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Vnà – eine Oase der Stille

EIN DORF ALS HOTEL - ZwygArt

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gruen reisen<br />

Sensationelle Atmosphäre. Wenn sich<br />

die Dämmerung über <strong>Vnà</strong> legt, wirds<br />

in den engen Gässchen des Bergdorfes<br />

einsam und beschaulich.<br />

ein dorf als hotel<br />

Zimmer mit Bergromantik, einheimische<br />

Spezialitäten: Das Projekt «Ein Dorf<br />

wird zum Hotel» soll den Ort <strong>Vnà</strong><br />

im Unterengadin vor dem Aussterben<br />

bewahren. Eine Idee mit Tücken.<br />

Text: Christine Zwygart / Fotos: Martina Meier<br />

<strong>Vnà</strong> <strong>–</strong> <strong>eine</strong> <strong>Oase</strong> <strong>der</strong> <strong>Stille</strong><br />

50<br />

51


gruen reisen<br />

Gemächlich fährt das Postauto durch die<br />

en gen Kurven, lässt das Dorf Ramosch hinter<br />

sich und schraubt sich höher den Berg<br />

hin auf. Am Steuer des kl<strong>eine</strong>n Busses sitzt<br />

Chasper Mischol, 59 Jahre alt, wettergegerbtes<br />

Gesicht mit lebhaften Augen, umrankt<br />

von silbernen Haaren und Bart. In breitem<br />

Bünd ner Dialekt meint er: «Schönes Wetter<br />

heute, gell?» Die Kulisse beeindruckt tatsäch<br />

lich mit tiefblauem Himmel, verschneiten<br />

Bergkämmen und schier endlosen Wäl<strong>der</strong>n,<br />

in denen die überzuckerten Tannen wie<br />

Zinnsoldaten in Reih und Glied stehen.<br />

Noch <strong>eine</strong> Spitzkehre und noch <strong>eine</strong>. Dann<br />

ersch<strong>eine</strong>n weit oben am Hang die ersten<br />

Häuser von <strong>Vnà</strong>. Das Bergdorf liegt auf<br />

1600 Metern über Meer und schmiegt sich<br />

an den Sonnenhang. Dank dem milden<br />

Klima ist hier angeblich <strong>der</strong> wärmste Ort<br />

des Engadins. Als Chasper die Tür des Postautos<br />

öffnet, ist davon allerdings wenig<br />

zu spüren. Klirrende Kälte empfängt die<br />

Gäste. «Bainvgnü <strong>–</strong> willkommen», verkündet<br />

er und steigt aus. Hier ist Endstation.<br />

Von jetzt an gehts zu Fuss weiter. Schmale<br />

Gässchen winden sich um Hausecken, und<br />

kein Mensch ist zu sehen. Galant schnappt<br />

sich <strong>der</strong> Buschauffeur das Gepäck, eilt voraus,<br />

bergauf, Richtung Ustaria Piz Tschütta.<br />

Das Restaurant samt Hotel bildet das<br />

Zentrum des Orts. Chasper öffnet die Tür,<br />

tritt ein und setzt sich an <strong>eine</strong>n <strong>der</strong> langen<br />

Tische in <strong>der</strong> Gaststube. S<strong>eine</strong> nächste<br />

Fahrt mit dem «auto da posta» hinunter<br />

ins Tal ist erst in zwei Stunden. Es bleibt<br />

genügend Zeit für <strong>eine</strong> heisse Schoggi.<br />

Das Siebzig-Seelen-Dorf kämpft<br />

mit innovativen Ideen gegen<br />

Abwan<strong>der</strong>ung und Überalterung<br />

Heute leben noch gut fünfzig Einwohner<br />

mit fünfzehn Kin<strong>der</strong>n und fünf Bauernbetrieben<br />

im Dorf. Über die Hälfte <strong>der</strong> alten<br />

Engadiner Häuser dienen als Ferienwohnungen<br />

und stehen die meiste Zeit des<br />

Jahres leer. Wie oft in Bergregionen ziehts<br />

die Jungen ins Unterland, das Dorfleben<br />

schläft langsam ein. In <strong>Vnà</strong> gibts seit den<br />

Sechzigerjahren k<strong>eine</strong> Schule mehr, 1999<br />

schloss <strong>der</strong> Laden s<strong>eine</strong> Türen, kurz darauf<br />

die Poststelle. Was für <strong>eine</strong> Zukunft hat<br />

ein solcher Ort? Das fragten sich vor acht<br />

Jahren die Einheimischen und mit ihnen<br />

<strong>eine</strong> Handvoll Architekten, Künstler,<br />

Kultur- und Tourismus-Spezialisten aus <strong>der</strong><br />

ganzen Schweiz. Zusammen gründeten sie<br />

die Stiftung Fundaziun <strong>Vnà</strong> mit dem Ziel,<br />

Abwan<strong>der</strong>ung und Überalterung zu stoppen.<br />

1 Ein Blick über die verschneiten Dächer<br />

und die Kirche des Bergdorfs. Tagsüber<br />

starten hier Wan<strong>der</strong>er ihre Touren.<br />

2 Chasper Mischol ist Buschauffeur, Maurer<br />

und Eselhalter. Er kennt jeden Winkel in <strong>Vnà</strong>,<br />

schliesslich ist er hier vor 59 Jahren auf die<br />

Welt gekommen. Heute lebt er in Griosch,<br />

zuhinterst im Val Sinestra.<br />

Der Kerngedanke drehte sich dabei um die<br />

Bauruine <strong>der</strong> einstigen Dorfbeiz: Das «Piz<br />

Tschütta», wie das Haus aus dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

heisst, wurde von <strong>eine</strong>r neu gegründeten<br />

Aktiengesellschaft gekauft und mithilfe<br />

privater Investoren sowie <strong>der</strong> Stiftung<br />

saniert. Seit Frühling 2008 ist das stolze<br />

Steinhaus mit s<strong>eine</strong>n fünf Gästezimmern<br />

wie<strong>der</strong> offen. Trotz Umbau wirkt das<br />

Gebäude mit den tiefen Decken und den<br />

knarrenden Holzböden urtümlich. Wem<br />

die Hotel-Atmosphäre nicht behagt, dem<br />

stehen auch bei Einheimischen daheim<br />

Gästezimmer zur Verfügung.<br />

1 2<br />

Das Restaurant begeistert mit lokalen<br />

Schlemmereien, und in <strong>der</strong> «Butia» bieten<br />

Bauern aus <strong>der</strong> Umgebung ihre Waren an,<br />

etwa Honig, Schaffelle o<strong>der</strong> Likör. Bei<br />

Betriebsleiterin Margrit Allenspach laufen<br />

alle Fäden zusammen. Sie bietet im «Piz<br />

Tschütta» vor allem Ruhe suchenden Ehepaaren,<br />

spazierfreudigen Rentnern und<br />

naturverbundenen Jungfamilien ein Feriendomizil.<br />

Fernseher und Telefon sucht man<br />

in den Zimmern vergebens <strong>–</strong> «und darüber<br />

hat sich bis jetzt noch niemand beschwert»,<br />

weiss die Gastgeberin. Das Hotel ist auch<br />

ein Kulturhaus mit Veranstaltungen wie<br />

Kochkursen, Bauchtanz, Ausstellungen, Lesungen<br />

und Filmvorführungen. «Das bringt<br />

vor allem in <strong>der</strong> Zwischensaison Kundschaft;<br />

und manchmal gar so viele Gäste,<br />

dass wir aus Platzmangel auch schon in die<br />

Kirche zügeln mussten.»<br />

Ein Spaziergang durch<br />

das begehbare Wörterbuch<br />

Deutsch <strong>–</strong> Romanisch<br />

Das nächste Skigebiet finden Besucher in<br />

Scuol, dreissig Postauto-Minuten entfernt.<br />

In <strong>Vnà</strong> selber hat es Winterwan<strong>der</strong>wege,<br />

„Ich unterhalte<br />

mich gern<br />

mit den Gästen,<br />

mag aber auch<br />

die Einsamkeit<br />

hier im Dorf.“<br />

Chasper Mischol<br />

die ins Val Sinestra o<strong>der</strong> nach Ramosch<br />

führen und Tagesausflügler anziehen. Am<br />

späten Nachmittag jedoch kehrt Ruhe<br />

ein, geheimnisvoll stehen die st<strong>eine</strong>rnen<br />

Häuser da <strong>–</strong> mit ihren charakteristischen<br />

Bemalungen und den trichterförmigen<br />

Fenstern in den <strong>eine</strong>n halben Meter dicken<br />

Mauern. An vielen Fassaden finden sich<br />

Plakate, die Ferienwohnungen anbieten für<br />

«bellas vacanzas». Wer noch mehr Romanisch<br />

lernen will <strong>–</strong> das Idiom Valla<strong>der</strong>, um<br />

genau zu sein <strong>–</strong>, kann dies mit dem begehbaren<br />

Wörterbuch tun. Farbige Tafeln hängen<br />

an den Häusern, die den Betrachter aufklären:<br />

«Lodar» heisst «loben», «as mas dar<br />

aint» steht für «einmischen». Und wer «far<br />

las bellinas» sagt, meint «schmeicheln».<br />

Buschauffeur Chasper Mischols Muttersprache<br />

ist Romanisch, er wuchs hier in<br />

<strong>Vnà</strong> auf. Damals, vor fast sechzig Jahren,<br />

habe es im Dorf mehr Menschen und weniger<br />

Autos gegeben. «Das Wasser holten<br />

wir am Brunnen draussen. Und mein Vater<br />

war oft mit dem Ochsenkarren unterwegs.»<br />

Chasper selber besitzt vier Esel, mit denen<br />

er Touristen-Trekkings anbietet. Und im<br />

«Piz Tschütta», wo er heute s<strong>eine</strong> Tasse<br />

heis se Schoggi trinkt, tanzte er als junger<br />

Bursche mit den Dorfschönheiten.<br />

Mischol ist Mitgrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stiftung Fundaziun<br />

<strong>Vnà</strong>, sein Heimatdorf liegt ihm am<br />

Herzen. Und er ist stolz darauf, dass die Idee<br />

«Ein Dorf wird zum Hotel» gar ausgezeichnet<br />

wurde: 2008 erhielt das Projekt den<br />

ersten Preis <strong>der</strong> Hans E. Moppert­ Stiftung<br />

für Nachhaltigkeit im Alpentourismus.<br />

Nichtsdestotrotz steckt die Geschäfts idee<br />

in <strong>eine</strong>r Sackgasse, <strong>der</strong> Betrieb ist defizitär.<br />

Ein paar Einheimische vermieten ihre<br />

Zimmer nun problemlos auf eigene Faust,<br />

da <strong>Vnà</strong> an Bekanntheit gewonnen hat.<br />

52<br />

Das Dorf als Hotel www.hotelvna.ch www.fundaziunvna.ch Ausflüge in <strong>der</strong> Umgebung www.ramosch.ch www.tschanueff.ch www.zuort.ch www.scuol.ch www.laregiun.ch www.nationalpark.ch Romanisches Wörterbuch www.grischamania.ch www.pledarigrond.ch<br />

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gruen reisen<br />

1 2 3<br />

1 Isabella Zaugg serviert im «Piz Tschütta»<br />

<strong>eine</strong> Bündner Nusstorte.<br />

2 Im 300 Jahre alten Stübli herrscht <strong>eine</strong><br />

urchige Atmosphäre dank antikem Holztäfer<br />

und <strong>eine</strong>m Kachelofen.<br />

3 Für den kl<strong>eine</strong>n Hunger zwischendurch:<br />

Fleisch- und Käsespezialitäten aus <strong>der</strong><br />

Umgebung.<br />

An<strong>der</strong>e sind weggezogen o<strong>der</strong> ausgestiegen.<br />

Und bei Dritten stimmt die Qualität<br />

<strong>der</strong> angebotenen Kammern nicht.<br />

Gemeindepräsident Victor Peer ist zuversichtlich,<br />

dass sich <strong>eine</strong> Lösung für die verzwickte<br />

Situation finden lässt: «Das Projekt<br />

ist bestechend und könnte den Menschen<br />

im Dorf zumindest <strong>eine</strong>n Teil des Einkommens<br />

sichern.» Die Gemeinde wolle<br />

auf k<strong>eine</strong>n Fall, dass das «Piz Tschütta»<br />

plötzlich wie<strong>der</strong> leer stehe. Er hofft, dass<br />

die Stiftung mithilft, die Zimmer im Dorf<br />

aufzumöbeln. Denn Peer ist überzeugt:<br />

«Wir finden sicher Gäste, die Wert auf ökologische<br />

Aspekte legen und unsere intakte<br />

Landschaft hier schätzen.»<br />

Auch Urezza Famos, die Geschäftsführerin<br />

<strong>der</strong> Piz Tschütta AG, will den Betrieb auf<br />

finanziell gesunde B<strong>eine</strong> stellen. Heute<br />

über nehmen Private die Defizite, doch längerfristig<br />

soll das Hotel schwarze Zahlen<br />

schreiben. Das Geschäftsmodell finde Anklang:<br />

«Die hohe architektonische Qualität,<br />

die gute Küche, das stille Ambiente, <strong>der</strong><br />

nachhaltige Umgang mit Ressourcen und<br />

die Bio-Lebensmittel sind unser Erfolgsrezept.»<br />

Der Verwaltungsrat wolle den Betrieb<br />

vergrössern und so rentabel machen.<br />

Die Verantwortlichen suchen <strong>eine</strong> Bauparzelle<br />

o<strong>der</strong> ein altes Haus, um weitere zwölf<br />

Zimmer zu bauen. Zurück hält sich vorerst<br />

die Stiftung, denn die Betreiber des Hotels<br />

würden engagiert um Lösungen kämpfen,<br />

sagt Elisabeth Michel-Al<strong>der</strong>, Präsidentin<br />

des Stiftungsrates: «Die Verantwortlichen<br />

werden auf uns zukommen, wenn sie Hilfe<br />

erwarten.»<br />

In familiärer Atmosphäre<br />

lassen sich Spezialitäten «da la<br />

regiun» geniessen<br />

Es wird Abend in <strong>Vnà</strong>. Die Hotelgäste<br />

versammeln sich in <strong>eine</strong>m <strong>der</strong> beiden<br />

Stübli im Erdgeschoss. Die über 300 Jahre<br />

alten Zimmer dienten den Hausherren<br />

einst als Wohnzimmer. Auf <strong>der</strong> Karte steht<br />

viel «da la regiun»: Klassiker wie Capuns<br />

o<strong>der</strong> Pizokel. Aber auch Kartoffel- und<br />

Hirschwurst aus Scuol. O<strong>der</strong> Lammhaxen,<br />

geschmort mit Bierra da Tschlin, also mit<br />

Bio-Bier aus dem Nachbardorf.<br />

Wer vom Beizenfenster aus das Dorf betrachtet,<br />

sieht kaum erhellte Fenster. «Sehr<br />

„Wir finden bestimmt Gäste, die<br />

Wert auf ökologische Aspekte<br />

legen und die intakte Landschaft<br />

schätzen.“ Victor Peer<br />

idyllisch, nicht wahr», meint Gastgeberin<br />

Margrit Allenspach und serviert <strong>der</strong> Handvoll<br />

Gäste das Nachessen. Einige Besucher<br />

schwärmen in breitem Züritüütsch von<br />

<strong>der</strong> Privacy hier. Über die Tische hinweg<br />

werden Weintipps ausgetauscht und gute<br />

Ratschläge erteilt: «Ihr wollt nach Scuol ins<br />

Thermalbad? Das ist super! Nehmt <strong>eine</strong><br />

Mütze mit, sonst friert ihr euch im Aussenbad<br />

die Ohren ab.»<br />

Ein Wochenende in <strong>Vnà</strong> wirkt nachhaltig.<br />

Die Ruhe und die Langsamkeit des Tages<br />

sind wohltuend für Geist und Seele. Spätestens<br />

auf <strong>der</strong> Heimreise, im Zug Richtung<br />

Unterland, eingeklemmt zwischen Snowboards<br />

und telefonierenden Teenagern,<br />

sehnt man sich in die Bergwelt zurück. An<br />

den Ort <strong>der</strong> <strong>Stille</strong>, wo nur das Knirschen <strong>der</strong><br />

Schuhe im Schnee zu hören ist. «A revair!»<br />

Auf Wie<strong>der</strong>sehen in <strong>Vnà</strong>.<br />

Entspannende<br />

Tage in <strong>Vnà</strong><br />

Anreise Via Landquart, Scuol und<br />

Ramosch mit dem Zug und Postauto<br />

(ca. 3½ Stunden ab Zürich). Mit dem<br />

Auto durch den Vereinatunnel<br />

(Autoverlad). Hotel Ein Zimmer im<br />

«Piz Tschütta» pro Nacht und Person<br />

ab 104 Franken inklusive Frühstück.<br />

Ausflüge Wan<strong>der</strong> ungen ins Val Sinestra<br />

o<strong>der</strong> nach Ramosch. Schlittelweg nach<br />

Tschlin. Dorfmuseum <strong>Vnà</strong> (im Sommer).<br />

Das nächste Skigebiet befindet<br />

sich in Scuol, ebenso die Bä<strong>der</strong>- und<br />

Saunalandschaft «Engadin Bad».<br />

54<br />

Regionale Spezialitäten www.bieraria.ch guarda-kraeuter.ch Anfahrt www.sbb.ch www.rhb.ch/autoverlad

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