die Videos ungestört zu Hause zu betrachten. Alle drei Monate,<br />
insgesamt viermal, nahmen die Teilnehmer/-innen an halbtägigen Gruppentrainings mit dem Referenten<br />
teil. Hier gab es die Möglichkeit, über die Inhalte der Videos zu diskutieren, Erfahrungen unter<br />
den Teilnehmer/-innen auszutauschen und weitere Hinweise vom Trainer zu erhalten.<br />
Wie bei anderen betrieblichen Projekten mit diesem Videotraining zeigte sich auch bei der Stadt Bochum,<br />
dass nicht alle Teilnehmer/-innen die Motivation und Selbstdisziplin aufbrachten, ein ganzes<br />
Jahr mit dem Programm zu arbeiten. Jedoch äußerten die meisten Abbrecher die Ansicht, dass sie<br />
durchaus auch von den bearbeiteten Inhalten persönlich profitiert haben.<br />
In der Tendenz blieben eher die älteren Teilnehmer/-innen bis zum Schluss dabei. In einer Befragung<br />
durch die Stabstelle für Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit und Gesundheit gab es abschließend folgende<br />
Kommentare:<br />
• „Der Zeitraum von einem Jahr ist angemessen, da die Thematik zu komplex ist, um dies in kürzerer<br />
Zeit zu bewältigen“.<br />
57
• „Sehr hilfreich ist auch das Ausdrucken der einzelnen Trainingseinheiten; diese habe ich im Laufe<br />
des Jahres immer wieder zur Hand genommen.“<br />
• „Eine gute Ergänzung zum anderen Seminar zur Burnout-Prophylaxe“.<br />
• „Das Angebot sollte nicht nur bestimmten Bereichen der Verwaltung zugänglich gemacht werden,<br />
sondern allen Interessierten“.<br />
• „Ich bin begeistert von diesem Projekt, es hat mir sehr geholfen.“<br />
• „Ich fühlte mich von Anfang an gut aufgeklärt, die Abläufe waren klar definiert“.<br />
• „Ich habe abgebrochen, da ich am Arbeitsplatz keine Möglichkeit zur Durchführung des Programms<br />
hatte, ohne dass die Kunden/Kollegen dies gesehen hätten“.<br />
Herr Brachaczek von der Stabstelle für Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit und Gesundheit bewertet die<br />
Erfahrung mit dem Videotraining insgesamt positiv:<br />
„Interessant sind das spezielle Format und der lange Zeitraum. So gibt es immer wieder kleine, hilfreiche<br />
Impulse. Dies hat sich, nach den Rückmeldungen der Teilnehmer/-innen, sehr bewährt. Die Nachhaltigkeit<br />
der Lerneffekte lässt sich natürlich noch nicht beurteilen. Die begleitenden Gruppentrainings<br />
waren insbesondere für die Aufrechterhaltung der Motivation sehr wichtig. Die Rahmenbedingungen<br />
hätten im Vorfeld noch besser geklärt und kommuniziert werden müssen, z.B. die Arbeit mit<br />
dem Training währen der Arbeitszeit. Da unsere eigenen Mittel für weitere Trainingslizenzen begrenzt<br />
sind, werden wir diese künftig sehr gezielt Mitarbeitern bereitstellen, welche bereits gesundheitliche<br />
Beeinträchtigungen aufgrund ihrer Belastungssituation aufweisen, also z.B. im Rahmen des Betrieblichen<br />
Eingliederungsmanagements.“<br />
Mittlerweile wird das Trainingsprogramm auch in der Schulverwaltung genutzt: 15 Schulsekretärinnen<br />
haben mit ihrem Training begonnen. Die begleitenden Treffen zur Reflexion werden hier ausschließlich<br />
intern durchgeführt. Die Verantwortlichen in der Bochumer Verwaltung verfolgen interessiert diesen<br />
Prozess und man darf gespannt sein, wie die Resonanz und die Bewertung am Ende ausfallen<br />
werden.<br />
58
<strong>DER</strong> STRESSFALLE<br />
ENTGEHEN<br />
Der Stressfalle entgehen – Prävention, Beratung und Unterstützung<br />
für Beschäftigte<br />
Bernhard Kaerkes<br />
59
Psychische Erkrankungen nehmen in den letzten Jahren stark zu und führen oft zu langer Arbeitsunfähigkeit,<br />
Leistungseinschränkung und Frühberentung. Ungünstige Arbeitsbelastungen können die<br />
Probleme verschärfen oder sind sogar maßgeblicher Auslöser, wie beim Burnout-Syndrom.<br />
Leider führt diese Erkenntnis vielerorts in der betrieblichen Praxis noch nicht zu nennenswerten Aktivitäten;<br />
das Thema ist momentan noch eher in der gesellschaftlichen Diskussion und der „Metaebene“<br />
von Fachzirkeln, Fortbildungen und Veröffentlichungen angesiedelt.<br />
Initiative InBalance<br />
Das Projekt „InBalance!“, dem sich das Werkarztzentrum Westfalen-Mitte angeschlossen hat, soll das<br />
Bewusstsein der Unternehmen für diese Problematik schärfen und den Beschäftigten der angeschlossenen<br />
Unternehmen den Weg in die Stressfalle ersparen.<br />
„InBalance!“ gliedert sich in fünf Module und kann als komplettes Programm oder in Einzelmodulen<br />
auf betrieblicher Ebene umgesetzt werden. Die beiden ersten Module dienen der Information und Entscheidungsfindung,<br />
ob und in welcher Form das Projekt im Betrieb aufgenommen wird. Im dritten<br />
Schritt wird eine Beanspruchungsanalyse mit einem geeigneten Testverfahren durchgeführt. Das hier<br />
erzielte Ergebnis bildet die Basis für die Umsetzung von betrieblichen Maßnahmen und weiteren sinnvollen<br />
Individualangeboten für die Beschäftigten wie z.B. überbetriebliche Anti-Stress-Seminare oder<br />
auch Einzelcoachings<br />
Entsprechend der präventiven Ausrichtung des Projektes sind diese individuellen Maßnahmen keine<br />
Therapieangebote für Erkrankte, sondern präventiv für Mitarbeiter, die gesund sind und trotz Stressbelastung<br />
im Beruf auch weiter gesund bleiben wollen.<br />
Das fünfte Modul sieht die Evaluierung der betrieblichen Aktivitäten mit einer erneuten Belastungsanalyse<br />
nach ein bis zwei Jahren vor.<br />
Mit InBalance! zeigt das Werkarztzentrum Westfalen-Mitte Wege auf, durch die sowohl die Aspekte<br />
der Verhältnisprävention als auch der Individualprävention auf betrieblicher Ebene sinnvoll bearbeitet<br />
werden können. Dabei spielen die Themen „Prävention stressbedingter Erkrankungen“ und „Stressreduktion“<br />
eine besonders große Rolle. Zu beiden Themenkomplexen hält das Werkarztzentrum ein umfangreiches<br />
Angebot an Informationsveranstaltungen, Expertenvorträgen und Workshops für unterschiedliche<br />
Teilnehmerkreise vor.<br />
Betriebliche Sozialarbeit<br />
Aber auch für Beschäftigte, die aus verschiedenen Gründen bereits in der Stressfalle sitzen, findet<br />
sich ein entsprechendes Angebot. Gemeinsam mit den Caritas-Ortsverbänden Hamm, Soest und<br />
Arnsberg unterstützt das Werkarztzentrum seine Mitgliedsunternehmen durch praktische Hilfe für besonders<br />
belastete Mitarbeiter. Für die Betriebe bietet dieses Angebot große Vorteile, denn chronische<br />
Stressbelastung führt regelmäßig zu psychischer oder psychosomatischer Krankheit und hat dement-<br />
60
sprechend auch Auswirkungen auf Fehlzeiten und Leistungsvermögen von Beschäftigten. Ein nicht<br />
unerheblicher Anteil der Stressoren liegt im privaten Bereich der Menschen. Im Rahmen des betrieblichen<br />
Gesundheitsmanagements liegt es zunächst nahe, die betrieblichen Ursachen von Krankheit<br />
und Stressbelastung anzugehen. Es lohnt sich für Betriebe aber auch, den Mitarbeitern bei der Bewältigung<br />
privater Probleme Hilfe anzubieten, um negative Auswirkungen auf die Gesundheit zu vermeiden.<br />
An diesem Punkt setzt betriebliche Sozialarbeit an.<br />
Belastende Situationen im privaten Bereich können sein: Pflege kranker und alter Angehöriger, Erziehungsprobleme,<br />
unzureichend organisierte Kinderbetreuung, Eheprobleme, Verschuldung, Suchterkrankungen<br />
von Angehörigen, Trauerfälle, Hilflosigkeit gegenüber Behörden, ungelöste Wohnungsfragen<br />
und vieles mehr. Die Hilfe bei diesen Fragen setzt Fachkenntnisse und zeitliche Ressourcen voraus,<br />
die von Kollegen, Vorgesetzten oder Betriebsräten kaum zu erwarten sind.<br />
Caritas Serviceline<br />
Zum InBalance!-Netzwerk zählen auch die bereits erwähnten Caritas-Verbände. Sie halten dazu entsprechende<br />
Angebote mit unterschiedlichen Schwerpunkten vor.<br />
Sie bieten seit 2014 eine gemeinsame „Caritas-Serviceline“ an. Es handelt sich um eine Telefonhotline,<br />
die von Mitarbeitern angeschlossener Unternehmen kostenfrei und anonym in Anspruch genommen<br />
werden kann. Der Anruf wird von geschultem Caritas-Personal entgegengenommen und das Anliegen<br />
entweder direkt durch eine telefonische Beratung gelöst, indem z.B. Informationen gegeben<br />
werden, oder die Anrufer werden zu einem persönlichen Beratungsgespräch eingeladen bzw. an<br />
Fachstellen innerhalb oder außerhalb der Caritas weitergeleitet. Die Servicehotline leistet damit Lotsendienste,<br />
die den Betroffenen helfen, die passende Unterstützung zu finden. Interessierte Unternehmen<br />
können gegen einen monatlichen Beitrag diesen Service für ihre Mitarbeiter buchen. Die Unternehmen<br />
erhalten zusätzlich einen Jahresbericht, der in anonymisierter Form über die erbrachten<br />
Leistungen in Form einer statistischen Aufschlüsselung berichtet.<br />
Eine solche Servicehotline ist bei der Caritas Aachen schon länger erfolgreich etabliert und wird nun<br />
auch in Westfalen angeboten. Das Werkarztzentrum Westfalen Mitte e.V. war in der Planungsphase<br />
beratend vertreten und empfiehlt seinen Mitgliedsbetrieben diesen Service der Caritas. Grundsätzlich<br />
kann die Leistung auch von Betrieben außerhalb der genannten Regionen in Anspruch genommen<br />
werden. Im Bedarfsfall wird auch an andere Partner weitervermittelt.<br />
Eine Präsentation des Angebots, z.B. im Rahmen der Arbeitsschutzausschuss-Sitzungen oder des<br />
Gesundheitszirkels, könnte ein Einstieg in die Thematik sein. Schwerpunktmäßig richtet sich das Angebot<br />
an größere Unternehmen, da hier eine entsprechend größere Anzahl potenziell nachfragender<br />
Mitarbeiter vermutet werden kann.<br />
61
Gefährdungsbeurteilung „Psychische Belastungen“ nach Arbeitsschutzgesetz<br />
Jedes Unternehmen hingegen, auch kleine und mittlere, ist per Gesetz dazu verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung<br />
zu erstellen, die auch Aspekte der psychischen Belastungen enthalten muss. In<br />
der Praxis ergibt sich dann aber die Schwierigkeit, dass die psychischen Belastungen nicht so leicht<br />
zu messen sind wie andere Belastungen. Die Kombination zweier sich ergänzender Testverfahren hat<br />
sich hier als sehr effektiv erwiesen.<br />
Ein Ansatz lenkt den Blick auf die Eigenschaften des Mitarbeiters. Die Beschäftigten werden anhand<br />
eines Fragebogens oder im Rahmen eines Workshops zur gefühlten Situation befragt. Ermittelt wird<br />
also keine „objektive Größe“, sondern die individuell wahrgenommene Beanspruchung durch die Arbeitssituation.<br />
Trotz dieses „subjektiven Faktors“ von Mitarbeiterbefragungen zum Thema „psychische<br />
Beanspruchung am Arbeitsplatz“, bekommt das Unternehmen eine Rückmeldung, ob sich die<br />
Belegschaft – zumindest im Durchschnitt – den Anforderungen gewachsen sieht. Der Wert auch solcher<br />
„weichen Daten“ sollte im Hinblick auf die Gesunderhaltung der Mitarbeiter nicht unterschätzt<br />
werden.<br />
Der zweite Ansatz zielt auf die tatsächliche Belastung des Beschäftigten. Im Sinne einer „klassischen<br />
Gefährdungsbeurteilung“, werden die Arbeitsbedingungen im Unternehmen durch den „geschulten<br />
Blick“ betrachtet. Beispielhaft sei hier der KPB-Test („Kurzverfahren Psychische Belastung“) des Instituts<br />
für angewandte Arbeitswissenschaften genannt.<br />
Ein Team von Führungskraft, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Betriebsarzt, Arbeitsplaner, Sicherheitsbeauftragte,<br />
Betriebsrat und Stelleninhaber bewerten die Arbeitssituation nach einem vorgegebenen<br />
Raster. Betrachtet werden die Bereiche: Stress, Psychische Ermüdung, Monotonie, Psychische Sättigung.<br />
Der Umgang mit diesem Analyseinstrument erfordert eine Schulung und etwas Übung im Umgang<br />
mit dem Verfahren. Erfasst werden ausschließlich objektivierbare Fakten.<br />
Auch die Gefährdungsbeurteilungen zählt zum Leistungsangebot des Werkarztzentrums Westfalen-<br />
Mitte.<br />
Weitere Informationen zum Werkarztzentrum Westfalen-Mitte finden Sie unter<br />
www.werkarztzentrum.de.<br />
62
63
AUTOR<strong>IN</strong>NEN<br />
UND AUTOREN<br />
Das vorliegende Buch versammelt Beiträge einer<br />
Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Wir danken<br />
allen herzlich für ihr Engagement.
DIE AUTOR<strong>IN</strong>NEN UND AUTOREN<br />
Astrid Arens ist Trainerin, Keynote Speakerin<br />
und Autorin. Sie ist Expertin für die Themen Leistungs-<br />
und Gesundheitstuning, Stressmanagement,<br />
Neurokommunikation, Emotion Selling und<br />
Vertrieb.<br />
Dr. Rüdiger Beck ist Gründer und Gesellschafter<br />
der prevent.on GmbH, einer präventivmedizinischen<br />
und -psychologischen Institution mit elf<br />
Standorten in Deutschland.<br />
Martina Becker ist Referentin Fachkräftesicherung<br />
bei der Industrie- und Handelskammer Trier.<br />
Dipl.-Soz.Wiss. Martina Böhler ist Gesellschafterin<br />
der InVerte – Böhler & Fischer GbR und seit<br />
vielen Jahren als Organisationsberaterin und Trainerin<br />
im Bereich Arbeit und Gesundheit tätig. Sie<br />
begleitet überwiegend kleine und mittlere Unternehmen<br />
bei einer gesundheitsorientierten Unternehmensentwicklung.<br />
Kurt-Georg Ciesinger ist Geschäftsführer der<br />
gaus gmbh - medien bildung politikberatung,<br />
Dortmund.<br />
Prof. Dr. Stefan Diestel ist Hochschullehrer für<br />
Wirtschaftspsychologie an der International<br />
School of Management gGmbH in Dortmund.<br />
Susanne Fischer, Soziale Verhaltenswissenschaftlerin<br />
B.A., ist Gesellschafterin der InVerte –<br />
Böhler & Fischer GbR und als Organisationsberaterin<br />
und Trainerin seit vielen Jahren im Bereich<br />
der betrieblichen Gesundheitsförderung tätig. Ihre<br />
Schwerpunktthemen sind gesunde Selbstführung<br />
und gesunde Mitarbeiterführung.<br />
Christina Huwald, M.A., studierte Politikwissenschaft<br />
und Europäische Studien in Göttingen, Paris<br />
und Osnabrück und ist Projektentwicklerin<br />
beim Multikulturellen Forum e.V. in Lünen.<br />
Christian Jürgenliemke vertritt die Regionalagentur<br />
Westfälisches Ruhrgebiet in Hamm.<br />
Dr. Bernhard Kaerkes ist Facharzt für Arbeitsmedizin<br />
und Ärztlicher Leiter des Werkarztzentrums<br />
Westfalen-Mitte e.V.<br />
Prof. Dr. Karl Kuhn war langjähriger wissenschaftlicher<br />
Leiter und Senior Policy Adviser in<br />
der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.<br />
Er berät heute im Rahmen internationaler<br />
Projekte bei der Etablierung moderner Arbeitsschutzsysteme.<br />
Dipl.-Sportlehrer Christian Kunert ist Campusleiter<br />
am Hochschulcampus Unna und in der Lehre<br />
der Studiengänge Sportmanagement sowie<br />
Sport und angewandte Trainingswissenschaften<br />
tätig. Darüber hinaus widmet er sich dem Thema<br />
mit seinem eigenen Unternehmen kunert – BIL-<br />
DUNG & BERATUNG in <strong>GESUND</strong>HEIT & SPORT.<br />
Manfred Nedler studierte Informatik und Organisationspsychologie.<br />
Er arbeitet seit 20 Jahren als<br />
selbstständiger Berater und Trainer für Unternehmen<br />
und Behörden.<br />
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Rainer Ollmann ist Geschäftsführer der gaus<br />
gmbh - medien bildung politikberatung,<br />
Dortmund.<br />
Dipl.-Pädagogin und MPA Tina Riedel ist Projektentwicklerin<br />
im Jobcenter Kreis Unna.<br />
Ursula Rode-Schäffer ist Geschäftsführerin der<br />
Regionalagentur Hellweg-Hochsauerland.<br />
RA Thomas Schäfer ist Hauptgeschäftsführer<br />
des Handelsverband Nordrhein-Westfalen Westfalen-Münsterland<br />
e.V.<br />
Sozialwirtin Ulrike Schatto ist Beauftragte für<br />
Chancengleichheit am Arbeitsmarkt im Jobcenter<br />
Kreis Unna.<br />
Sandra Schröder ist Referentin Demografie und<br />
Fachkräftesicherung bei der Industrie- und Handelskammer<br />
zu Dortmund.<br />
Dr. Kai Seiler ist Leiter des Landesinstituts für<br />
Arbeitsgestaltung NRW.<br />
Katja Sträde vertritt die Regionalagentur Westfälisches<br />
Ruhrgebiet im Kreis Unna.<br />
Dipl. oec. Rainer Weichbrodt ist geschäftsführender<br />
Gesellschafter der Management Institut<br />
Dortmund GmbH, einer Management- und Strategieberatung<br />
für KMU.<br />
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2015