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Adventskalender 2013 mit Texten von Prälat Dr. Betram Meier

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Ich möchte diese Angst vor dem Leben erläutern <strong>mit</strong> der Legende <strong>von</strong><br />

der Kerze, die nicht brennen wollte: Eines Tages kam ein Streichholz zu<br />

einer schönen, schlanken Kerze, die ihren weißen Docht aufrecht in den<br />

Himmel streckte. Das Zündholz sagte zur Kerze: „Ich habe den Auftrag, dich<br />

anzuzünden“. „O nein“, jammerte die Kerze, „nur das nicht. Wenn ich erst<br />

einmal brenne, sind meine Tage gezählt, und niemand mehr wird meine<br />

makellose Schönheit bewundern“. Da fragte das Streichholz: „Willst du denn<br />

dein ganzes Leben lang kalt und hart bleiben? Was ist das für ein Leben?“<br />

„Aber brennen tut doch weh und zehrt an meinen Kräften“, flüsterte die<br />

Kerze unsicher und voller Angst. „Das ist wahr“, entgegnete das Streichholz.<br />

„Aber das ist das Geheimnis unserer Aufgabe: Wir sollen Licht sein. Was ich<br />

dabei tun kann, ist wenig. Ich bin dazu da, Feuer in dir zu entfachen. Du bist<br />

eine Kerze, die für andere leuchten und Wärme schenken soll. Was du dabei<br />

an Kraft hergibst, wird in Licht verwandelt. Du gehst nicht verloren, wenn du<br />

dich für andere hingibst. Andere werden dein Feuer weitertragen. Wenn du<br />

nicht brennen willst, wirst du auch nicht leben“. Da streckte die Kerze dem<br />

Streichholz voller Erwartung ihren Docht entgegen: „Bitte, zünde mich an!“<br />

Und ein warmes Licht umgab sie.<br />

„Bitte, zünde mich an!“ – Wo Licht ist, da ist Leben. Doch was macht das<br />

Eigentliche am Leben aus? Seit jeher haben sich die Ausleger des Gleichnisses<br />

Gedanken darüber gemacht, was wohl <strong>mit</strong> dem Öl gemeint sei. Manche<br />

sahen im Öl die guten Werke, die zum Glauben – dafür stehen die Lampen –<br />

hinzukommen sollen.<br />

Mir gefällt eine Deutung besonders gut, die der hl. Augustinus gegeben<br />

hat. Das Öl ist für ihn das Bild der Liebe. Wenn wir das Öl als Liebe deuten,<br />

dann wird auch klar, warum man die klugen Jungfrauen nicht tadeln sollte,<br />

wenn sie den törichten <strong>von</strong> ihrem Öl nichts abgegeben haben. Vieles kann<br />

man teilen, Brot, Wasser und Wein, Geld und Besitz. Doch wahre Liebe – zu<br />

Gott ebenso wie zu einem Menschen – ist so einmalig, dass man sie nicht<br />

teilen kann und darf. Für das Wachstum der Liebe ist jeder und jede selbst<br />

verantwortlich. Bei der „Kultur der Liebe“ können wir uns nicht vertreten<br />

lassen. Liebe gibt es übrigens auch nicht auf Sparflamme. Und so lässt sich die<br />

religiöse Ölkrise nicht lösen durch „ein bisschen mehr“ an Glaube, Hoffnung<br />

und Liebe.<br />

Warum verweisen eigentlich die klugen Jungfrauen die törichten auf<br />

die Händler, bei denen sie das Öl kaufen sollen? Das ist blanke Ironie. Denn<br />

in der Nacht sind die Läden geschlossen. Das bedeutet: Im entscheidenden<br />

Augenblick können wir nicht kaufen, was wir vorher nie in uns gepflegt und<br />

entwickelt haben. Am helllichten Tag müssen wir besorgen, was uns den Weg<br />

leuchten soll durch die Nacht.<br />

Auch wenn es schon immer Nachtlokale gab, die wahre Liebe lässt sich dort<br />

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