Augsburg
Auf dem Weg zur Wahl des neuen Papstes
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2./3. März 2013 / Nr. 9 nACHrICHt und HIntergrund<br />
KArdInAL odILo sCHerer<br />
Für eine Kirche mit Courage<br />
Elend, Drogen, Werteverfall: Der Erzbischof von São Paulo prangert Missstände an<br />
São Paulos Erzbischof ist kein<br />
Mann der leisen Töne, kein Mann<br />
der Zurückhaltung angesichts der<br />
Not. In seinen Predigten prangert<br />
Odilo Scherer seit Jahren Folter,<br />
Sklavenarbeit, Korruption in Staat<br />
und Politik und das Massenelend<br />
in Brasilien an – und muss dennoch<br />
erleben, dass selbst viele vermeintliche<br />
Qualitätsmedien des<br />
Landes darüber keine einzige Zeile<br />
veröffentlichen. Gesellschaftskritik?<br />
Unerwünscht!<br />
In den vergangenen Jahren war<br />
der deutschstämmige Kardinal, der<br />
als möglicher Nachfolger Benedikts<br />
XVI. gehandelt wird, oft im Vatikan,<br />
traf sich häufig mit dem Papst.<br />
Wie jener besitzt er einen feinen ironischen<br />
Humor, der von allzu vielen<br />
nicht mehr verstanden wird – auch<br />
von den Medien. Stattdessen verbreiten<br />
diese die merkwürdigsten<br />
Gerüchte über den Zustand der Kirche.<br />
Der 63-jährige Scherer schüttelt<br />
den Kopf über die Verschwörungstheorien,<br />
die in brasilianischen Zeitungen<br />
über den Papstrücktritt verbreitet<br />
werden. „Geht es jenen, die<br />
derzeit seltsamste Interpretationen<br />
verbreiten und damit die Gläubigen<br />
empören, um das Wohl der Kirche?“,<br />
fragt der Kardinal. Benedikt XVI. sei<br />
während seiner Amtszeit nur zu oft<br />
– bewusst – nicht verstanden oder<br />
falsch interpretiert worden.<br />
Was gesagt werden muss<br />
raten und Neugierigen über Jesus<br />
Christus – riskierte, nicht verstanden,<br />
ausgelacht, lächerlich gemacht<br />
zu werden. Nur wenige nahmen<br />
Paulus damals ernst.“<br />
Wie der jetzt zurückgetretene<br />
Papst beklagt der Kardinal den allgegenwärtigen<br />
Relativismus: „Heute<br />
leben wir im Zeitalter einer neuen<br />
Kultur ohne solide Wertbegriffe, in<br />
totalem Werte-Relativismus. Das<br />
betrifft sogar religiöse Werte. Diese<br />
neue Kultur ist verwässert! Das ist<br />
die Kultur des totalen Subjektivismus.”<br />
Dies sei die Herausforderung<br />
für eine katholische Kirche, die in<br />
ihrer Geschichte bereits viele Herausforderungen<br />
bestehen musste.<br />
Brasiliens größte Qualitätszeitung<br />
„Folha de São Paulo“ vermerkte<br />
immerhin in einer<br />
Analyse: „Benedikt<br />
XVI. war in 2000 Jahren Kirchengeschichte<br />
vielleicht der kultivierteste<br />
Papst – und jener, der am meisten<br />
Texte verfasste. Sein Schriftwerk ist<br />
vielfältiger und weitreichender als<br />
das aller anderen Päpste. Seine Enzykliken<br />
zeigen die perfekte Kenntnis<br />
der Probleme in der heutigen Welt.“<br />
tödlicher Crack-rausch<br />
Eines dieser Probleme kann Kardinal<br />
Scherer tagtäglich direkt vor<br />
der Kathedrale São Paulos beobachten:<br />
Junge Mädchen und Frauen liegen<br />
hier im tödlichen Crack-Rausch<br />
direkt an der Statue des Apostels<br />
Paulus. „Wir als Kirche haben nicht<br />
die Macht, um mit dem Drogengeschäft<br />
Schluss zu machen, diesem<br />
Geschäft mit dem Tod, wie Papst<br />
Benedikt XVI. sagte“, erklärt Scherer.<br />
Dafür ist das System zu mächtig,<br />
mit dem sich der Kardinal anlegt.<br />
„In der Welt von heute gibt es enorme<br />
wirtschaftliche Interessen, damit<br />
es bei diesem Geschäft bleibt“, analysiert<br />
er. „So viele Menschenleben<br />
werden durch die Drogenkriminalität<br />
vernichtet! Die Kirche verurteilt<br />
das Todesgeschäft und versucht,<br />
möglichst viele zu retten.”<br />
„es ist erschreckend“<br />
Auch das Elend auf den Straßen<br />
der reichsten lateinamerikanischen<br />
Stadt bringt Scherer auf. Seiner Empörung<br />
macht er in großen Zeitungskolumnen<br />
Luft – etwa dann, wenn<br />
Banden wieder einen Obdachlosen<br />
lebendig verbrannt haben. Dabei<br />
müsste bei der wirtschaftlichen<br />
Situation eigentlich keine solche<br />
Not herrschen. „Es ist<br />
erschreckend“, sagt Scherer,<br />
„dass in Ländern wie Indien<br />
und Brasilien Hightech und<br />
schlimmstes Elend nebeneinander<br />
existieren.”<br />
Klaus Hart<br />
Die lateinamerikanischen<br />
Kardinäle im Überblick<br />
Gegenüber unserer Zeitung, die<br />
Scherers Wirken schon mehrfach beleuchtet<br />
hat, bekräftigte der Kardinal<br />
stets die Mission der Kirche. „Diese<br />
Frage hat für mich grundsätzliche<br />
Bedeutung“, pflegte er zu sagen. „Es<br />
geht um immense Herausforderungen<br />
in einer immer komplexeren<br />
Welt. Unsere Aufgabe als Kirche ist<br />
es, angesichts dieser Realität nicht<br />
die Courage zu verlieren, sondern<br />
stets die Initiative zu ergreifen. Wir<br />
müssen uns ohne Angst vor den Risiken<br />
einbringen – und aussprechen,<br />
was gesagt werden muss!“<br />
Die Kirche, meint Scherer, habe<br />
einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft<br />
zu leisten – „hier in São<br />
Paulo für die Stadt, ihre Kultur, auch<br />
im politischen und wirtschaftlichen<br />
Sinne. Ich beziehe mich dabei auf<br />
das Beispiel des Apostels Paulus.<br />
In Athen redete er mit Politikern,<br />
Philosophen, Lite-<br />
São Paulos Erzbischof, der<br />
deutschstämmige Kardinal<br />
Odilo Scherer, nimmt am<br />
Konklave zur Wahl des<br />
neuen Papstes teil.<br />
Foto: Hart