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Trialog_16-2015
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TRI∆LOG 16/2015<br />
Quellen der Fremdheit<br />
Oft hören wir von Leuten, die es eigentlich wissen<br />
müssten, diese Frage: „Was machen Sie an der Erziehungsberatungsstelle?“<br />
Wer sind wir in dieser Gesellschaft? Fremdkörper.<br />
Ich fühle mich fremd, wenn ich dies bedenke. Fremd<br />
weniger für mich selbst, denn ich kann mit solcher<br />
Abwertung leben. Fremd vielmehr beim Gedanken<br />
an Menschen, an Gespräche mit ihnen, die so intensiv<br />
waren gerade im Hinblick auf die zuvor angesprochenen<br />
Themen von Schuld, Versagen, Angst<br />
vor Verrücktheit, die so befreiend wirkten und damit<br />
den weiteren Lebensweg einer ganzen Familie vielleicht<br />
dermaßen bestärkten, dass ich mir manches<br />
Mal schon in allem Ernst gesagt habe: Dieses eine<br />
Gespräch, vielleicht das einzige überhaupt mit dieser<br />
Familie, etwa im Rahmen einer Sprechstunde,<br />
könnte mein Gehalt für einen ganzen Monat wert<br />
gewesen sein. Ohne Selbstüberschätzung, sondern<br />
in aller Nüchternheit: Gilt das nicht für eine<br />
ganze Reihe unserer „Interventionen“? Wieso dann<br />
aber diese verbreitete gesellschaftliche Negierung,<br />
wie sie in solchen Fragen immer wieder anklingt?<br />
Hier weht mich ein eisiger Wind des Fremdseins<br />
an.<br />
Zur Perspektive der folgenden Betrachtungen:<br />
Fremdheit in der Erziehungs- und Familienberatung<br />
Nach diesen in meiner Erfahrung auffällig wiederkehrenden<br />
und mich deshalb zunehmend fremder<br />
anmutenden Erlebnissen möchte ich in einigen Linien<br />
meine Perspektiven skizzieren, unter denen<br />
ich diesen Beitrag konzipiert habe.<br />
Als erstes ist zu nennen, dass die Erziehungsberatungsstelle,<br />
die ich von 1986 bis 2011 2 innehatte,<br />
in einem Stadtviertel, dem Hasenbergl, liegt, das<br />
durch die größte Notunterkunftsanlage Münchens<br />
geprägt ist sowie durch eine Massierung Sozialen<br />
Wohnungsbaus, wobei diese Wohnungen aufgrund<br />
ihrer (relativen) Größe mittlerweile in immer höherem<br />
Maße durch kinderreiche „Ausländer“-Familien<br />
belegt werden; es gibt demzufolge hier Kindertagesstätten<br />
mit einem „Ausländer“-Anteil von bis zu<br />
90 %. „Sozialer Brennpunkt“ hieß so etwas bis vor<br />
Kurzem, mittlerweile offiziell umbenannt in „Stadtteil<br />
mit erhöhtem sozialpolitischem Handlungsbedarf“.<br />
Zugleich befinden sich im Einzugsbereich<br />
unserer Stelle ausgedehnte Eigenheimsiedlungen<br />
sowie das „letzte Dorf Münchens“ mit traditionellem<br />
Brauchtum und tatsächlich oder vermeintlich „heiler<br />
Welt“. Ein soziologisch interessantes Gebiet also.<br />
Das zweite Spezifikum für meine Herangehensweise<br />
liegt in meiner langjährigen und wesentlich<br />
innerhalb der EB-Tätigkeit entstandenen Beschäftigung<br />
mit den seelischen Aus- und Fortwirkungen<br />
des Nationalsozialismus bis in die dritte und vierte<br />
Generation, wie ich dem in der Arbeit mit meinen<br />
Klientenfamilien begegne. Zusammenhänge zwischen<br />
Individuellem und Gesellschaftlichem werden<br />
da konkret sichtbar – und die Verleugnung solcher<br />
Bezüge.<br />
Und als drittes haben wir an unserer Stelle eine<br />
solche Gemengelage von sich wechselseitig kumulierenden<br />
Veränderungsprozessen zu verzeichnen,<br />
dass Empfindungen von Fremdheit fast schon die<br />
Anmutung des Vertrauten angenommen haben,<br />
Gleichmaß und Überschaubarkeit fast schon fremd<br />
wirken.<br />
Zu nennen sind insbesondere:<br />
• massive Infragestellungen der Existenzberechtigung<br />
und der Arbeitsweise von Erziehungsberatungsstellen,<br />
u.a. bundesweit durch einige<br />
Kinder- und Jugendhilfeberichte der Bundesregierung<br />
(BMFSFJ)<br />
• Teilnahme am Modellprojekt Qualitätsmanagement<br />
in der Münchener Jugendhilfe, initiiert und<br />
finanziert durch das Münchener Stadtjugendamt<br />
für die Familienbildungsstätten und die Erziehungsberatungsstellen<br />
• weitreichende Wandlungen beim Trägerverein,<br />
was Organisation und Unternehmensmanagement<br />
angeht<br />
• Umzug unserer Stelle und Einzug in ein Hightec-Haus,<br />
das eher nachrangig auf die Belange<br />
von Beratung hin konzipiert worden war<br />
• sich beschleunigender gesellschaftlicher Wandel<br />
mit gravierenden Auswirkungen auf die<br />
Arbeits- und Lebensrealitäten unseres Klientel<br />
– Stichwort: Mobilität und Flexibilisierung;<br />
Zeitarbeit; Verdichtung, Beschleunigung und<br />
Digitalisierung; prekäre und atypische Beschäftigungsverhältnisse;<br />
Pluralisierung der Lebensformen.<br />
2 Seit 2011 bin ich im Ruhestand.<br />
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