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Adventskalender 2013 mit Texten von Prälat Dr. Betram Meier

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wer sich verbrennt für Gott und den Menschen, der bleibt.<br />

Zum Stern gehört die Nacht. Das weiß jeder. Erst in der Nacht kommt<br />

er zum Leuchten. Es fällt auf, dass die Nacht im Leben der Edith Stein eine<br />

wichtige Rolle spielt. Sie arbeitete in der Regel bis tief in die Nacht. Die ganze<br />

Nacht vor ihrer Taufe, die sie <strong>mit</strong> dreißig Jahren empfing, hat sie im Gebet<br />

verbracht. Es scheint, dass die Stunden der Nacht die glücklichsten Stunden<br />

ihres Lebens waren. In ihrem letzten Werk, an dem sie noch an dem Tag,<br />

an dem sie für ihren letzten Weg abgeholt wurde, gearbeitet hat, steht der<br />

Satz: „Im Leben des Herrn waren sicher die glücklichsten Stunden die in stiller<br />

Nacht“. Doch gab es für Edith Stein noch eine Nacht ganz anderer Art. Es ist<br />

die Nacht, die nicht <strong>von</strong> außen kommt, sondern sich <strong>von</strong> innen her ausbreitet.<br />

Von dieser Nacht sagt Edith Stein, sie sei schlimmer als jede andere. Vor<br />

allem diese innere Nacht musste sie bestehen, um die Tür zum eigenen Ich<br />

zu überschreiten und zum Licht der Selbsterkenntnis zu gelangen. Es ist die<br />

Nacht der Zweifel und der Depressionen, die Nacht der Rastlosigkeit und der<br />

Ratlosigkeit. Es ist die Nacht, die dem Menschen den Spiegel der eigenen<br />

Ohnmacht hinhält.<br />

Von ihrem berühmten Lehrer Edmund Husserl, bei dem Edith Stein<br />

studierte und dessen Assistentin sie war, 6 hatte sie gelernt: „Im Wissen<br />

besitzen wir die Wahrheit“. Als sie an ihrer Doktorarbeit über das Problem<br />

der Einfühlung schrieb, wurde sie eines Besseren belehrt. Ihr ging eine<br />

grundlegende Weisheit auf: Die Wahrheit lässt sich nicht erzwingen, auch<br />

nicht <strong>von</strong> einem gescheiten Kopf. Niemand kann wohl wirklich ahnen, wie es<br />

in einer Frau aussah, die sich äußerlich so selbstsicher gab. Sie war gewohnt,<br />

dass man zu ihr aufblickte; innerlich aber plagte sie tiefe Einsamkeit. Was<br />

trägt im Leben wirklich? Wissen, Karriere – das kann doch nicht alles sein! Wer<br />

bin ich eigentlich? Fragen, die sie über vier Jahre lang fesseln und durch eine<br />

Vielzahl innerer Krisen gehen lassen. Wieder ist es eine Nacht im Sommer<br />

1921, vielleicht die bedeutsamste ihres ganzen Lebens: Edith Stein hält sich<br />

bei einer Freundin auf. Abends ist sie allein zu Haus. Wahllos holt sie aus dem<br />

Regal einen dicken Schmöker heraus: „Das Leben der heiligen Theresia <strong>von</strong><br />

Jesus“ (Teresa <strong>von</strong> Avila). Das Buch zählt über fünfhundert Seiten. Sie beginnt<br />

zu lesen – und liest das Buch die ganze Nacht in sich hinein. Und als sie es<br />

am Morgen schließt, stellt sie fest: „Das ist die Wahrheit“. Über dem neuen<br />

Tag geht nicht nur die Sonne auf, sondern auch das Licht der Wahrheit. Die<br />

Wahrheit über sich selbst lichtet sich.<br />

Die Tür zum eigenen Ich ist aufgeschlossen. In dieser Nacht hat Edith Stein<br />

erkannt: Gott ist der einzige Schlüssel, der wirklich auf unser Leben passt.<br />

6 Edith Stein hat ihren Lehrer geachtet und verehrt, sodass an der Universität das Bonmot<br />

unter den Studenten die Runde machte: „Alles träumt vom Busserl, nur Edith<br />

träumt <strong>von</strong> Husserl“.<br />

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