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Adventskalender 2013 mit Texten von Prälat Dr. Betram Meier

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klar, dass es dem Sänger gar nicht so sehr um den Weinbergbesitzer und<br />

ein Grundstück geht. Der Prophet möchte keine desolate Wirtschaftsbilanz<br />

vorlegen, sondern eine tragische Liebesgeschichte erzählen. Die Jesaja<br />

zuhörten, haben das sehr gut verstanden. Denn in Israel war der Weinberg<br />

<strong>von</strong> jeher ein Symbol für die Geliebte. Der Prophet singt also in einer<br />

Männerrunde das Lied <strong>von</strong> der unglücklichen Liebe seines Freundes,<br />

der trotz aller Bemühungen nicht ans Ziel kommt und keine Gegenliebe<br />

erfährt. Die Zuhörer werden aufgefordert, Schiedsrichter zu spielen, und die<br />

Männergesellschaft ist sich einig: Diese Geliebte ist solcher Mühen nicht wert.<br />

Mach Schluss <strong>mit</strong> diesem Verhältnis!<br />

Nur hat die Sache einen Haken. Wir müssen uns noch tiefer einhören in<br />

das Lied. Ohne es zu wissen, haben sich die Männer Jerusalems ihr eigenes<br />

Urteil gesprochen. Denn der geliebte Freund des Propheten, das ist Gott.<br />

Der Weinberg ist das auserwählte Volk, und der Inhalt des Liedes ist das<br />

hoffnungslos verfahrene Verhältnis zwischen Jahwe und Israel.<br />

Dieses Volk, Jahwes Augapfel und Liebling, ist der besungene<br />

hoffnungslose Fall. Gott hat es erschaffen und erwählt. Er hat ihm alle<br />

Hindernisse aus dem Weg geräumt, es geführt, verwöhnt, genährt, beschützt,<br />

die Feinde vertrieben, ein Land geschenkt. Aber alles war umsonst. Er<br />

hat sich als Partner angeboten, sich auf dieses Verhältnis eingelassen. Es<br />

sollte eine Beziehung auf Dauer und <strong>mit</strong> Zukunft sein. Gott liebt dieses<br />

Volk leidenschaftlich. Er ist in die Seinen vernarrt wie ein Verliebter. Darum<br />

verzeiht er ihnen immer wieder. Und immer wieder läuft er ihnen nach, und<br />

immer wieder startet er noch mal einen neuen Versuch. Am Ende schickt<br />

er seinen Sohn und macht sich selbst zum Narren. Doch alles Mühen und<br />

Werben ist umsonst. Je mehr er um die Seinen wirbt, umso spröder tun sie,<br />

desto mehr kehren sie ihm den Rücken zu: ein übles, geradezu neurotisches<br />

Spiel, das Israel treibt <strong>mit</strong> seinem Liebhaber-Gott.<br />

Doch es ist noch nicht aller Tage Abend. Das Lied vom Weinberg bekommt<br />

seine tiefste Variation durch das Neue Testament. Gott macht <strong>mit</strong> seinem Volk<br />

nicht Schluss – trotz allem. Für Israel entsprach das Land der Weintrauben<br />

dem Land der Sehnsucht. Die Rebe <strong>mit</strong> der Weintraube war das Zeichen, das<br />

die Kundschafter aus dem verheißenen Land brachten. „Zu zweit auf einer<br />

Stange“ trugen sie dem wartenden Volk die Traube entgegen und <strong>mit</strong> ihr das<br />

Versprechen des kommenden Glücks, das die Liebe schenkt. Aber auch im<br />

Land der Verheißung muss um das Glück gerungen werden. Nicht das Land,<br />

sondern die Weisung des Herrn ist Garant des Glücks. Auf diese Weise wird<br />

der Weinberg zu einem Bild der Fülle, aber auch der Zerstörung. Den bösen<br />

Winzern (Mt 21, 3-46) wird der Weinberg zum Gericht, doch für alle, die sich<br />

anwerben lassen zur Mitarbeit, selbst für die Arbeiter der letzten Stunde (Mt<br />

20, 1-16), ist er Raum der Lebensfülle.<br />

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