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Trialog_16-2015
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TRI∆LOG 16/2015<br />
naiv, kluge Worte, an den entscheidenden Stellen<br />
aber ohne Perspektiven, vielleicht sogar ohne Problemsicht.<br />
Dunkles wird vielleicht kurz gestreift,<br />
letztlich aber in seiner subjektiven wie kollektiven<br />
Bedeutung verleugnet.<br />
Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman<br />
hat genau dies an sich selber festgestellt, hat gemerkt,<br />
wie sehr und eigentlich in absurder Weise<br />
er jahrzehntelang nicht nur wichtige Bereiche der<br />
Wirklichkeit übersehen hat, sondern dass seine<br />
Blickweise insgesamt entscheidend von Verleugnung<br />
bestimmt war.<br />
Er, der als Kind mit seiner jüdischen Familie vor<br />
den Nazis noch aus Polen hatte fliehen können,<br />
machte sich während eines langen Akademikerlebens<br />
erstaunlich wenig Gedanken über die allgemeinere<br />
Bedeutung des Holocaust, sah in diesem<br />
so etwas wie ein Bild unter vielen an einer Wand.<br />
Dass er in Wirklichkeit aber das Fenster ist, um die<br />
Wirklichkeit zu sehen, das ging ihm erst auf anhand<br />
von etwas „Lebenspraktischem“, nämlich als seine<br />
Frau ihre Erinnerungen an die Zeit im Warschauer<br />
Ghetto niederschrieb und sich dafür längere Zeit<br />
zurückzog.<br />
Baumans Buch „Dialektik der Ordnung“ (1992) beginnt<br />
mit diesen Einsichten in eigene Verleugnung.<br />
Das macht seine dann folgenden Analysen authentischer,<br />
und es zeigt zugleich, wie schwer uns der<br />
Blick auf die dunklen Seiten unserer Welt fällt. Und<br />
das wiederum hat viel zu tun mit Fremdheit. Ich zitiere<br />
eine in diesem Zusammenhang wichtige Stelle:<br />
„Schließlich ist es nicht der Holocaust, dessen<br />
Monstrosität wir nicht zu begreifen vermögen, es<br />
ist die westliche Zivilisation überhaupt, die uns seit<br />
dem Holocaust fremd geworden ist – und das zu<br />
einem Zeitpunkt, als sicher schien, dass sie beherrschbar,<br />
dass ihre innersten Mechanismen und<br />
ihr gesamtes Potential durchschaubar seien; zu<br />
einem Zeitpunkt, als diese Zivilisation einen weltweiten<br />
Siegeszug antrat. (...) Der Holocaust ereignete<br />
sich vor fast einem halben Jahrhundert; die<br />
direkten Auswirkungen versinken in der Geschichte.<br />
Von der Generation, die ihn erlebt hat, wird bald<br />
niemand mehr da sein. Dennoch, die vertrauten<br />
Merkmale der Zivilisation, die seit dem Holocaust<br />
wieder fremd geworden sind, begleiten uns finster<br />
und unheilvoll immer noch. Sie sind ebenso wenig<br />
verschwunden wie die Denkbarkeit, die Möglichkeit<br />
des Holocaust selbst.“ (Bauman 1992, S. 98f)<br />
Bauman sieht als einer der wenigen Sozialwissenschaftlern<br />
den Holocaust nicht als „Betriebsunfall<br />
der Geschichte“, nicht als bloßen „Rückfall in die<br />
Barbarei“, sondern im Sinne einer zentralen Tendenz<br />
der Moderne, die er mit der Ambition eines<br />
Gärtners vergleicht, nämlich die Gesellschaft nach<br />
dem Bild eines wohlgeordneten Gartens zu gestalten<br />
und alles für Unkraut Erklärte zu vernichten.<br />
Das sind Analysen, die Bedeutung haben auch für<br />
Erziehungsberatung, auch für unser tägliches Beraten.<br />
Bei Licht betrachtet, gehört es zu den Aufgaben von<br />
Erziehungsberatung, die in der Generationenfolge<br />
ins Untergründige abgesunkenen Bezüge zur NS-<br />
Gewalt aus ihrer heimlichen Virulenz herausholen<br />
zu helfen, dies nicht nur mit Blick auf junge Rechtsradikale<br />
oder „moderne“ Bewegungen wie Pegida,<br />
sondern in einer breiten Palette, in der das Schicksal<br />
der Verfolgten und das Weiterwirken des Grauens<br />
bei ihren Nachkommen den Horizont angibt. (Näheres<br />
Zusatz 2015: Müller-Hohagen, 2005; Weissberg<br />
und Müller-Hohagen 2015; J. u. I. Müller-Hohagen<br />
2015). Insgesamt und in aller Kürze: Wenn wir als<br />
Erziehungsberaterinnen und -berater uns nicht immer<br />
wieder fremd fühlen innerhalb unserer Arbeit<br />
angesichts so vieler Auswirkungen einer Welt, die<br />
uns „fremd geworden ist“, dann müssen wir uns<br />
fragen, ob wir nicht wesentliche Bereiche der Wirklichkeit<br />
verleugnen. Es macht leider einen bestimmenden<br />
Teil unseres Lebens aus, auch als Beratende,<br />
dass wir in einer Welt der Fremdheit leben.<br />
Dieses Thema nur an den „Fremden“ abzuhandeln,<br />
bedeutet Verleugnung. Wohl aber hängen die zuvor<br />
angesprochene Fremdheit und die wesentlich<br />
gesellschaftlich hergestellte Fremdheit der „Fremden“<br />
eng zusammen. Letztere habe ich sehr wohl<br />
im Blick, auch wenn ich in diesem Beitrag nicht im<br />
Einzelnen darauf eingehe.<br />
Weitere gewichtige Aspekte zu diesem Themenfokus<br />
enthalten ja auch die beiden interessanten Beiträge<br />
von Elke von der Haar (s.S.52 ff) und Martin<br />
Merbach (s.S.3-8) in diesem TRIALOG-Heft.<br />
Fremd in der Beratung – dank Neoliberalismus,<br />
QS & QE ?<br />
Wenn ich hier nach allgemeineren Hintergründen<br />
für meine subjektiven Empfindungen von Fremdheit<br />
in der Beratungsarbeit frage, so sind nach den<br />
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