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Adam Weishaupt - Philosophische Weltweise

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<strong>Adam</strong> <strong>Weishaupt</strong><br />

Größere Mysterien<br />

Erste Klasse<br />

Philosophi. <strong>Weltweise</strong><br />

Abgedruckt in: Johann Joachim Christoph Bode: Journal von einer Reise<br />

von Weimar nach Frankreich. Im Jahr 1787, Hg. Hermann Schüttler,<br />

München 1994, S. 361–94<br />

Der, der die Seelenruhe sucht, komme herbey! Wir wollen Dich mit<br />

der Welt aussöhnen; wir wollen Dich zur Glückseligkeit führen,<br />

wollen Dich die grosse Kunst lehren, aus allen Gegenständen der<br />

Welt, aus allen Vorfallenheiten des Lebens Vergnügen zu schöpfen.<br />

Die Gegenstände, welche Dich umgeben, und die Ursach Deines<br />

bisherigen Mißvergnügens sind, sollen ihre Häßlichkeit verlieren:<br />

dieses Häßliche soll Dir angenehm, das Kleine Groß, und mancher<br />

Gegenstand Deiner Abneigung begehrungswerth werden.<br />

Weißheit ist der einzige Weg zum Vergnügen, zur Seelenruhe, zur


Glückseligkeit. Komm' herbey! Wir wollen Dich - Weißheit lehren.<br />

Wenn Du ein weiser Mann seyn willst, so mußt Du wissen, daß<br />

zwar die Menschen alles Zweck nennen, worauf ihre Begierden und<br />

Anstalten gerichtet sind; daß es aber dieser Zwecke unendliche, in<br />

gleicher Zahl mit unsern Wünschen und Begieren gebe: daß diese<br />

eben darum sich sehr häufig widersprechen, und unmöglich alle<br />

zugleich können erreicht werden: daß folglich nicht alle gleich gut<br />

und rechtmäßig, daß einige darunter höher, andre niedriger, einige<br />

enger, einige allgemeiner seyen: daß, um die Güte und den Werth<br />

der Zwecke zu bestimmen, es einen höchsten, allgemeinsten geben<br />

müsse, wozu alle übrigen, hohe und niedrige Zwecke, entweder<br />

sich bloß als Mittel, oder wohl gar, als Hindernisse verhalten: daß<br />

sodann diese eingeschränkten Zwecke aufhören, Zwecke zu<br />

heissen: daß sich die wahre Weißheit des Menschen, um diese<br />

letzten, allgemeinsten, und um die Unterordnung der übrigen allein<br />

zu bekümmern habe. Daß endlich unsre wahre Weißheit und<br />

Klugheit darin bestehe, eine Menge uns bisher sehr wichtiger<br />

Zwecke, als blosse Mittel zu betrachten; uns sich mit diesem, auf<br />

einmal unser ganzes Begehrungsvermögen, unser Urtheil über den<br />

Werth der Gegenstände ausser Uns, und folglich alle bisherigen<br />

Ursachen von Vergnügen und Mißvergnügen dergestalt abändern,<br />

daß das Letztere sich vermindern, und das Erstere in<br />

überwiegender Menge vermehren muß.<br />

Unser Gesichtspunkt und Standort allein ist also die Quelle Unsers<br />

mindern oder grössern Vergnügens und Zufriedenheit. Von diesen<br />

hängt unsre Seelenruh und Glückseligkeit ab. Mit solchem erweitert<br />

oder vermindert sich auch diese. Niemand als solcher Weiser allein<br />

kann bestimmen, was in der Welt wirklich groß oder klein, gerecht<br />

oder ungerecht, gut oder bös, häßlich oder schön, wahr oder<br />

falsch, begehrungswerth oder verabscheuungswürdig sey. Wer die<br />

Unterordnung der Zwecke, wodurch alle, bloß als Mittel zu einem<br />

Einzigen werden, nicht versteht, dessen Urtheile sind schief,<br />

dessen Begierden thörigt, seine Entwürfe eitel und schwankend,<br />

seine Klugheit unsicher und er läuft Gefahr, dem Uebel eben<br />

dadurch in die Hände zu fallen, daß er ihm entgehen will. Seine<br />

Rettungsmittel sind Untergang, und sein vermeinter Untergang ist<br />

Mittel zu seiner Rettung. So, wie jeder, der nichts Schöners und<br />

Grösseres gesehen hat, die Schöne seines Dorfes für eine Venus<br />

und den seine Gegend durchströmenden Fluß oder Bach für ein<br />

Meer hält; ebenso tragen all unsre Urtheile über die Welt und ihre<br />

Theile das sichtbare Gepräge unserer Trägheit im Denken, unsrer<br />

Unwissenheit und Kurzsichtigkeit.<br />

Dieser höchste und beste Zweck allein ist der Standort, wo der<br />

Mensch sich hinstellt und von daraus die Welt überschauet. Dieser<br />

Standort ist derjenige, welcher Dir auf einmal deine bisherige<br />

Riesen in Zwerge umschafft, die bisher unangenehmen<br />

Gegenstände, in einer andern bessern Eigenschaft und Beziehung


darstellt; Deine Erkenntniß und folglich dein Begehrungsvermögen<br />

abändert; das Böse gut, und das Gute bös macht; dem Häßlichen<br />

seine Maske abnimmt, das Vergnügen vervielfältigt und diese, dir<br />

bisher so geschäftige Welt in ein Elysium umschafft.<br />

Du hast bis jezt durch ein gefärbtes Glas geschauet, hast nach<br />

Seifenblasen gehaschet, hast den Hügel, worauf die Kirche deines<br />

Dorfes steht, für den grössesten Berg in der Welt gehalten, weil<br />

dieser dein höchster Gesichtspunkt war, weil du am unrechten Orte<br />

standest. Nun stehe hier, auf den Ort her, wo Wir stehen, und schau<br />

von Neuem in die Welt hinaus - und erstaune! Eine andre, neue,<br />

herlichere Welt! - Dein Vaterland erscheint, als ein Sandkorn,<br />

Europa, als der Hügel eines Maulwurfs; unsre grosse,<br />

welterschütternde europäische Angelegenheiten und Geschäftigkeit<br />

der Menschen, sinken bis zur AmeisenRepublik und Geschäftigkeit<br />

herunter; verlieren sich fast gänzlich in der ungeheuren Kette des<br />

Weltalls, wie ein Tropfen Wasser im WeltMeere. Siehe nunmehr<br />

deine Qual in Freude, das Grosse ins Kleine Unmerkbare, und<br />

deine Hölle in einen Himmel verwandelt. Dieses Kleine, beynah<br />

unmerkbare Grosse war es also, das dir Sorgen und Unruh<br />

brächte? welches deine ganze Seele an sich zog? Dieses Kleine,<br />

und sollt' es auch der Ameisenhaufen Europa seyn, konnte dich<br />

bewegen Zwietracht unter Deinesgleichen zu verbreiten? Tobende<br />

Wuth und Sturm in deiner Seele erwecken, und die so himmlische<br />

Heiterkeit entziehen? Elender Mensch! wie klein ist das, worüber<br />

Du Dich ärgerst! und wie groß, wie unendlich ist das, dagegen Du<br />

gleichgültig und sorgenlos bist? - Steige also, wenn Du kannst,<br />

höher und höher zu Uns herauf. Dieses Heraufsteigen, dieses<br />

Verallgemeinern deines Gesichtspunktes, ist der Berg, oder die<br />

grosse Leiter zum Vergnügen, auf welcher der Auserwählte sich<br />

schon hienieden zur Gottheit, zur Glückseligkeit aufschwingt, weil er<br />

mit jeder höhern Stuffe, von seiner wachsenden Höhe herab, unten<br />

in der Tiefe, ein immer mehr ihm vorher unbekanntes Land der<br />

Freude und des Vergnügens entdeckt. Das, was Unten zu häßlich,<br />

zu unschicklich schien, erhält erst von dieser Höhe sein gehöriges<br />

Verhältniß und Ebenmaß; und wenn dann in diesem hinauf- und<br />

Höhersteigen, endlich die Sonne selbst als ein Funke erscheinen<br />

wird, was soll erst sodann aus dir, aus deinen Wünschen und<br />

Begierden werden? O, dann schäme Dich Deines Stolzes, Deiner<br />

eingebildeten Hoheit und Grösse! Aber, da sitzest Du schon<br />

Lebenslang da Unten, und glaubtest in der Höhe zu seyn:<br />

schimpftest auf alles, was da Unten vorbeygeht: bist zu träg, dich<br />

loszumachen, zu erheben. Schimpfest auch auf Uns, elender<br />

Schmäher! daß Wir da Oben, von der Spitze des Thurms, wo du<br />

dich niemals hinauf gewagt hast, dir die herlichste Aussicht in ein<br />

schöneres Land verkündigen: nennst Uns darüber Thoren und<br />

Schwärmer: lachst über Unsre Einfallt und Unerfahrenheit, daß wir<br />

in stillen Zimmer, bey der nächtlichen Lampe ausgebrütete Träume,<br />

der Welt als Wahrheiten verkaufen, und die Leiden und<br />

Unglücksfälle der Menschen durch eine überspannte<br />

Einbildungskraft vermindern. - Erwache aus deinem Schlummer,


sporne dich an, erhebe dich zu uns; oder, wenn du das nicht willst.<br />

so höre wenigstens auf, auf die Welt zu schmähen. Sie ist Gottes<br />

Werk, und wer dieses, tadelt und lästert, der tadelt und lästert<br />

seinen und Deinen Urheber. Du siehst die Welt freylich nicht, wie<br />

sie ist, sondern wie man sie von deinem Standorte, durch das von<br />

deinen Wünschen gefärbte Glas sehen kann; und dieser Standort<br />

ist dir zu lieb, als daß du ihn verlassen wolltest. Strenge dich aber<br />

doch an; und wir wollen dir das Land zeigen, wo die Häßlichkeit zur<br />

Schönheit wird und anscheinende Unordnung zur regelmässigsten<br />

Uebereinstimmung.<br />

- Wir wollen dir zeigen, daß du, deine Familie, deine Vaterstadt,<br />

dein Vaterland, selbst diese Erde, nur Stuffen und Sehröhre sind,<br />

durch welche man in die Welt, und die Stadt Gottes schauet. Wir<br />

wollen dir sogar zeigen daß du und dein ganzes Geschlecht, selbst<br />

nur weiter untergeordnete Mittel eines höhern Zweckes seyen. Daß<br />

du, der du unverschämt genug bist, dich zm Zweck der Schöpfung<br />

zu machen, daß du und das ganze Menschengeschlecht, eben so<br />

gut, als das Niedrigste, nicht Zweck, sondern nichts weiter, als ein<br />

Theil der unerschöpflich reichen Natur seyen, wie Du und deine<br />

Familie ein untergeordneter Theil der bürgerlichen Gesellschaft<br />

sind.<br />

Alles in der Welt ist Standort; und nach diesem Standort richten<br />

sich Kopf und Herz der Menschen, in Freuden, so wie im Leiden.<br />

Die Freude wohnet Oben in den höhern Gegenden, die Leiden<br />

sinken von da herunter in die mittlern und untersten Gegenden.<br />

Und doch, da alles Standort ist, kann nur ein Einziger der wahre<br />

seyn, aus welchem man alle Gegenstände und an ihren wahren<br />

Orten überschauen kann. Nicht zu nah und nicht zu fern, nicht zu<br />

hoch und nicht zu niedrig, das alles modificirt unsre Glückseligkeit<br />

und Urtheile über Gegenstände so ausser uns sind, und auf uns<br />

wirken.<br />

Du kleine, unansehnliche Milbe! Die ich zernichten könnte - Auch<br />

du bist also eines meiner Mitwesen in der grossen Leiter und<br />

Stuffenfolge der Natur? Wesen meiner Art sagten mir, du seyst<br />

klein, schwach und unbedeutend; denn du lieferst und gewinnst<br />

keine Schlachten, belagerst keine Städte, schreibst nicht kleine<br />

Sachen in grosse Folianten; verstehst nicht die Kunst, die Hände<br />

von Millionen als Mittel deiner Lust zu gebrauchen, deine Nachbarn<br />

klein, und dich auf ihre Unkosten groß zu machen. Darum nannten<br />

sie, und ich mit ihnen, dich klein, schwach und unbedeutend. Ich<br />

soll also ebenso gut Werkzeug und Mittel seyn, als du es bist? Ich<br />

der König der Natur! Wegen dem alles ist! - Aber, du wärest nicht<br />

hier, wenn du das nicht wärest. Wir halten dich für klein, weil wir<br />

dich gegen uns vergleichen; deine Gestalt häßlich, und deine Kräfte<br />

eingeschränkt, weil sie nicht die unsrigen sind. - Aber, war ich denn<br />

jemals Wurm, um zu wissen, was in, und mit Dir vorgeht? So, wie<br />

du und alles, was Mensch und nicht Mensch ist, von dem, was in


dem Andern vorgeht, keine unmittelbare Erfahrung hat: sich nicht<br />

vorstellen kann, welche Kräfte und Fähigkeiten in dieser oder jener<br />

Configuration verborgen sind. Diese Verschiedenheit deiner Gestalt<br />

von der Meinigen bewirkt zwar, daß dieses, was in dir vorgeht, nicht<br />

auch zugleich in dem Menschen vorgehe; aber, daß in dir darum<br />

nicht vielleicht noch etwas Besseres vorgehe, das beweiset sie<br />

nicht. Vielleicht ist es Vorzug, eine Milbe, vielleicht gar<br />

Erniedrigung, ein Mensch zu seyn, wenn es möglich wäre, daß in<br />

dieser Schöpfung irgend ein Stand erniedrigen könnte.<br />

Oder woher weiß denn der Mensch, daß er besser, als alle übrigen<br />

Wesen sey? Weil er sich näher, als alle andre kennt? Aber, was<br />

hindert sodann andre, in meinen Augen geringere Wesen, einen<br />

ähnlichen Schluß für ihre Wichtigkeit zu machen? Seit wann ist die<br />

Unvermögenheit, uns in die Lage Andrer zu denken, ein Beweis<br />

unsers Vorzugs? Ist denn das eine allgemein ausgemachte und<br />

erwiesene Wahrheit, daß Menschen die Ersten aller Wesen sind?<br />

Wo sind die Beweise, die nur für uns allein, und nicht auch zugleich<br />

für andre beweisen? - Genug, daß uns dieses Urtheil schmeichelt,<br />

daß es, wo nicht die Wahrheit, doch unsern Stolz, unsre Wünsche<br />

und Eitelkeit ausdrückt: daß die Logic und Philosophie des grossen<br />

Haufen, Schmeicheley und Lügen gegen uns selbst, und darauf<br />

gebaute und daraus gefolgerte Schlüsse enthalten. - Aber, nicht so<br />

denkt der Weise. Er, der allein wahr und richtig urtheilt, bestimmt<br />

den Werth jedes Dinges, nicht nach der Beziehung welches es auf<br />

thörigte Wünsche hat, sondern nach der Beytragsfähigkeit, nach<br />

dem Abzwecken zur Universalmassa der Seligkeit aller Wesen, zur<br />

Offenbarung der Grösse seines Urhebers: er findet, daß alles, alles<br />

lebende Signatur und Gepräge der Gottheit sey. Wir sind es, du bist<br />

es, und das geringst Insekt, und der kleinste Staub, sind es<br />

ebenfalls. Versündige dich nicht daran, verrücke nichts von seinem<br />

Platze; oder zerstöre und verrücke immerhin; denn, wo du es auch<br />

hinsetzen wirst, so steht es allezeit an der Stelle, die ihm die<br />

Vorsicht und Einrichtung der Welt angewiesen hat.<br />

Doch so weit sollte heute unser Unterricht nicht reichen: diese<br />

Stunde ist noch nicht gekommen für dich; laß uns vielmehr wieder in<br />

niedrige Gegenden herabsteigen; auf der Erde verweilen, und den<br />

Gang der Weltbegebenheiten beobachten. -<br />

"Wohin will das alles? - Wohin arbeitet die Natur? - Wohin arbeiten<br />

alle Bedürfnisse, alle Betriebsamkeit der Menschen? - Hängt das<br />

Gegenwärtige mit dem Vergangenen, beyde mit der Zukunft<br />

zusammen? - Drängen sich alle Weltbegebenheiten auf einen<br />

gemeinschaftlichen Punkt? Oder sind solches isolirte Facta? -<br />

Wenn alles Entwicklung ist, nach welchen Gesetzen entwickelt sich<br />

die Natur?" - -<br />

Untersuche das Vergangene, vergleiche damit das Gegenwärtige,


und du wirst die Zukunft finden.<br />

Mache das Vergangne zur Zukunft; stelle dich an, als ob das alles<br />

noch nicht geschehen wäre, erst geschehen solte. Denke was nach<br />

diesen von der Geschichte überlieferten, vorhergehenden und<br />

gleichzeitigen Umständen geschehen müßte; und du verstehst die<br />

grosse Kunst, ein Prophet des Vergangenen zu seyn; und um ein<br />

Prophet für die Zukunft zu werden, muß diese Uebung vorausgehn.<br />

Durch solche, durch die Geschichte, durch das, was wirklich<br />

geschieht, bilden sich die Seher. Denke Dir aber anbey, daß in der<br />

Welt nichts ohne Ursach und Vorbereitung geschehe, daß alles<br />

darin blosse Entwicklung einer primitiven, von Gott gegebenen<br />

Anlage sey: daß in dieser ersten Weltbegebenheit, in dieser ersten<br />

Entwicklung der Kräfte, der Grund sey, warum unter so vielen<br />

andern möglichen, nur diese Folge sichtbar geworden: daß der<br />

Dritte und Vierte, so wie alle übrigen, folgende, vergangene,<br />

gegenwärtige, und künftige Begebenheiten eben so sehr<br />

wesentliche Folgen dieser ersten Anlage seyen: daß sich mit einer<br />

andern primitiven Anlage die ganze Succession der Welt und ihrer<br />

Theile würde geändert haben; daß also in diesem einzigen ersten<br />

Datum der Grund der ganzen spätesten Zukunft mittelbar oder<br />

unmittelbar enthalten sey: daß alles, mit allem Gleichzeitigen,<br />

Folgenden und Vorhergehenden auf das genaueste zusammen<br />

hänge: daß es keine kleine, noch viel weniger grosse isolirte Facta<br />

gebe: daß der unendliche Reichthum und Vorrath der Natur ihr nicht<br />

gestatte, sich bloß unter anderm Nahmen zu wiederholen: daß ihr<br />

sicherer Gang, vom Kleinsten bis zum Minder Kleinsten, durch<br />

unendliche Abstuffungen zum Grössern, ohne allen Sprung<br />

fortschreite: daß jeder ihrer vorhergehenden Zustände, eben<br />

darum, so zu sagen, Vorübung sey, um wieder einen nächsten<br />

bessern hervorzubringen: daß bey ihr durchgehende in der<br />

unendlichsten Mannigfaltigkeit, die erstaunlichste Einheit herrsche.<br />

Nach diesen Grundsätzen, deren Bestätigung jeder unbefangene<br />

Beobachter in der Natur selbst findet, wirst du folglich merken, daß<br />

unsre Befürfnisse das grosse Triebrad sind, wodurch Gott und die<br />

Natur, uns und alle Wesen in Bewegung setzet und erhält: daß, da<br />

jeder Schmerz und jedes Mißvergnügen selbst Bedürfnisse sind,<br />

solche Wohlthat Gottes und der Natur seyen: daß wir ohne solche<br />

elend, und auch zum Vergnügen gänzlich unfähig wären: daß wir<br />

durch sie allein zur Thätigkeit und Entwickelung unsrer<br />

Geistes-Kräfte gereitzet werden: daß wir eben deßwegen<br />

glücklicher und vollkommener als Thiere sind, weil wir häufigere,<br />

nicht so leicht unmittelbar, sondern künstlichere, durch entferntere<br />

Anstallten zu befriedigende Bedürfnisse haben: daß wir dadurch<br />

allein gereitzt werden, auch auf die Zukunft zu denken, Entwürfe zu<br />

machen und durch die Beschäftigung des Geistes, welche wir<br />

dadurch erhalten, selbst in den himmlischsten Wesen ausser uns,<br />

etwas finden, sondern sie auch als Mittel zur Geistes<br />

Vollkommenheit, zur Würdigung unsrer höhern und feinern Natur<br />

zu betrachten.


Du wirst also finden, daß den Menschen zu ihrer Glückseligkeit<br />

allezeit etwas mangeln und fehlen müsse: daß unsre Endlichkeit<br />

selbst Vollkommenheit sey, weil sie zur Vollkommenheit führet: Du<br />

wirst finden, daß diese Bedürfnisse beym Entstehen des<br />

Menschengeschlechts nicht so häufig gewesen, und solches eben<br />

darum damals ungleich unvollkommner seyn mußte: daß das<br />

Unangenehme eines jeden Bedürfnisses den Erfindungsgeist rege<br />

gemacht, Stoff zur Uebung und Entwickelung der Geisteskraft<br />

geworden: daß mit jeder Erfindung der Mittel das<br />

Menschengeschlecht nothwendig ein Besserseyn erhalten habe:<br />

daß aber jedes befriedigte Bedürfniß, durch die unglaubliche<br />

Thätigkeit unsers Geistes, sogleich wieder ein neues, weiteres<br />

erwecke, welches durch eine anderweitige Erfindung wieder<br />

befriedigt wird, um ein neues abermals zu befriedigendes zu<br />

veranlassen: daß also die Geschichte des menschlichen<br />

Geschlechts, die Geschichte der stuffenweise auseinander<br />

entsprungenen Bedürfnisse, der dadurch veranlassten<br />

Erfindungen, und der damit wesentlich verbundenen unaufhörlich<br />

wachsenden Vollkommenheit des ganzen menschlichen<br />

Geschlechts sey. Du mußt also auch finden, daß es eine leicht zu<br />

erweisende Thatsache, auch ein Mangel aller Geschichte und<br />

Nachrichten sey, daß unser Geschlecht von den niedrigsten Stuffen<br />

angefangen haben müsse: daß die Erde, in ihrer Jugend, in<br />

aüsserster Unvollkommenheit gewesen sey: daß sich diese<br />

Unvollkommenheit täglich vermindre, die Natur zum Besserseyn<br />

und zur Vollkommenheit arbeite, und daß es unphilosphisch sey, zu<br />

glauben, daß die Erde und das Menschengeschlecht keiner weitern<br />

Vervollkommnung, ausser der jezigen fähig - daß unmöglich ein<br />

Ding, dessen Wesen im beständigen Wachsen besteht, auf Einmal<br />

in seinem Fortschritt zum Besserseyn stillstehen, oder wohl gar sich<br />

vermindern müsse.<br />

Wenn dann die Welt zum Besserseyn, zur Vollkommenheit, zur<br />

Aufklärung arbeitet: so muß der Gott und die Natur zum<br />

fürchterlichsten Gegner seines eignen Zwecks haben, der diese<br />

Letztre verhindern will. Jede Anstallt von der Art muß sich bloß<br />

durch den Lauf der Zeit selbst zerstören; sie hat den Keim ihrer<br />

Zerstörung schon bey ihrem ersten Entstehen in sich enthalten.<br />

Eine solche Anstalt kann bloß darum in der Welt und Stadt Gottes<br />

angetroffen werden, um den Druck, und durch diesen das<br />

Bedürfniß, die Anstrengung unsrer Kräfte zum Hinwegschaffen<br />

dieses Hindernisses zu veranlassen. Hieraus wird sich leicht<br />

zeigen, daß alles, was auf Dummheit, Aberglauben, Finsterniß und<br />

blosse Opinion der Menschen sich gründet, dereinst nothwendig<br />

aufhören, und klügern und bessern Einrichtungen weichen müsse:<br />

daß die bessern Einrichtungen nichts zu fürchten haben; denn Gott<br />

und die Natur sind ihnen grosse Bundesgenossen; alle Hindernisse<br />

der Welt werden selbst nur Werkzeuge seyn, sie um so feiner,<br />

klüger und dauerhafter zu machen.


Das Reich der Wahrheit allein wird ewig, wird unzerstörbar seyn.<br />

Auch wird sich offenbaren, daß jeder noch so grosse Irrthum, selbst<br />

< > und Näherrücken zur Wahrheit sey. Daß, so wie alles, eben so<br />

auch menschliche Meinungen, von ihrem ersten Ursprung an, einen<br />

eigenen Gang nehmen, eine aus der andern entstanden sey, und in<br />

der ganzen Stuffenreihe der aus einander entstandenen<br />

Meynungen eine gewisse primitive Idee und Veranlassung zum<br />

Grunde gelegen habe, welche in allen Arten und Modificationen<br />

erschien; und bis auf unsre Zeiten zu unsrer heutigen DenkungsArt<br />

geworden: daß jeder Grad der Cultur, und jede mehr oder minder<br />

herrschende Volksmeinung ihre, nur ihr allein entsprechende und<br />

folglich mit ihr sich ändernde Sitten, Religion und Regierung habe.<br />

Noch wunderbarer muß es scheinen, wenn es sich zeigen wird, daß<br />

der entferntere Grund von aller National- und Menschen-Aufklärung<br />

aller gemeinen Nichtwissenschaftlichen Cultur, in der jedesmaligen<br />

grössern oder kleinern Volks und Menschen Anzahl sich gründe:<br />

daß sie mit solcher zu, und mit solcher abnehme. Zu allen Zeiten<br />

waren Länder, arm an Bewohnern, auch in der Cultur und<br />

Aufklärung zuück; haben mit zunehmender Volksmenge, auch an<br />

dieser zugenommen, und noch heutzu Tage sind ganze Völker,<br />

besonders die Hauptstädte jedes Landes, von dieser Wahrheit<br />

redende Beweise. Zunehmende Volksmenge hat den Mangel des<br />

Unterhalts hervorgebracht, hat gemacht, daß mehrere nach der<br />

nehmlichen Frucht gleiches Bedürfniß fühlten; hat also die<br />

Mitwerber erweckt und sie den Stärkern zur Belohnung des<br />

Kampfes zu gedacht, und die Schwachen davon ausgeschlossen:<br />

hat diese einsehen gelehret, daß Stärke zu Etwas gut sey; in ihnen<br />

das Bedürfniß erweckt, gleiche Stärke zu haben; hat sie gelehret,<br />

daß zwar jemand stärker als jeder Einzelne, aber doch nicht stärker<br />

als alle Uebrigen seyn könne: hat zu diesem Ende Verbindungen,<br />

und eben dadurch Gegenverbindungen nebst dem Messen und<br />

Werth der Kräfte hervorgebracht: hat den Wunsch erweckt, stärker<br />

als alle übrigen zu seyn.<br />

Wenn zunehmende Menschenmenge die Entstehung der<br />

menschlichen Gesellschaften hervorgeführt hat; so muß auch alles<br />

Weitere, Entferntere, Folge von ihr seyn, was wesentliche Folge<br />

von jeder gesellschaftlichen Verbindung ist, die noch dazu selten<br />

ohne weitere und grössere Vermehrung der Menschen konnte<br />

gedacht werden. Zunehmende Volksmenge hat aus Wilden und<br />

Jägern, durch den von ihnen veranlaßten Mangel des Unterhalts,<br />

Schäfer und Hirten, aus Hirten Ackersleute, aus Ackersleuten am<br />

Ende Bürger, Handelsleute und gesittete Menschen gemacht.<br />

Mehrere Menschen erfordern mehr und grössern Unterhalt: das<br />

Bedürfniß des Unterhalts erweckt Indüstrie samt dem<br />

ErfindungsGeist und Künsten. Im Gefolge von Indüstrie ist


Ueberfluß, und aus Ueberfluß ist Handel entstanden.<br />

Da der Handel nothwendig grosse Reichthümer verschafft, und<br />

niemand reich werden kann, ohne daß andre unvermögender und<br />

ärmer geworden; so hat der Handel die Ungleichheit der<br />

Reichthümer, und mit dieser den Luxus, die Weichlichkeit, die<br />

Abhängigkeit, die Venalität, den Verfall der Sitten, die Herrschaft<br />

und den Druck von der einen, und die Knechtschaft von der andern<br />

Seite hervorgebracht. Diese verursachen die Verminderung und das<br />

Auswandern der besten und fleissigen Bewohner: dieses<br />

Auswandern das Wachsen eines Nachbars; und endlich dieser<br />

abgemessene Zweckmässige Verfall eines Landes nach dem<br />

andern macht, daß die gemeine Cultur mit der Volksmenge alle<br />

Länder des Erdbodens durchwandre, alle Menschen nach und<br />

nach der Wildheit entreißt, ohne daß eben darum die einmahl<br />

cultivirten Völker mit ihrem Verfall auch in ihre vorige Wildheit<br />

zurückgehen. Alle Begebenheiten, grosse und kleine Vorfälle dieses<br />

unsers Erdballs, diese Liebe nach Geld, dieser Hang zur<br />

Sinnlichkeit, selbst Despotismuß und Intoleranz, zwecken dahin ab,<br />

sind dazu in der grossen Reihe und Kette der Dinge mit<br />

eingeflochten, um die noch halb wüste Erde nach und nach zu<br />

bevölkern, sie dadurch zur Cultur zu erheben, und Menschen in<br />

fremde noch unangebauete Wohnsitze zu treiben.<br />

Die Cultur und Bevölkerung ziehen von Osten nach Westen, durch<br />

das gemässigte Clima, weil dieses dem Unterhalt und der<br />

Vermehrung der Menschen am zuträglichsten ist. Nur allein dann<br />

drängen sie sich gegen die Eisgebürge des Nordens, oder den<br />

brennenden Mittag, wenn die gemässigten Zonen die Menschen<br />

Zahl nicht weiter fassen, oder wenn Norden und Süden allein<br />

diejenigen Weltgegenden sind, welche sich dem Auswandern<br />

öfnen.<br />

Cultur und Bevölkerung gingen von Asien nach Griechenland, von<br />

da nach Italien, und mit den römischen Waffen und Christenthum<br />

nach Gallien und Germanien, und durch Römer und Saracenen in<br />

das entfernteste Spanien. Als alle diese Theile samt dem übrigen<br />

Norden, zu ansehnlichen blühenden Reichen emporgewachsen<br />

waren, so öfnete die Natur dem Wanderungsgeiste der Menschen<br />

einen neuen Ausweg, einen neuen ungeheuren Zufluchtsort, und -<br />

Amerika ward entdeckt. Um die Menschen in dieses ungeheure,<br />

wenig bevölkerte Land, aus ihrem alten Wohnsitze hinüber zu<br />

locken, hatte sie es zugleich mit unermeßlichen Schätzen<br />

versehen, welche den Geitz und Eigennutz der Menschen bewegen<br />

sollten, sich dort niederzulassen und Colonien zu gründen.<br />

Mit den ersten Pflanzern mußte sich die Neigung zum Mutterlande<br />

verlieren, mit ihrer Vermehrung muß sich auch das Gefühl von ihrer<br />

Kraft vermehren, und die Lust zu weiterer Abhängigkeit vermindern:


auch muß ihnen die Unmöglichkeit und Unschicklichkeit<br />

einleuchten, ein ungeheures Land, in einer solchen Entfernung,<br />

unter einem so verschiedenen Himmel, in ewiger Unterwürfigkeit<br />

vom Mutterlande zu erhalten. Eigene Kraft, grosse<br />

Wahrscheinlichkeit eines glücklichen Erfolgs und der so natürliche<br />

Trieb und Wunsch des Menschen nach Unabhängigkeit und<br />

Freyheit, müssen den muthigen Entschluß hervorbringen, sich vom<br />

Mutterlande abzureissen, und nach eigenen Gesetzen zu leben.<br />

Nach dem Gange der Natur steht alle Vermuthung dafür daß<br />

dieses Abreissen vielleicht bald geschehe; und so bald dieses<br />

kühne Unternehmen seinen vorgesetzten Zweck und Erfolg<br />

erreichet haben wird; so wird der durch die stehende Armeen und<br />

den sich vermehrenden Luxus und Schwelgerey der Höfe<br />

zunehmende, so zu sagen, nothwendig gewordene Druck der<br />

arbeitenden Stände, und der Despotismus über bessre edlere<br />

Menschen auf der einen, vorhergesehener Vortheil und Liebe zur<br />

Freyheit und Unabhängigkeit auf der andern Seite, Heerden von<br />

Menschen und mit ihnen die Cultur nach Amerika verpflanzen. Alle<br />

Gesetze gegen die Auswandrung werden den Druck und die<br />

Begierde, auszuwandern, nur noch vermehren. Die Auswandrung<br />

selbst wird mit mehr Einheit geschehen, und das Wechselgeschäft<br />

die Hinwegführung des Eigenthums erleichtern. - Der trägere noch<br />

gedrücktere amerikanische Süden wird dereinst auch dem<br />

Beyspiele der Nordländer folgen, oder ihnen zur Beute werden.<br />

Diese werden indessen in das Innere des Landes eindringen,<br />

freylich anfangs mit grosser Beschwerde: werden Wälder<br />

umhauen: ausrotten, und Sümpfe austrocknen: das Clima mildern:<br />

die Erde anbauen, sich auf ihrem zugetheilten Grunde vermehren,<br />

bey überhandnehmender Volksmenge, und sich ergebenden<br />

Widerstande gegen Süden, Norden und Westen, bis an das<br />

Weltmeer vorrücken, dort Handelsplätze anlegen, Japon, China,<br />

samt den Inseln und Indien befahren: indessen, das, durch den<br />

Verlust von Amerika an Geld, Menschen und Cultur geschwächte<br />

Europa sich durch eine gelindere Regierung erhalten muß, oder,<br />

um sich schadlos zu halten, seine letzte Kräfte sammelt, nach dem<br />

schwachen Asien und Afrika vordrängt, um diese schöne<br />

Weltgegenden, diese Wiege des menschlichen Geschlechts, diese<br />

wegen uns verfallenen Mutterländer unserer ersten Kenntnisse, zu<br />

einer höhern Cultur empfänglich zu machen, und ihnen das, an<br />

Erkenntniß und Menschen mit Wucher wieder zurück zugeben, was<br />

wir in den vorigen Zeiten durch sie so wohlthätig erhalten haben.<br />

Freilich wird dies Letzte niemals der ausdrücklich gedachte Zweck<br />

seyn. Die, den Grossen der Erde so natürliche Begierde, sich zu<br />

vergrössern, wird veranlassen, daß jeder nach seinem schwächern<br />

Nachbarn greift, und so weit voranrückt, als er keinen Widerstand<br />

findet: genug, daß es die Folge davon seyn wird, und die Natur sich<br />

dieser Eroberungssucht als eines Werkzeuges bedient, um dadurch<br />

- die schönern Gegenden der Erde, der Barbarey zu entziehen:<br />

gelindere Sitten einzuführen, die Cultur zu erhöhen, und die<br />

dagegen streitenden, in der Landesreligion und Despotismus sich


gründende Hindernisse zu zerstören. Diese werden anfänglich<br />

freylich unterjochte Länder seyn und bleiben, werden sich zu ihrem<br />

Nutzen müssen gefallen lassen, daß der Ueberwinder sie nach<br />

seinem Vortheil und Absichten behandle, bis sie durch den Lauf<br />

der Zeit, durch den Vorschritt der Cultur und Bevölkerung mit ihren<br />

wahren Vortheilen bekannter werden; bis diese ihre jezigen Herrn,<br />

entweder durch übermässige Grösse, oder durch den Handel<br />

Reichthum und Verfall der Sitten in Ohnmacht verfallen, durch<br />

überhandnehmende Weichlichkeit zu schwach werden, so entfernte<br />

Eroberungen zu behaupten, und aus ihren Trümmern und Ruinen,<br />

neue Reiche hervorgehen. Da hätte nun die Cultur ihre erste Reise<br />

um die Welt vollendet: hätte alle, durch Meere und Wüsteneyen<br />

getrennte Menschen einander nahe gebracht: hätte ihre erste<br />

Absicht erfüllt, durch Vermehrung der Menschen die Wildheit von<br />

der Erde zu vertreiben: schickte sich sodann zu ihrer zweyten<br />

Reise an, um auch noch vollends die zurückgelassene Barbarey<br />

und sittliche Wildheit zu vertilgen: bediente sich auch dazu des<br />

nämlichen Mittels, durch eine zweyte intensive Vermehrung einen<br />

noch höhern Grad der Cultur und Sittlichkeit auf der ganzen Erde<br />

zu verbreiten. - Wenn du dieses Datum gehörig verfolgst, so wirst<br />

du finden, daß die Menschen dann erst am glücklichsten und<br />

aufgeklärtesten seyn werden, wenn die Erde am bevölkertsten seyn<br />

wird. Da sodann, aus Mangel der öden freystehenden Plätze, die<br />

Auswanderungen aufhören, doch anbey die Vermehrung fortgeht;<br />

viele Menschen auf einem kleinen Erdstrich zu wohnen genöthigt<br />

sind; so wird grosses Eigenthum einer einzigen Familie in mehrere<br />

kleine Antheile und an mehrere Familien verfallen, und um so<br />

fleissiger benutzt werden. Dadurch wird es unmöglich werden, daß<br />

sich Menschen fernerhin durch Müssiggang und blosses Vorurtheil<br />

ernähren. Die Ungleichheit der Reichthümer muß sich nothwendig<br />

vermindern; sogar der Werth der vorstellenden Reichen fallen, weil<br />

die Veräusserung liegender Gründe unmöglich wird; und mit der<br />

Abnahme des Ueberflusses wird selbst auch der Handel aufhören.<br />

Mit dieser Ungleichheit der Güter muß aller Grund der Macht und<br />

Abhängigkeit sammt all ihren mühseligen Gefolge und Verderbniß<br />

der Sitten verschwinden. Da die Menge von Menschen groß, und<br />

doch dabey das Erdreich nicht unerschöpflich ist, so kann nicht<br />

fernerhin Einer die Arbeit von Zwanzigen verzehren. Mässigkeit<br />

Frugalität und Genügsamkeit müssen die allgemeinen Sitten der<br />

Menschen werden. Diese bringen Unabhängigkeit, Enthaltsamkeit<br />

von dem Eigenthum eines andern, und den allgemeinen Frieden<br />

und allgemeine Sittlichkeit zur Welt. Bey mässigem Unterhalte und<br />

mässiger Arbeit werden aus Furcht vor Langerweile, die<br />

Bedürfnisse des Geistes allgemeiner, dringender und häufiger. Die<br />

ganze Erde wird zu einem Garten, und die Natur hat sodann<br />

hienieden ihr Tagewerk vollendet; mit der möglichsten<br />

Menschenmenge dauerhafte Aufklärung, Frieden und Glückseligkeit<br />

herbeygeführet: sie hat jeden Menschen zu seinem Richter, Priester<br />

und Könige gesalbt: sie hat den so lange verlachten Roman vom<br />

goldenen Zeitalter, diese uralte Lieblingsidee des menschlichen<br />

Geschlechts zur Wirklichkeit gebracht, dadurch zur Wirklichkeit


gebracht, daß sie diese ewige, von allen Gesetzgebern vergeblich<br />

bestrittene, sich immer wieder einschleichende Ungleichheit der<br />

Güter, diese Quelle alles Verfalls, aller Staaten, von Knechtschaft,<br />

Tiranney, von Zwietracht der Menschen, von Venalität und<br />

Corruption der Sitten unmerklich aufgehoben und durch übergrosse<br />

Menschenvermehrung alle Zeiten unmöglich gemacht hat.<br />

Wenn nun dieser glückliche Zustand, dieses patriarchalische<br />

Leben, eine wesentliche Folge von der höchsten Vermehrung des<br />

Menschengeschlechts ist, und wenn anbey durch Sterb- und<br />

Geburts-Tabellen ordentlich erwiesen werden kann, daß bey dieser<br />

ungeheuren Menge von Cölibaten, bey dieser Verderbniß und<br />

Schwächung der Zeugungskraft, bey dieser Intoleranz, diesem<br />

Despotismus, bey der noch so häufig, besonders in<br />

KinderKrankheiten herrschenden Unerfahrenheit der Aerzte, bey<br />

allen Gefahren der See, des Krieges, der Schwelgerey, < > und<br />

ansteckenden Krankheiten, in einem Zeitalter, wo Ausschweifung,<br />

sich und andre zu Grunde richten, Weltton heißt: wo<br />

Schamhaftigkeit, Nüchternheit, Keuschheit und Sittsamkeit mit den<br />

Namen von Dummheit, Einfalt und Weltunerfahrenheit<br />

gebrandmarket und lächerlich gemacht werden, - wenn unter<br />

solchen Umständen, in einem solchen Zeitalter, sich das<br />

Menschengeschlecht demungeachtet vermehret; ja sogar die<br />

Erfahrung zeigt, daß die durch Krieg oder Pest so sehr entstandene<br />

Entvölkerung schnell wieder ersetzt werde, wenn noch überdies<br />

bey zunehmender Sittlichkeit und Menschlichkeit, sich die<br />

Hindernisse der Bevölkerung täglich vermindern müssen; wenn<br />

denn endlich das alles ist, was hindert sodann zu sagen, daß die<br />

Natur jetzt schon an diesem Zustande wirklich arbeite, und daß alle<br />

ihre Anstalten, gut und böse, als die unfehlbarsten Mittel dahin<br />

abzwek-ken? Und wenn noch anbey unläugbar durch die<br />

überhandnehmende Volksmenge, aus dem Jäger- der Hirtenstand,<br />

aus diesem die Ackersleute, aus diesen wieder die bürgerliche<br />

Gesellschaft und proportionirte Cultur entstanden ist, warum soll<br />

hier auf einmahl die Natur stillstehen, und mit einer noch ferner<br />

wachsenden Menge, aus der bürgerlichen Gesellschaft nicht noch<br />

etwas weiteres, einen neuen Zusatnd, eine neue proportinonirte<br />

Cultur hervorbringen? Warum, wenn die nämliche Ursach fortwirkt,<br />

soll nicht auch die Folge ähnlich seyn? Weil das Erste eine<br />

Thatsache ist, so zweifelt niemand daran; weil das Künftige noch<br />

nicht geschehen ist, so scheint es uns unmöglich, ob uns gleich<br />

das Vergangene dessen belehrt? Einwürfe, welche dieser<br />

Bevölkerungslehre entgegenzustehen scheinen, gründen sich<br />

hauptsächlich darauf, daß eben diese Bevölkerung einst über alles<br />

Maaß, und alle Gränzen anwachsen, und eben dadurch schädlich<br />

seyn, und diesen Zweck hindern müßte.<br />

Allein, niemals wird die Bevölkerung zu groß, oder sie steht von<br />

selbst still. So, wie der Unterhalt zu mangeln anfiengen, so würden<br />

die Ehen von sich selbst seltener werden. Alle Ehen werden auch


hier zweckmässiger und vernünftiger bey reiferen Jahren<br />

geschlossen. Jeder Hausvater wird die Freyheit seiner Kinder im<br />

Heyrathen beschränken, sobald die Früchte seines Eigenthums<br />

nicht weiter zureichen: jeder Sohn wird sich um so viel leichter<br />

bequemen, als ihm die Unmöglichkeit davon einleuchtend ist. Auch<br />

ist nicht zu befürchten, daß diese übergrosse Bevölkerung durch<br />

ansteckende Krankheiten, selbst eine Ursach der Entvölkerung<br />

werde. Bis dahin wird die Gesundheitslehre nähere, zuverlässigere<br />

Grundsätze haben. Arbeitsame, sorgenfreye, mässige, reinliche, in<br />

gehöriger Entfernung wohnende Menschen, geniessen der offenen<br />

Himmelsluft häufiger, als die in den faulen Ausdünstungen unsrer<br />

Städte gepreßte Menschen, in welchen sich vom menschlichen<br />

Unglück, und den Quellen unsrer Krankheiten ganze Stände<br />

ernähren, welche sich jeder vernünftigen, auf Verlängerung unsers<br />

Lebens abzweckenden Einrichtung, nach allen Kräften widersetzen:<br />

zu geschweigen, daß sich mit der, zu einem Garten<br />

umgeschaffenen Oberfläche der Erde, auch das Clima verändern<br />

muß. Freylich, wenn auch das alles so bliebe, wie und was<br />

dermalen ist, dann möchte dieser Entwurf mehr Stärke in sich<br />

haben. Aber sind denn alle Veränderungen der Welt nur<br />

einschichtig? Ist denn nicht vielmehr alles verbunden? Alles<br />

durchflochten, in einander geschlungen? Aendert Einen Theil der<br />

Welt, welchen Ihr wollt, sogleich ordnen und richten sich alle<br />

übrigen darnach: füllen die Lücke, und stellen das verlohrne<br />

Gleichgewicht alsobald wieder her. Die Natur kommt der<br />

Kurzsichtigkeit der Menschen zu Hülfe; erweckt in dem Moment<br />

bey jedem das proportionirte Bedürfnis: und jeder thut sodann durch<br />

blossen Instinkt, wozu Vernunft und allgemeine ausdrückliche oder<br />

stillschweigende Verbindung zu langsam und zu ohnmächtig seyn<br />

würden. - Sorge also nicht, denn die Natur wachet und hat für alles<br />

gesorgt. Nicht alles ist unmöglich, dessen Möglichkeit wir nicht<br />

einsehen. Zusehr an die heutigen Formen und Einrichtungen<br />

gewöhnt, beurtheilen wir alle Zukunft nach solchen: können jezt die<br />

Reihe von Bedürfnissen noch nicht verfolgen und vorhersehen,<br />

welche dazu vorbereiten, bis wir endlich, nach durchwanderten<br />

Mittelstuffen, einst am Ziel stehen, uns sodann wundern, oder, was<br />

noch glaublicher ist, es sehr natürlich finden, was wir vorher für<br />

eine Unmöglichkeit gehalten haben. Die meisten Menschen sind zu<br />

träge, gemächliche Denker; sie wollen bloß sehen und fühlen; und<br />

daher nennen sie Traum, Phantasey, Schwärmerey, was nicht<br />

zugleich unmittelbarer Gegenstand ihrer Sinne und wirklicher<br />

Entstehung ist. Sie wollen bloß fühlen und greifen und sehen - und<br />

wer von uns hat Hände, um die Zukunft zu greifen?<br />

Wer also die Welt vermehrt, hat auch eben dadurch das Seinige<br />

zum Vorschritt der Cultur, und zur Vollkommenheit und zur<br />

Glückseligkeit seines Geschlechts beygetragen. Von dieser<br />

Beytragsfähigkeit hat also die Natur kein liebendes Wesen<br />

ausgeschlossen. Jeder kann, entweder durch Einsicht und Talente,<br />

oder sogar durch den sinnlichsten aller Triebe, die Vernunft herbey<br />

führen, und das Wohl der Erde befördern. - O! Welche Hoheit und


Würde ist es demnach Vater zu seyn! - Diese unmündigen Kleinen<br />

um sich, in ihren Enkeln, und aus seinen Lenden dereinst ein<br />

ganzes werdendes Volk, lauter Werkzeuge zur<br />

Menschenglückseligkeit hervorgehen zu sehen! noch in seinen<br />

Nachkommen zu leben, und zum Wohl der Erde zu leben! - - O ihr<br />

alle, die Ihr von unserm Bunde seyd, werdet Väter! Väter guter<br />

wohlgeratener Kinder! Oder hindern Euch daran Eure Lage und<br />

Umstände: o! so rächt Euch mit Uns an dem Coelibat, an diesem<br />

Hochverrat gegen die Natur und menschliche Glückseligkeit. -<br />

Begünstigt die Ehen, hindert alles, was diesen entgegenstehet,<br />

entheiligt nicht durch übles Beyspiel die Keuschheit und<br />

Vollkommenheit des ehelichen Standes; predigt Duldung, hindert<br />

die Kriege und entfernet alles, was den Tod herbeyführet und die<br />

Zeugungskraft schwächet. - - Zeugungstrieb! Sinnlichster, aber<br />

nunmehr edelster aller Triebe! Dich hat das Alterthum nicht<br />

verkannt; und in dem Phallus, und in den Mysterien der Isis und<br />

Orgien des Bacchus geehret! Und unsre sogenannte aufgeklärte<br />

Zeiten haben sich daran gestossen! - Du giebst uns also nicht allein<br />

thierisches Leben, in dir liegt auch schon zugleich der Grund zum<br />

wahren, zum geistigen Leben des Menschen, zu seiner<br />

Glückseligkeit, zur Vollkommenheit seiner Natur! - Du bist das<br />

grosse Werkzeug der Natur, und in die liegt der Saamen aller - aller<br />

vergangener, gegenwärtiger und künftiger Begebenheiten und<br />

Schicksale der Menschen!<br />

Wenigstens zeigt es die Geschichte, diese sicherste Führerin, daß<br />

der Bevölkerungszustand eines jeden Landes im genauesten<br />

Verhältniß mit seiner Cultur, seinen Sitten und seiner Regierung<br />

stehe: sie beweiset sogar, daß die Wildheit herbey geführet worden,<br />

wenn die Entvölkerung zu übermässig ward.<br />

Hier stehe still! Und forsche genau. Du wirst diesen Satz in denen,<br />

aus der allgemeinen Weltüberschwemmung geretten wenigen<br />

Menschen bestätigt finden. Du wirst zugleich finden, daß so sehr<br />

erschreckte Menschen sich anfänglich sehr schwach, und sodann<br />

auf eine ganz andre Art vermehren: daß der zurückgelassene<br />

Schrecken hier eine Ausnahme mache, und die Cultur hier, mit der<br />

wachsenden Menge, aller vorherigen Erkenntisse ungeachtet, nicht<br />

in gleichem Verhältnisse fortschreite. Du wirst vielmehr finden, daß<br />

diese diluvianischen Schrecken auf diese unsre elende zweyten<br />

Stammältern so gewaltig gewirkt, eine so eigene schüchterne,<br />

leicht zu bewegende, furchtsame, leichtgläubige, abergläubische<br />

Gedenkungsart hervorgebracht, daß sie keine andre, als ähnliche<br />

Nachkommen hinterlassen konnten, aus deren meisten<br />

Gebräuchen und Einrichtungen noch heut zu Tage der alte<br />

diluvianische Schrecken, mittelbar oder unmittelbar, als eine<br />

Gedächtnißfeyer hervorleuchtet: die bey jedem Sturmwinde zagen:<br />

denen schon Jahrtausende hindurch anfangs täglich mit jedem<br />

trüben Himmel, mit jeder niedergehenden Sonne; dann mit jeder<br />

Lunation, Woche, Monat, endlich mit jedem Jahre, und sodann mit


jeder natürlichen oder künstlichen, selbst fingirten zu Ende<br />

gehenden Periode und Cyclus vom abermaligen Untergehen und<br />

Zerstörung der Erde träumt: welcher Traum endlich nach<br />

verschiedenen, durch Mittelbegebenheiten, erhaltenen<br />

Modificationen, die Lehre vom tausendjährigen Reiche zur Welt<br />

gebracht, welche schon vor dem die Kreuzzüge veranlasset hat;<br />

und nun, durch die alte, aus der nämlichen Quelle entsprungene<br />

Sage, von der sechs tausend jährigen Dauer der Welt noch mehr<br />

bestärkt, dermalen nur schlummert, im Verborgenen fortarbeitet,<br />

um sodann wieder mit dem Ende dieses Jahrtausends, nach<br />

wiederholten, vorhergehenden Versuchen in voller Stärke um so<br />

gewisser hervorzubrechen, als das künftige Tausend, nach der<br />

gemeinen Sage und Zeitrechnung, ein Siebentes, hiermit ein<br />

Sabbathisches Tausend ist.<br />

Oder stellt man sich dann vor, daß diese erschreckliche<br />

Catastrophe, in der Denkungsart dieser wenigen Zerstreueten, an<br />

verschiedenen Theilen, und in den Hochländern der Erde<br />

geretteten Menschen, gar keine Folge, gar keine Aenderung in ihrer<br />

vorigen, vielleicht sehr aufgeklärten Denkungsart gewirket habe?<br />

Mußten sie nicht eben dadurch ihre Begriffe von der Gottheit<br />

ändern? Oder wohl gar aus dieser Veranlassung die Lehre von dem<br />

guten und bösen Principium entstehen? Mit ihr die Neigung<br />

entstehen, dieses böse Principium zu besänftigen? Auf Mittel zu<br />

denken, sich solchem gefällig zu machen? Mußten nicht lange Zeit<br />

die Berge der Aufenthalt und Wohnort der Menschen verbleiben?<br />

Unter ihnen Herrschaft, Habsucht, Ungleichheit der Stände<br />

verschwinden? Bey Menschen, welche ihren Aufenthalt hiernieden<br />

vorübergehend und ungewiß sahen, Gleichgültigkeit und<br />

Sorglosigkeit gegen das Gegenwärtige und Zeitliche erwecken?<br />

Mußte nicht das sehr natürliche Verlangen entstehen, gegen<br />

ähnliche, künftige Unglücksfälle gesicherter zu leben - Anstallten<br />

dagegen zu treffen - zu diesem Ende die Zukunft zu erforschen -<br />

Orakel, Propheten - Sybillen sich aufwerfen - Leicht- und<br />

Aberglauben sich verbreiten - jede Wiederkehr der Sonne<br />

willkommen, jedes Untergehen und Einbrechen der Nacht<br />

schrecklicher scheinen? Astrologie, Sabeismus, oder der Dienst<br />

der Gestirne entstehen? - Ein solches Menschengeschlecht, mit<br />

solchen traurigen Erfahrungen, mit einer solchen daraus<br />

entstehenden Denkungsart, konnte es wohl mit dem<br />

vorhergehenden eine Aehnlichkeit haben? Mußte solches nicht<br />

vielmehr die Grundlage eines ganz eigenen Geschlechts, ganz<br />

eigener Einrichtungen, Sitten und Gebräuche werden? Mußte diese<br />

primitive Einrichtung nicht auch noch bey ihren spätesten<br />

Nachkommen fortdauern, wenn gleich bey ihnen die Nachrichten<br />

und Absichten der Entstehung verloren gegangen? Oder ändern<br />

sich Sitten und Gebräuche so sehr auf einmal? Zeigt nicht vielmehr<br />

die heutige tägliche Erfahrung, daß sich nichts so sehr als Sitten<br />

und Gebräuche, wovon der Zweykampf ein redender Beweis ist,<br />

unter gewissen Modificationen erhalten? Daß so wie Menschen und<br />

Sprachen, ebenso Meynungen Sitten, Staatseinrichtungen und


Religionen aus einander entstehen? Welche Colonien haben einen<br />

Staat gegründet, wo nicht Einrichtungen grössesten Theils vom<br />

Mutterlande geborgt waren? Wie vieles ist noch heut zu Tage in<br />

Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, gothischen,<br />

fränkischen, langobardischen, saracenischen, überhaupt<br />

barbarischen Ursprungs? Wie viel ist nicht offenbar Folge vom<br />

einmahl eingeführten Lehens System? - Selbst in der Christlichen<br />

Kirche, wie viel Gebräuche, obwohl unter andern Erklärungen und<br />

Bedeutungen, sind nicht sichtbar vom Heiden und vom Judenthume<br />

entlehnet? Selbst unsre Achtung und Vorliebe gegen jüdische<br />

Gebräuche und Cosmogonie muß ihren Grund in einer Religion<br />

haben, die ganz aus dem Judenthume entstanden. Und in diesem<br />

Judenthum, in dieser Mutter der christlichen ältern Religion, wie viel<br />

ist nicht, selbst nach der Schrift, egyptischen Ursprungs und<br />

Einrichtung, die nothwendige Folge einer noch ältern Einrichtung<br />

ist, die sich am Ende in den Folgen der nach der Wasserfluth<br />

erneuten Menschen und Denkungsart gründet? Wie sehr, durch<br />

ordentliche auseinander Entstehung haben die orientalische<br />

Philosophie, Pytagoras und Plato, die Gnosis und Cabbala, die<br />

alexandrinische Schule und Aristoteles zusammengewirckt, um das<br />

spätere Christenthum mit seinem mystischen und allegorischen<br />

Sinn hervor zu bringen? Wie sehr hat jede der verschiedenen<br />

christlichen Secten der andern vorgearbeitet, wie sehr ist nicht die<br />

Eine aus der Andern entstanden? - freylich geht oft die Bedeutung<br />

verlohren: freylich erhält oft ein Gebrauch eine seiner Entstehung<br />

gegenseitige Bedeutung, selbst bey dem Volke, bey welchem er<br />

entstanden. Aber darum müssen Kunst und Kritic nicht verzweifeln,<br />

das Primitive zu finden. - Oder, wenn dir das alles unmöglich<br />

scheint, so sage ich nur: woher kommt denn diese so auffallende<br />

Uebereinstimmung in Gebräuchen alter und neuer, näherer und der<br />

entferntesten Völker? So auffallend ähnlich - daß, um nur ein<br />

neueres Beyspiel zu nennen: wegen dieser so sichtbaren<br />

Aehnlichkeit der amerikanischen und ihrer eigenen Gebräuche, die<br />

Juden glaubten, in Mexiko und Peru die, freylich sehr ausgearteten<br />

Nachkommen der, vom Salmanassar in die Assyrische<br />

Gefangenschaft geführten, und seither aus dem Andenken der Welt<br />

und Geschichte verschwundenen zehn Stämme Israels wieder<br />

gefunden zu haben. - Woher also, wenn das Alles nichts wäre,<br />

diese sonst unerklärbare und doch erwiesene Uebereinstimmung? -<br />

Sollte sie vielleicht ein Beweis einer gemeinschaftlichen<br />

Abstammung, oder eines uralten Verbandes zwischen zweyen oder<br />

mehrern Völkern seyn? - Aber, so viel auch dieses sonst erklärt, so<br />

verliert doch diese Erklärungsart ihre Kraft, wenn die Beweise aus<br />

der Geschichte hier gänzlich mangeln, ja so gar oft das Gegentheil<br />

erweislich ist; die Sache anbey auf eine andre Art natürlicher, und<br />

nach den Voraussetzungen der Geschichte, so und nicht anders<br />

muß erkläret werden. Wozu soll dann diese nichts erklärende - den<br />

Knoten zerhauende, der biblischen, nirgends von einem andern<br />

Volke bestätigten, ja sogar unmöglichen, Noachischen Descendenz<br />

zu gefallen erfunden, Erdichtung eines ältern Urlandes, einer<br />

gemeinschaftlichen Abstammung aller Nationen der Erde, von einem


gemeinschaftlichen Stammvater? - Oder, sollte vielleicht diese<br />

Uebereinstimmung die Folge eines ehedem gemeinschaftlich<br />

genossenen Unterrichts, oder Lehrers seyn? - Wer war aber<br />

alsdann dieser Lehrer? - Gott? oder ein Mensch? Sollte es nicht<br />

unphilosophisch sein, sie einem Wunder, einer unmittelbaren<br />

Offenbarung Gottes zuzuschreiben, solange noch nicht alle<br />

natürlichen Wege versucht worden, diese Aufgabe aufzulösen? Zu<br />

geschweigen, daß diese übereinstimmende Gebräuche oft der<br />

wahren Religion entgegen, oder nicht wichtig genug sind, um sie als<br />

einen Gegenstand einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung zu<br />

betrachten! - Wenn also dieser Unterricht nicht unmittelbar von Gott<br />

wäre? Wäre er sodann eben darum von Menschen? Sind aber<br />

Menschen die einzigen Lehrer von Menschen? Ist denn aller<br />

Unterricht blosse Ueberlieferung, und Einfall der Menschen? Was<br />

gab denn zuerst Gelegenheit auf diesen Einfall, auf diese Lehren<br />

zu verfallen? - Mußte dann nur Einer? Konnten nicht mehrere<br />

zugleich auf diesen Einfall gerathen, weil sie eine ähnliche,<br />

veranlassende Ursach dazu gereizet? - Könnte es also nicht<br />

vielmehr, und weit natürlicher, das Resultat einer<br />

gemeinschaftlichen Erfahrung und Beobachtung seyn? Einer<br />

Beobachtung, die sich auf ein Factum gründet, das nothwendig alle<br />

Menschen auf eine gleiche und ähnliche Art afficiren musste? -<br />

Könnte also nicht dieses alles mit besserem Grunde, aus einem<br />

gewissen Grundfactum abgeleitet werden, welches auch eine<br />

gemeinschaftliche Grundidee und Betragen veranlasset, von<br />

welchem alle menschliche Meynungen und Gebräuche, nur blosse,<br />

den Zeiten und Umständen und der jedesmaligen Stimmung des<br />

Zeitalters angemessen, mittel oder unmittelbare Modificationen und<br />

Abänderungen wären? Von welchen es historisch und<br />

physiologisch erweislich wäre, daß es Menschen so, und nicht<br />

anders afficiren - bey ihnen diese, und keine andre Wirkungen<br />

hervorbringen mußte, wodurch sie die nähere oder entferntere<br />

Quelle dieser übereinstimmenden Gebräuche geworden? - Wäre<br />

ein solches stark afficirendes Factum, ein solcher lebhafter,<br />

unmittelbarer Unterricht der Natur nicht noch weit wirksamer, als<br />

Unterricht der Menschen? Und ist denn am Ende nicht alles<br />

menschliche Wissen Folge von Erfahrung? Unterricht der Natur? -<br />

Welches andere Factum wäre ein besserer Schlüssel zur alten<br />

Weisheit, Theologie, Mythologie, zu den Mysterien, Gebräuchen<br />

und Lehren der ältesten Welt, als die, von allen Völkern so<br />

allgemein anerkannte, so historisch erwiesene, so sehr durch die<br />

Naturgeschichte, auch in Ermangelung aller weitern mündlichen<br />

oder schriftlichen Nachrichten, bestättigte Ueberschwemmung der<br />

Erde? - Wäre es nicht möglich, das Gepräge dieser<br />

Hauptbegebenheit in allen alten Gebräuchen und Lehren der alten<br />

Völker sichtbar zu machen? Das Auseinanderentstehen der<br />

Gebräuche, Meynungen und Systeme dadurch zu erklären? Zu<br />

zeigen, wie stark und verschiedentlich ein einziger lebhafter<br />

Eindruck Jahrtausende hindurch, unter verschiedenen Gestalten<br />

gewirkt, noch zur Stunde wirkt, so wirkt und noch lange wirken wird,<br />

ohne daß wir seines Einflusses bemerken, ja daß sogar die


Vermuthung seines Einflusses bey uns Thorheit und Unmöglichkeit<br />

scheint? Zu zeigen, daß der wahre Gegenstand der ältern und<br />

neuern, und auch der gegenwärtigen Mysterien sey, die Folgen der<br />

diluvianischen Schrecken zu vermindern, die Menschen wieder<br />

muthig, aufgeklärt zu machen: durch die Entwickelung der<br />

veranlassenden Ursachen ihnen Vertrauen auf sich und auf ihre<br />

Vernunft zu erwecken? Zu zeigen, daß wir heutige Menschen so<br />

denken, so handeln: so denken, so handeln müssen, weil unsre<br />

zweyte, vielleicht auch schon dritte, oder zwanzigste Stammältern,<br />

durch die Wasser der allgemeinen Erdüberschwemmung so<br />

entsetzlich geschreckt wurden? Daß, wenn das<br />

Menschengeschlecht sich auf eine andre Art, durch eine minder<br />

schreckliche Veranlassung erneuert hätte, seine Nachkommen eine<br />

ganz verschiedene, er ersten Grundlage gänzlich angemessene<br />

Gedenkungsart, Sitten und Gebräuche würde erhalten haben.<br />

Ein solches Geschlecht konnte sich anfänglich nur sehr langsam<br />

vermehren. Sehr spät mußten die Menschen aus ihren<br />

Zufluchtsörtern, aus den höhern Gegenden der Erde wieder in die<br />

Thäler und Ebenen hinabziehen. Und noch lange mußte es da<br />

währen, bis sie sich auf einem gegebenen Erdstrich so übermässig<br />

vermehrten, daß endlich der Unterhalt zu mangeln angefangen.<br />

Eine solche überhandnehmende Menge mußte Auswanderungen<br />

veranlassen. Die Menschen waren genöthigt, in den nahe<br />

gelegenen Gegenden eine neue Wohnstätte zu suchen; und hier<br />

bemerken, daß unsre Geschichte, die freylich sehr spät anfängt,<br />

beynahe keine einzige Auswandrung aufzeigen kann, wo die<br />

Auswandernden in ihren neuen Wohnsitzen nicht schon wirklich<br />

ältere Bewohner gefunden. - Sollte dieses nicht die Bemerkung<br />

bestärken, daß nach der allgemeinen Ueberschwemmung sich in<br />

den höhern Gegenden der Erde mehrere Stammältern erhalten,<br />

deren Nachkömmlinge unter dem Namen von Erdensöhnen,<br />

Landesgebornen, oder Autochtonen bekannt sind?<br />

Wenn aber Menschen diese ihre natürliche Erde verlassen, so<br />

werden sie sicher, entweder in dem nächsten leer stehenden<br />

Landstrich, oder dort sich niederlassen, wo sie am wenigsten<br />

Widerstand erfahren. Dorthin werden sie ihre Sprache, ihre Sitten,<br />

ihre schon viel modificirte diluvianische Schrecken verpflanzen: Mit<br />

der Sprache, mit den Sitten und Gebräuchen der alten Bewohner<br />

nach und nach vereinigen, solche mit eigenen, neu erfundenen<br />

Zeichen bezeichnen. Und da in diesen ältesten Zeiten der<br />

Zusammenhang der Völker mit andern, und so auch mit ihrem<br />

Mutterlande sehr schwachseyn mußte, werden ohne Wunder, ohne<br />

Thurmbau zu Babel neue Sprachen entstehen, werden die<br />

Nachkommen eines gemeinschaftlichen Stammvaters einander<br />

unverständlich werden.<br />

Da weiters alle Länder, in welche sich Colonien verpflanzen, nicht<br />

unter einerley Himmelsstrich liegen, fruchtbar oder unfruchtbar,


gebirgigte oder flache, dem Einfall anderer mehr oder weniger<br />

offenstehende, öde oder bewohnte sind: von selbst Nahrung geben,<br />

oder den Fleiß und die Hände der Menschen erwarten: an Früchten,<br />

Thieren oder Fischen Ueberfluß oder Mangel haben; auch die<br />

Menschen in grösserer oder geringerer Anzahl eingewandert sind:<br />

im Einwandern selbst mehr oder minder Hindernisse gefunden<br />

haben; sich zu einem oder verschiedenen Stämmen und Völkern<br />

bekennen: so wird dieses alles, denen sich zusammenhaltenden<br />

Pflanzern auch einen, ihnen nur ganz allein eigenen, von allen<br />

Uebrigen unterschieden, Charakter geben. - Die Verschiedenheit<br />

der Nationalcharaktere wäre also unläugbar eine wesentliche Folge<br />

der überhandnehmenden Volksvermehrung: wäre die Ursach,<br />

warum die Einen Räuber und Jäger, die Andern Hirten, und wieder<br />

Andre Ackersleute geworden; und selbst in der Einrichtung und<br />

Beschaffenheit des neuen Wohnsitzes läge eine Grund mit, warum<br />

ein Volk vor dem Andern Vorschritte zur Cultur gemacht; warum<br />

einige gänzlich zurückgeblieben: warum andere so gar in eine, den<br />

Thieren ähnliche Wildheit nach und nach verfallen sind. Die Cultur<br />

mußte gewiß unter einem gesegneten Himmelsstrich, unter einem<br />

Volk von Ackersleuten, unter dem Besitz eines Landeigenthums, in<br />

einer Gegend, welche zum Verzehr des Ueberflusses einladet ehe,<br />

als unter jedem Andern gedeihen. Aber eben darum mußte auch<br />

dieses Volk ehe in Weichlichkeit verfallen: sein Ueberfluß, und<br />

seine damit verbundene Schwäche mußte angränzende wilde<br />

Völker nach diesen mildern Gegenden locken: Einfälle<br />

verursachen: die alten geschwächten Bewohner den wildern, noch<br />

unverdorben stärkern Nachbarn unterwerfen. Sie mußten verfallen,<br />

und durch diese Unterjochung neue Kraft und Stimmung erhalten.<br />

Ihr Reichthum und Verfall waren das Mittel, dessen die Natur sich<br />

bediente, um Cultur unter die wilde Nachbarn, um neue Stärke in<br />

einen entnervten Körper zu bringen; um neue Sitten, Gebräuche,<br />

Regierung und Religionen entstehen zu machen, um mehrere<br />

Menschen zur Vollkommenheit - ihrer Bestimmung näher zu führen,<br />

um Cultur über die übrigen rohen Erdbewohner zu verbreiten.<br />

Liessen sich die neuen Colonien in einem schon wirklich<br />

bewohnten Erdstrich nieder, so wurden sie von den vorigen<br />

Inwohnern gutwillig aufgenommen, oder sie mußten ihre künftige<br />

neue Wohnstätte durch Kampf und Gewaltthätigkeit erringen. Jedes<br />

davon hatte seine eignen Folgen, und wirket eine neue<br />

Verschiedenheit. Doch das letzte am meisten. In diesem Falle also<br />

wurden, entweder die ersten Bewohner gänzlich vertrieben: und so<br />

gab es hier eine neue eigene Quelle von Auswandrungen: oder sie<br />

wurden von den neuen Ankommenden gänzlich getilgt; oder<br />

wurden unterjocht und zu Leibgeignen gemacht: oder endlich<br />

behielten auch zum Theil, was ihnen der Sieger gutwillig und von<br />

selbst überlassen hat. - Der Charakter des einwandernden Volks,<br />

seine Stärke und Anzahl, so wie die Stärke des bezeigten<br />

Widerstandes können hier allein bestimmen, welche von den<br />

obigen Behandlungsarten vor der andern gewählt worden. - Völker,<br />

die von der Jagd und dem Raube, in Wildnissen, ohne


Landeseigenthum, ein irrendes nomadisches Leben führten, waren<br />

sehr gefährliche Nachbarn von ruhigen Hirten, oder von denen, in<br />

den der Knechtschaft so sehr unterworfenen flachen Gegenden<br />

wohnenden Ackersleuten, oder an Flüsse und Meere gränzenden<br />

reichen und handelnden Völkern. Die Trägheit jener, ihr Abscheu<br />

vor Arbeit, ihr Hang zum nomadischen Leben, die Hofnung eines<br />

so nahen reichen Raubes, die Weichlichkeit und Schwäche ihrer<br />

Nachbarn reitzten auch dann schon einzelne Stämme zum<br />

feindlichen Einfall, wenn gleich in ihren Wohnsitzen ihre<br />

Volksmenge noch lange nicht zu übermässig war. - Unter ihnen<br />

verbreitete Nachrichten von manchem glücklichen Erfolge, mußten<br />

auch andre reizen, freywillig unter einem muthigen Anführer ein<br />

Gleiches zu versuchen. Starker gefundener Widerstand mußte ihre<br />

Anzahl vermehren; mehrere unabhängige Stämme und Häupter der<br />

Familien vereinigen, einem gemeinschaftlichen Anführer zu folgen:<br />

sich dieses Landes des Ueberflusses zu bemächtigen. Nun, wenn<br />

noch vollends entferntere, im Hintergrunde stehende, weitere<br />

Völker, wie eine Welle die andre drückten, so mußten die<br />

Vordersten auf Einmal ihre Sitze verlassen, brachen also mit Gewalt<br />

ein: theilten die Beute und die Grundstücke unter sich: machten sich<br />

die ersten Bewohner unterwürfig: liessen diese für sich arbeiten;<br />

hielten ausser den Waffen, jede andre Beschäftigung eines freyen<br />

Menschen für zu unwürdig; und nun die alten noch vorhandenen<br />

Bewohner, um gegen die Angriffe der Nachbarn gesicherter zu<br />

seyn, verband sich jeder sonst unabhängige Landeseigenthümer<br />

zum Verteidigungskrieg: erkannte nur in so fern, und nicht weiter<br />

einen Anführer und gemeinschaftliches Oberhaupt; und es entstund<br />

auf diese Art eine neue Verfassung; ein Volk von unabhängigen<br />

Bürgern und Pflanzern. Bey einem solchen Volke mußte <br />

freylich noch einmal und neuerdings erfahren, daß die Mittel zur<br />

unumschränkten Gewalt, dereinst auch die Werkzeuge zu ihrer<br />

Erniedrigung und Abhängigkeit werden, wenn nicht bis dahin durch<br />

zunehmende Weichlichkeit der kriegerische Geist und die Disciplin<br />

sich vermindern.<br />

Der weise Menschenfreund und Cosmopolit endlich sieht aus<br />

diesem noch bevorstehenden Druck und Eroberungsgeiste für die<br />

übrige, noch zurückgebliebene Welt, Cultur und Verfeinerung der<br />

Sitten, und für die ganze Erde zunehmende Bevölkerung: aus dem<br />

Kriege, Ruhe und Frieden; aus der Zerrüttung, Harmonie; aus dem<br />

Mangel, Ueberfluß; aus der Finsterniß, Licht; aus dem Druck,<br />

Freyheit, aus der Verderbniß, Sitten; und aus der grössesten<br />

Ungleichheit, Gleichheit hervorgehen. -<br />

Der Despotismus soll selbst das Mittel seyn, um die Mittelstände<br />

verschwinden zu machen, und den Weg zur Freyheit zu erleichtern.<br />

- Dieses alles, und noch mehr und noch richtiger, finden weise<br />

Geschichtsforscher und Denker in der Grundlage der<br />

einwandernden Völker, in der so eingeschränkten Gewalt ihrer<br />

ersten Beherrscher.


Sie finden, daß eine so grosse Gewalt im Kriege, eine solche<br />

Einschränkung im Frieden, diesen ersten Anführern Abneigung<br />

gegen den Frieden, und Vorliebe zum Kriege erwecken mußte. Da<br />

aber die Nation sich bloß zum Vertheidigungskriege verbunden,<br />

und zu diesem allein gezwungen werden konnte: so blieb nichts<br />

übrig, als ihr ihnen näher verbundenes - zu jedem ihrer Winke<br />

bereitstehendes Gefolge zu verstärken, um zu neuen Einfällen<br />

fertige Mannschaft, um zugleich gegen ihr eigenes so<br />

unabhängiges Volk Werkzeuge der Unterdrückung zu haben, um<br />

von Aussen und Innen Groß und fürchterlich zu werden. - Wehe der<br />

Freyheit des Volks, dessen König übermässige eigene Schätze hat!<br />

Umsonst wird seine Gewalt beschränkt, denn er hat die Mittel, sich<br />

frey zu kaufen. Dort, wo der Reichthum ist, ist auch die Macht.<br />

Niemand giebt, ohne zu nehmen, und der so nimmt, verkauft sich. -<br />

Ihr, die ihr dürftig seyd, und in der Tugend noch keine Fertigkeit<br />

habt, zittert vor jedem Reichen; in seinem Geldschranke bewahrt er<br />

Eure Ketten: er kann, wenn er nur will, der Herr Eurer Ehre und<br />

Pflicht, Eurer Tugend und Freyheit werden. In jedem Lande, bey<br />

jedem Volke, wo die Ungleichheit der Güter zu übermässig ist, ist<br />

es auch um Freyheit, Sittlichkeit und Tugend geschehen. Dort giebt<br />

es keine Menschen; dort giebt es einige Despoten und eine Menge<br />

von verkauften Knechten. Zum Glück kann niemand allezeit und<br />

ewig und allen geben: und darum giebt es auch keine ewige Herrn<br />

und ewige Sklaven. Darum liegt es in der Natur, daß Grosse klein,<br />

und Kleine groß, daß Reiche arm und Arme reich, daß Mächtige<br />

Schwach, und Schwache mächtig werden. Darum ist unsre<br />

Geschichte die Geschichte des Wechsels von Armuth und<br />

Reichthum, von Macht und Schwäche, von Flor und verblühen der<br />

einzelnen Menschen und ganzer Nationen. Darum giebt jeder<br />

aufwachender ausländischer Handel einer Nation und Volk nur<br />

fiebrische Stärke. Darum besteht wahre Grösse des Landes in den<br />

strengen Sitten und eingeschränkten Bedürfnissen seiner<br />

Einwohner; und darum müssen Fürsten samt ihren Räthen das nicht<br />

einsehen: müssen sich durch die blendende unmittelbare Vortheile<br />

des Handels täuschen und in die Irre führen lassen, weil sonst<br />

dieses zweckmässige Steigen und Fallen, dieses Aufblühen und<br />

Hinwelken ganzer Völker, dieses so wesentliche Mittel zur<br />

Verbreitung der Cultur und Bevölkerung gehindert würde; weil der<br />

Natur die Mittel fehlten, zu ihrem Zwecke zu gelangen. Dieses allein<br />

söhnt den Weisen mit dem Handel aus, mit dem daraus<br />

entstehenden Verfall der Sitten, und der Ungleichheit der Güter:<br />

und so wird selbst menschliche Thorheit zur Weisheit, und Laster<br />

zur Tugend. Und so hatten die ersten Anführer der Wilden Völker,<br />

durch den grössern Antheil der Beute und der ihnen zugefallenen<br />

Länder, die Mittel in Händen, sich anfänglich der Freyheit der<br />

ganzen übrigen Nation zu bemächtigen, sich sodann ihre eigenen<br />

Fesseln zu schmieden; dann bald darauf aus der, durch sie selbst<br />

verursachten Herrschaft ihren Vasallen zu reissen, sich in ihre<br />

heutige Grösse zu versetzen, unumschränkt zu werden, bis dereinst<br />

diese Macht, durch ihre eigene Schuld, wieder in andre Hände<br />

übergeht, weil mißbrauchte Gewalt sich allzeit selbst zerstört: weil


es in der Natur liegt, unvermeidlich ist, jede gegebene Macht zu<br />

mißbrauchen. Dieser grössere, aus der, einer so wilden Nation<br />

angemessenen Unklugheit, überlassene Antheil der Güter und<br />

Grundstücke, setzte diese NamenKönige in Stand, zu geben, und<br />

folglich, zu nehmen, und dadurch ihr Gefolge zu verstärken. Nun<br />

fingen freye, unabhängige Männer, selbst die wichtigsten des<br />

Volkes an, ihre Freyheit und Dienste gegen die auf die Länge der<br />

Dienstzeit zugetheilte Grundstücke von Ländern zu verkaufen. Nun<br />

traten auch diese, unter ähnlichen Bedingungen, ihren<br />

Landesantheil weiter an andre ab. Nun wurden die freyen Männer<br />

seltener; häufiger die Dienstleute. Die Grossen hatten ihre Dienste<br />

an den König, die übrigen an die Grossen überlassen. Nun<br />

verschwand die bisherige Gleichheit und Unabhängigkeit. Die<br />

Ungleichheit des Vermögens brachte verschiedene einander<br />

untergeordnete Stände der Menschen hervor. Die eigensinnige, zu<br />

gebieterische Nationalmiliz wurde nunmehr von den andern, durch<br />

den Genuß der Grundstücke, folgsamern, besoldeten Lehnsleuten<br />

oder Vasallen verdrängt. Diese Lehen wurden anfänglich nur auf<br />

die Dienstzeit, bald darauf, durch verschiedene künstliche<br />

Wendungen, auf Lebenszeit, endlich auch auf Erben verliehen,<br />

dadurch den Königen mit der Macht zu geben, auch die Macht und<br />

Folgsamkeit der Vasallen entzogen: ausser dem Namen und<br />

äußerlichen Scheine der Gewalt, ging all ihre Macht und Gewalt auf<br />

die Grossen des Reichs über: und nun entstund durch das<br />

Lehnssystem das Ende der Democratie, ein schwaches Oberhaupt<br />

und eine aristokratische Verfassung. Aus diesen Vasallen entsprang<br />

der vorher und diesen Völkern unbekannte hohe und niedrige Adel,<br />

die mittelbaren und unmittelbaren Stände eines Reichs. Alle Gewalt<br />

war in den Händen des Adels: da mußten nun freylich einige von<br />

den Grössesten mit ihren Untervasallen das so äusserst<br />

geschwächte königliche Hoch abwerfen: eigene, unabhängige<br />

Reiche errichten, und dadurch den vorher mittelbaren Adel zu<br />

Ständen des neuen werdenden Reichs erhöhen, bis sie Stärke<br />

genug erhalten, dessen zu entbehren, ihre Vorrechte zu<br />

vermindern, an diesen zu mißbilligen, wozu sie unter ihrem vorigen<br />

Herrn das Beyspiel gegeben hatten.<br />

Wieder andre Grosse fanden es auf keine Art bedenklich unter<br />

einem so eingeschränkten Oberhaupte, ihren vorigen<br />

Zusammenhang fortzusetzen: glaubten für allezeit stark und<br />

gesichert zu seyn; konnten es nicht begreifen, vorhersehen, wie der<br />

Gefallene aufstehen, seine Kräfte sammeln könnte, die ihrigen<br />

schwächen, sie angreifen und zerstören: schliefen zu sicher auf<br />

ihren Lorbeeren: und bedachten zu wenig die Folgen, der, aus<br />

ihrem Uebermuth entstandenen Anarchie. Diese Sorglosigkeit und<br />

unüberlegte Geringschätzung ihres gedrückten Gegners machten,<br />

daß dieser keine Zeiten und Umstände ungenutzt vorbey ließ. Auf<br />

diese Art hatt' es in manchen Reichen, in dem Einen früher, in dem<br />

Andren später, klugen Königen gelungen, durch Vermehrung ihrer<br />

Domainen, durch glückliche Kriege und Erbschaften, durch die<br />

Schwäche und Zwietracht ihrer Vasallen, durch heimfällige mit der


Krone vereinigte, nicht wieder verliehene Lehen, durch gute<br />

Staatswirtschaft, durch Ankauf adeliger, bey verschiedenen<br />

Gelegenheiten, besonders zu den Zeiten der Kreuzzüge, in der<br />

Hofnung mehrerer Güter im Orient, um ein Geringes feil gebotenen<br />

Güter; durch das, nach den Kreuzzügen veranlaßte Aufbauen der<br />

Städte, der Gemeinheiten; durch die diesen ertheilte Freyheiten<br />

und Unterstützung; durch die Verminderung der Leibeigenschaft,<br />

besonders aber durch die eingeführte besoldete Miliz, nach und<br />

nach ihre vorige Rechte wieder an sich zu reissen; die Lehensmiliz<br />

und Beyhülfe ihrer Stände zu entbehren, dem stolzen Adel die<br />

Stirne zu bieten, seine, während ihrer Unvermögenheit über alle<br />

Maaß und Gränzen erweiterte Freyheit und Gerichtsbarkeit zu<br />

vermindern; und ihn sogar noch über seine Gränzen und erste<br />

Bestimmung zurückzuführen, durch übermässige Vermehrung der<br />

Edelleute, lächerlich und verächtlich zu machen, und durch<br />

Ertheilung der Kriegs- Hof- und Civil-Aemter an Unadeliche, ihren<br />

Einfluß auf die Staatsverwaltung, und eben dadurch ihren Anhang<br />

zu vermindern, und ausser alle Wirksamkeit zu setzen; und endlich<br />

auch durch Primogenituren und Ritterorden den Coelibat, und durch<br />

den Luxus der Höfe die Schuldenlast, schädliche Veräusserung der<br />

Güter, Debausche und den Tod selbst zu befördern.<br />

Freylich ist das nicht allezeit ausdrücklich gedachter Zweck; freylich<br />

herrscht nicht an jedem Hofe in Europa gleiche Freyheit in<br />

Erwählung der Mittel: freylich ist in manchen Ländern das<br />

Uebergewicht des Adels und der Stände noch nicht merklich<br />

vermindert: doch ist alles so eben angeführte, sichres, unfehlbares<br />

Mittel, um dahin zu gelangen; und die Erfahrung ist Bürge dafür,<br />

daß man schon von langen Zeiten her, wo nicht aus Absicht, doch<br />

wenigstens durch die Nothwendigkeit getrieben, wirklich dazu<br />

schreite, früher oder später noch dazu schreiten werde. Natur und<br />

Nothwendigkeit kommen freylich der Klugheit der Menschen gar oft<br />

zuvor oder zu Hülfe. Aber, was thut das zur Sache, wenn die<br />

Wirkung kommt, ob Absicht oder Bedürfniß solche herbeyführen.<br />

Allezeit bleibt doch der Satz erwiesen, daß der Gang der Natur und<br />

der Königreiche, hier früher, dort später, da hinaus führe, daß jeder<br />

Mensch, Fürsten und Könige um so mehr alle Schranken ihrer Kraft<br />

verabscheuen, und daß jede ständische Gewalt unangenehme<br />

Beschränkung, daß ihre Verminderung eine, jedem Monarchen<br />

willkommene Erscheinung und Begebenheit sey. Mit dem Ursprung<br />

der stehenden Armeen fängt die Lebensverbindung an, in manchen<br />

Reichen samt der darauf gebauten ständischen Gewalt, gänzlich zu<br />

verschwinden, und die Lehen selbst ihre Bedeutung zu verlieren.<br />

Hätten die Ottonen in Deutschland samt den folgenden Kaysern<br />

nicht sogleich ihre angestammte Herzogthümer weiter verliehen,<br />

sich weniger in die italiänischen Händel gemischt, und mit den<br />

Päbsten friedlicher gelebt, so wäre Deutschland schon längstens<br />

ein absolutes erbliches Reich, und die Gewalt der Stände hätte ihre<br />

Erbschaft erreicht; so, wie es wirklich, nachdem die Kayser eigene<br />

grosse Erbländer besitzen, und, ohne Wirkung durch Eide und<br />

Capitulationen beschränkt werden, durch das täglich zunehmende


Uebergewicht, und den stärkern Einfluß seines Oberhaupts, durch<br />

die, in eben dem Verhältniß zu nehmende Schwäche, Uneinigkeit,<br />

Abhängigkeit und Unvermögenheit seiner Stände von seiner<br />

aristokratischen Verfassung ab, und zur monarchischen<br />

unaufhaltbar hinübergeht; anbey zum unvermeidlichen Raube Eines<br />

oder mehrerer Stärkern bestimmt ist, wenn nicht inzwischen aus<br />

seinem Schosse eine Mittelmacht entsteht, die sich zwischen die<br />

Mitwerber stellt, die schwächern Stände unter ihre Flügel nimmt,<br />

und auf diese Art noch auf einige Zeit den schwer zu vermeidenden<br />

Untergang der deutschen Reichsverfassung verzögert.<br />

Auf diese Art gründet sich noch Heut zu Tage jede dermalige<br />

Volksverfassung in der ersten Entstehung dieses Volks, in der<br />

ersten Anlage, in den Bedürfnissen, Schicksalen und Hindernissen,<br />

die es erfahren: in den, seiner seiner Vermehrung günstigen oder<br />

widrigen Umständen. Es kommt darauf an, ob die ersten<br />

Stammväter dieses Volks Jäger, oder Hirten, Ackersleute oder<br />

Handelsleute gewesen: ob sie noch rein und ursprünglich: mit<br />

welchen Völkern und wie oft sie vermischt worden. Von dort muß<br />

jede ächte philosophische Landesgeschichte ausgehen, und die<br />

Quelle erforschen. Dort hat sich dieser Grund geleget, auf welchem<br />

das nachfolgende Staatsgebäude errichtet worden: sie muß<br />

aufspüren, wie sich das Eine aus dem Andern entwickelt; denn in<br />

der Entstehung eines Volks ist fast schon meistens sein ganzes<br />

Schicksal enthalten. Und ein solcher Geschichtsforscher allein wird<br />

den wahren Werth und künftigen Erfolg, das Hinderniß oder das<br />

Zweckmässige jeder getroffenen oder noch zu treffenden Anstalt,<br />

sammt der Dauer und dem Untergange seines Vaterlandes<br />

bestimmen. Aus diesem allein und noch mehrern, das jeder Denker<br />

hinzu denken kann, sind unsre heutigen Völker, Sitten und<br />

Gebräuche entstanden; und wer dieses alles genau beobachtet,<br />

wird das Primitive von dem spätern Zusatze, und aller folgenden<br />

Abstuffungen genau unterscheiden. Er wird auch finden, daß jedes<br />

Volk eben dort den höchsten Grad der gemeinen Cultur gehabt, wo<br />

es zugleich am zahlreichsten gewesen. Er wird Völker finden, bey<br />

welchen dieser Zustand vorüber ist, welche verblühen, welche sich<br />

noch wirklich darin befinden, welche diese Reihe noch treffen soll.<br />

Es ist sogar möglich, durch fortgesetzte scharfe Beobachtungen aus<br />

dem bisherigen Gange der Natur, ihren künftigen zu bestimmen, so<br />

gar das Gesetz und die Regel zu finden, nach welchen sie arbeitet,<br />

und noch weiter fortschreiten wird.<br />

Du mußt also erforschen, einsehen lernen, dich in dieser Einsicht<br />

üben: welche Folgen sind durch jede gegebene Begebenheit<br />

veranlasset worden? In welchem Verhältnisse steht solche mit der<br />

Vermehrung und gemeinen Cultur des ganzen Geschlechts?<br />

Wohin führt sie? Was ist Heut zu Tage noch sichtbare Folge<br />

davon? In wie ferne wirken noch tausendjährige Begebenheiten und<br />

Einrichtungen der ältesten auf die heutige Welt? Welches sind,<br />

unter beyden Extremen, die Mittelstuffen? Was werden sie noch in


der Zukunft veranlassen? Wie haben sie sich modificirt? Welche<br />

Gestallt war ihnen am günstigsten? Welcher weitern<br />

Modificationen, Abänderungen, Zusätze und Einschränkungen sind<br />

sie noch weiter fähig? Welche ist der heutigen Welt am<br />

angemessensten? Was muß noch vorhergehen, um diese Idee,<br />

Meynung geläufiger zu machen? Durch welches Bedürfniß können<br />

die Menschen darauf aufmerksamer gemacht werden? Welche<br />

Meynungen schlummern, sozusagen, nur? Wirken aber doch im<br />

Verborgenen und im Hinterhalt, lauren dort nur auf eine neue<br />

erweckende Ursach? Welchen Vortheil oder Schaden wird sodann<br />

dieser Theil der Welt davon haben? Wie verhält sich dieser<br />

Vortheil, dieser Schaden zur Totalsumme menschlicher<br />

Glückseligkeit, zum Wohl des Ganzen?<br />

Wenn die so sehr verschrieene Kreuzzüge die Quelle von dem<br />

europäischen Handel sind, von der Pracht der Höfe, von der<br />

Vermindrung des Adels und von dem Aufblühen der Königlichen<br />

Macht, vom Aufblühen der italiänischen und deutschen Städte, vom<br />

alten Flor des mittäglichen Deutschlands, und vom hanseatischen<br />

Bunde, von der Verminderung der Leibeigenschaft, vom Entstehen<br />

mancher Ritterorden, und von der Verfeinerung der Sitten; Wenn<br />

nun weiter die Kreuzzüge, durch die, gegen das Ende des Zehnden<br />

Jahrhunderts wieder aufblühende Lehre, vom tausendjährigen<br />

Reiche und vom nahen Ende der Erde, und durch die vorgeblichen<br />

Bedrückungen der Pilgrimme im Orient veranlasset worden: Wenn<br />

denn weiter diese Ideen vom nahen Ende der Welt,<br />

erweislichermaassen, diluvianisch ist, und aus ihr die Lehre vom<br />

tausendjährigen entstanden, so muß es ja doch so lächerlich nicht<br />

seyn, zu behaupten, daß diese Lehre vom tausendjährigen Reiche<br />

die entfernte Ursache von dem, durch die Kreuzzüge gewirkten,<br />

Folgerungen gewesen; als da sind: der sich emporhebende<br />

europäische Handel um diese Zeit, die vermehrte Pracht der Höfe,<br />

die Verminderung des Adels, das Aufblühen der königlichen Macht,<br />

mit jenem der italiänischen und deutschen Städte, der<br />

hanseatische Bund, die Verminderung der Leibeigenschaft, das<br />

Entstehen so mancher Ritterorden und so weiter; es muß also doch<br />

so lächerlich nicht seyn, zu behaupten, daß vielleicht kein Mensch<br />

in Europa sey, der, wenn er seine dermalige und vorhergehende<br />

Lage erforschen will, nicht finden sollte, daß Kreuzzüge und die<br />

Lehre vom tausendjährigen Reiche und vom nahen Ende der Welt,<br />

daß diluvianische Ideen und Schrecken seinen heutigen Zustand<br />

bestimmen, die entfernte und letzte Quelle seiner Freuden und<br />

Leiden sind. Oder ist denn die entfernte Ursach nicht auch eine<br />

Ursach? Wozu sollte wohl sodann <strong>Adam</strong> unser Vater? Seine Schuld<br />

die unsrige seyn? Haben die Begebenheiten der Welt nicht so gut<br />

als Menschen ihre Aeltern und Geschlechter? Wenn das Eine so<br />

lächerlich ist, warum nicht auch das Andre? Lachet doch<br />

wenigstens über beyde, oder lachet über keins. Wenn aber dem<br />

also ist, so ist auf dieser sublunarischen Erde nichts Klein; Nichts,<br />

was nicht mit in das Grosse der Welt eingeflochten wäre; Nichts,<br />

was sich davon trennen liesse, ohne das Ganze zu trennen. Es muß


also doch wohl der Mühe werth seyn, zu erforschen, wie das Eine<br />

sich in dem Andern gründe, aus dem Andern entstehe, das Weitere<br />

herbeyführe.<br />

Erst alsdann, wenn Du den Gang des Ganzen, das Verhältniß<br />

seiner Theile ergründet hast, wirst Du im Stande seyn, einzusehen,<br />

was Du, was dein Landstrich zu erwarten haben: was für diese<br />

beyde dauerhaftes, bleibendes Gut sey. Du wirst sehen, daß sich<br />

Familien und Völker selbst zerstören, wo sie an ihrer Erhöhung<br />

arbeiten: daß ihr dermaliger höchster Flor zugleich der nächste<br />

unbetrüglichste Vorbote von ihrem Verfalle sey. Du wirst sehen, wie<br />

die Wage hier sinkt, um dort zu steigen: wie das Untergehen des<br />

Einen, Aufheben des Andern ist; wirst entdecken, daß dieses<br />

Steigen und Fallen wesentliches Mittel zur Aufnahme des Ganzen,<br />

zur Vervollkommnung des Geschlechts sey; wirst finden, daß all<br />

dieser Wechsel planmässig geschehe: daß die Natur in der<br />

politischen und moralischen Welt, so, wie in der Physischen, nach<br />

einerley Gesetzen wircke, daß sie beyde Veränderungen durch<br />

einerley Kraft hervorbringe: wirst finden, daß sich Alles in Allem<br />

gründe: daß sich jede Periode an eine vorhergehende anschliesse;<br />

Folge von dieser sey, durch sie herbeygeführt worden; so, wie am<br />

Ende dieses nämliche lebende Zeitalter Quelle und Vorbereitung<br />

aller künftigen wird. Je mehrere und allgemeinere Verhältnisse Du<br />

entdecken wirst, je richtiger wirst Du urtheilen. Nur in so ferne die<br />

Natur für das Ganze besorgt ist, sorgt sie für die Theile. Alle Theile<br />

sind Mittel nicht Zweck. Sie erlaubt jedem nur Eine und diejenige<br />

Rolle zu spielen, welche diesem zuträglich sich findet. Erfordert<br />

dieses Dein - und deines Vaterlandes Umsturz, so werden auch<br />

keine Klugheit und Ränke, keine Vorsorgen und Anstallten, keine<br />

Macht und kein Flehen, keine Verträge und Bündnisse retten. Eben<br />

diese Anstallten und dieses All werden Euren bestimmten<br />

zweckmässigen Untergang beschleunigen; sie sind mit in der<br />

grossen Reihe der Folgen und Ursachen, als Ursachen Eures<br />

Untergangs, nicht aber als Rettungsmittel eingeflochten. Kein Reich<br />

der Vorwelt hat ewig gedauert. Die Reiche der heutigen Welt sind<br />

einem ähnlichen Schicksal unterworfen. So, wie alles, was unter<br />

der Sonne ist, veränderlich ist, verändern auch sie sich, um ihrem<br />

Zweck, ihrer Bestimmung näher zu rücken. Jede menschliche<br />

Einrichtung führt zugleich bey ihrer Entstehung den Keim ihrer<br />

Zerstörung mit sich. Der erste Schritt ins Leben, ist der erste Schritt<br />

zum Tode, und vielleicht ist der Tod wieder Fortschreiten zum<br />

Leben. - O, wenn Du einer von Uns bist, so mußt du wissen, wo die<br />

politische und moralische Welt dermalen stehe. Aus dem Wege,<br />

den sie bereits zurückgelegt, aus der Stellung der übrigen Theile,<br />

so um uns sind, mußt Du vermuthen können, welcher Weg noch zu<br />

hinterlegen, und welche Rolle zu spielen uns von der Vorsicht<br />

bestimmt sey.<br />

Jede einzelne auch kleinste Weltbegebenheit ist der Abdruck und<br />

der Spiegel der vergangenen, der Gegenwärtigen und künftigen


Zeit. Gott siehet Alles in Allem, Alles in jedem Einzelnen; und der<br />

eingeschränkte Mensch nur soviel, als er hienieden bedarf. Wenn<br />

also Du eingeschränktes Wesen gleich nicht alles entdeckest, so<br />

sieh, was Dir gegeben ist, zu sehen, und erhebe Dich über den<br />

Haufen. Du mußt als ein Weiser in der Verlegung des Kayserlichen<br />

Sitzes von Rom nach Constantinopel etwas mehr, als blosse<br />

Verändrung des Orts: In der Entdeckung von Amerika mehr, als<br />

blosse Vereinigung zweyer sich fremder Halbkugeln erblicken.<br />

Diese grossen Begebenheiten, so, wie alle übrige Geringern, sind<br />

Veränderungen, wovon die Erschütterung in allen Theilen der Erde,<br />

noch in der entferntesten Zukunft gefühlt wird.<br />

- Welches waren nun die nächsten Folgen dieser grossen<br />

Begebenheiten? Wie ist aus dieser Veränderung des kayserlichen<br />

Hoflagers das deutsche Kayserthum entstanden? Wie ist zum Theil<br />

aus den deutschen Wäldern die weltliche Grösse des Pabstthums<br />

hervorgekommen? Du wirst finden, wie in diesem grossen<br />

ungeheuren Gewölbe der Weltbegebenheiten, ein Stein auf den<br />

andern drückt, und durch diesen wechselseitigen Druck sich das<br />

ganze Gebäude erhält. Wie aus dem kleinen Schneflocken aus<br />

dieser unbedeutendsten Begebenheit, wenn Zeit und Natur ihn vom<br />

hohen Felsen losreissen, wie im Herunterfallen und Fortwälzen,<br />

aus ihm die erschreckliche Masse sich formirt, welche Thäler<br />

verschüttet, und Welttheile erschüttert. - Durch Auflösung solcher<br />

und ähnlicher Aufgaben, wirst Du finden, wie in der grossen<br />

Weltmaschine ein Rad das andre greife, nichts sich hindre; wie<br />

Hindernisse vielmehr die Sache befördern. Um die Zukunft gehörig<br />

vorherzusehen, müssen auch, so viel möglich, alle noch zu<br />

machende Entdeckungen mit in Anschlag gebracht werden. Es kann<br />

deren noch geben, welche ganzen Welttheilen, dem ganzen<br />

Geschlechte eine andre Richtung geben. Die Erfindung der Schrift,<br />

der Magnetnadel, des Pulvers, der Buchdruckerey, die Entdeckung<br />

von Amerika, waren schon solche viel wirkende, schwer vorher zu<br />

sehende Erscheinungen. Es kann deren noch mehrere geben. Die<br />

Natur und die Kräfte der Menschen sind noch lange nicht erschöpft.<br />

Viele Dinge scheinen uns dermalen noch unmöglich, weil die noch<br />

vorher nöthige vorbereitete Mittelerfindungen fehlen. Auch diese<br />

mußt Du mit in den Plan aufnehmen, mußt denken, welche Felder<br />

stehen dem ErfindungsGeiste der Menschen noch leer? Erforsche<br />

ihre Erwartungen, ihre dringendsten Bedürfnisse, und du kannst<br />

vielleicht vorhersehen, welche Strasse die entsetzliche Wirksamkeit<br />

des menschlichen Geistes einschlagen wird. Jede solche Aufgabe,<br />

wenn sie auch unmöglich und lächerlich schiene, wird dich neue<br />

Verhältnisse, neuen Zusammenhang der Dinge lehren. Wie, wenn<br />

die Menschen, so wie sie die See durchschiffen, auch die Luft<br />

durchstreifen könnten? Welche Folge brächte das in die Sittlichkeit<br />

der Menschen, im Handel, in der Staats-Kriegskunst, Schiffarth<br />

hervor? Welche bisherige Anstallten würden dadurch überflüssig?<br />

schädlich? Welche neue würden entstehen? Welche<br />

Menschenklasse würde dabey am meisten gewinnen? Welche<br />

verlieren? Welche allgemeine Gährung würde das verursachen?


Welche neue Bedürfnisse würde jeder Stand dadurch fühlen?<br />

Welche Mittel würde die Schlauheit der Menschen erfinden, um<br />

solchen abzuhelfen? - Oder, wie, wenn der Anbau der Brodfrucht in<br />

Europa gedeihen, und allgemein werden sollte?<br />

Freylich hat man über das, was wirklich geschiehet, schon so vieles<br />

zu denken, daß es beynahe toll und unnöthig ist, sich über<br />

ungewisse, zweifelhafte Dinge den Kopf zu zerbrechen; freylich läuft<br />

man dabey Gefahr, aus Mangel richtiger und richtiger Uebersicht<br />

aller mit unter laufenden Umstände, eine Menge falscher Schlüsse<br />

zu machen; aber doch vernachlässige diese Uebung nicht, im<br />

Mangel einer bessern Beschäftigung. Du lernst doch dadurch eine<br />

Menge neuer Verhältnisse kennen; überzeugst dich dadurch immer<br />

näher von der seligsten aller Lehren, von dem Zusammenhange<br />

und der Güte der Welt. Lernst doch einzusehen, was eben darum<br />

ist, weil Menschen die Luft nicht durchschiffen, weil kein<br />

Brodfruchtbaum gepflanzt wird: und mit andern Worten heißt die<br />

Frage im Grunde so viel: welches sind die Folgen des<br />

Getreidebaues? Und, wenn auch eine Menge falscher Schlüsse mit<br />

dabei unterläuft, was liegt daran? Sind denn Menschen jemals zur<br />

Wahrheit gelangt, ohne vorher alle damit verwandte Irrthümer zu<br />

durchlaufen? - Oder, wenn Du das nicht willst; wäre nicht im<br />

dreyzehnden oder vierzehnden Jahrhundert die Aufgabe von der<br />

Entdeckung eines neuen Welttheils, in den Augen der Zeitgenossen<br />

eine lächerliche, rasend scheinende Aufgabe gewesen? Nun haben<br />

sie statt der Menschen, Natur und Geschichte auf eine<br />

unnachahmliche Art beantwortet. Und, wenn Dir auch dieses nicht<br />

gefällt, nimm statt dessen eine Aufgabe über eine Thatsache:<br />

durch welche Veranlassungen sind nach und nach grosse stehende<br />

disciplinirte Armeen entstanden? Wie ferne haben solche unsre<br />

Staatsverfassung geändert? Welche fernere Anstallten wird ihr<br />

Unterhalt nothwendig machen? Werden sie allezeit seyn? Welche<br />

Umstände, welches Bedürfniß könnte ihren Untergang<br />

verursachen? Wie wird dieses Bedürfniß erweckt und<br />

herbeygeführt werden? Was wird sodann dieses unter Völkern, in<br />

der Sittlichkeit, in der Staatsverfassung für Folgen hervorbringen?<br />

Welches Leere wird diese Aufhebung verursachen? Durch was<br />

wird diese Lücke ersetzt werden?<br />

Solche Aufgaben entwöhnen den Menschen von dem<br />

unphilosophischen Wahne, als ob Alles, was heute ist, allezeit<br />

gewesen wäre; allezeit und in Ewigkeit seyn müßte: sie belehren,<br />

daß Alles ein Kind der Zeit und der Umstände sey: sie führen uns<br />

auf den Grund der Entstehung der Dinge: sie unterrichten uns, daß,<br />

wie sich dieser Grund verändert, auch alles darauf Gegründete sich<br />

in eben dem Maasse ändre, oder verändre: sie veranlassen die<br />

Fertigkeit, eine Menge von Begebenheiten mit Einem Blicke zu<br />

überschauen, die entferntesten Folgen vorher zu sehen: sie<br />

unterrichten uns auch, alles Uebel bey seiner Wurzel anzufassen,<br />

nicht den schädlichen Hauptstamm stehen zu lassen; bloß allein


einige Aeste abzuhauen: sie zeigen die Kunst, seine Absichten und<br />

Plane zu maskiren, Feinde und Gegner durch seine Operationen in<br />

die Ferne zu führen: sie beweisen endlich, daß nicht jeder<br />

unmittelbare Vortheil wahrer Nutzen, so, wie jeder unmittelbare<br />

Nachtheil wahrer Schaden sey; sondern beydes erst durch die<br />

entferntern Folgen sind.<br />

Dieses Untersuchen, dieses Forschen in dem allgemeinen<br />

Zusammenhange der Dinge, wird deine Begierden ordnen; wird dich<br />

mit der Welt aussöhnen, die Quellen deines Vergnügens und<br />

deiner Glückseligkeit vermehren, deine Schmerzen vermindern,<br />

das Schwarze der Einbildungskraft verscheuchen: es wird dich<br />

überzeugen, daß alles moralisch Gute und Böse sich nach dem<br />

Standorte richten, aus welchem man die Welt überschauet: daß die<br />

engern Interesse die Quelle vom moralischen Bösen sind, und in<br />

Rücksicht auf das Ganze nichts Bös, alles gut, alles Harmonie und<br />

Ordnung sey: daß ein weiser Mann sich bemühen müsse, alle<br />

Gegenstände nach dieser allgemeinsten Beziehung zu beurtheilen:<br />

daß in Ermangelung dessen, bey der Unvermögenheit, in das<br />

Allgemeine zu blicken, dem schwächern Theile der Menschen, zur<br />

Beurtheilung aller Vorfälle, folgende Grundsätze dienen, um sich<br />

am wenigsten zu irren:<br />

Alles, was Menschen trennt, mißtrauisch und abergläubisch, feig<br />

und unthätig macht; was die Ungleichheit der Güter befördert, und<br />

Bevölkerung hindert, ist verderbliches politisches Mittel, sollte es<br />

auch unsrer Macht und unsern Wünschen noch so sehr<br />

schmeicheln. Dieses alles ist von keiner Dauer, wird sich darauf<br />

selbst bestrafen, weil es dem Gange der Natur entgegen ist. Alles,<br />

im Gegentheile, was Menschen einander näher bringt, sie klüger,<br />

feiner, geselliger, muthiger, zufriedener, arbeitsamer und<br />

unabhängiger macht; was die zu grosse Ungleichheit der Güter<br />

zernichtet, und die Bevölkerung befördert, ist ganz allein wahre,<br />

dauerhafte, von Gott geheiligte Politik; ertheilt auch zugleich<br />

dauerhafte Macht, weil es die Natur zum Freunde und<br />

Bundesgenossen hat, gegen welche alle Hindernisse der Welt<br />

nichts vermögen. Darum sind aber auch alle Hindernisse und<br />

Absichten boshafter und eigennütziger Menschen nicht minder<br />

nothwendig und wesentlich, weil sie im Grunde nicht hindern,<br />

sondern wirklich befördern, weil sie Bedürfnisse erwecken, weil<br />

durch sie das Reiben der Kräfte, Leben und Feuer in die Maschine<br />

gebracht, und Handlungen veranlasset werden. Und am Ende muß<br />

es sich zeigen, daß es in dieser Welt zweckmässige Bosheit, so,<br />

wie zweckmässige Tugend gebe.<br />

Du aber freue Dich, daß Dich die Vorsicht auf die gute Seite gestellt<br />

hat.


Quelle:<br />

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz,<br />

Berlin

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