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Bei Nigerias Christen betet die Angst mit

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THEMA DER WOCHE 13./14. April 2013 / Nr. 15<br />

NIGERIA: BOMBEN GEGEN KIRCHE UND STAAT<br />

„Mit dem Islam hat<br />

das doch nichts zu tun“<br />

Terror der Boko Haram: Kein Glaubenskrieg zwischen Christen und Muslimen<br />

Angst, Gewalt und Terror sind in Nigeria allgegenwärtig.<br />

Weg hier!“ Es ist das Letzte,<br />

was Mercy Agbo in<br />

der Kirche hört. Dann<br />

reißt eine gewaltige Explosion<br />

das Vordach nieder. Agbo<br />

nimmt ihre vier Kinder, will nur<br />

noch fort. Doch sie sieht, dass diejenigen,<br />

die schon draußen waren,<br />

wieder zurückdrängen und sich<br />

unter den Bänken verstecken. Was<br />

tun?<br />

Die 50-Jährige fürchtet, die Decke<br />

könnte einstürzen. Deswegen<br />

drängelt sie sich mit ihren Kindern<br />

ins Licht. Als sie draußen sind, als<br />

sie gerettet für den Moment scheinen,<br />

herrscht keine Freude: Mercy<br />

Agbo weiß nicht, wo ihr Mann ist,<br />

der drei Reihen hinter ihr saß. Starr<br />

von Schrecken sehen Agbo und die<br />

Kinder Körperteile auf dem Vorplatz<br />

liegen. Menschen rennen panisch an<br />

ihnen vorbei. Hitze. Rauch.<br />

Hier in Madala, einem Vorort<br />

der nigerianischen Hauptstadt Abuja,<br />

kommt der Anschlag an diesem<br />

Morgen ohne jede Vorwarnung –<br />

keine vorherige Ankündigung von<br />

Terroristen, nichts, was die Menschen<br />

auf die Katastrophe vorbereitet<br />

hätte. Bis zu diesem Tag gab<br />

es hier keine gewaltsamen Angriffe<br />

auf Christen. Deswegen ist die<br />

Stimmung an diesem 25. Dezember<br />

Fotos: Spyra<br />

2011 während der Weihnachtsmesse<br />

gewohnt heiter.<br />

Dann geschieht das Ungeheuerliche:<br />

Die Gläubigen verlassen gerade<br />

die St. Theresa Church, als ein Auto<br />

in die Menge rast, ein Sprengkörper<br />

explodiert und 44 Menschen in den<br />

Tod reißt. Das jüngste Opfer war<br />

ein sieben Monate alter Junge, das<br />

Älteste eine 60-jährige Frau. Durch<br />

die Wucht der Detonation gehen die<br />

Scheiben im Nebenhaus zu Bruch.<br />

Bis heute wurden die Fenster nicht<br />

ersetzt.<br />

In einem Jahr 792 Tote<br />

Fast zeitgleich werden zwei weitere<br />

Kirchen in Nordnigeria angegriffen.<br />

Noch am selben Tag bekennt sich<br />

die radikalislamische Boko-Haram-<br />

Bewegung zu der Anschlagsserie.<br />

Boko Haram hat das Land in den<br />

vergangenen Jahren mit Tod und<br />

Terror überzogen. Bei Schießereien<br />

und Bombenanschlägen kamen<br />

allein 2012 mindestens 792 Menschen<br />

ums Leben. Für den Anschlag<br />

auf die St. Theresa Church konnte<br />

bisher niemand verantwortlich gemacht<br />

werden.<br />

Boko Haram bedeutet in dem<br />

örtlichen Hausa-Dialekt „Westliche<br />

Bildung ist Sünde“. Die Mitglieder<br />

sehen sich selbst als „nigerianische<br />

Taliban“. Die Gruppe entstand um<br />

das Jahr 2000 herum im Norden des<br />

Landes. Damals war es noch eine<br />

lose Protestbewegung, die sich erst<br />

nach und nach radikalisierte und<br />

seither für einen islamischen Gottesstaat<br />

kämpft.<br />

Schätzungen gehen von etwa 300<br />

bis 3000 Mitgliedern der fundamentalistischen<br />

Gruppe aus. Zumeist<br />

sind es ungebildete junge Männer.<br />

Die Gruppe ist zu einer der gefährlichsten<br />

Terrororganisa tionen der<br />

Welt geworden. Sie soll enge Verbindungen<br />

zu den Islamisten in Mali<br />

unterhalten. Boko-Haram-Kämpfer<br />

seien im vergangenen Sommer zur<br />

Ausbildung in AQMI-Lagern in<br />

Mali gewesen, warnen die Vereinten<br />

Nationen.<br />

2009 versuchte die nigerianische<br />

Führung, die Gruppe zu zerschlagen.<br />

Ihr Gründer Mohammed Yusuf<br />

wurde von Polizisten erschossen. Aus<br />

Rache werden seitdem regelmäßig<br />

Polizeistationen und Kirchen angegriffen.<br />

Dass die Terrorgruppe „eines<br />

Tages verschwinden wird“, wie Nigerias<br />

Präsident Goodluck Jonathan<br />

2011 erklärte, ist unwahrscheinlich<br />

– denn derzeit fehlt Polizei und Geheimdiensten<br />

offenbar jeglicher Zugang<br />

zu den Terroristen.<br />

Westliche Medien stellen den<br />

Terror der Boko Haram mitunter als<br />

Glaubenskrieg zwischen Muslimen<br />

und Christen dar. Ein solcher Kampf<br />

der Kulturen aber findet in Nigeria<br />

nicht statt, betonen Experten. „Anders<br />

als in vielen Medien berichtet,<br />

zielen die Anschläge der Boko Haram<br />

in erster Linie auf Muslime,<br />

denen sie ‚Verwestlichung‘ unterstellt,<br />

und auf den Staat“, sagt Toni<br />

Görtz, Nigeriareferent des katholischen<br />

Hilfswerks Missio. „Christen<br />

sind auch Opfer der Terrorakte, aber<br />

nicht das Hauptziel.“<br />

Die Religion ist Vorwand für ganz<br />

andere Absichten. Die Terroristen<br />

nennen ihren Kampf selbst einen<br />

„Dschihad“. Dabei ist es doch vielmehr<br />

ein Feldzug für den Erhalt der<br />

eigenen politischen und wirtschaftlichen<br />

Macht. So wirft die 2015 fällige<br />

Präsidentenwahl ihre Schatten<br />

voraus. Der amtierende Staatschef<br />

ist Christ aus dem Süden. Etwa die<br />

Hälfte der 150 Millionen Nigerianer<br />

sind Muslime, die den Norden als<br />

ihr Stammland betrachten. Christen<br />

machen rund 40 Prozent der Bevölkerung<br />

aus.<br />

Das religiöseste Land<br />

Laut der Studie „Religionsmonitor<br />

2008“ der Bertelsmann-Stiftung<br />

ist Nigeria das religiöseste Land der<br />

Welt. Sein ölreicher Süden ist überwiegend<br />

christlich. Die meist islamischen<br />

Ureinwohner<br />

des Nordens betrachten<br />

christli-

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