Kinderwunsch – Wunschkinder
DOSSIER - ZwygArt
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DOSSIER<br />
<strong>Kinderwunsch</strong> <strong>–</strong> <strong>Wunschkinder</strong><br />
Familien-Bande.Lamontagne-<br />
Müllers daheim in Bern: Louis,<br />
Magali, Isabelle und Noé (v.l.).<br />
Medizin,<br />
Eltern<br />
bei<br />
werden<br />
Frauen<br />
trotz<br />
die<br />
Querschnittlähmung?<br />
Natur. Paraplegikerin Isabelle<br />
Bei Männern<br />
Lamontagne-Müller<br />
hilft heute die<br />
erzählt aus ihrem Alltag mit zwei Kindern. Und den Sorgen und Freuden,<br />
die eine Schwangerschaft im Rollstuhl mit sich bringt.
DOSSIER<br />
ROLLSTÜHLE<br />
Text: Christine Zwygart | Bilder: Astrid Zimmermann-Boog<br />
Sie hätte ihrem Arzt in diesem Moment<br />
viele Fragen stellen können. Tausend Sachen<br />
müssen ihr durch den Kopf gegangen<br />
sein. Schliesslich änderte sich das Leben von<br />
Isabelle Lamontagne-Müller gerade radikal:<br />
Ein Sturz beim Skifahren im Wallis, Lähmung<br />
der Beine, mit dem Heli ins Spital,<br />
Operation des gebrochenen Wirbels. Dann<br />
stand der Arzt neben ihrem Bett <strong>–</strong> und die<br />
junge Frau wollte von ihm als allererstes wissen:<br />
«Kann ich noch Kinder bekommen?»<br />
Das war 1990. Seither sammelte die heute<br />
45-Jährige viel Erfahrung rund um Schwangerschaft<br />
im Rollstuhl, Geburt und Alltag mit<br />
Babys. «Und doch lerne ich jeden Tag Neues<br />
dazu», sagt die zweifache Mutter mit einem<br />
Lächeln. Wirbelwind Noé, 2, stürmt durch<br />
die geräumige Wohnung am Stadtrand von<br />
Bern. «Schau, Mama. Ich kann zaubern!»<br />
Der Kleine fuchtelt mit einem grünen Farbstift<br />
herum, an dessen Spitze ein Stern aus<br />
Papier angeklebt ist. Er zielt mit dem «Zauberstab»<br />
auf seine Schwester. Magali, 5, sitzt<br />
mit Papa Louis, 46, am Stubentisch und setzt<br />
ein Puzzle zusammen.<br />
Liebe auf dem Tennisplatz<br />
Querschnittgelähmte Frauen können auf natürliche<br />
Weise schwanger werden und Kinder<br />
bekommen, denn eine Schwangerschaft<br />
wird hormonell gesteuert. Das heisst: unabhängig<br />
von der Nicht-Funktion durchtrennter<br />
Nerven. Wie viele Para- und Tetraplegikerinnen<br />
in der Schweiz schon Mütter wurden,<br />
ist unbekannt.<br />
Isabelle Lamontagne-Müller weiss, wie<br />
schwierig es für betroffene Frauen ist, überhaupt<br />
an Informationen und Kontakte zu<br />
kommen: «Als wir eine Familie gründen<br />
wollten, habe ich über das Internet vor allem<br />
in wissenschaftlichen Publikationen und Büchern<br />
aus den USA nachgeforscht.» Ihr Gynäkologe<br />
hatte zuvor noch nie eine Schwangere<br />
im Rollstuhl betreut. Und so versorgte ihn<br />
die werdende Mutter mit Literatur zu heiklen<br />
Themen wie der erhöhten Thrombosegefahr,<br />
dem Problem des Wundliegens während<br />
der Geburt und den in seltenen Fällen<br />
drohenden Bluthochdruck-Krisen.<br />
Eine Zukunft ohne Kinder hätten sich Isabelle<br />
und Louis vorstellen können. «Wir genossen<br />
auch zu zweit ein sehr erfülltes Leben.»<br />
Und doch war der Wunsch nach einer Familie<br />
stärker. Kennen gelernt haben sich die<br />
Schweizerin und der Kanadier im Sommer<br />
1997 in Nottingham (England). Sie spielte<br />
dort bei einem internationalen Rollstuhl-<br />
Tennis-Turnier, er trainierte das kanadische<br />
Damenteam. Die zwei liebäugelten miteinander,<br />
zogen zusammen und heirateten im<br />
Eigenkonstruktion.<br />
Die<br />
ist eine<br />
Wickelkommode<br />
gung. Sie<br />
Spezialanferti-<br />
Isabelle Lamontagneverschafft<br />
Müller<br />
Beinfreiheit<br />
die nötige<br />
Wickeln von<br />
beim<br />
Noé.<br />
Sommer 2002. Heute führt Louis eine Schule<br />
für Kinder mit Sprach- und Lernschwierigkeiten,<br />
Isabelle leitet in einem 60%-Pensum<br />
die Geschäfte der Schweizerischen Pädiatrischen<br />
Onkologie Gruppe. «Ich fühle mich<br />
sehr privilegiert, als Familien- und Berufsfrau<br />
zu arbeiten. Dafür nehme ich den gelegentlichen<br />
‹Chrampf› gerne auf mich», erzählt<br />
sie. Und meint damit: Intensive<br />
Nachtschichten mit Arbeiten, die beginnen,<br />
sobald die Kinder im Bett sind.<br />
Mit Babybauch im Rollstuhl<br />
«Magali und Noé bereichern mein Leben. Sie<br />
waren für mich nie ein Erschwernis», betont<br />
Isabelle Lamontagne-Müller. Auch die beiden<br />
Schwangerschaften hat sie in bester Er-<br />
innerung <strong>–</strong> abgesehen von der Übelkeit und<br />
Müdigkeit. Der wachsende Bauch kam beim<br />
Bewegen im Rollstuhl nicht in den Weg.<br />
«Beim zweiten Mal wurde es auf meinem<br />
Schoss nur für Magali irgendwann eng.»<br />
Wird die werdende Mama die Kindsbewegungen<br />
spüren? Das war im Vorfeld schwer<br />
abzuschätzen, denn ihre Paraplegie ist inkomplett,<br />
unterhalb des Bauchnabels sind<br />
gewisse Empfindungen noch da. Das Glück<br />
war überwältigend, als sie ihr Baby tatsächlich<br />
spürte. «Dieses Gefühl empfand ich als<br />
ersten Höhepunkt in der Liebesbeziehung<br />
zum Kind.» Es gab aber auch traurige Momente<br />
in all den Jahren. So verlor sie zwischen<br />
den beiden geglückten Schwangerschaften<br />
ein Baby in der elften Woche: «Ich<br />
Können querschnittgelähmte Mütter<br />
ihre Babys auch stillen?<br />
Eduard Infanger ist Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe am<br />
Luzerner Kantonsspital in Sursee. Er unterstützt bei Fragen oder<br />
Problemen auch die querschnittgelähmten Frauen im Schweizer Paraplegiker-Zentrum<br />
(SPZ) Nottwil.<br />
Werden Frauen mit einer Para- oder Tetraplegie auf natürlichem<br />
Weg schwanger?<br />
Bei einer reinen Rückenmarksverletzung erholt und normalisiert<br />
sich der Zyklus der Frau nach einigen Monaten. Danach bestehen die<br />
gleichen Voraussetzungen für eine Schwangerschaft wie bei einer<br />
Fussgängerin <strong>–</strong> eine natürliche Befruchtung ist also möglich.<br />
Müssen die Betroffenen bestimmte Medikamente absetzen?<br />
Bei allen Frauen birgt das Einnehmen von Medikamenten in der<br />
Schwangerschaft die Gefahr von Missbildungen. Deshalb muss diese<br />
Frage mit dem Arzt sorgfältig besprochen werden. Dabei gilt es vorab<br />
zu berücksichtigen, dass das Risiko bei gleichzeitiger Einnahme von<br />
mehreren Medikamenten schwierig bis unmöglich abzuschätzen ist.<br />
Brauchen die Frauen während der Schwangerschaft eine<br />
spezielle Betreuung?<br />
Die Schwangerschaft läuft biologisch gleich ab wie bei Fussgängerinnen.<br />
Durch die Querschnittlähmung brauchen jedoch verschiedene<br />
Aspekte eine regelmässige Kontrolle. Dies betrifft zum Beispiel den<br />
Verdauungstrakt, Nieren und Blase sowie die Kindsbewegungen.<br />
Spürt eine werdende Mutter ihr Baby im Bauch?<br />
Nein, nicht direkt. Je nach Ausprägung der Querschnittlähmung kann<br />
die Frau die Bewegungen aber mit der Hand über dem Bauch ertasten.<br />
Ist eine spontane Geburt möglich?<br />
Sie ist nicht nur möglich, sie wird sogar angestrebt. Die Frau nimmt die<br />
Wehen zwar nicht direkt wahr, kann sie aber allenfalls mit der Hand fühlen.<br />
Genau fassbar ist der Geburtsbeginn nur indirekt über den Partner<br />
und den behandelnden Arzt.<br />
Sind Spitäler für solche Geburten eingerichtet und die Angestellten<br />
geschult?<br />
Im Prinzip schon. Das Krankenhaus muss jedoch die spezifischen Probleme<br />
einer Querschnittgelähmten aus ärztlicher und pflegerischer<br />
Sicht kennen <strong>–</strong> und diese Probleme auch behandeln können. Frühzeitige<br />
Abklärungen sind hier sehr wichtig.<br />
Können querschnittgelähmte Mütter ihre Kinder stillen?<br />
Ja. Zu beachten ist lediglich, dass sie eine geringere Milchproduktion<br />
haben können.<br />
18 19
DOSSIER<br />
« Die Rolle als<br />
Mutter ist das<br />
Schönste in<br />
meinem Leben»<br />
Isabelle Lamontagne-Müller<br />
denke auch heute noch oft an dieses Kind,<br />
das uns verlassen hat, bevor es richtig angekommen<br />
war.»<br />
Ein Wickeltisch nach Mass<br />
Magali räumt ihre Spielkiste aus, wühlt in Hüten<br />
und Umhängen. Dann schnappt sie sich<br />
ein Krönchen und setzt es auf. «Herumliegende<br />
Spielsachen machen das Durchkommen<br />
im Rollstuhl hier manchmal schwer», meint<br />
die Mama mit Blick auf das Durcheinander.<br />
Treuherzig funkt die Kleine dazwischen. «Ich<br />
räume immer brav auf!» Aha. Herzhaftes Gelächter<br />
auf beiden Seiten. Noé verdrückt sich<br />
derweilen in der Ecke, hält sich krampfhaft<br />
am Puppenhaus fest. Mama weiss, was das bedeutet:<br />
Windeln wechseln! Sie schnappt sich<br />
den Buben und rollt mit ihm Richtung Kinderzimmer.<br />
«Auf dem Markt gibts keine praktischen<br />
Babymöbel für querschnittgelähmte<br />
Mütter», sagt Isabelle Lamontagne-Müller.<br />
Als Wickeltisch dient eine Kommode, für die<br />
ein Schreiner eine Art Tischplatte mit Rahmen<br />
anfertigte. Diese bietet dem Kind genügend<br />
Platz zum Liegen und der Mama die<br />
Kniefreiheit zum Drunterfahren.<br />
Die Familie hat im Alltag ihre Tricks, um<br />
schwierige Aufgaben zu meistern. Beim Gehen<br />
auf dem Trottoir gibts zum Beispiel klare<br />
Regeln, denn Mama kann die Kinder nicht an<br />
der Hand führen <strong>–</strong> sonst kommt sie im Rollstuhl<br />
nicht vorwärts. «Noé ist deshalb meist<br />
im Kinderwagen oder auf meinem Schoss.<br />
Und Magali geht auf der von der Strasse abgewandten<br />
Seite neben mir.» Kapitulieren<br />
muss das Trio vor Liften, die für Rollstuhl<br />
und Kinderwagen zu klein sind. Das gleiche<br />
gilt für öffentliche Toiletten. Und dann gibt’s<br />
Situationen, wo die Mutter auf Hilfe von<br />
Dritten angewiesen ist: «Es kommt schon<br />
vor, dass mir jemand auf dem Spielplatz<br />
mein Kind aus dem Sandkasten oder vom<br />
Klettergerüst pflücken muss.»<br />
Probefahren mit dem Kinderwagen<br />
Die Geburt wirft bei querschnittgelähmten<br />
Frauen vor allem eine grosse Frage auf: Wann<br />
geht’s los? Denn die Wehen spüren die meisten<br />
nicht. Ganz andere Erfahrungen machte<br />
Isabelle Lamontagne-Müller beim ersten<br />
Mal: «Ich verlor das Fruchtwasser, ging sofort<br />
in die Klinik. Und dann fingen diese Schmerzen<br />
an!» Die Geburt kam dennoch nicht recht<br />
in Gang, selbst wehenfördernde Medikamente<br />
brachten nichts. Magali kam schliesslich<br />
per Kaiserschnitt zur Welt. So wie Noé bei der<br />
zweiten Schwangerschaft auch.<br />
Fehlt die Erfahrung, muss man kreativ sein<br />
und neue, individuelle Wege finden. «Darin<br />
sind wir Menschen im Rollstuhl ja eigentlich<br />
Experten», sagt Isabelle Lamontagne-Müller.<br />
Dennoch sei der Moment, als sie mit dem<br />
Baby vom Spital nach Hause kam, ein bisschen<br />
«ungewohnt und einschüchternd, aber<br />
natürlich vor allem schön» gewesen. Einige<br />
Probefahrten mit dem Kinderwagen hatte sie<br />
im Fachgeschäft zuvor absolviert, ab jetzt<br />
galts ernst.<br />
Ein Leben zwischen Rollstuhl und Kinderwagen.<br />
Isabelle Lamontagne-Müller möchte mit<br />
niemandem tauschen. «Meine Rolle als Mutter<br />
ist das Schönste in meinem Leben, und ich<br />
bin dankbar für jede Minute mit meiner Familie.»<br />
Klar gibts Wermutstropfen. Skifahren,<br />
Eislaufen, Reiten, am Strand oder auf einer<br />
Wiese herumrennen <strong>–</strong> das alles kann sie<br />
mit Noé und Magali nicht oder nur sehr eingeschränkt.<br />
«Und das tut manchmal weh.»<br />
Vor allem wenn der Zweijährige dann erwartungsvoll<br />
fragt: «Mama, laufen?»<br />
Quartett.Das Ehepaar<br />
verbringt jede freie Minute<br />
mit seinen beiden Kindern.<br />
Über 70 Mal Vaterfreuden<br />
zwar<br />
Auch<br />
meist<br />
querschnittgelähmte<br />
andere Fragen im<br />
Männer<br />
Vordergrund<br />
können<br />
<strong>–</strong><br />
neues<br />
wie der<br />
Leben<br />
Zusammenhalt<br />
schaffen. In<br />
der<br />
den<br />
Partnerschaft<br />
ersten Monaten<br />
und die<br />
stehen<br />
geschränkte Sexualität. Wird die Familienplanung jedoch aktuell, fi nden Betroffene umfassende<br />
ein-<br />
Beratung<br />
Tetraplegikern<br />
im Schweizer<br />
ist im Vergleich<br />
Paraplegiker-Zentrum<br />
zu gesunden Männern<br />
(SPZ) Nottwil.<br />
schlechter»,<br />
«Die Spermien-Qualität<br />
sagt Konrad Göcking,<br />
bei Paraleitender<br />
und<br />
Arzt<br />
«Dazu<br />
der<br />
entnehmen<br />
Neuro-Urologie.<br />
wir Sperma<br />
Eine<br />
und<br />
Insemination<br />
untersuchen<br />
oder<br />
es.<br />
eine<br />
Je nach<br />
künstliche<br />
Qualität<br />
Befruchtung<br />
entscheiden<br />
sei<br />
wir,<br />
deshalb<br />
welcher<br />
nötig.<br />
handlung sich die Partnerin für eine Schwangerschaft unterziehen muss.» Das SPZ arbeitet mit<br />
Be-<br />
renommierten<br />
Noch vor 20 Jahren<br />
Frauenkliniken<br />
war dies undenkbar.<br />
zusammen,<br />
Bei<br />
die<br />
einem<br />
den Eingriff<br />
<strong>Kinderwunsch</strong><br />
dann durchführen.<br />
menspende oder eine Adoption. Querschnittgelähmte Männer haben<br />
blieb<br />
seit<br />
den<br />
1995<br />
Paaren<br />
mehr<br />
einzig<br />
als 70<br />
eine<br />
Kinder<br />
Sa-<br />
dank<br />
von aufbereitetem<br />
der modernen<br />
Samen<br />
Fortpfl<br />
in<br />
anzungsmedizin<br />
die Gebärmutterhöhle)<br />
gezeugt. Bis<br />
zahlt<br />
zu<br />
die<br />
drei<br />
Krankenkasse,<br />
Inseminationen<br />
die<br />
(das<br />
künstliche<br />
Einbringen<br />
fruchtung (im Reagenzglas) müssen die Paare hingegen selber bezahlen.<br />
Be-<br />
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