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Altstadt-Süd Nordostbahnhof Galgenhof/Steinbühl

Altstadt-Süd Nordostbahnhof Galgenhof/Steinbühl - Lokales Kapital ...

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5 Jahre „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ | 2003 bis 2008<br />

<strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong><br />

<strong>Nordostbahnhof</strong><br />

<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong>


DAS BUNDESMODELLPROGRAMM<br />

„LOKALES KAPITAL FÜR SOZIALE ZWECKE“<br />

Im März des Jahres 2000 trafen sich die Europäischen<br />

Staats- und Regierungschefs in Portugal<br />

zu einem Sondergipfel und verabschiedeten<br />

die „Lissabon- Strategie“ mit folgenden<br />

Zielsetzungen:<br />

- nachhaltiges Wirtschaftswachstum,<br />

- mehr und bessere Arbeitsplätze,<br />

- engerer sozialer Zusammenhalt in Europa.<br />

Europa soll zu einem wettbewerbsfähigen und<br />

dynamischen Wirtschaftsraum ausgebaut werden.<br />

Um dieses Ziel zu erreichen, entwickelten<br />

die EU-Mitgliedsstaaten eine Vielzahl von Förderprogrammen.<br />

Deutschland startete im Frühjahr<br />

2003 mit dem Bundesmodellprogramm<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“. Das Programm<br />

wird vom Bundesministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und<br />

dem Europäischen Sozialfonds der Europäischen<br />

Union gefördert.<br />

Rahmenbedingungen<br />

Um eine sinnvolle Mittelbündelung in den Kommunen<br />

zu erreichen, wurden als potenzielle<br />

Fördergebiete die am Bund-/Länderprogramm<br />

„Soziale Stadt“ und am komplementären<br />

Modellprogramm „E & C-Entwicklung und Chancen<br />

junger Menschen in sozialen Brennpunkten“<br />

des BMFSFJ beteiligten Kommunen und Quartiere<br />

definiert. Mit der Idee der integrierten Handlungsansätze<br />

sollen durch Städtebauförderung<br />

und nicht-investive Maßnahmen unter Beteiligung<br />

aller gesellschaftlichen Gruppen in gefährdeten<br />

Stadtteilen soziale Defizite behoben werden.<br />

Die Lebensqualität in diesen Stadtteilen<br />

soll erhalten, wiederhergestellt oder verbessert<br />

werden.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ richtet sich<br />

an Menschen, die in den Programmgebieten der<br />

„Sozialen Stadt“ wohnen. Diese Gebiete sind<br />

geprägt von struktureller Benachteiligung, insbesondere<br />

was soziale und berufliche Integration<br />

betrifft.<br />

Die Programmgebiete sind als Lebensmittelpunkte<br />

der Menschen zu verstehen; stadtteilübergreifende<br />

Kooperationen sind daher zu berücksichtigen. In<br />

den Gebieten sind alle – auch nonformale – Orte<br />

des Lernens einzubeziehen, um neue Chancen und<br />

Wege des Kompetenzerwerbs für die und mit den<br />

Menschen in diesen Sozialräumen zu schaffen.<br />

Inhalte des Programms<br />

Im Zentrum des Programms „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ steht die Anregung und Förderung<br />

von lokalen Mikroprojekten bzw. Netzen als Beiträge<br />

zur Aus- und Mitgestaltung der sozialen Infrastruktur<br />

in den Stadtteilen.<br />

Der allgemeine inhaltliche Fokus ist dabei auf den<br />

Erwerb von Qualifikationen zur beruflichen Integration<br />

und von Kompetenzen zur selbstständigen<br />

Lebensbewältigung zu legen. Dazu gehören neben<br />

der beruflichen Eingliederung, der Gründung von<br />

kommunalen Netzwerken gegen Benachteiligung<br />

und dem Aufbau von sozialen Betrieben vor allem<br />

die soziale Integration von Jugendlichen und<br />

Erwachsenen mit Migrationshintergründen.


Ein weiterer Schwerpunkt in der Umsetzung sind<br />

Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung<br />

auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft.<br />

Es sollen demokratisches Verhalten und<br />

ziviles Engagement gestärkt sowie Toleranz und<br />

Weltoffenheit gefördert werden.<br />

Ein wichtiger inhaltlicher Aspekt bei der Umsetzung<br />

des Programms „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ ist die Beachtung der Geschlechterfrage.<br />

Die Chancen von Jungen und Mädchen, Männern<br />

und Frauen, an den öffentlichen Angeboten zu<br />

partizipieren, sind häufig ungleich verteilt. Von<br />

daher muss Gender Mainstreaming neben der<br />

Interkulturalität ein leitendes Prinzip bei der Programmumsetzung<br />

sein.<br />

Umsetzung<br />

Um geeignete lokale Umsetzungskonzepte für das<br />

Programm „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

aufzufinden, wird das Antragsverfahren als ein<br />

Konzeptwettbewerb durch die Regiestelle „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ durchgeführt. Die im<br />

Rahmen des Wettbewerbes eingereichten Anträge<br />

müssen eine Situationsanalyse des Gebietes beinhalten,<br />

die den Bedarf hinsichtlich der vorgesehenen<br />

Projektaktivitäten darlegt.<br />

Die Realisierung der Lokalen Aktionspläne wird<br />

jährlich überprüft, so dass jederzeit die Umsetzung<br />

durch entsprechende Auflagen nachgesteuert<br />

werden kann.<br />

Wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung des<br />

Programms „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

ist die Schaffung einer lokalen Koordinationsstelle.<br />

Aufgabe ist die Erstellung und Koordinierung<br />

des Lokalen Aktionsplans, der die Umsetzung der<br />

beschriebenen inhaltlichen Vorgaben des Programms<br />

zum Ziel hat. Die Zusammenarbeit der<br />

zuständigen Ämter ist verbindlich vorgeschrieben.<br />

Eine Beteiligung der lokalen Wirtschaft und<br />

des Handels durch ihre Kammern ist vorzusehen.<br />

Die Mittelweitergabe vor Ort ist auf maximal<br />

10.000 EUR pro Einzelprojekt begrenzt. Dies<br />

eröffnet die Möglichkeit, mehrere Initiativen im<br />

Stadtteil aufeinander abgestimmt anzustoßen.<br />

Die Kleinprojekte müssen einen gegenüber<br />

bestehenden Projekten abgrenzbaren, identifizierbaren<br />

Inhalt haben.<br />

Eine Bedingung für die Förderung ist, dass die<br />

Entscheidungen über die Vergabe der Mittel<br />

durch die Begleitausschüsse an lokale Akteure<br />

und Initiativen unter Beteiligung der Betroffenen<br />

erfolgen. Weitere Voraussetzungen sind die<br />

Aussicht auf Erfolg und eine erwartete Nachhaltigkeit.<br />

Die entstehenden Strukturen sollen dauerhaft<br />

in den Programmgebieten etabliert werden<br />

können.<br />

Die Mittel für die Projekte sowie die Selbstkosten<br />

der lokalen Koordinierungsstellen sind in<br />

ESF-üblicher Weise vorzufinanzieren und werden<br />

erstattet. Die Höhe der insgesamt zur Bewirtschaftung<br />

zugewiesenen Mittel soll nur im Ausnahmefall<br />

100.000.- EUR pro Jahr überschreiten.<br />

Die Regiestelle unterstützt die Umsetzung des<br />

Programms „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

Das Bundesmodellprogramm „Lokales Kapital für soziale Zwecke “


vor Ort vor allem bei Konzeptualisierung,<br />

Implementierung und Fortschreibung. Sie<br />

repräsentiert nicht nur das Programm nach<br />

außen auf Bundesebene in Abstimmung mit<br />

dem Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />

Frauen und Jugend, sondern führt auch ein<br />

Monitoring durch, um u. a. die Vielschichtigkeit<br />

des Programms dokumentieren zu können.<br />

Die Regiestelle leitet die ESF-Mittel auf der<br />

Basis von Förderverträgen an die ausgewählten<br />

lokalen Koordinationsstellen weiter.<br />

Aufgabe der wissenschaftlichen Begleitung<br />

u. a. durch das Deutsche Jugendinstitut, DJI<br />

ist es auch, aussagefähige Indikatoren zu erarbeiten,<br />

die eine spätere Gesamtevaluation des<br />

Programms ermöglichen.<br />

(siehe dazu Programmkonzept des Bundesministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)<br />

Verlauf<br />

Das auf drei Jahre ausgelegte Modellprogramm<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ entwickelte<br />

sich zu einem äußerst wirksamen Instrument, um<br />

sozialen Benachteiligungen Einzelner zu begegnen,<br />

Menschen zu qualifizieren, ihnen Mut zu<br />

machen und benachteiligte Stadtgebiete passgenau<br />

und äußerst effektiv zu fördern.<br />

In seiner nun insgesamt fünfjährigen Laufzeit hat<br />

das Programm eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte<br />

geschrieben. Die bis dato eher ungewöhnliche<br />

Orientierung auf abgegrenzte Sozialräume,<br />

die Mittelbündelung für investive und<br />

nicht-investive Maßnahmen innerhalb dieser<br />

Gebiete; die Einbeziehung von Bewohner/-innen<br />

der Stadtteile und besonders die Delegation der<br />

Förderverantwortung auf die lokale Ebene aktivierten<br />

die Eigeninitiative der Menschen. Sie<br />

zeigten Motivation, sich innerhalb ihres Umfelds<br />

zu engagieren. Potenziale wurden angestoßen<br />

und freigesetzt. Für die Quartiere wurden gemeinsam<br />

mit kommunalen Verwaltungen Lösungswege<br />

aus den schwierigen wirtschaftlichen und sozialen<br />

Situationen erarbeitet.<br />

Das Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />

Frauen und Jugend kündigte bereits die Neuauflage<br />

des Programms für 2009 an.<br />

Ab Herbst 2008 sollen in Auftaktveranstaltungen<br />

die Fördermodalitäten zur neuen „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“-Programmphase<br />

vorgestellt werden. Für den Dezember 2008 ist<br />

das Antragsverfahren vorgesehen, die Umsetzung<br />

von Mikroprojekten ist ab März 2009<br />

geplant.


FÜNF JAHRE „LOKALES KAPITAL FÜR<br />

SOZIALE ZWECKE“ IN NÜRNBERG<br />

in enger Zusammenarbeit mit dem Amt für Wohnen<br />

und Stadterneuerung Antragstellung, Strukturierung<br />

und Umsetzung von „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“ organisierte. Die vom<br />

Bundesministerium geforderten Synergieeffekte<br />

und Ressourcenbündelungen gelangen nicht<br />

zuletzt Dank der langjähriger Kooperationen und<br />

erprobter integrierter Handlungsansätze beider<br />

Dienststellen. Die Lokale Koordinierungsstelle<br />

hatte freien Zugang zu den Strukturen des Programms<br />

„Soziale Stadt“ und der stadtteilorientierten<br />

Kinder- und Jugendarbeit der Kommune,<br />

zu der referatsübergreifenden Steuerungsrunde<br />

„Soziale Stadt“, zu den Meinungsträgerkreisen<br />

und zu themenbezogenen Arbeitskreisen in den<br />

Stadtteilen.<br />

Mit Zustimmung des Jugendhilfeausschusses<br />

beteiligte sich die Stadt Nürnberg mit ihren drei<br />

Gebieten des Programms „Soziale Stadt“ – <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong>,<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> und <strong>Altstadt</strong>-<br />

<strong>Süd</strong> – im Frühjahr 2003 am Konzeptwettbewerb<br />

und erhielt für die drei lokalen Aktionspläne den<br />

Zuschlag.<br />

Das Jugendamt richtete im Fachbereich „Kinderund<br />

Jugendarbeit, Familienbildung, Erziehungsberatung“<br />

eine Lokale Koordinierungsstelle ein, die<br />

Aus den Meinungsträgerkreisen heraus wurden<br />

die Mitglieder der drei „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Begleitausschüsse bestimmt. Neben<br />

engagierten Bewohner/-innen der Gebiete arbeiteten<br />

hier Vertreter/-innen einzelner Zielgrup-<br />

Fünf Jahre „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in Nürnberg


pen mit sowie Vertreter/-innen wichtiger Einrichtungen<br />

innerhalb der Stadtteile, freier Träger,<br />

des personengeführten Einzelhandels, eines<br />

Wohnungsbauunternehmens, aus dem Schulbereich<br />

und von Elternbeiräten, der Quartiermanagements,<br />

ergänzt durch die gebietszuständigen<br />

Mitarbeiter/-innen des Amtes für Wohnen<br />

und Stadterneuerung.<br />

Die Begleitausschüsse stellten die unverzichtbare<br />

Verbindung in die einzelnen Stadtteile dar.<br />

Sie hatten ein hohes Maß an Verantwortung zu<br />

tragen. Die Ausschüsse waren mit verantwortlich<br />

für die Entwicklung der lokalen Aktionspläne<br />

und damit für die Antragstellung. Sie bezogen<br />

aktuelle Bedürfnisse und Problemlagen in die<br />

Handlungskonzepte ein und konkretisierten die<br />

Zielformulierungen. Sie suchten geeignete Projektträger/-innen<br />

zu relevanten Themen und<br />

begutachteten Mikroprojektanträge. Die Ausschüsse<br />

vergaben die Fördermittel und steuerten<br />

die Einzelprojekte. Zum Programmjahresende<br />

bestimmten die Ausschussmitglieder der Stadtteile<br />

auf der Grundlage der Auswertungen der<br />

auslaufenden Projekte über die folgenden<br />

Schwerpunktsetzungen und die Förderung weiterer<br />

Vorhaben.<br />

Zahlen<br />

Insgesamt wurden im Programm „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“ in Nürnberg in fünf Jahren<br />

164 Projekte mit einer Förderung von 1.086.519<br />

Euro durchgeführt.<br />

Die Projekte nahmen 3.293 Menschen ab 14 Jahren<br />

in Anspruch, davon 1.851 Frauen und 1.442<br />

Männer. Der Altersspiegel zeigt 1.500 Jugendliche<br />

und junge Erwachsene, 1.731 Menschen über 25<br />

Jahren, 62 über 55-Jährige.<br />

Der absolute Schwerpunkt für die Teilnehmer/<br />

-innen war das Thema „BeruflicheOrientierung/<br />

Soziale Integration“ mit 1.705 Interessierten.<br />

Spezifische Angebote für Frauen nahmen 940<br />

Wissbegierige wahr. Projekte für Randgruppierungen<br />

fanden 783 Teilnehmer/-innen, obwohl das<br />

nur in einem der drei Gebiete erklärter Schwerpunkt<br />

war.<br />

Das Ranking der Teilnehmer/-innen zahlen spiegelt<br />

die thematischen Schwerpunktsetzung und<br />

die Höhe der Kosten wider:<br />

• Berufliche Orientierung/Soziale Integration für<br />

Jugendliche und Erwachsene – 356.215 Euro<br />

• Frauenprojekte – 326.086 Euro<br />

• Berufliche Qualifizierung/Existenzgründung für<br />

Männer und Frauen – 298.459 Euro<br />

• Qualifizierung/Übergang Schule und Beruf für<br />

Jugendliche unter 25 Jahren – 274.773 Euro<br />

• Konzepte/Vernetzung/Stadtteilentwicklung –<br />

157.072 Euro<br />

• Männerprojekte – 41.986 Euro<br />

Die durchschnittlichen Kosten pro Teilnehmer/-in<br />

belaufen sich auf 330 Euro pro Mikroprojekt und<br />

Projektjahr.<br />

Während der gesamten Laufzeit brach die Lokale<br />

Koordinierungsstelle fünf Mikroprojekte im Einvernehmen<br />

mit den Träger/-innen ab, weil sie<br />

nach einer Anlaufzeit nicht wie gedacht durchgeführt<br />

werden konnten oder nicht den gewünschten<br />

Erfolg hatten. Ein Projekt wurde in die Obhut<br />

eines anderen Trägers übergeben und endete doch<br />

noch als Erfolgsgeschichte. Ein Projekt war als<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“- Angebot<br />

angemeldet, ging gleich zu Beginn ohne weiteren<br />

Mitteleinsatz durch „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ in die Finanzierung des Trägers über.


„Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

in den Stadtteilen<br />

Obwohl in Gebieten mit besonderem Förderbedarf<br />

einige Problemlagen grundsätzlich identisch sind,<br />

unterschieden sich die Wirkungen und Ausformungen<br />

vor Ort doch zum Teil sehr. Auch die<br />

Zielgruppen in den Fördergebieten sind heterogen.<br />

Um diesem Umstand gerecht zu werden war<br />

es wichtig, die Handlungskonzepte und Maßnahmen<br />

an die Gegebenheiten anzupassen.<br />

Die Lokalen Aktionspläne für die drei Gebiete<br />

<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong>, <strong>Nordostbahnhof</strong> und <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong><br />

spiegelten diese deckungsgleichen<br />

defizitären Lagen und die doch unterschiedlichen<br />

Auswirkungen wider.<br />

Die Programmverläufe in den drei Nürnberger<br />

Fördergebiete mit der Benennung und Darstellung<br />

der jeweiligen Mikroprojekte wurden in<br />

Jahresdokumentationen festgehalten.<br />

Aktionsplan in der <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong><br />

Die <strong>Süd</strong>liche <strong>Altstadt</strong> war 2003 gerade erst in<br />

das Programm „Soziale Stadt“ aufgenommen<br />

worden. Das Gebiet hatte bis dahin nur sehr<br />

wenige vernetzte Strukturen. Gleich zu Beginn<br />

wurde eine Untersuchung vorbereitet, u. a. zur<br />

Erhebung aktueller Sozialdaten, die wiederum als<br />

Handlungsgrundlage für „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ und die Prozesse der Sozialen<br />

Stadt dienen würden.<br />

Anvisiert wurde der Aufbau eines stabilen sozialen<br />

Netzes, um Begegnungsstätten und Aktivitäten<br />

zu schaffen, die die Identifikation der<br />

Bewohner/-innen mit ihrem Stadtteil stärken,<br />

Menschen mit Migrationshintergrund in das<br />

gesellschaftliche Leben integrieren und die<br />

Nachbarschaftshilfe aktivieren sollten.<br />

Dabei sollten die für die Bevölkerung relevanten<br />

Themen wie Arbeitslosigkeit und Armut aufgegriffen<br />

werden. Konzepte zur Abhilfe waren<br />

gewünscht, und die Eigeninitiative der Betroffenen<br />

sollte gefördert werden.<br />

Für die verschiedenen benachteiligten Gruppen<br />

waren nicht genügend gezielte Angebote vorhanden:<br />

Sozial benachteiligte Jugendliche, besonders solche<br />

aus Migrationsfamilien sollten unterstützt<br />

werden, um zu verhindern, dass sie Schule oder<br />

Ausbildung abbrechen.<br />

Die besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffene<br />

männliche Stadtteilbevölkerung brauchte<br />

Beratungsangebote und Berufsfördermaßnahmen.<br />

Das galt auch für soziale Randgruppen wie<br />

Obdachlose oder Punks, für die vor allem konkrete<br />

Jobangebote wichtig waren. Konzepte hierfür<br />

sollten in Abstimmung mit den betreuenden Einrichtungen<br />

erstellt werden.<br />

Die in der südlichen <strong>Altstadt</strong> arbeitenden Prostituierten<br />

wünschten sich gezielte Maßnahmen,<br />

die ihnen langfristig einen Berufsausstieg<br />

ermöglichen sollten.<br />

Fünf Jahre „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in Nürnberg


Mikroprojekte in der <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong><br />

Nach fünf Jahren als Programmgebiet „Soziale<br />

Stadt“ und „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

entwickelt sich in der südlichen <strong>Altstadt</strong> ein<br />

regeres „Stadtteil-Leben“. Das seit Mai 2006<br />

agierende Quartiermanagement greift die im<br />

Rahmen der Programme angestoßenen Fragestellungen<br />

und Entwicklungen auf.<br />

Durch gezielte Angebote für die unterschiedlichen<br />

Zielgruppen in der <strong>Altstadt</strong> <strong>Süd</strong> verbessern<br />

sich einerseits die Lebenssituationen der<br />

Betroffenen. Zum zweiten erweitern sich endlich<br />

die sozialen Netzwerke für die Gruppierungen.<br />

Der Aktionsplan ging von Anfang an konform<br />

mit den Handlungsansätzen der „Sozialen Stadt“<br />

für die <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong>, der Begleitausschuss aktualisierte<br />

und akzentuierte die Zielrichtungen.<br />

In der fünfjährigen Programmlaufzeit wurden in<br />

der <strong>Altstadt</strong> <strong>Süd</strong> 52 Mikroprojekte mit 373.103<br />

Euro realisiert, an denen 1.231 Menschen teilnahmen.<br />

Die Zielgruppen nach Gewichtung waren<br />

1.) Randgruppen, 2.) Frauen, 3.) Jugendliche am<br />

Übergang Schule – Beruf und 4.) Gewerbetreibende<br />

im Gebiet.<br />

Schwerpunkte der Projekte waren<br />

• 20 „Randgruppenprojekte“ –<br />

mit 671 Teilnehmer/-innen<br />

• 18 Projekte der „Beruflichen Orientierung und<br />

Sozialen Integration“ mit 969 Teilnehmenden<br />

• 17 „Frauenprojekte“ – mit 383 Teilnehmerinnen<br />

• 15 Projekte zur „Vernetzung, Konzept- und<br />

Stadtteilentwicklung“<br />

Die finanzielle Verteilung der Projektmittel nach<br />

Themen war:<br />

• „Berufliche Orientierung/Soziale Integration“ –<br />

129.769 Euro<br />

• „Frauenprojekte“ – 128.366 Euro<br />

• „Konzepte/Vernetzung“ – 100.403 Euro<br />

• „Berufliche Qualifizierung/Existenzgründung“ –<br />

85.248 Euro<br />

• „Qualifizierung/Übergang Schule – Beruf“ –<br />

57.683 Euro<br />

• „Projekte für Männer“ – 15.000 Euro


Besonders hervorstechend in der <strong>Altstadt</strong> <strong>Süd</strong><br />

sind „Randgruppen“ als wichtige Zielgruppe, der<br />

Überbegriff für Drogenkonsument/-innen, weibliche<br />

Prostituierte, Punks und Obdachlose. Außergewöhnlich<br />

ist ebenso die hohe Zahl an Projekten,<br />

die Konzepterstellungen, Vernetzung und<br />

damit die Stadtteilentwicklung zum Inhalt hatten.<br />

Es entstanden u. a. Konzepte für einen<br />

Beschäftigungsbetrieb, eine Betreuungseinrichtung<br />

für junge Menschen bis 16 Jahre, zur<br />

Gesundheitsförderung von Menschen, die auf der<br />

Straße leben oder für eine neuartige Jugendhilfeeinrichtung.<br />

Ein Novum ist auch, dass trotz vieler<br />

Projekte nur für Frauen insgesamt die Zahl der<br />

männlichen Projektteilnehmer höher war, was sich<br />

hauptsächlich durch die Projekte für Randgruppen<br />

erklärt, wo Frauen nach wie vor weniger in<br />

Erscheinung treten.<br />

Aktionsplan am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

Vorrangiges Ziel war der Aufbau einer gut funktionierenden<br />

sozialen Infrastruktur am <strong>Nordostbahnhof</strong>,<br />

um benachteiligte Menschen und<br />

Familien ausreichend unterstützen zu können.<br />

Dazu mussten verschiedene Konzepte entwikkelt<br />

werden: Am Gemeinwesen orientierte Projekte<br />

sollten die Lebenssituation der Einwohner/-innen<br />

verbessern und ihre Identifikation<br />

mit dem Stadtteil stärken, um so langfristig<br />

einen engeren sozialen Zusammenhalt und vermehrte<br />

Nachbarschaftshilfe entstehen zu lassen.<br />

Kommunikations- und Bildungsdefizite bei Kindern<br />

und Jugendlichen sollten frühzeitig abgebaut<br />

bzw. ganz vermieden werden.<br />

Bereits bestehende arbeitsmarktorientierte<br />

Angebote sollten stärker miteinander verzahnt,<br />

die verschiedenen Einrichtungen besser vernetzt<br />

werden, um durch die gemeinsame Nutzung<br />

von Ressourcen effektiver und effizienter<br />

handeln zu können.<br />

Ein großer Wunsch war die Schaffung neuer<br />

Arbeitsplätze im Stadtteil. Für Jugendliche,<br />

Langzeitarbeitslose und schwer Vermittelbare<br />

sollten niederschwellige Beschäftigungsprojekte<br />

entstehen, etwa bei den Sanierungsmaßnahmen<br />

der wbg Nürnberg GmbH Immobilienunternehmen<br />

im Stadtteil und der Grün- und Freiflächengestaltung.<br />

Frauen brauchten spezielle Beratungsangebote,<br />

Qualifizierungsmaßnahmen und Starthilfen. Um<br />

vor allem bei Frauen mit Migrationshintergrund<br />

familiäre Streitigkeiten zu vermeiden, sollte die<br />

Familienberatung begleitend tätig sein.<br />

Ebenso gezielter Beratung bedurften Männer mit<br />

Migrationshintergrund, um ihnen den Einstieg<br />

oder die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.<br />

Fünf Jahre „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in Nürnberg


Mikroprojekte am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

Viele Bewohner/-innen des <strong>Nordostbahnhof</strong>s,<br />

soziale Einrichtungen und Träger vor Ort nahmen<br />

die Möglichkeiten wahr, die ihnen die Programme<br />

„Soziale Stadt“ und „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“ offerierten. Ein großer Teil<br />

des Wohnungsbestandes wurde von der wbg<br />

generalsaniert, neues Wohneigentum entsteht,<br />

die Schule erhielt Neubauten und wurde zur<br />

Ganztagesschule, ein neuer Hort, ein Kinderund<br />

Jugendhaus und ein Schülertreff entstanden,<br />

der Stadtteiltreff BüNo wurde etabliert,<br />

die erste Jugendkirche Bayerns entsteht, die<br />

Noris Arbeit gGmbH installierte ein Dienstleistungszentrum<br />

und baute eine Stadtteilküche<br />

auf.<br />

Diese schwerpunktmäßig investiven Maßnahmen<br />

bringen nicht nur bauliche, sondern auch<br />

große Veränderungen im Gefüge des Gemeinwesens<br />

mit sich. Die vormals schwach ausgeprägte<br />

soziale Infrastruktur der in sich geschlossenen<br />

Siedlung am <strong>Nordostbahnhof</strong> entwickelt<br />

sich enorm.<br />

Mit der relativ geringen Summe von 345.312<br />

Euro, die über fünf Jahre 54 Mikroprojekte<br />

finanzierte, konnte „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ im Verhältnis sehr viel bewegen und hatte<br />

einen nicht geringen Anteil an der Verbesserung<br />

der Lebenssituation der Menschen im Stadtteil,<br />

insbesondere der 741 Projektteilnehmer/<br />

-innen.<br />

Die Umsetzung des Aktionsplans durch den<br />

Begleitausschuss spiegelt sich in den Schwerpunktsetzungen<br />

wider:<br />

• 21 Mikroprojekte der „Beruflichen Orientierung<br />

und Sozialen Integration“ mit 279 jugendlichen<br />

und erwachsenen Teilnehmer/-innen wurden mit<br />

112.469 Euro gefördert.<br />

• 20 Projekte der „Beruflichen Qualifizierung und<br />

Existenzgründung“, gefördert mit 134.234<br />

Euro, nutzten 242 Frauen und Männer.<br />

• 18 Frauenprojekte zählten 233 Teilnehmerinnen,<br />

unterstützt durch „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ mit 135.310 Euro. Insgesamt<br />

lag der Frauenanteil bei den „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“- Projekten bei 68 %.<br />

• 9 Mikroprojekte der „Qualifizierung/Übergang<br />

Schule – Beruf“ kamen 203 jungen Menschen<br />

unter 25 Jahren zu gute, finanziert mit 62.554<br />

Euro. Der Anteil der unter 25 Jährigen an<br />

allen Projekten betrug 36 %.<br />

• 4 Vernetzungsprojekte zur Unterstützung der<br />

Stadtteilentwicklung wurden mit 36.055 Euro<br />

bezuschusst.


Aktionsplan in <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong><br />

Im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ konnten<br />

in <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong> 2003 bereits positive<br />

Veränderungen erreicht werden, vor allem bei der<br />

Wohnungs- und Wohnumfeldverbesserung und der<br />

Nutzung von Brachflächen.<br />

Auch soziale Träger, Einrichtungen und Initiativen<br />

engagierten sich für die Bewohner/-innen. Einige<br />

Projekte mit der Zielsetzung, Benachteiligungen<br />

für Menschen mit Migrationshintergrund abzubauen<br />

oder ganz zu vermeiden, liefen erfolgreich.<br />

Grundsätzlich musste eine gut vernetzte soziale<br />

Infrastruktur geschaffen werden, um die knappen<br />

Ressourcen möglichst effektiv und effizient einzusetzen.<br />

Darüber wurde ein Bedarf an entsprechenden<br />

geschlechtsspezifisch ausgerichteten Konzepten<br />

identifiziert, die exakt auf die Bedürfnisse der<br />

Zielgruppe zugeschnitten waren.<br />

Die wichtigsten Aufgaben hierbei: Die Kommunikation<br />

zwischen den verschiedenen religiösen<br />

und sozialen Gruppen musste verbessert und ihre<br />

Eingliederung in die Gesellschaft gefördert werden.<br />

Die Isolation von jungen Migrant/-innen<br />

sollte durch Integrationskonzepte in der Schule,<br />

im Stadtteil oder in Freizeiteinrichtungen verhindert<br />

werden.<br />

Als sinnvoll erachtet wurde die stärkere Verzahnung<br />

bereits bestehender Angebote. Soziale<br />

Beratungs- und Freizeiteinrichtungen, Schulen,<br />

Beratungseinrichtungen und berufsfördernde<br />

Institutionen sollten stärker miteinander kooperieren,<br />

um so langfristig ein stabiles soziales<br />

Netzwerk zu schaffen.<br />

Bei Jugendlichen stand die Förderung von<br />

Selbstbewusstsein und sozialer Kompetenz an<br />

erster Stelle. Durch intensive Motivierung und<br />

geschlechtsspezifische Förderung sollte ihnen<br />

der Weg in die Arbeitswelt geebnet werden.<br />

Die Idee war, durch Beratung und Vernetzung<br />

potentieller Ausbildungsbetriebe Lehrstellen zu<br />

schaffen.<br />

Bereits erwerbslos gewordene oder von<br />

Erwerbslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer/-innen<br />

sollten durch spezifische Förderungen und<br />

Qualifizierungsangebote unterstützt werden.<br />

Auch Kleinunternehmen im Gebiet brauchten<br />

Hilfen, um Konkursen vorzubeugen.<br />

Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit war es, breit<br />

angelegte Konzepte zu entwerfen, die die Be-<br />

Fünf Jahre „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in Nürnberg


völkerung besser über Angebote der Ausbildungs-<br />

und Berufsförderung informieren.<br />

Mikroprojekte in <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong><br />

Der Aktionsplan wurde in der Praxis durch<br />

vielfältige Mikroprojekte mit Leben gefüllt.<br />

Insgesamt führten die Projektträger/-innen in<br />

<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong> 58 Mikroprojekte durch,<br />

an denen sich 1.321 Menschen beteiligten.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ stellte zur<br />

Realisierung der lokalen Projektideen 368.104<br />

Euro zur Verfügung.<br />

Im Gebiet kristallisierten sich bereits nach<br />

dem ersten Programmjahr Schwerpunktsetzungen<br />

heraus. Das Hauptinteresse des Begleitausschusses<br />

lag in der Förderung von Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen, in der Herausbildung<br />

sozialer Kompetenzen, der Berufsorientierung<br />

und der vorberuflichen Qualifizierung<br />

Heranwachsender. 787 Projektteilnehmer/-innen<br />

waren unter 25 Jahre alt; also<br />

60 % von allen. 429 junge Menschen wurden<br />

an der Schwelle von der Schule in den Beruf<br />

durch 23 Mikroprojekte begleitet, in die<br />

154.536 Euro flossen.<br />

An zweiter Stelle der Gewichtung mit 20 Mikroprojekten<br />

und 113.977 Euro Förderung stand der<br />

Themenkomplex „Berufliche Orientierung/Soziale<br />

Integration“. Die Projekte mit 457 Teilnehmenden<br />

waren sowohl auf junge Menschen als auch auf<br />

Erwachsene ausgerichtet.<br />

Die „Berufliche Qualifizierung/Existenzgründung“<br />

von Menschen über 25 Jahren wurde in 12 Projekten<br />

mit einer Förderung von 78.977 Euro<br />

unterstützt. Diese Art der Hilfestellung nahmen<br />

403 Personen wahr.<br />

Gender Mainstreaming als Querschnittsaufgabe<br />

und der Schwerpunkt Frauenförderung wurde im<br />

Gebiet mit 12 Frauenprojekten bedacht, für die<br />

der Begleitausschuss ca. 17% der Fördermittel<br />

verwendete. Insgesamt nahmen an allen Mikroprojekten<br />

741 Frauen (56 %) teil. Die drei ausschließlich<br />

für Männer konzipierten Projekte<br />

besuchten 199 Teilnehmer.<br />

Zur Förderung von „Vernetzung und Konzepten<br />

der Stadtteilentwicklung“ fanden nur drei Projekte<br />

statt. Die Verzahnung von Schulen, Unternehmen,<br />

sozialen Einrichtungen u. a. im Programmgebiet<br />

gelang allerdings im Alltag der Mikroprojekte<br />

von Jahr zu Jahr besser. Nicht zuletzt deshalb,<br />

weil die Begleitausschüsse als Bedingung<br />

für die Genehmigung von Mikroprojekten Kooperationen<br />

nachgewiesen haben wollten.


Abschließendes Statement<br />

In fünf Jahren wurden in drei Nürnberger Stadtgebieten<br />

gesamt 3.293 Menschen dabei unterstützt,<br />

sich in ihren Stadtteil, in die Nürnberger<br />

Stadtgesellschaft und in das Berufsleben zu<br />

integrieren. Sie erhielten Motivation, neuen<br />

Mut, Qualifizierung, Zuspruch, Anerkennung. Es<br />

entstanden neue Kontakte, Verbindungen und<br />

Freundschaften. Menschen fühlten sich<br />

gebraucht, als Projekttäger/-innen, aber auch<br />

als Projektteilnehmende, die Dienstleistungen<br />

für und in ihrem Stadtteil erbringen.<br />

Leider ist es sehr schwierig, nach Ende der einzelnen<br />

Mikroprojekte nachzuvollziehen, wie viele<br />

der Teilnehmenden in Ausbildung oder Arbeit<br />

gekommen sind, wie und in welchem Umfang<br />

sich das Leben der Menschen geändert hat.<br />

Denn das sind im Grunde die Wirkungen des<br />

Programms „Lokales Kapital für soziale Zwecke“:<br />

Einkommen sichern, soziale Integration stattfinden<br />

lassen.<br />

Kann „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in<br />

einem Stadtteil Wunder vollbringen? Nein! Aber<br />

es kann mit verhältnismäßig geringen Mitteln<br />

bei Einzelnen und in sozialen Gefügen positive<br />

Veränderungen anstoßen und unterstützen.<br />

Der Ansatz, Kompetenzen in die Quartiere zu<br />

geben, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />

für diese Entwicklungen.<br />

Hinweis:<br />

Bei der Redaktion der vorliegenden Dokumentation<br />

war uns ein geschlechtssensibler Umgang<br />

mit der Sprache wichtig. So haben wir auch in<br />

den meisten Interviews generische Maskulina<br />

(z. B. „Bürger“ oder „Projektträger“, obwohl<br />

auch Frauen gemeint sind) durch geschlechtsneutrale<br />

Formulierungen ersetzt.<br />

Aus Gründen der Authentizität schien es uns<br />

aber bei einzelnen Interviews angemessen, den<br />

Wortlaut unserer Gesprächspartner/-innen unverfälscht<br />

wiederzugeben.<br />

Fünf Jahre „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in Nürnberg


<strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong>


INHALT<br />

<strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong><br />

1 <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong> – zwischen<br />

Denkmalschutz und Moderne<br />

M. Schwendinger<br />

2 Quartiersmanagement und<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

M. Schuster<br />

5 Erfahrungen, die Spuren hinterlassen<br />

M. Krannich-Pöhler und H. Kratzer,<br />

Schulprojekte an der Hauptschule Insel<br />

Schütt<br />

6 Abenteuer Bibliothek<br />

S. Schneehorst, Stadtbibliothek<br />

8 Musik ist mein Leben<br />

Samuel, Teilnehmer des Projekts<br />

„Record Company“<br />

9 Der Weg beginnt immer mit<br />

dem ersten Schritt<br />

D. Dahm, Lilith e. V.<br />

3 Konzentrierte Arbeit, gute Stimmung<br />

S. Schneehorst und H. Kratzer,<br />

Mitglieder des Begleitausschusses<br />

4 Wertvolle Impulse<br />

U. Spitzbarth, mudra<br />

7 Unterwegs in ein neues Leben<br />

Einhorn, Teilnehmer des Filmprojekts<br />

„Unterwegs – Pleiten, Pech und<br />

Punker“<br />

10 Projektreihe LiSA als Modell<br />

für einen Mobilen Gesundheitsdienst<br />

D. Dahm, Lilith e. V.


ALTSTADT-SÜD – ZWISCHEN DENKMALSCHUTZ UND MODERNE<br />

Das Gebiet befindet sich in direkter südlicher<br />

Randlage zur City. Es ist auf der einen Seite<br />

begrenzt durch die Stadtmauer und auf der<br />

anderen Seite durch die angrenzenden Einkaufsstraßen.<br />

Geprägt durch großflächige, kulturelle<br />

und gesamtstädtisch bedeutende Einrichtungen<br />

wie das Germanische Nationalmuseum, das Neue<br />

Museum, einen großen Kinokomplex und das<br />

Polizeipräsidium sowie kleinflächige Wohnbereiche<br />

besteht seine Gewerbestruktur überwiegend<br />

aus kleinen bis mittelgroßen Ladengeschäften,<br />

Ladenhandwerk und Gastronomie und wird von<br />

der Einkaufsgunst als C-Lage angesehen.<br />

Die städtebauliche Struktur des Quartiers ist<br />

geprägt durch den bis zum 2. Weltkrieg weitgehend<br />

erhaltenen mittelalterlichen Stadtgrundriss<br />

und dessen Übernahme im Rahmen des Wiederaufbaus<br />

nach den großflächigen Kriegszerstörungen.<br />

Die wieder errichteten Gebäude fügen<br />

sich – obgleich im Baustil der 50er und 60er<br />

Jahre – in das traditionelle Erscheinungsbild der<br />

<strong>Altstadt</strong> ein. Trotz der starken Zerstörungen ist<br />

außerdem ein hoher Bestand von mittelalterlichen<br />

Gebäuden vorhanden.<br />

In den letzten Jahren waren die Bevölkerungszahlen<br />

des Stadterneuerungsgebiets im gesamtstädtischen<br />

Vergleich rückläufig. Der Anteil der<br />

Familien mit Kindern ging noch deutlicher<br />

zurück. Durch die Nähe zum Bahnhof, dem<br />

Stadtmauergraben und unterstützt durch die<br />

enge verwinkelte Baustruktur der <strong>Altstadt</strong> wurde<br />

der Stadtteil vermehrt als Rückzugsgebiet sozial<br />

schwacher Gruppierungen (u. a. Drogenkonsumierende,<br />

Obdachlose und Punks) genutzt. Die<br />

im Quartier vorhandenen Einrichtungen wie der<br />

Mudra-Drogenhilfe e. V., der Aids-Hilfe e. V.<br />

und andere soziale Einrichtungen (z. B. Lilith<br />

e. V., Wärmestuben e. V., Kassandra e. V., Straßenkreuzer<br />

e. V. und Rampe e. V. ) bemühen<br />

sich speziell auch um diese Bevölkerungsgruppen.<br />

Seit 1999 ist das ca. 56 ha große Gebiet mit<br />

etwa 3.400 Einwohnern und einem Ausländeran-


teil von 27 % Sanierungsgebiet und wurde im<br />

Jahr 2001 in das Programm Soziale Stadt aufgenommen.<br />

Nach den „Ergänzenden Vorbereitenden<br />

Untersuchungen“ im Jahr 2004/2005 ist seit<br />

2006 ein Quartiermanagement damit betraut, die<br />

Handlungsempfehlungen umzusetzen.<br />

Neben der Modernisierung und dem Erhalt des<br />

Baubestandes und der attraktiveren Gestaltung<br />

der Straßen und Plätze wurden mit Hilfe der Fördergelder<br />

denkmalgeschützte Bauwerke vor dem<br />

Verfall gerettet. Die im Programm vor allem vorgesehenen<br />

Gelder für bauliche Maßnahmen kommen<br />

auch sozialen Einrichtungen zugute,<br />

wodurch deren Beratungsangebote räumlich<br />

erweitert werden kann.<br />

Im Bereich Beratung und Förderung konnte<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in den vergangenen<br />

Jahren anknüpfen und teilweise eine<br />

Lücke bei den sozialen und pädagogischen Angeboten<br />

schließen. Durch gezielte Unterstützung<br />

von Programmen der sozialen Einrichtungen und<br />

der schulischen Bildung, wurde begleitend auf<br />

die Bedürfnisse der Bevölkerung der <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong><br />

eingegangen. Niederschwellige Orientierungsund<br />

Qualifizierungsangebote für Randgruppen,<br />

Kurse in den Bereichen Kommunikation, Bewerbertraining,<br />

sowie ausbildungsunterstützende Maßnahmen<br />

konnten durch „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ gefördert und umgesetzt werden. Zusätzlich<br />

wurden Grundlagen für weiterführende Konzepte<br />

im Bereich der Wiedereingliederung von Drogenkonsument/-innen<br />

geschaffen. Durch die richtige<br />

Auswahl der Projekte konnte nahezu jede Einrichtung<br />

im Quartier und deren Nutzer/-innen so von<br />

der Unterstützung profitieren.<br />

Damit entsprechen die „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Maßnahmen auch inhaltlich den Zielen der<br />

Stadterneuerung, indem sie für die Bewohner/<br />

-innen neue Perspektiven eröffnen und das Zusammenleben<br />

verbessern. Insofern ist das „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“-Programm eine wertvolle<br />

Hilfe im Stadterneuerungsprozess.<br />

Insgesamt ist durch das Ineinandergreifen der verschiedenen<br />

Programme und der unterschiedlichsten<br />

Projekte wie der Baumaßnahmen zur Verbesserung<br />

des Beratungs- und Wohnungsangebotes (Umbau<br />

und Modernisierung) sowie der Aufwertung des<br />

Wohnumfeldes bereits eine spürbare Verbesserung<br />

der Situation eingetreten.<br />

M. Schwendinger, Amt für Wohnen und<br />

Stadterneuerung<br />

1 <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong> – Zwischen Denkmalschutz und Moderne


QUARTIERMANAGEMENT UND<br />

„LOKALES KAPITAL FÜR SOZIALE ZWECKE“<br />

Das Quartiermanagement <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong> Nürnberg hat<br />

im Mai 2006 seine Arbeit im Stadtteil aufgenommen.<br />

Die südliche <strong>Altstadt</strong> ist ein Gebiet, das<br />

hauptsächlich durch kulturelle Zentren, Einzelhandel<br />

und Gewerbe gekennzeichnet ist. Es halten sich dort<br />

viele Menschen auf, die sozial benachteiligten Gruppen<br />

angehören. Für das Quartiermanagement sind<br />

deswegen die wichtigsten Handlungsfelder Einzelhandel<br />

und Gewerbe, die Punkerszene, das Rotlichtmilieu,<br />

Menschen mit Suchtproblematik und die<br />

Obdachlosensituation.<br />

In der südlichen <strong>Altstadt</strong> haben sich eine Reihe von<br />

Versorgungseinrichtungen für die verschiedenen<br />

sozialen Randgruppen und Szenen etabliert. Die<br />

Angebote reichen von der aufsuchenden Arbeit über<br />

Beratung und lebenspraktische Hilfen bis zu Aufenthaltsorten<br />

tagsüber und nachts. Ohne die Arbeit<br />

dieser Einrichtungen wären Armut und Benachteiligung<br />

im öffentlichen Raum wesentlich sichtbarer.<br />

Ziel des Quartiermanagements war und ist es, die


Arbeit dieser Einrichtungen zu unterstützen und<br />

deren Vernetzung und Zusammenarbeit zu fördern.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekte<br />

haben in verschiedenen Bereichen maßgeblich<br />

dazu beigetragen, dass sich die Situation der<br />

Menschen, die sich im Stadtteil aufhalten, verbessert<br />

hat und eine gemeinsame Arbeit der Einrichtungen<br />

und Gruppen möglich werden konnte.<br />

So haben sich in 2007 auf Initiative des Quartiermanagements<br />

verschiedene im Stadterneuerungsgebiet<br />

<strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong> aktive Einrichtungen<br />

der sozialen Arbeit zum Kooperationsprojekt<br />

KoKoN (Kommunale Kooperation Nürnberg – <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong>)<br />

zusammengeschlossen. KoKoN entwikkelt<br />

derzeit ein Netz aus differenzierten Qualifizierungs-<br />

und Beschäftigungsangeboten und<br />

Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Kompetenz.<br />

Durch die Zusammenarbeit im Verbund<br />

können erstmals alle sozial benachteiligten<br />

Gruppen erreicht werden (Prostituierte, Menschen<br />

mit Drogenproblematik, Wohnungslose, Migrant/<br />

-innen, Langzeitarbeitslose, Jugendliche auf der<br />

Straße, Menschen mit Behinderung und psychischen<br />

und somatischen Erkrankungen). Die Kooperationspartner/-innen<br />

wollen mit der Entwicklung<br />

und Erprobung innovativer Modelle diesen Menschen<br />

neue Lebensperspektiven eröffnen und zu<br />

ihrer Entstigmatisierung und Integration im Quartier<br />

beitragen.<br />

Das Modellprojekt KoKoN hatte eine Vorlaufzeit, in<br />

der die einzelnen Gruppen spezifische Konzepte<br />

und Angebote zur Qualifizierung und Beschäftigung<br />

entwickelten. Für viele der Einrichtungen war<br />

dies nur durch die Unterstützung durch „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“- Gelder möglich. Beispielsweise<br />

wurde von Lilith e. V. ein differenziertes<br />

sozialpädagogisches Konzept für die Eröffnung<br />

eines Second-Hand-Landes für Damenoberbekleidung<br />

erarbeitet. Im Rahmen eines „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“-Projekts konnte die Drogenhilfe<br />

2 Quartiermanagement und „Lokales Kapital für soziale Zwecke“


mudra e. V. ein Job-Büro als Beratungs- und<br />

Qualifizierungsangebot für Drogenkonsument/-innen<br />

einrichten. Die Prostituiertenhilfe<br />

Kassandra e. V. vermittelte mit dem „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“-Projekt „Actagain“<br />

Computer- und Bewerbungstechniken<br />

für Austeigerinnen aus der Prostitution.<br />

Zur Optimierung der Situation der Gewerbetreibenden<br />

im Quartier hat das QM gemeinsam<br />

mit Mitarbeiter/-innen der „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“-Projekte „Praktikumsoffensive<br />

in der <strong>Süd</strong>lichen <strong>Altstadt</strong>“ von<br />

ExAM (Externes Ausbildungsmanagement) und<br />

„Aufsuchende Unternehmensberatung“ vom<br />

AAU e. V. (Ausbildungsring ausländischer<br />

Unternehmer e. V. ) Befragungen der Gewerbetreibenden<br />

in der Färber- und in der Ludwigstraße<br />

durchgeführt und einen umfassenden<br />

Ergebnisbericht mit Handlungsempfehlungen<br />

für das Amt für Wohnen und Stadterneuerung<br />

bzw. die Stadt Nürnberg erarbeitet.


Mit dem Projekt „Kunterland“ unterstützt das<br />

Quartiermanagement derzeit den Aufbau einer<br />

Tagesbetreuung für junge Menschen bis 16 Jahre<br />

mit integrativer und interkultureller Zielsetzung.<br />

Den spezifischen Problemen von Migrantenfamilien,<br />

insbesondere der sprachlichen, sozialen und<br />

gesellschaftlichen Integration deren Kinder und<br />

damit auch der daraus resultierenden Bildungsbenachteiligung<br />

der Heranwachsenden soll<br />

gezielt Rechnung getragen werden. Träger der<br />

Tagesstätte ist der gemeinnützige Verein „Kleine<br />

Räuber“, der 2006 hauptsächlich von Migrantenfamilien<br />

gegründet wurde. In Kooperation mit<br />

dem Ausbildungsring Ausländischer Unternehmer<br />

e. V. sollen vor allem Unternehmer/-innen und<br />

Existenzgründer/-innen sowie Auszubildende mit<br />

Migrationshintergrund profitieren. Durch die<br />

hohe Flexibilität der Einrichtung in den Öffnungszeiten<br />

und ein besonderes Augenmerk auf<br />

die spezifische Situation der Eltern, soll insbesondere<br />

Müttern und dabei vor allem Alleinerziehenden<br />

die Integration in den Arbeitsmarkt<br />

erleichtert werden. Mit Hilfe von „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“-Geldern war es möglich,<br />

die pädagogische Konzeption für die Kindertagesstätte<br />

zu erstellen und die Vereinsmitglieder<br />

bei der Finanzierungsplanung und Gebäudesuche<br />

zu unterstützen.<br />

Mit dem Projekt „Rampe e. V. “ kann seit 2008<br />

eine regelmäßige Beratung für jugendliche<br />

Obdachlose realisiert werden. Auch das Wohnund<br />

Beschäftigungskonzept für diese Zielgruppe<br />

soll zeitnah umgesetzt werden.<br />

Insgesamt trugen die „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Maßnahmen nicht nur dazu bei, dass<br />

innovative Konzepte zur Verbesserung der Situation<br />

benachteiligter Gruppen im Stadtteil entwickelt<br />

und umgesetzt werden konnten. Auch<br />

die Situation der Gewerbetreibenden wurde in<br />

den Fokus genommen und gleichzeitig neue Perspektiven<br />

für Jugendliche auf der Suche nach<br />

einem Ausbildungsplatz eröffnet. „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“-Maßnahmen leisteten<br />

somit einen wichtigen Beitrag zur Aufwertung<br />

und nachhaltigen Entwicklung der <strong>Süd</strong>lichen<br />

<strong>Altstadt</strong>.<br />

Martina Schuster, QM <strong>Altstadt</strong> <strong>Süd</strong><br />

2 Quartiermanagement und „Lokales Kapital für soziale Zwecke“


KONZENTRIERTE ARBEIT, GUTE STIMMUNG<br />

Der Begleitausschuss (BGA) ist ein unverzichtbarer<br />

Bestandteil von „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“, denn er ist das Gremium,<br />

das die Entwicklungen und Ziele im<br />

Stadtteil vorgibt, Projekte genehmigt, finanziert<br />

und steuert. Bibliothekarin Susanne<br />

Schneehorst und Lehrer Helmut Kratzer waren<br />

Mitglieder im Begleitausschuss <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong>.<br />

Mit welchen Erwartungen sind Sie<br />

in die erste Sitzung gegangen?<br />

Schneehorst: Ich war zuallererst neugierig,<br />

welche Projekte beantragt wurden. Und es hat<br />

mich gereizt, über den Begleitausschuss mitbestimmen<br />

zu können, was gefördert wird.<br />

Kratzer: Bei mir stand die Neugier im Vordergrund,<br />

welche Personen als Vertreter/-innen<br />

welcher Organisationen ebenfalls im BGA sind<br />

und was die eigentliche Aufgabe des BGA überhaupt<br />

ist. Daraus entwickelte sich bei mir die<br />

Frage, wie ich als Vertreter einer Schule, die<br />

von diversen Projekten profitieren sollte, dennoch<br />

eine neutrale Haltung gegenüber allen<br />

Projekten einnehmen kann.<br />

Waren Sie mit der Zusammensetzung<br />

im Begleitausschuss zufrieden?<br />

Schneehorst: Ja, es war eine gute Mischung,<br />

ohne besondere Schwerpunkte auf der einen<br />

oder anderen Thematik.<br />

Haben die Mitglieder des Begleitausschusses<br />

die Bedarfe für den Stadtteil<br />

ähnlich definiert?<br />

Schneehorst: Ja, es ging immer um den Stadtteil,<br />

nicht um Profilierungen der einen oder<br />

anderen Art.<br />

Kratzer: Es gab durch die Vorsitzenden zu<br />

jedem Projekt im Hinblick auf realistische Zielsetzung,<br />

klare Finanzierung und Nachhaltigkeit<br />

eine Vorinformation, auf der manchmal sicher<br />

konträr diskutiert wurde. Außerdem wurde des<br />

öfteren ein/e Vertreter/-in des Projektträgers<br />

zur Sitzung eingeladen, um weitere Angaben<br />

zum Projekt machen zu können. Die Abstimmungen<br />

beruhten auf Mehrheitsentscheid nach<br />

ausreichender Infolage.


Nach welchen Kriterien haben Sie im BGA<br />

vorgeschlagene Projekte bewertet?<br />

Kratzer: In erster Linie, ob die formulierten Ziele<br />

realistisch sind: Werden die Aktionen den angesprochenen<br />

Personenkreis erreichen? Wie viele Personen<br />

erhalten durch das Projekt die Chance, in<br />

ihrer Lebenssituation eine Verbesserung herbeizuführen?<br />

Wie nachhaltig ist diese Veränderung?<br />

Entscheidend war aber auch, in welchem Verhältnis<br />

die Kosten zum erwarteten Nutzen stehen.<br />

Hat der Begleitausschuss die Projekte<br />

auch nach der Bewilligung begleitet?<br />

Kratzer: Allgemein haben die Vorsitzenden des<br />

BGA den Ablauf aller Projekte verfolgt, standen<br />

bei Problemen mit Rat zur Seite. Als Lehrer habe<br />

ich die an unserer Schule durchgeführten Projekte<br />

organisatorisch begleitet und Möglichkeiten der<br />

Weiterführung mit anderen Schülergruppen<br />

gesucht, Kolleg/-innen informiert und versucht<br />

zur Mitarbeit zu animieren.<br />

Hat der BGA zu neuen Vernetzungen<br />

unter den Projektträgern geführt?<br />

Kratzer: Ja; und bereits vorhandene Kontakte<br />

wurden vertieft.<br />

Schneehorst: Sicherlich, auch wenn diese Vernetzung<br />

für die Stadtbibliothek nicht institutionell<br />

geworden ist – man kennt sich halt besser<br />

und weiß, wer bei Bedarf angesprochen werden<br />

könnte.<br />

Bestehen diese Kontakte auch über<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

hinaus?<br />

Kratzer: Als Schule haben sind wir bestrebt,<br />

möglichst viele Kontakte zu pflegen, sofern diese<br />

die schulische Arbeit unterstützen. Ein Beispiel<br />

ist die Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek.<br />

Wie war die Stimmung im Begleitausschuss?<br />

Schneehorst: Durchwegs gut. Ich erinnere ich<br />

mich an die gute Stimmung und Laune auf allen<br />

Sitzungen. Es wurde trotzdem nicht gefaselt,<br />

sondern sehr eng am Thema diskutiert.<br />

Wie hat sich Ihre Mitarbeit im Begleitausschuss<br />

auf Ihr persönliches Engagement<br />

ausgewirkt?<br />

Kratzer: Das Engagement unseres gesamten Kollegiums<br />

ist bereits sehr hoch. Meine Mitarbeit<br />

im BGA ist nur ein Baustein des Ganzen.<br />

Ist Ihnen eine Sitzung des BGA<br />

besonders in Erinnerung geblieben?<br />

Kratzer: Alle Sitzungen waren gut organisiert,<br />

verliefen auch bei unterschiedlicher Meinung<br />

relativ harmonisch. Deshalb bleibt mir die Mitarbeit<br />

im BGA insgesamt in sehr guter Erinnerung.<br />

Was haben Sie durch Ihre Arbeit im<br />

Begleitausschuss gelernt?<br />

Schneehorst: Wie lebendig der Stadtteil ist –<br />

das sieht man nicht, wenn man einfach nur<br />

herumläuft.<br />

3 Konzentrierte Arbeit, gute Stimmung


WERTVOLLE IMPULSE<br />

Der Verein mudra – Alternative Jugendund<br />

Drogenhilfe hat seit 1985 Beschäftigungs-<br />

und Qualifizierungsprojekte für<br />

ehemalige und akute Drogenkonsument/-<br />

innen im Angebot. Frau Spitzbarth koordiniert<br />

die Arbeitsprojekte der mudra.<br />

Die mudra hat in den Jahren 2004 bis<br />

2008 vier „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Projekte durchgeführt, die das<br />

Ziel hatten, drogenabhängigen Frauen und<br />

Männern bei der Entwicklung von Perspektiven<br />

auf dem Arbeitsmarkt zu helfen.<br />

Waren die Projekte erfolgreich?<br />

Ja, unbedingt. Vor allem die Einrichtung des<br />

Jobbüros mitten in der Szene, in unserem Kontaktladen<br />

in der Ottostraße, war ein großer<br />

Erfolg. Diese Nähe hat unsere Angebote für<br />

unsere Zielgruppe besser sichtbar gemacht.<br />

Arbeitsprojekte gibt es bei der mudra<br />

schon seit 1985 ...<br />

Das ist richtig, aber für unsere Klient/-innen ist<br />

es mit einem gewissen Aufwand verbunden, die<br />

Angebote zur beruflichen Qualifizierung der<br />

mudra zu erreichen. Die mudra selbst stellt in<br />

eigenen Programmen knapp 80 Arbeitsplätze zur<br />

Verfügung, darunter Ausbildungsplätze, Vollzeit-,<br />

Teilzeit- und Zuverdienststellen. Daneben gab es<br />

immer die Möglichkeit, sich mit Themen rund um<br />

Qualifizierung und Berufseinstieg an die Beratungsstelle<br />

zu wenden. Aber diese Angebote<br />

haben keine unmittelbare Präsenz in der Szene.<br />

Interessenten müssen sich aktiv darum bemühen,<br />

z. B. Ansprechpartner/-innen und Telefonnummern<br />

erfragen. Sie müssen einen Termin ausmachen<br />

und in die Sturmstraße kommen. Diese<br />

Hürden sind nicht für alle überwindbar.<br />

Das Jobbüro hingegen holt die Klient/-innen in<br />

ihrem Lebensumfeld ab. Es liegt mitten in der<br />

Szene, in unserer Anlaufstelle in der Ottostraße.<br />

Da gibt es auch ein Café, die Besucher/-innen<br />

können sich duschen und ihre Wäsche waschen.<br />

Das ist ein in der Szene akzeptierter Treffpunkt.<br />

Für unsere Klient/-innen sind wir dadurch viel<br />

leichter zu erreichen.<br />

Und auch für die ARGE sind wir durch diesen<br />

zentralen Anlaufpunkt viel greifbarer geworden.<br />

Sie schicken ihre Leute zu uns in die Bewerbersprechstunde.<br />

Die Synergien mit der ARGE wurden<br />

dadurch erheblich ausgebaut.<br />

Das klingt alles einleuchtend. So einleuchtend,<br />

dass sich die Frage aufdrängt: Warum<br />

sind Sie nicht schon eher auf die Idee mit<br />

dem Jobbüro vor Ort gekommen?<br />

Sind wir ja. Es ist nicht so, dass die Idee völlig<br />

neu war. Während unserer Arbeit entstehen sehr


viele Ideen für neue Projekte. Aber für die<br />

Weiterentwickung und Umsetzung brauchen wir<br />

vor allem Personal und Zeit.<br />

Insofern war „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

ein guter Anstoß.<br />

Haben Sie von der Begleitung durch „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ profitiert –<br />

abgesehen von der finanziellen Förderung?<br />

Ja, unbedingt!<br />

Inwiefern?<br />

Gar nicht so sehr, was den Kern der Projektidee<br />

angeht; aber es ist eine sehr wertvolle Hilfe,<br />

wenn ein Konzept so präzisiert werden muss,<br />

dass es einer Prüfung durch Externe standhält.<br />

Wenn das Konzept diskutiert und für umsetzungsfähig<br />

befunden wird. Das bestärkt auch<br />

den Glauben daran, dass man mit der Idee richtig<br />

liegt.<br />

Als nachhaltig würde ich auch die Synergieeffekte<br />

beurteilen, die sich im Zusammenhang mit dem<br />

Projekt ergeben haben, und die natürlich über die<br />

Förderperiode hinaus bestehen. Etwa mit der<br />

ARGE, aber auch mit dem Intergrationsfachdienst<br />

und mit einigen Nürnberger Unternehmen.<br />

Mehrere Projekte hatten das Ziel, Bewohner/-innen<br />

des Stadtteils beruflich weiterzuqualifizieren<br />

und sie zu berufsrelevanten<br />

Themen zu beraten, damit sie eine bessere<br />

Lebensperspektive entwickeln können. Gab<br />

es einen Austausch mit anderen Projektträgern,<br />

etwa Kassandra oder Lilith?<br />

Ja, aber eher in Bezug auf die formalen Aspekte,<br />

also etwa das Antragsverfahren. Nicht so sehr<br />

inhaltlich, denn auch wenn einige Projekte die<br />

berufliche Qualifizierung und den Berufseinstieg<br />

zum Inhalt hatten, unterscheiden sich doch die<br />

Rahmenbedingungen und Ansätze der beteiligten<br />

Projektträger.<br />

allgemeine Fragen zu Projekten und Programmen.<br />

Die mudra war von 2004 – 2008 an<br />

Projekten beteiligt. Wie beurteilen Sie<br />

zusammenfassend die Chancen und Grenzen<br />

von „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

als Förderprogramm?<br />

Die zusätzlichen, durch „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ initiierten Projekte waren ein wertvoller<br />

Impuls. Die Förderung von insgesamt<br />

35.000 EUR gesehen auf den Förderzeitraum von<br />

vier Jahren haben der mudra ermöglicht, unabhängig<br />

vom Tagesgeschäft Projektideen weiter<br />

zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen.<br />

Haben die Projekte für die mudra eine<br />

nachhaltige Wirkung?<br />

Ja. Mit den Projekten haben wir einen Weg<br />

beschritten, der auf jeden Fall fortgesetzt wird.<br />

Weil er sich als zielführend erwiesen hat.<br />

... aber auch die Zielgruppen überschneiden<br />

sich zum Teil ...<br />

Das stimmt, es gibt auch einen Austausch z. B.<br />

mit Lilith, das betrifft aber vor allem konkrete<br />

Problemsituationen einzelner Klientinnen. Weniger<br />

4 Wertvolle Impulse


ERFAHRUNGEN, DIE SPUREN HINTERLASSEN<br />

Die Architektin Monika Krannich-Pöhler führt an<br />

der Hauptschule Insel Schütt Schulprojekte durch,<br />

zuletzt die Neugestaltung des Gartens im Atrium<br />

des Gebäudes. Das Ziel, gemeinsam einen attraktiven<br />

Aufenthaltsbereich zu schaffen, wurde mit der<br />

Möglichkeit einer beruflichen Qualifizierung verknüpft.<br />

Schüler/-innen erhielten die Gelegenheit,<br />

ihre Fähigkeiten im Landschafts- und Gartenbau<br />

auszuprobieren.<br />

Helmut Kratzer ist seit vielen Jahren Lehrer an<br />

der Schule und unterstützte mit großem Einsatz<br />

die „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Schulprojekte.<br />

Können Projekte die Schule verändern?<br />

Kratzer: Außerordentlich. Unsere Schule hat<br />

die Projektarbeit vor ungefähr 15 Jahren<br />

intensiv begonnen. Viele engagierte Lehrer/<br />

-innen haben beschlossen: Wir müssen uns<br />

öffnen, wir müssen auch vom normalen<br />

Unterrichtsalltag wegkommen, wir müssen<br />

andere Unterrichtsplätze aufsuchen.<br />

Das alles hat bewirkt, dass wir eine relativ<br />

aggressionsfreie Schule sind. Es gibt einen<br />

guten klassenübergreifenden Zusammenhalt.<br />

Die Schüler/-innen achten aufeinander. Es<br />

gibt an unserer Schule eine Atmosphäre, über<br />

die andere Schulen sehr glücklich wären.<br />

Krannich-Pöhler: Es müssen mehr Verbindungen<br />

entstehen zwischen Schule und Arbeitswelt,<br />

die Schüler/-innen müssen mehr Erfahrung<br />

bekommen, viele wissen über Berufe<br />

überhaupt nichts. Wie interessant Handwerksberufe<br />

sein können, das erfahren die Schüler/-innen<br />

nur über Projekte oder ähnliche Formen,<br />

wenn man sie aktiv werden lässt.<br />

Was ist das Besondere an<br />

der Projektarbeit?<br />

Krannich-Pöhler: In den Projekten können sich die<br />

Schüler/-innen ganz anders einbringen als im Unterricht.<br />

Bei manchen war ich überrascht, wie hart sie im<br />

Projekt gearbeitet haben, wie der Jakob oder die Denise.<br />

Zuerst machten sie auf mich gar nicht diesen Eindruck.<br />

Jakob ist jetzt in einer Modellbaufirma beschäftigt,<br />

ich konnte ihn mit einer Empfehlung unterstüt-


zen. Die Jugendlichen gewinnen Selbstvertrauen<br />

durch positive Bestätigung, und das ist für viele<br />

eine ganz neue Erfahrung.<br />

Kratzer: Für mich ist es immer wieder erstaunlich<br />

zu sehen, was in diesen jungen Menschen an<br />

Kreativität vorhanden ist, die im regulären<br />

Schulunterricht oftmals gar nicht abgerufen werden<br />

kann. Manchmal muss man nur einen Anstoß<br />

geben.<br />

Ich will den Schüler/-innen andere, neue Perspektiven<br />

aufzeigen, als die, die sie von zu Hause<br />

mitbekommen. Projekte sind gut, weil sie<br />

nicht an der Oberfläche bleiben, weil sie über<br />

das Gesagte hinausgehen. Ich kann zwar mit der<br />

Klasse eine Gärtnerei besuchen, aber das sind<br />

immer nur Ausschnitte. Wenn man aber selbst an<br />

etwas gearbeitet hat, ist die Erfahrung nachhaltiger.<br />

Hinterlässt Spuren in einem. Dann kann<br />

ein Kind sagen: Das interessiert mich, das hat<br />

mir Spaß gemacht, ich kann mir vorstellen, daraus<br />

einen Beruf werden zu lassen. Ein anderes<br />

Kind entscheidet: Nein, das ist nichts für mich.<br />

Auch diese Einsicht ist eine Bereicherung.<br />

Ist es wichtig, für diese Projekte Externe<br />

in die Schule zu holen?<br />

Kratzer: Für die Schüler/-innen ist es spannend,<br />

eine andere Herangehensweise kennen zu lernen,<br />

eine andere Sprache zu hören, eine andere Erklärung<br />

für die Dinge zu bekommen. Die Perspektive<br />

der Lehrkraft kennen sie ja schon.<br />

Krannich-Pöhler: Auf den Lehrer/-innen lastet<br />

schon genug Druck, den Kindern das Curriculum zu<br />

vermitteln, im Unterricht sind die Schüler/-innen<br />

zudem oft ganz anders als in der Projektarbeit,<br />

wie soll da eine Lehrkraft noch zusätzlich zu seinen<br />

Aufgaben herausfinden, welcher Beruf für welche<br />

Person geeignet ist?<br />

Außerdem kann ich ganz konkret helfen, wenn sie<br />

– aktuelles Beispiel – in den Landschafts- und<br />

Gartenbau gehen wollen. Ich rufe in Firmen an<br />

und spreche persönliche Empfehlungen aus. Da bin<br />

ich als Architektin glaubwürdiger, als wenn eine<br />

Lehrkraft anruft.<br />

Projekte funktionieren nur, wenn die Schule sich<br />

wirklich öffnet, wenn die Lehrer/-innen zu Projektarbeit<br />

bereit sind. Die Situation ist für Externe<br />

natürlich immer schwierig am Anfang, das<br />

Vertrauen ist noch nicht da, und da helfen Lehrer<br />

wie Herr Kratzer außerordentlich, die zwischen<br />

Schüler/-innen und Projektleiterin vermitteln.<br />

Glauben Sie, dass eine Wirkung über<br />

die Zeit der Förderung hinaus besteht?<br />

Krannich-Pöhler: Auch wenn das Projekt jetzt<br />

beendet wird, hat es doch eine gewisse Nachhaltigkeit.<br />

Es gibt Listen mit Ansprechpartner/<br />

-innen aus dem Umfeld Bauberufe, die hier in<br />

der Schule bleiben. Einige Firmen sind durch das<br />

Projekt auch den Lehrer/-innen bekannt geworden,<br />

und die Lehrkräfte haben erfahren, dass<br />

man sich mit Anfragen direkt an die Innung<br />

wenden kann.<br />

5 Erfahrungen, die Spuren hinterlassen


Außerdem haben die Schüler/-innen im Projekt<br />

erlebt, wie wichtig es auch für die praktische<br />

Arbeit ist, sich mit Theorie, also mit Unterrichtsstoff,<br />

zu befassen. Wir haben z. B. Maßstabsberechnungen<br />

durchgeführt, das hat den Schüler/<br />

-innen deutlich gemacht, wie wichtig es ist,<br />

etwas von Mathematik zu verstehen. Der Effekt<br />

ist ein ganz anderer, als wenn der Lehrer sagt:<br />

Ich stelle euch jetzt eine Aufgabe.<br />

Ich gehe also davon aus, dass einigen durch den<br />

Praxisbezug klar geworden ist, wofür sie eigentlich<br />

lernen. Und das wird sich auf die Motivation<br />

auswirken.<br />

Frau Krannich-Pöhler: Sie sind Architektin,<br />

Journalistin, Mutter von drei Kindern. Was<br />

motiviert Sie, sich zusätzlich zu all diesen<br />

Aufgaben an der Schule Insel Schütt zu<br />

engagieren?<br />

Krannich-Pöhler: Für mich ist es sehr schön,<br />

wenn ich es schaffe, ein paar jungen Menschen<br />

einen Weg zu zeigen. Ich kann nicht die Welt<br />

bewegen, aber ich kann dazu beitragen, ein<br />

gewisses Selbstwertgefühl in manchem Jugendlichen<br />

zu wecken. Ich kann den Jugendlichen<br />

helfen, Stärken in sich zu erkennen.<br />

Herr Kratzer, Sie erleben unmittelbar den<br />

Erfolg Ihres Engagements, mit jedem jungen<br />

Menschen, der eine Lehrstelle in einem<br />

Wunschberuf bekommt. Halten diese sichtbaren<br />

Erfolge Ihre Motivation hoch?<br />

Kratzer: Unbedingt. Es trägt sehr zur eigenen<br />

Zufriedenheit bei, dass ich in einem guten<br />

Umfeld viel mit den Schüler/-innen entwickeln<br />

und viel für sie erreichen kann. Das hat mir viel<br />

zurückgegeben. Burnout ist für mich ein Fremdwort.<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Während wir im Schulgarten sitzen und reden,<br />

kommt ein ehemaliger Schüler von Herrn Kratzer,<br />

will ihn besuchen, sich mit ihm unterhalten.<br />

Er hat heute Vormittag Zeit, denn er ist krank<br />

geschrieben.<br />

Eine Arbeitsverletzung am Daumen, erklärt er,<br />

er ist zwischen Rohr und Schiene gekommen.<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Was bedeutet für Sie „Soziale Stadt“?<br />

Krannich-Pöhler: Dass man es schafft, dass Menschen<br />

mit schlechteren Chancen mehr Möglichkeiten bekommen,<br />

sich zu integrieren. Dass wir nicht nur eine<br />

Eventkultur haben, sondern auch eine soziale Kultur,<br />

die für alle offen ist; dass wir Schulen haben mit<br />

einem Bildungssystem, das allen eine Chance gibt.<br />

Kratzer: Soziale Stadt heißt für mich, eine Grundlage<br />

zu schaffen für ein gutes, vernünftiges Zusammenleben<br />

zwischen allen Bürger/-innen dieser Stadt.<br />

5 Erfahrungen, die Spuren hinterlassen


ABENTEUER BIBLIOTHEK<br />

Die Bibliothekarin Susanne Schneehorst hat<br />

im Rahmen des durch „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ geförderten Projekts „Job-<br />

Info“ in der zentralen Nürnberger Stadtbibliothek<br />

mehrere Führungen mit Klientinnen von<br />

Kassandra e. V. – Prostituiertenselbsthilfe und<br />

Beratungsstelle – durchgeführt.<br />

Was war denn Sinn und Zweck der Veranstaltung<br />

für Klientinnen von Kassandra?<br />

Das Ziel der Veranstaltung war, den Frauen Wege<br />

zu zeigen, an Informationen zu kommen. Dazu<br />

gehörte auch, ihnen Berührungsängste zu nehmen.<br />

Sie erleben zu lassen: Die Bibliothek ist ein<br />

ganz normaler Ort. Nichts Abgehobenes.<br />

Ich habe einzelne Titel vorgestellt, die bei der<br />

Jobsuche ganz speziell ihrer Situation gerecht<br />

werden. Zum Beispiel Bücher, in denen es darum<br />

geht, wie Lücken im Lebenslauf sinnvoll dargestellt<br />

werden können.<br />

Es war gut, dass ich viel Zeit eingeplant hatte,<br />

denn die Frauen haben sich sehr intensiv mit den<br />

Büchern beschäftigt.<br />

Ein Unterschied zu anderen Bibliotheksführungen<br />

war auch, dass wir Anonymität zugelassen haben.<br />

Die Frauen mussten sich nicht anmelden. Wir<br />

haben ihnen die Bücher einfach so mitgegeben,<br />

ohne dass sie sich vorher registrieren mussten.<br />

Warum war das wichtig?<br />

Eine Anmeldung wäre vielleicht eine Barriere<br />

gewesen. Und wir wollten ja Barrieren abbauen!<br />

Den Verleih konnten wir aus den Sonderbeständen<br />

bestreiten. Möglich war das, weil<br />

mit den Fördergeldern mehrere Sätze der<br />

Bücher angeschafft werden konnten, die nicht<br />

bibliothekarisch bearbeitet waren, also nicht<br />

im Katalog auftauchten. Wir konnten die<br />

Bücher ohne Verbuchung ausleihen.<br />

Waren die Frauen schon aktiv<br />

auf Jobsuche?<br />

Ganz unterschiedlich. Einige haben gesagt:<br />

Ja, wir wollen aus der Prostitution raus, andere<br />

waren nicht auf Jobsuche, sind aber mitgekommen,<br />

weil sie allgemein an der Bibliothek<br />

interessiert waren. In diesen kleinen Gruppen<br />

konnte ich gut auf die Interessen der Teilnehmerinnen<br />

eingehen.


Was hat Sie am Projekt am meisten<br />

beeindruckt?<br />

Die gute Atmosphäre. Es hat besonders viel Spaß<br />

gemacht.<br />

Die Veranstaltung war ja angekündigt und vorbereitet.<br />

So konnten die Frauen unbefangen über<br />

ihre berufliche Situation reden, sie mussten niemandem<br />

etwas vormachen. Die Stimmung war<br />

lockerer als bei anderen Führungen. Wir haben<br />

viel gelacht.<br />

Außerdem waren alle Teilnehmerinnen überdurchschnittlich<br />

interessiert. Sonst gibt es hier kaum<br />

eine geführte Gruppe, in der nicht wenigstens<br />

ein paar Desinteressierte sind. Bei den Frauen<br />

von Kassandra war das nicht so. Alle waren absolut<br />

top dabei.<br />

Wie erklären Sie sich das?<br />

Weil sie freiwillig gekommen sind. Weil die<br />

Bibliothek für sie etwas Abenteuerliches hatte.<br />

Sie waren alle das erste Mal hier. Und es hat<br />

sich jemand nur um sie gekümmert. Die Bibliothek<br />

ist aktiv auf sie zugekommen.<br />

Einige waren von der Bibliothek überrascht.<br />

Sie sind mit einer ganz anderen Erwartung<br />

gekommen.<br />

Was hat die Frauen an der<br />

Bibliothek überrascht?<br />

Dass hier so viel Leben stattfindet. In den<br />

Büchern, aber auch im realen Raum. Auch hier<br />

begegnen sich Frauen und Männer. In der Bibliothek<br />

kann alles passieren. Wir hatten hier sogar<br />

schon einmal einen Exhibitionisten. Irgendwie<br />

sind wir darauf gekommen, und als ich davon<br />

erzählte, lachten alle. Sie fanden das total<br />

komisch, weil sie sich die Bibliothek als heilige<br />

Halle vorgestellt hatten, die die Leute nur aufsuchen,<br />

um sich ernsthaft mit Hochkultur zu<br />

beschäftigen.<br />

6 Abenteuer Bibliothek


UNTERWEGS IN EIN NEUES LEBEN<br />

Der 2004 gedrehte Kurzspielfilm „Unterwegs –<br />

Pleiten, Pech und Punker“ war ein „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“-gefördertes Gemeinschaftsprojekt<br />

von City-Streetwork (Jugendamt<br />

Stadt Nürnberg) und Medienladen e. V.<br />

Das Projekt richtete sich an Jugendliche und<br />

junge Erwachsene aus der Punkszene. Die überwiegend<br />

arbeitslosen und teilweise ohne festen<br />

Wohnsitz lebenden Punks erhielten mit der<br />

Filmarbeit die Möglichkeit, aus ihrem gewohnten<br />

Lebensstil auszubrechen und neue Perspektiven<br />

zu entwickeln. Neben dem Erlernen von<br />

Fertigkeiten wie Kameraführung, Tontechnik und<br />

Regiearbeit war der Film das ideale Projekt, um<br />

Teamfähigkeit und Eigeninitiative einzuüben.<br />

Einhorn Beilner, Punk und Projektteilnehmer,<br />

erzählt vom Dreh.<br />

Einhorn, das ist wohl nicht Ihr<br />

richtiger Vorname?<br />

Nein, den habe ich, seitdem mich einer aus dem<br />

KOMM* vor Jahren wegen meiner Frisur so<br />

genannt hat.<br />

Worum geht es eigentlich in dem Film?<br />

Es ist ein Roadmovie über Punks die unterwegs<br />

zu einem Konzert auf dem Lande sind. Der Film<br />

ist ein Zeitdokument über diese Szene und fängt<br />

die Situation von Punks ein. Das finde ich wichtig,<br />

denn manche Punks, die ich gekannt habe,<br />

leben nicht mehr.<br />

Welche Rolle haben Sie im Film gespielt?<br />

Ich habe Regie geführt. Mit der Punk-Band „Kalte<br />

Krieger“, in der ich spiele, haben wir auch den<br />

Titelsong „Unterwegs“ geschrieben und aufgenommen.<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

*bis 1997 selbstverwaltetes Kommunikations- und<br />

Kulturzentrum in Nürnberg, jetzt K4<br />

Was war das Besondere am Regie führen?<br />

Hatten Sie schon Vorkenntnisse?<br />

Nein, ich hatte davor noch nie Regie geführt. Als<br />

Regisseur ist es wichtig, mit den Menschen am Set<br />

umgehen zu können und alle unter einen Hut zu<br />

bringen. Am Anfang müssen die Leute erst mal<br />

zusammenfinden, wir waren uns ja alle fremd.<br />

Und als Regisseur muss man Anweisungen geben.<br />

Das war manchmal nicht so einfach. Die Kamerafrau<br />

hatte z. B. immer ihre eigenen Vorstellungen.<br />

War es schwierig für Sie, Menschen zu<br />

dirigieren?<br />

Nein, ich war schon gewohnt, Anweisungen zu<br />

geben. Ich habe als Lagerist in der Logistik gearbeitet<br />

und Menschen angelernt.<br />

Wie fanden Sie das Projekt insgesamt?<br />

Es hat eine Menge Spaß gemacht. Und darüber bin<br />

ich noch zu einem anderen Film gekommen. 2006<br />

war ich Darsteller im Film „Frischfleisch“ von Gerhard<br />

Faul vom Medienladen.


Was hat der Film bei den anderen Teilnehmer/-innen<br />

bewirkt?<br />

Das Projekt war für viele eine Gelegenheit, in die<br />

Gänge zu kommen. Viele hatten schon länger nicht<br />

mehr gearbeitet, und da fiel es ihnen schwer, zwei<br />

Tage am Stück durchzuhalten. So ein Drehtag hat<br />

auch mal 13 Stunden gedauert, da ist schon einiges<br />

an Selbstdisziplin notwendig. Dass es für viele<br />

anstrengend war, sieht man dann auch an deren<br />

Gesichtern im Film.<br />

Wissen Sie, was aus den Punks geworden ist?<br />

Die meisten haben es nach dem Film besser<br />

geschafft, ihren Weg zu gehen. Von einer Frau<br />

weiß ich, dass sie bei Gerhard Faul ein Praktikum<br />

gemacht hat. Ein anderer hat auch eine tolle Karriere<br />

hingelegt. Er sollte während der Dreharbeiten<br />

eine Haftstrafe antreten, die Projektträger haben<br />

es dann aber geschafft, das erst mal auf das Filmende<br />

zu verschieben. Im Knast ist er dann zum<br />

Vorzeigehäftling geworden und hat dann sogar<br />

seinen Meister als Schreiner gemacht.<br />

7 Unterwegs in ein neues Leben


MUSIK IST MEIN LEBEN<br />

Samuel, 18 Jahre alt, besucht die Berufsfachschule<br />

für Musik in Nürnberg. Das musikpädagogische<br />

Projekt Record Company war ein Meilenstein<br />

auf Samuels Weg. Ich treffe ihn im<br />

K4, um mit ihm darüber zu reden. Wie erkennen<br />

wir uns? frage ich, als wir den Termin<br />

vereinbaren. An meinem Schottenrock, sagt<br />

Samuel.


Samuel, was machst du gerade?<br />

Musik! Seit einem Jahr studiere ich an der Berufsfachschule<br />

für Musik, im Fachbereich Klassik. Ich<br />

spiele Klavier, Marimba, Schlagzeug. Marimba ist<br />

ein wunderschönes Instrument, ich habe es an der<br />

Schule gelernt.<br />

Eine ganz neue Erfahrung war damals auch das<br />

Microphoning. Welches Mikro passt zur Bass Drum,<br />

welches ist perfekt für Gesang? Es gibt Mikrophone,<br />

die nehmen feiner ab, andere sind für eine<br />

breitere Abnahme des Klangs geeigneter, z. B.<br />

beim Schlagzeug.<br />

War „Record Company“ ein Impuls für deine<br />

Entscheidung, beruflich etwas mit Musik zu<br />

machen?<br />

„Record Company“ war einer von vielen Impulsen.<br />

Ich würde nicht sagen, dass „Record Company“<br />

ausschlaggebend war, aber es hat mir auf meinem<br />

musikalischen Weg viel gebracht. Ich war plötzlich<br />

nicht mehr nur allein mit einer kleinen Garagenband.<br />

Es war interessant, mit anderen Bands<br />

zusammen zu kommen. Es hat sehr viel Spaß<br />

gemacht.<br />

Was mir am meisten gebracht hat, war die Zeit im<br />

Aufnahmestudio. Da konnten wir nicht mehr einfach<br />

so drauflos spielen, wir mussten schauen,<br />

dass alles perfekt läuft. Zuerst kamen die Gitarren<br />

dran, dann der Bass und das Schlagzeug, weil das<br />

Studio nicht genügend Kanäle hatte. Wir mussten<br />

also viel genauer sein, damit dann hinterher alles<br />

zusammen passt.<br />

Wie ging es dann für dich weiter?<br />

Ich war damals 16, ich ging aufs Gymnasium. Ich<br />

habe noch die mittlere Reife gemacht, dann bin<br />

ich abgegangen. Schon mit dem Ziel, auf die<br />

Berufsfachschule für Musik zu gehen. Ich habe ein<br />

Jahr gejobbt und mich in der freien Zeit auf die<br />

Aufnahmeprüfung vorbereitet. Viel Klavier<br />

gespielt.<br />

Was für Musik machst du?<br />

Damals haben wir Punkrock gemacht, recht arge<br />

Musik! Jetzt mache ich Funk und Jazz, die Band<br />

von damals hat sich aufgelöst. Ich spiele momentan<br />

in mehreren Bands.<br />

Und wie sehen deine Zukunftspläne aus?<br />

Vielleicht will ich danach noch an der Musikhochschule<br />

studieren, ich weiß noch nicht. Schon jetzt<br />

merke ich im Studium, dass das Leistungsprinzip<br />

stark im Vordergrund steht. An der Musikhochschule<br />

geht das noch viel weiter.<br />

Leistung und Musik, das ist aber etwas, was<br />

sich für mich nicht gut verbinden lässt. Ich<br />

habe eine andere Vorstellung von Musik. Ich<br />

will mich auf jedes Stück wirklich konzentrieren.<br />

Das Akademische an der Musik gefällt<br />

mir eigentlich nicht so. Musik machen hat für<br />

mich viel mit Gefühl zu tun.<br />

Aber mit Musik mache ich auf jeden Fall weiter.<br />

Musik ist mein Leben.<br />

8 Musik ist mein Leben


DER WEG BEGINNT IMMER MIT DEM ERSTEN SCHRITT<br />

LiSA, eine Projektreihe zur medizinischen<br />

Versorgung von drogenabhängigen Frauen,<br />

wurde über einen Zeitraum von drei Jahren<br />

durch „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

gefördert und erwies sich als überaus<br />

erfolgreiche Maßnahme. Dank LiSA konnte<br />

der Gesundheitszustand vieler schwer drogenabhängiger<br />

Frauen verbessert werden.<br />

Wir befragen Sozialpädagogin Daniela<br />

Dahm, Geschäftsführerin des Projektträgers<br />

Lilith e. V., zur Situation drogenabhängiger<br />

Frauen in Nürnberg.<br />

Wie viele Drogenkonsumentinnen<br />

leben in Nürnberg?<br />

Ungefähr 1.000 schwer abhängige Frauen. Ich<br />

gehe von insgesamt 2.000-3.000 regelmäßigen<br />

Konsument/-innen illegaler Drogen in Nürnberg<br />

aus. Der Frauenanteil liegt bei 30-40 %.<br />

Was schätzen Sie, wie viele davon die<br />

Angebote von Lilith e. V. erreichen?<br />

Wir erreichen pro Jahr über 400 Frauen, die illegale<br />

Drogen konsumieren – oder konsumiert haben,<br />

denn wir betreuen auch viele Klientinnen im Nachsorgebereich.<br />

Suchen Ihre Klientinnen von sich aus Hilfe?<br />

Die Hälfte der Klientinnen werden über Streetwork<br />

akquiriert, das heißt, der Erstkontakt findet bei<br />

den meisten über die Szene statt. Von den 400<br />

Frauen, die wir pro Jahr betreuen, kommen<br />

bestimmt 350 zu uns. Ungefähr 50 werden nur<br />

über die Szene erreicht.


Lilith konzentriert sich – anders als z. B. die<br />

mudra – ausschließlich auf Frauen. Ist die<br />

Suchtproblematik bei Frauen eine andere als<br />

bei Männern?<br />

Ja, die Drogenabhängigkeit steht in einem<br />

geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Kontext.<br />

Drogenabhängige Frauen weisen zum Beispiel andere<br />

Konsummuster auf als Männer. Den größten<br />

Unterschied sehe ich bezogen auf das Thema<br />

Gewalt. Mindestens 70-80 % unserer Klientinnen<br />

haben in ihrem Leben massivste Gewalterfahrungen<br />

gemacht, meistens beginnt es mit sexuellem Missbrauch<br />

in der Kindheit, und die Gewalt zieht sich<br />

wie ein roter Faden durch ihr Leben.<br />

Zwar gibt es bei vielen Männern auch einen<br />

Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der<br />

Kindheit und Drogenkonsum, aber Frauen verharren<br />

in der Opferrolle, während Männer eher in die Täterrolle<br />

wechseln. Das ist einer der gravierendsten<br />

Unterschiede. Das heißt, wir müssen mit den Frauen<br />

zum Thema Gewalt ganz spezifisch arbeiten.<br />

Eine andere Besonderheit ist, dass viele unserer<br />

Klientinnen Kinder haben. 90 % aller Kinder von<br />

Drogenabhängigen leben bei ihren Müttern. Allein-<br />

erziehende Mutter mit Drogenproblematik – das ist<br />

natürlich ein ganz besonderer Lebensumstand. Das<br />

heißt: Wir arbeiten frauenspezifisch, aber auch<br />

kinderspezifisch.<br />

Was sind denn typisch weibliche<br />

Konsummuster?<br />

Wir machen die Erfahrung, dass Frauen einen<br />

etwas besseren Bezug zu ihrer eigenen Gesundheit<br />

haben als Männer. Sie konsumieren risikoärmer,<br />

sofern sie das selbst bestimmen können.<br />

Illegale Drogen werden oft in der Gruppe konsumiert,<br />

und häufig teilt sich die Gruppe ein Spritzbesteck.<br />

Das ist hochgefährlich wegen der Anstekkungsgefahr,<br />

zum Beispiel mit HIV oder Hepatitis.<br />

Viele Frauen berichten uns, dass sie in dieser Reihe<br />

immer die letzten sind, die das Spritzbesteck<br />

benutzen. In der Szenehierarchie stehen Frauen<br />

auf der untersten Stufe.<br />

Ein weiterer Unterschied im Drogenkonsum ist,<br />

dass viele Frauen Amphetamine, aber auch Heroin<br />

konsumieren, um schlank zu bleiben. Das habe ich<br />

noch von keinem drogenabhängigen Mann gehört!<br />

9 Der Weg beginnt immer mit dem ersten Schritt


Wie beurteilen Sie die Drogenszene<br />

in Nürnberg im Vergleich zu anderen<br />

Großstädten?<br />

Wir haben in Nürnberg im Vergleich zu anderen<br />

Großstädten eine relativ kleine, überschaubare<br />

Szene. Es gibt auch vergleichsweise wenig<br />

Gewaltdelikte in diesem Zusammenhang.<br />

LiSA hatte die medizinische Versorgung von<br />

Drogenkonsumentinnen in der Szene zum<br />

Ziel. Inwiefern ist das bestehende Versorgungssystem<br />

hier unzureichend?<br />

Wenn man illegale Drogen konsumiert, dann<br />

dreht sich die meiste Zeit des Tages nur um die<br />

Frage: Wie komme ich an die Droge? Woher<br />

bekomme ich das Geld, um die Droge zu finanzieren?<br />

Eine Abhängigkeit bindet. Man hat zu nichts<br />

anderem mehr Zeit, auch nicht, eine Arztpraxis<br />

aufzusuchen. Drogenabhängige Menschen haben<br />

zudem wenig Körperbewusstsein und keine positive<br />

Einstellung zum Körper.<br />

Darüber hinaus haben Drogenabhängige mit<br />

Stigmatisierungen und Vorurteilen zu kämpfen.<br />

Unsere Klientinnen gehen nicht gerne in eine<br />

Arztpraxis, weil sie die Erfahrung gemacht<br />

haben, schon im Wartezimmer auf Ablehnung<br />

zu stoßen. Außerdem sind sie nicht in der Lage,<br />

Wartezeiten von vielleicht zwei Stunden in Kauf<br />

zu nehmen. Sie sitzen dort wie auf heißen Kohlen,<br />

sie müssen wieder raus, um sich die Droge<br />

zu beschaffen.<br />

Das alles sind Gründe, warum unsere Klientinnen<br />

oft erst im allerletzten Moment, wenn ihr<br />

Zustand schon fast lebensbedrohlich ist, eine<br />

Ärztin oder einen Arzt aufsuchen.<br />

Natürlich kann die medizinische Streetwork<br />

nicht das komplette Behandlungssetting ersetzen;<br />

es geht vor allem darum, über gesundheitliche<br />

Risiken aufzuklären, Notfälle zu erkennen<br />

und Menschen in das normale Gesundheitsystem<br />

zu vermitteln.


Wie steht das Ziel der medizinischen Stabilisierung<br />

zu den anderen Zielen von Lilith?<br />

Egal, wie weit der Weg ist, er beginnt immer mit<br />

dem ersten Schritt. LiSA war einer dieser ersten<br />

Schritte. Bevor eine drogenabhängige Frau sich<br />

damit beschäftigen kann, aus der Drogenabhängigkeit<br />

auszusteigen und in einen Beruf einzusteigen,<br />

muss sie erst stabilisiert werden. Eine Grundsicherung<br />

muss da sein, sie muss körperlich dazu in der<br />

Lage sein, sich mit Fernzielen zu beschäftigen.<br />

Wenn einer Frau von ihrem Lebenspartner gerade<br />

ein Messer in die Leber gestochen wurde, ist diese<br />

mit Sicherheit nicht dazu in der Lage.<br />

Wird der Ausstieg als Ziel von Ihren Klientinnen<br />

überhaupt akzeptiert?<br />

Wenn eine Frau sagt, sie kann sich in ihrer Situation<br />

gerade nicht vorstellen, aus der Drogenabhängigkeit<br />

auszusteigen, dann akzeptieren wir<br />

das. Es gibt Lebenssituationen, die nicht passend<br />

sind für einen Ausstieg. Da fehlt es an<br />

Sicherheit, und an der wiederum können wir<br />

arbeiten.<br />

Was für Gründe können das sein?<br />

Wenn das Leben einer Klientin insgesamt sehr<br />

instabil ist. Wenn sie obdachlos ist und dazu<br />

noch einen Partner hat, der sie regelmäßig verprügelt.<br />

Oder wenn sie unter dem Existenzminimum<br />

lebt, noch nicht einmal den Weg zur Arge<br />

geschafft hat. Dann arbeiten wir erst an der<br />

Abdeckung elementarer Grundbedürfnisse und<br />

-sicherheiten.<br />

9 Der Weg beginnt immer mit dem ersten Schritt


PROJEKTREIHE LISA ALS MODELL<br />

FÜR EINEN MOBILEN GESUNDHEITSDIENST<br />

In Nürnberg leben einige Tausend Menschen,<br />

deren Lebenssituation sie gesundheitlich in<br />

besonderem Maße gefährdet, ihnen aber gleichzeitig<br />

den Zugang zu einer medizinischen Versorgung<br />

im Regelsystem erschwert: zum Beispiel<br />

schwer Drogenabhängige oder Obdachlose.<br />

Aufgrund der Erfahrungen aus der Projektreihe<br />

LiSA – medizinische Streetwork zur Stabilisierung<br />

von Drogenkonsumentinnen – hat der<br />

Projektträger Lilith e. V. einen Arbeitskreis<br />

gebildet, dem unter anderem die Caritas Straßenambulanz,<br />

Nürnberger Organisationen der Drogen-<br />

und Obdachlosenhilfe und die Stadt Nürnberg<br />

angehören. Das gemeinsame Ziel: die Einrichtung<br />

eines Mobilen Gesundheitsdienstes für<br />

Nürnberg.<br />

Frau Dahm, wie entstanden die Ideen<br />

zu LiSA?<br />

LiSA hat sich aus unserer täglichen Arbeit entwickelt.<br />

Unsere Streetworkerinnen haben immer<br />

wieder berichtet, dass sie mit Menschen zu tun<br />

haben, die seit Wochen keinen Arzt gesehen<br />

haben, obwohl ihr Gesundheitszustand sehr<br />

schlecht war. Ekzeme bei intravenösem Drogenkonsum;<br />

Frauen, die aufgrund körperlicher Misshandlungen<br />

Prellungen und sogar Brüche oder<br />

Stichverletzungen hatten. Der Handlungsbedarf<br />

ist gewaltig.<br />

Seit vielen Jahren hatten wir uns mit der Frage<br />

beschäftigt: Wie können die Menschen schneller<br />

in medizinische Behandlung kommen? Die Caritas<br />

unterhält in Nürnberg eine Straßenambulanz, die<br />

aber personell unterbesetzt ist. Als wir die Chance<br />

bekamen, Projekte durch „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ fördern zu lassen, hat sich das<br />

Thema LiSA also geradezu aufgedrängt.<br />

LiSA war sehr erfolgreich ...<br />

Ja. Nach der ersten Förderperiode haben uns Frau<br />

Herold und Herr Fischer von der Koordinierungsstelle<br />

stark motiviert, das Projekt fortzuführen.<br />

Durch LiSA konnte vielen Frauen geholfen werden:<br />

Ihr Gesundheitszustand hat sich verbessert, sie<br />

sind zu uns in die Beratung gekommen. Einige<br />

haben sich so stabilisiert, dass sie den Sprung in<br />

die Arbeitswelt geschafft haben.<br />

Weil der Bedarf tatsächlich sehr groß ist und wir<br />

es wichtig fanden, unsere mit LiSA begonnene<br />

Arbeit fortzuführen und auszuweiten, haben wir<br />

einen Arbeitskreis zur medizinischen Versorgung<br />

in Nürnberg gebildet. Wir haben alle Institutionen<br />

angesprochen, die uns für das Thema interessant<br />

erschienen, etwa weil sie mit ähnlichen Zielgruppen<br />

arbeiten. Auch städtische Einrichtungen wie<br />

das Gesundheitsamt oder das Sozialamt sind ganz<br />

wichtige Partner für ein Projekt von größerem<br />

Umfang. In dem Arbeitskreis wurde das Konzept<br />

für den Mobilen Gesundheitsdienst entwickelt.


Was genau ist geplant?<br />

Da die Straßenambulanz bereits über jahrelange<br />

Erfahrungen im Bereich medizinische Streetwork<br />

verfügt, wird der Mobile Gesundheitsdienst<br />

innerhalb dieser Strukturen realisiert werden –<br />

in Kooperation mit der Arztpraxis Dr. Renner.<br />

Geplant ist eine Aufstockung des Personals, um<br />

die Versorgung unserer Zielgruppen zu verbessern.<br />

Konkret wird es so aussehen, dass medizinisches<br />

Personal aus der Praxis Dr. Renner und<br />

von der Straßenambulanz einmal in der Woche<br />

in jeder der assoziierten Einrichtungen eine<br />

Sprechstunde anbietet. Darüber hinaus sollen<br />

auch Pensionen und offene Szeneplätze aufgesucht<br />

werden. Der Mobile Gesundheitsdienst wird<br />

beraten, behandeln, Diagnosen stellen, Notfälle<br />

erkennen und vermitteln.<br />

Gespräche stattfinden mit der Kassenärztlichen<br />

Vereinigung und den Krankenkassen, und sowie<br />

die Finanzierung gesichert ist, geht es los.<br />

Hätte es LiSA nicht gegeben, wären wir in<br />

Nürnberg nicht an dieser Stelle. LiSA war die<br />

Initialzündung dazu.<br />

Über „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ hatten<br />

wir die Chance, Konzepte zu entwickeln und<br />

umzusetzen, für die das Tagesgeschäft keine<br />

Zeit lässt. Mit einer Fördersumme von 10.000<br />

Euro pro Jahr kann man schon viel bewegen.<br />

Wir haben viele gute Impulse gekriegt. Ich fände<br />

es sinnvoll, „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ fortzusetzen!<br />

Und wann nimmt der Mobile Gesundheitsdienst<br />

seine Arbeit auf?<br />

Unsere Planungen sind abgeschlossen. Es geht<br />

nur noch um die Finanzierung. In Kürze werden<br />

10 Projektreihe LiSA als Modell für einen Mobilen Gesundheitsdienst


<strong>Nordostbahnhof</strong>


INHALT<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong><br />

1 Siedlung <strong>Nordostbahnhof</strong> –<br />

ein Stadtteil im Aufschwung<br />

H. Weichselbaum, Amt für Wohnen und<br />

Stadterneuerung, und D. Barth, WBG<br />

Nürnberg Gruppe<br />

2 Zu Gast am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

S. Wagner, G. Fraas, G. Prütting,<br />

M. Treiber, Mitglieder des<br />

Begleitausschusses<br />

3 Ohne Förderung liegen Potenziale brach<br />

D. Pöschl, Stadtteiltreff Nordost<br />

4 Talente entdecken und fördern –<br />

egal ob in der Chefetage oder<br />

in Projekten von „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“<br />

B. Simsek, bs consult<br />

5 Nord-Ost-Info trifft Nerv des Viertels<br />

P. Koerwien, Stadtteilzeitung<br />

Nord-Ost-Info<br />

6 Erste-PC-Hilfe – mit wenig Geld<br />

viel bewegen<br />

R. Brey, WBG Nürnberg Gruppe,<br />

und G. Schramm, Quartiermanager<br />

8 Perspektiven verbessern die<br />

Atmosphäre<br />

R. Conrad, Konrad-Groß-Schule<br />

9 Keimzelle Mittagstisch<br />

S. Boos, Quartiermanager<br />

10 Neue Chance für Sultan Sofrasi<br />

H. Beßler, Bürgertreff <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

11 Jeder soll sich wohl fühlen!<br />

S. Schrinner, Teilnehmerin am<br />

Projekt Mittagstisch<br />

7 Die haben mir die Bude eingerannt!<br />

I. Zabielski, Erste-PC-Hilfe


SIEDLUNG NORDOSTBAHNHOF –<br />

EIN STADTTEIL IM AUFSCHWUNG<br />

Hermann Weichselbaum ist Mitarbeiter der<br />

Stadt Nürnberg im Amt für Wohnen und<br />

Stadterneuerung und Mitglied im Begleitausschuss<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong>.<br />

Dieter Barth ist Leiter Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit<br />

der WBG Nürnberg Gruppe und<br />

ebenso Mitglied im Begleitausschuss <strong>Nordostbahnhof</strong>.<br />

Herr Weichselbaum, klären Sie uns doch erst<br />

mal auf, wie lange es die Siedlung <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

schon gibt!<br />

Als Ergebnis eines 1928 ausgelobten Wettbewerbs<br />

entstand die Siedlung <strong>Nordostbahnhof</strong> zum größten<br />

Teil von 1929 bis 1931 auf der grünen Wiese, weit<br />

vor den Toren der Stadt. Dieser Siedlungsteil steht<br />

heute als Ensemble unter Denkmalschutz. Den baulichen<br />

Abschluss fand die Siedlung erst in den<br />

fünfziger Jahren. Heute wohnen hier ca. 4.000<br />

Menschen. Eigentümerin der Siedlung ist das zum<br />

städtischen Unternehmensverbund gehörende wbg<br />

Nürnberg GmbH Immobilienunternehmen.<br />

Herr Barth, Sie kennen die Siedlung noch aus<br />

Ihrer Jugend – von 1960-1981 haben Sie am<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> gelebt. War damals alles ganz<br />

anders?<br />

Ja, in meiner Jugendzeit war die Wohnanlage eine<br />

gutbürgerliche Arbeitersiedlung. Die Familien waren<br />

teilweise mit zwei Verdiener/-innen ausgestattet, es<br />

gab viele Kinder und eine ganze Reihe von Einzelhandelsgeschäften.


Die St. Lukas-Gemeinde hatte einen großen<br />

Zulauf, in der Volksschule Oedenberger Straße<br />

wurden mehr als 700 Kinder unterrichtet. Die<br />

soziale Kontrolle funktionierte, und auch die<br />

Nachbarschaften waren intakt und funktionierten<br />

oft über mehrere Häuser hinweg sehr gut. Der<br />

Anteil an Migrant/-innen war nicht nennenswert,<br />

so hatten wir in der vierten Grundschulklasse den<br />

ersten türkischen Mitschüler der gesamten Schule<br />

bekommen, dass war 1971.<br />

Aber der Wandel und die Veränderungen der<br />

Gesellschaft machten auch vor der dörflichen<br />

Idylle am <strong>Nordostbahnhof</strong> nicht halt. Nach und<br />

nach gaben die kleinen Tante-Emma-Läden auf,<br />

durch die Gastarbeiterwelle in den 70er Jahren<br />

gab es plötzlich einen politisch gewollten Zulauf<br />

von Menschen aus anderen Kulturen. Die Wohnungen<br />

wurden nur noch auf Vorschlag des Wohnungsamtes<br />

belegt, und es begann ganz langsam<br />

und schleichend eine Veränderung, die oftmals<br />

nur von den darauf nicht vorbereiteten Alteingesessenen<br />

moniert wurde.<br />

Herr Weichselbaum, wann wurden die Probleme<br />

am <strong>Nordostbahnhof</strong> offensichtlich?<br />

Bereits in den neunziger Jahren zeichneten sich<br />

erste soziale Auffälligkeiten ab. Bedingt durch<br />

das einseitige Wohnungsangebot an kleinen, einfachst<br />

ausgestatteten, preiswerten Wohnungen<br />

und das Belegungsrecht der Stadt Nürnberg rükkten<br />

im Zuge der normalen Fluktuation immer<br />

mehr Empfänger/-innen von nur geringen Einkommen<br />

und/oder Transferleistungen als Mieter/-innen<br />

nach. In einem Gutachten zur Sozialplanung<br />

aus dem Jahr 1991 wurde auf die Gefahr<br />

einer Abwärtsentwicklung zu einem sozialen<br />

Brennpunkt hingewiesen.<br />

1 Siedlung <strong>Nordostbahnhof</strong> – ein Stadtteil im Aufschwung


Und wann kam Hilfe?<br />

Entscheidende Hilfe kam im Jahr 2000, als der<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> zum Stadterneuerungsgebiet<br />

ernannt und die Siedlung in das Programm Soziale<br />

Stadt aufgenommen wurde. Ausgestattet mit<br />

einem Fördervolumen von fünf Mio. EUR wurden<br />

folgende Maßnahmen empfohlen und umgesetzt:<br />

✽ Modernisierung der Wohnanlage<br />

An erster Stelle der Maßnahmen stand die<br />

Modernisierung des Wohnungsbestandes. Die<br />

wbg hatte bereits mit dem Umbau der ersten<br />

Häuserzeilen in familiengerechte Einheiten<br />

begonnen. Bis heute hat das Wohnungsunternehmen<br />

in der Siedlung ca. 70 Mio EUR für<br />

Modernisierungs-, Um- und Neubaumaßnahmen<br />

investiert.<br />

✽ Aufwertung der Freiflächen<br />

Die Aufwertung und bessere Nutzbarmachung<br />

der öffentlichen Freiflächen und des Schulgeländes<br />

war ein weiteres wichtiges Thema. Hierzu<br />

wurde ein städtebaulicher Ideenwettbewerb<br />

durchgeführt, der nun Schritt für Schritt umgesetzt<br />

wird.


✽ Erneuerung der Kinder- und<br />

Jugendeinrichtungen<br />

Auch der Neubau eines Kinder- und Jugendhauses<br />

mit Schulleitung und Hort stand von Anfang<br />

an auf der Forderungsliste und ist inzwischen<br />

realisiert. Nicht eingeplant war dagegen der<br />

Ausbau der Konrad-Groß-Schule zur Ganztagesschule<br />

mit einem Erweiterungsbau auf dem<br />

Schulgelände. Dies war möglich geworden durch<br />

ein neues Förderprogramm des Bundes (IZBB).<br />

Herr Barth, die wbg hat sich 2000 der<br />

Stadterneuerung angeschlossen und einen<br />

Sanierungs- und Modernisierungsschwerpunkt<br />

gebildet. Welche Maßnahmen der<br />

wbg haben zur Aufwertung der Wohnanlage<br />

beigetragen?<br />

Generell galt es, die Vielzahl der kleinen Wohnungen<br />

zu verringern und zeitgemäße Wohnungen<br />

für Familien zu schaffen. Es gab aber noch<br />

weitere wichtige Maßnahmen, die entscheidend<br />

zur Aufwertung der Wohnanlage geführt haben.<br />

So zum Beispiel die freie Vergabe der Wohnungen.<br />

2003 übertrug die Stadt Nürnberg die Belegung<br />

ihrer nicht belegungsgebundenen Wohnungen<br />

der wbg. Kriterium war nun nicht mehr<br />

Einkommen oder Haushaltsgröße, sondern ob<br />

jemand menschlich in das Haus und zu den<br />

vorhandenen Bewohner/-innen passt und die<br />

Zahlung der Miete sichergestellt ist.<br />

Weitere Neuerungen wie die Schaffung von<br />

Wohneigentum, freifinanzierter Wohnungsbau<br />

und die Systemumstellung der Wohnungsbauförderung<br />

führten zu vielseitigeren Belegungsstrukturen<br />

und damit zu einer Verbesserung des<br />

Wohnumfeldes.<br />

Herr Weichselbaum, wie ist die aktuelle<br />

Lage am <strong>Nordostbahnhof</strong>?<br />

Durch das Ineinandergreifen der erwähnten Maßnahmen<br />

und die intensive Einbindung der Bevölkerung<br />

in die Projekte ist bereits eine spürbare<br />

Verbesserung der Situation am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

eingetreten. Die Siedlung ist dabei, wieder eine<br />

begehrte Adresse zu werden.<br />

Herr Barth, was meinen Sie?<br />

Die Menschen tragen den Strukturwandel im<br />

Quartier mit großem Engagement mit. Alle Maßnahmen<br />

haben zu einer Wiederbelebung und<br />

Steigerung der Identifikation mit der Wohnanlage<br />

geführt. Der <strong>Nordostbahnhof</strong> hat seinen<br />

Charme wieder.<br />

Dazu beigetragen hat auch eine Vielzahl von<br />

Mikroprojekten durch die „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Zusatzförderung, die für das<br />

Soziale-Stadt-Fördergebiet <strong>Nordostbahnhof</strong> ausgereicht<br />

wurden. Jährlich standen 80 000 EUR<br />

zur Verfügung, mit denen ergänzend zum großen<br />

Bund-Länder-Kommunen-Fördertopf Positives<br />

bewegt und erreicht werden konnte.<br />

1 Siedlung <strong>Nordostbahnhof</strong> – ein Stadtteil im Aufschwung


ZU GAST AM NORDOSTBAHNHOF<br />

Nach dem Bundesprogramm sollen dem<br />

Begleitausschuss auch Verteter/-innen der<br />

Bewohner/-innen angehören. Im Begleitausschuss<br />

„Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-<strong>Nordostbahnhof</strong> übernehmen diesen<br />

Part die vier Bewohnerinnen Sabine<br />

Wagner, Gudrun Fraas und ihre Tochter Gisela<br />

Prütting sowie Michaela Treiber, die auch<br />

Fördervereinsvorsitzende der Konrad-Groß-<br />

Schule am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

Mitten im Stadtteil treffen wir uns, in der Wohnung<br />

von Frau Fraas. Ich bin hier, um herauszufinden,<br />

wie die Stimmung am <strong>Nordostbahnhof</strong> ist.<br />

Ob die Projekte konkret und atmosphärisch etwas<br />

verändern konnten. Gudrun Fraas bittet mich<br />

freundlich herein. Drei weitere Bewohnerinnen<br />

des Stadtteils begrüßen mich: Sabine Wagner,<br />

Gisela Prütting, Michaela Treiber. Gemeinsam<br />

haben die vier Frauen, dass sie im Begleitausschuss<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> sind. Und dass sie schon<br />

immer im Viertel gelebt haben. Den <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

kennen sie seit ihrer Kindheit. Schon ihre<br />

Großeltern sind hier aufgewachsen.<br />

Und sofort sind wir mitten drin: im Erzählen, in<br />

der Vergangenheit. Früher kannten sich die Menschen<br />

im Stadtteil. Es gab viele Orte, um ins<br />

Gespräch zu kommen. Drei Bäcker, zwei Lebensmittelläden.<br />

Und – ganz wichtig: die Wäschemang<br />

von Frau Fraas. Die Wäschemang, das war<br />

ein Wasch- und Bügelservice.<br />

Hier trafen sich Nachbarn, tauschten Neuigkeiten<br />

aus. Dann gab es noch die vielen Bänke vor den<br />

Häusern. Orte der Kommunikation, auch wenn<br />

Kommunikation früher anders hieß. Ratschen.<br />

Meine BGA-Frauen schwärmen von ihrer Kindheit,<br />

in der man viel schneller die Bedürfnisse des<br />

anderen erkannt hat, füreinander da war und<br />

sich gegenseitig geholfen hat. Social networking<br />

– so würde ein Soziologe dazu wohl sagen. Unser<br />

Gespräch wird von einem Anruf unterbrochen.<br />

Eine Nachbarin fragt, ob sie sich morgen die<br />

MobiCard von Frau Fraas ausleihen darf. Natürlich.<br />

Aber wann ging die gute alte Zeit zu Ende? Und<br />

warum? Ja, das passierte nicht von einem Tag<br />

auf den anderen, erzählen die Frauen. Sondern<br />

schleichend, am Anfang kaum wahrnehmbar. Die<br />

Siedlung blieb stehen, sagen sie. Die Wohnungen<br />

waren nicht mehr modern. Die Leute gingen, verließen<br />

ihr Viertel, um anderswo besser zu leben.


Andere kamen, aus anderen Stadtteilen, aus<br />

anderen Kulturen. Sie konnten die Lücke nicht<br />

schließen, sie standen nicht in der Wäschemang<br />

oder beim Bäcker und erzählten. Der<br />

Austausch brach ab. Und nach und nach gaben<br />

die vielen kleinen Läden auf ...<br />

Langsam müssen wir aber zum Punkt kommen.<br />

Ich bin doch hier, um etwas über die Wirkungen<br />

von „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

am <strong>Nordostbahnhof</strong> zu erfahren. Schneller als<br />

erwartet bekomme ich Antworten auf meine<br />

Fragen, die Frauen sagen einstimmig: Durch die<br />

Projekte hat am <strong>Nordostbahnhof</strong> wieder eine<br />

Veränderung begonnen. In eine Richtung, die<br />

die Frauen gut finden. Weil sie der Situation<br />

gleicht, die sie als Kinder am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

erlebt haben. Orte der Begegnung wurden<br />

geschaffen. Orte des Austauschs. Wie der Mittagstisch,<br />

der durch ein Projekt initiiert wurde.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ schafft<br />

das, was früher schon am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

funktioniert hat: Vernetzung, sagen die Frauen.<br />

2 Zu Gast am <strong>Nordostbahnhof</strong>


Das Telefon unterbricht uns wieder. Eine alte<br />

Bekannte, sagt Frau Fraas, als sie sich wieder<br />

setzt: Eine alte Bekannte, die 1954 vom <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

weggezogen ist und seitdem den<br />

Kontakt hält.<br />

Jetzt will ich aber noch konkreter wissen, was<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ bewirkt hat.<br />

Die Sandra z. B., die ist durch das Projekt richtig<br />

aufgeblüht, erzählen mir die Frauen. Die Sandra:<br />

das ist Sandra Schrinner vom Mittagstisch. Ich<br />

habe sie schon interviewt. Sie ist mit den Frauen<br />

in die Schule gegangen.<br />

Ich frage nach weiteren Veränderungen durch<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“, die neben<br />

den beruflichen Perspektiven entstanden sind.<br />

Dabei erfahre ich: Sultan Sofrasi z. B. war ein<br />

tolles Projekt zur Begegnung. Über das Probieren<br />

der türkischen Speisen lernten die Bewohner/-innen<br />

auch eine andere Kultur kennen. Eine<br />

ideale Art, Berührungsängste abzubauen.<br />

Die größten Erfolge von „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ im Stadtteil? Kurzes Überlegen,<br />

dann eine klare Antwort: Projekte mit Jugendlichen.<br />

Die Frauen, allesamt auch Mütter, berichten<br />

von der Konrad-Groß-Schule, die sich extrem<br />

positiv entwickelt hat. War sie vor fünf Jahren<br />

noch Schlusslicht bei den Nürnberger Hauptschulen,<br />

ist sie jetzt vorne dran. Die Zahl der Übertritte<br />

an Gymnasien und Realschulen hat sich<br />

verdoppelt.<br />

Mich interessiert noch ein letzter Punkt: Was hat<br />

die Projekte eigentlich so erfolgreich gemacht?<br />

Weil sie auf den Stadtteil, auf die Bewohner/<br />

-innen zugeschnitten waren, sagen die Frauen<br />

einstimmig. Die Projekte waren nie übergestülpt,<br />

sondern wirklich an den Bedürfnissen der Teilnehmer/-innen<br />

orientiert. Von Vorteil ist auch,<br />

dass die Projekte zeitlich überschaubar waren.<br />

Viele schrecken vor Maßnahmen zurück, die drei<br />

Jahre dauern.


Es klingelt an der Tür. Die Nachbarin von<br />

gegenüber. Sie bringt den Suppentopf mit, den<br />

ihr Frau Fraas gestern rübergebracht hat, weil<br />

Gemüsesuppe übrig geblieben ist.<br />

Langsam verstehe ich, was die BGA-Frauen mit<br />

Vernetzung meinen. Hier scheint es die ganzen<br />

Jahre funktioniert zu haben. Dass das Miteinander<br />

am <strong>Nordostbahnhof</strong> auch nach „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ weiter wächst und<br />

von der Stadt gefördert wird, das hoffen die<br />

Frauen. Denn auch ihre Kinder sollen dieses<br />

wunderbare Zuhause-Gefühl haben, wie sie es<br />

aus ihrer Kindheit kennen. Die Basis dafür ist<br />

schon gelegt.<br />

2 Zu Gast am <strong>Nordostbahnhof</strong>


OHNE FÖRDERUNG LIEGEN POTENZIALE BRACH<br />

Doris Pöschl, Leiterin des Stadtteiltreffs<br />

Nordost, engagiert sich als Sozialarbeiterin<br />

bereits seit 18 Jahren im Stadtteil <strong>Nordostbahnhof</strong>.<br />

Schon 1990 erkannte die Stadt<br />

Nürnberg den Bedarf am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

und schuf mit Doris Pöschl eine Halbtagsstelle<br />

im Stadtteiltreff. Wir fragen Frau<br />

Pöschl, was „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ im Stadtteil bewirkt hat.<br />

Frau Pöschl, was brauchen die Bewohner/-innen<br />

am <strong>Nordostbahnhof</strong> am dringendsten?<br />

Bei meiner Arbeit werde ich immer wieder mit<br />

dem Problem der Einsamkeit konfrontiert.<br />

Gerade Frauen fühlen sich isoliert und allein.<br />

Das liegt nicht nur daran, dass viele einen<br />

Migrationshintergrund haben, sondern auch<br />

daran, dass zahlreiche Familien zerrüttet sind<br />

und die Menschen deshalb nicht auf stärkende<br />

Familienbeziehungen zurückgreifen können.<br />

Mich erschüttert es immer wieder, wenn Frauen<br />

aus dem Stadtteil zu mir sagen: „Ich hab<br />

hier doch keinen“.<br />

Die ausländischen Frauen müssen zudem noch<br />

die sprachlichen Probleme meistern und<br />

haben aufgrund ihrer überwiegend mangelhaften<br />

Ausbildung kaum eine Möglichkeit, sich<br />

beruflich zu integrieren.<br />

Inwieweit konnte „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ bei diesen Problemen<br />

helfen?<br />

Die berufliche Integration in den ersten<br />

Arbeitsmarkt ist für diese Frauen sehr schwierig.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ leistet<br />

aber Aufbauarbeit für Beschäftigung. Und dank<br />

der Förderung konnten viele Gruppenangebote<br />

entstehen, die die Vernetzung der Frauen förderte.<br />

Was haben die Projekte im Stadtteil noch<br />

bewirkt?<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ ist ein<br />

Segen für den Stadtteil. Die Projekte haben<br />

eine sehr gute Basis für Entwicklung gelegt –<br />

sowohl für berufliche als auch persönliche Entwicklung.<br />

Sie haben die Menschen motiviert,<br />

unterstützt und beraten. „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ hat Potenziale in den Menschen<br />

geweckt und ihnen Selbstwertgefühl


gegeben. Ich denke z. B. an eine junge russische<br />

Frau mit zwei Kindern, die durch das Projekt „Multikultureller<br />

Frauentreff“ ihre schlummernden Talente<br />

entdecken konnte und jetzt auf dem Sommerfest<br />

eine große Modenschau organisiert. Ohne Förderung<br />

liegen Potenziale brach.<br />

Ein weiterer positiver Effekt von „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ ist, dass die Vernetzung der sozialen<br />

Träger im Stadtteil intensiviert wurde. Durch die<br />

bessere Koordination von Maßnahmen sind diese<br />

jetzt noch bedarfsorientierter.<br />

Warum sollte Ihrer Meinung nach „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ nicht nur auf<br />

Beschäftigung, sondern auch auf persönliche<br />

Bedingungen wie Selbstwertgefühl<br />

abzielen?<br />

Die Stärkung der Persönlichkeit hat gesellschaftliche<br />

Auswirkungen. Denn Selbstwertgefühl und<br />

Zufriedenheit bei den Eltern hat auch einen positiven<br />

Effekt auf die Kinder. Damit erhöht man<br />

deren Zukunftschancen. Mit „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ hat man also ein Instrumentarium,<br />

um indirekt auf das Familienleben und die<br />

Zukunft der Kinder einzuwirken.<br />

3 Ohne Förderung liegen Potenziale brach


TALENTE ENTDECKEN UND FÖRDERN –<br />

EGAL OB IN DER CHEFETAGE ODER IN<br />

„LOKALES KAPITAL FÜR SOZIALE ZWECKE“-PROJEKTEN<br />

Brigitte Simsek ist Inhaberin der Firma bs<br />

consult, einem Beratungs- und Trainingsunternehmen<br />

im Bereich Human Resources<br />

und bietet u. a. Veränderungs- und Karrieremanagement<br />

für Unternehmen an.<br />

Brigitte Simsek war Projektträgerin der Projekte<br />

Wobiz, Koch Kult, Koch Zeit und Beauty<br />

Company.<br />

Frau Simsek, Sie sind Betriebswirtin und<br />

haben einen MBA. Ich hätte Sie eher in<br />

einem großen Wirtschaftsunternehmen<br />

vermutet als sich für soziale Randgruppen<br />

zu engagieren.<br />

Ich arbeite tatsächlich für Wirtschaftsunternehmen<br />

und weltweite Organisationen. Und<br />

zusätzlich engagiere ich mich im sozialen<br />

Bereich. Die Arbeit in „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Projekten gibt mir Bodenhaftung,<br />

als Gegenpol zu den Aufgaben in den<br />

oberen Etagen großer Unternehmen. Beides<br />

inspiriert sich gegenseitig.<br />

Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit<br />

genau erreichen?<br />

Mit meiner Arbeit sowohl in Wirtschaftsunternehmen<br />

als auch in „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Projekten möchte ich Menschen<br />

„empowern“, ihre Talente erkennen und diese<br />

ganz gezielt fördern. Ich möchte, dass sich<br />

Menschen für sich selbst begeistern, ich<br />

möchte sie ermutigen und stärken. Egal, ob es<br />

um Führungskräfte geht oder um benachteiligte<br />

Menschen mit Migrationshintergrund.<br />

Sie arbeiten mit zwei ganz unterschiedlichen<br />

Zielgruppen. Sind Ihre Methoden zur Veränderung<br />

dann auch ganz unterschiedlich?<br />

Nein, bei beiden Zielgruppen geht es ja um positive<br />

Veränderungen. Und um diese zu erreichen, arbeite<br />

ich hauptsächlich mit dem Ansatz „Appreciate Inquiry“<br />

– zu deutsch „wertschätzendes Erkunden“. Dieser<br />

Ansatz befasst sich mit Veränderungsmanagement<br />

und wird in der Unternehmensberatung angewandt.<br />

Ich halte diesen aber auch bestens dafür geeignet,<br />

um Menschen in allen Lebenslagen zu stärken.


Können Sie die Methode des „wertschätzenden<br />

Erkundens“ kurz erläutern?<br />

Ich möchte es bildlich ausdrücken: Es geht um<br />

die Suche nach den Juwelen, die in jedem Einzelnen<br />

stecken. Dabei baut diese Methode auf<br />

vier Phasen: die anfängliche Entdeckungsphase,<br />

in der erkundet und wertgeschätzt wird, was<br />

bereits vorhanden ist. Die Traum-Phase, in der<br />

Visionen entstehen können. Die Design-Phase,<br />

in der man gestaltet und vereinbart, was sein<br />

soll. Und die letzte Phase, in der die Zukunft<br />

konkret geplant wird.<br />

In Ihren Kursen geht es aber doch nicht<br />

nur um Visionen, Träume und Pläne, sondern<br />

um handfeste Fertigkeiten, wie z. B.<br />

kaufmännische Qualifizierung. Wie darf ich<br />

das verstehen?<br />

Ja sicher, aber für den Erfolg der Kurse ist es<br />

ganz wichtig, an den Fähigkeiten, Talenten und<br />

Wünschen der Teilnehmer/-innen anzusetzen<br />

und sie in ihrem Können zu bestärken. Eine<br />

hohe Sensibilität für die Belange der Projektteilnehmer/-innen<br />

und genaues Zuhören ist entscheidend<br />

für den Erfolg.<br />

Welche konkreten Erfolge konnten die<br />

Projekte denn dann aufweisen?<br />

Es gibt mehrere Erfolgsgeschichten. Z. B. wurde ein<br />

kleines Cateringunternehmen und ein kleines IT-<br />

Beratungsunternehmen gegründet. Auch die Anleitung<br />

zur Schmuckdesignerin oder zur selbständigen<br />

Workshop-Konzeptionistin war ein voller Erfolg.<br />

Worin sehen Sie die Vorteile von<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“-<br />

Projekten?<br />

Für viele meiner Projektteilnehmer/-innen war die<br />

„Behördenferne“ des Projektträgers sehr wichtig. So<br />

wird erst mal die Angst genommen, staatliche Fördermittel<br />

oder Hartz IV zu verlieren. Es besteht oft<br />

große Angst vor dem Sozialamt, der Agentur für<br />

Arbeit oder anderen behördlichen Einrichtungen.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekte haben<br />

also niedrige Einstiegsbarrieren.<br />

Was haben Sie persönlich aus den<br />

Projekten gelernt?<br />

Ein geschärftes Auge für andere Kulturen, Werte und<br />

Ansichten. Multinationales Vernetzen und Denken in<br />

der eigenen Stadt.<br />

Was wünschen Sie dem <strong>Nordostbahnhof</strong>?<br />

Ein kulturübergreifendes fröhliches Miteinander!<br />

4 Talente entdecken und fördern – egal ob in der Chefetage oder in „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekten


NORD-OST-INFO TRIFFT NERV DES VIERTELS<br />

Die Stadtteilzeitung Nord-Ost-Info ist aus<br />

einem Projekt der Förderperiode 2005/2006<br />

entstanden. Bislang wurden sieben Ausgaben<br />

erstellt und im gesamten Gebiet des <strong>Nordostbahnhof</strong>s<br />

verteilt. Petra Koerwien, ehrenamtlich<br />

sehr engagiert, u. a. Vorsitzende des<br />

Gesamtelternbeirats Nürnberger Kindertagesstätten,<br />

war Leiterin des Projektes Stadtteilzeitung<br />

am <strong>Nordostbahnhof</strong> und berichtet von<br />

ihren Erfahrungen mit der Nord-Ost-Info.<br />

Warum braucht ein Stadtteil eine eigene<br />

Zeitung? Gibt es nicht schon genug Papier<br />

im Briefkasten?<br />

Eine Stadtteilzeitung ist ein ideales Kommunikationsmittel<br />

für das Viertel. In einer Stadtteilzeitung<br />

haben ganz andere Themen Platz<br />

als in einer großen Zeitung. Wir wollten am<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> ein Medium schaffen, das sich<br />

den örtlichen Themen annimmt, die für die<br />

Bewohner/-innen interessant sind. Eine Stadtteilzeitung<br />

ist auch geeignet, Netzwerke in der<br />

Bevölkerung zu schaffen.<br />

Fanden die Bewohner/-innen die Nord-<br />

Ost-Info dann auch interessant?<br />

Ab der ersten Ausgabe wurde die Zeitung von<br />

den Bewohner/-innen sehr gut angenommen<br />

und wir bekamen sehr positives Feedback. Das<br />

einzig Negative, das wir zu hören bekamen,<br />

war, wenn eine Ausgabe nicht kam, weil zum<br />

Beispiel dem Verteiler niemand die Tür aufmachte.<br />

Dass die Themen gut ankommen mer-


Und so setzten wir am Anfang auf die privaten<br />

Verbindungen der Teilnehmer/-innen ins Viertel.<br />

ken wir daran, dass unsere Artikel immer wieder<br />

Gesprächsthema für die Bewohner/-innen waren<br />

und sind.<br />

Und wie wurde die Zeitung von öffentlicher<br />

Seite aus angenommen?<br />

Die ansässigen Institutionen haben uns sofort<br />

angenommen. Einrichtungen wie der ASD, das<br />

BüNo, das Quartiersmanagement oder auch ansässige<br />

Künstler/-innen, Schulen, Kirchen und die<br />

wbg nutzen die Stadtteilzeitung für die Vorstellung<br />

ihrer Programme, Kurse oder was ihnen auch<br />

immer wichtig ist. Kleinere Betriebe oder der Einzelhandel<br />

nutzen das Blatt für Werbezwecke.<br />

Wie genau entstehen denn die Themen<br />

für die Zeitung?<br />

Als noch alles im Aufbau war, wurden die Themen<br />

sehr von den Teilnehmenden des Projektes gesteuert.<br />

Sie brachten sich mit ihren Interessen ein. Es<br />

musste ja erst ein Netzwerk aufgebaut werden, um<br />

Informationen aus dem Stadtteil zu bekommen.<br />

Mit der schrittweisen Etablierung der Zeitung<br />

und der Vorstellung des Redaktionsteams im<br />

Stadtteil setzte eine interessante Entwicklung<br />

ein: Die Redakteur/-innen wurden zu Ansprechpartner/-innen<br />

für große und kleine Probleme<br />

im Viertel. Und damit wiederum kamen neue<br />

Themen auf den Redaktionstisch – diesmal<br />

direkt aus dem Stadtteil. Die Bewohner/-innen<br />

fühlten sich ernst genommen und Menschen aus<br />

dem Viertel gesellten sich zu unserem Redaktionsteam,<br />

das in den vergangen zwei Jahren zu<br />

einem Stammteam von sieben Redakteur/-innen<br />

anwuchs, und bereicherten die Nord-Ost-Info<br />

mit Informationen und Ideen.<br />

Und was sagen die Redakteur/-innen<br />

zu „ihrer“ Zeitung?<br />

Da möchte ich gerne unsere am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

geborene Redakteurin Gudrun Fraas zitieren:<br />

„Mir fehlen die kleinen Läden, die es früher am<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> gab. Da hat man immer ein<br />

bisschen geratscht und Informationen ausgetauscht.<br />

Naja, heute gibt es dafür wenigstens<br />

die Stadtteilzeitung.“<br />

5 Nord-Ost-Info trifft Nerv des Viertels


ERSTE-PC-HILFE – MIT WENIG GELD VIEL BEWEGEN<br />

Das Projekt „Erste-PC-Hilfe“ ist ein gelungenes<br />

Beispiel für ein Mikroprojekt, das sich vollkommen<br />

an den Bedürfnissen des Stadtteils und<br />

deren Bewohner/-innen orientiert. Dabei wurde<br />

das Projekt ganz individuell aus zwei Bedürfnislagen<br />

entwickelt:<br />

Robert Brey arbeitet als Sozialpädagoge im Sozialmanagement<br />

der WBG Nürnberg Gruppe, einem<br />

kommunal verbundenen Immobilienunternehmen,<br />

und ist Mitglied im Begleitausschuss <strong>Nordostbahnhof</strong>.<br />

Gunter Schramm ist Quartiermanager am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

und mit Planwerk Projektträger der<br />

Ersten-PC-Hilfe.<br />

Isabella Zabielski verfügt zwar über umfangreiches<br />

Fachwissen im Bereich Computer, konnte in<br />

der Branche aber keinen Arbeitsplatz finden. Zum<br />

anderen gibt es am <strong>Nordostbahnhof</strong> einen großen<br />

Förderbedarf im Umgang mit dem Computer.<br />

Herr Brey, Sie haben Frau Zabielski<br />

„entdeckt“.<br />

Ja, ich habe Frau Zabielski als Mieterin im<br />

Zusammenhang meiner Tätigkeit bei Umbaumaßnahmen<br />

kennengelernt. Wenn Häuser im<br />

Bestand der wbg umgebaut werden, bekommen<br />

die betroffenen Mieter/-innen von uns<br />

neue Wohnungen angeboten und erfahren<br />

beim Umzug weitreichende Unterstützung.<br />

In den Gesprächen mit Frau Zabielski ist mir<br />

aufgefallen, dass sie sich sehr gut mit dem<br />

Thema Computer auskennt. Sie hat sich neben<br />

einigen Kursen, die sie besucht hat, den<br />

Großteil ihrer Kenntnisse selbst angeeignet.<br />

Trotz ihrer fundierten fachlichen Kenntnisse<br />

war es ihr nicht möglich, in diesem Bereich<br />

einen Arbeitsplatz zu finden.<br />

Im Zusammenhang mit der Arbeit im Begleitausschuss<br />

für „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ habe ich sofort an Frau Zabielski<br />

gedacht. Hier sahen wir als Lokale Koordinierungsstelle<br />

die Möglichkeit ein Projekt zu entwikkeln,<br />

in dem Frau Zabielski ihre Fähigkeiten einsetzen<br />

konnte.<br />

Herr Schramm, dann kamen Sie ins Spiel.<br />

Als Herr Brey von der wbg auf uns zukam und uns<br />

von Frau Zabielski und ihren Computerkenntnissen<br />

erzählte, sind wir hellhörig geworden. Denn als<br />

Träger des Quartiermanagements am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

lag es von Anfang an in unserem Interesse,<br />

Projekte zu unterstützen oder zu übernehmen.


Dann haben wir überlegt, wie wir Frau Zabielskis<br />

Fähigkeiten und die Bedürfnisse am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

zu beiderseitigem Nutzen verbinden können.<br />

Entstanden ist daraus die Erste-PC-Hilfe, die<br />

anfangs nicht auf eine Existenzgründung ausgerichtet<br />

war, sondern bei der zunächst die Versorgung<br />

des Quartiers im Vordergrund stand. Mit<br />

dem Projekt verfolgten wir natürlich gleichzeitig,<br />

Frau Zabielski in die Beschäftigung zu bringen.<br />

Warum war das Angebot so erfolgreich im<br />

Stadtteil, Herr Schramm?<br />

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor war, dass das Angebot<br />

von einer Bewohnerin aus dem Stadtteil kam.<br />

Eine, die die gleiche Sprache spricht und die die<br />

Nachbarin von nebenan sein könnte. Das war<br />

besonders wichtig, weil viele Bewohner/-innen<br />

Scheu vor dem Computer haben oder es sich einfach<br />

nicht zutrauen, mit dem PC umzugehen. Aufgrund<br />

ihrer mangelnden PC-Kenntnisse haben viele<br />

Menschen auch keinen Mut, sich zu bewerben.<br />

Was leistet eigentlich ein Projektträger, bis<br />

sich der Erfolg einstellt?<br />

Ganz am Anfang steht die Konzeptentwicklung für<br />

das Projekt. Als Projektträger sind wir für die<br />

gesamte Organisation im Hintergrund zuständig,<br />

wie z. B. die Beschaffung von Schulungsräumen.<br />

Ein ganz wichtiger Part im Projekterfolg spielt<br />

die Erfolgskontrolle. Wir stellen mit den Beteiligten<br />

Ziele auf und überprüfen diese fortlaufend.<br />

Und wir kümmern uns darum, mit welchen<br />

Maßnahmen die gesteckten Ziele erreicht werden<br />

können.<br />

Wie bewerten Sie das Projekt<br />

abschließend?<br />

Herr Schramm: Mit der Ersten-PC-Hilfe konnte<br />

man mit relativ wenig Geld sehr viel bewegen.<br />

Und die Erste-PC-Hilfe hat am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

sehr viel in Bewegung gebracht: Die Menschen<br />

sind auf einmal aktiv geworden und zur PC-<br />

Beratung in die NOA (Noris-Arbeit gGmbH)<br />

gekommen. Die Kommunikation ist besser<br />

geworden und es hat sich ein Netzwerk gebildet,<br />

aus dem weitere PC-Kurse entstanden sind.<br />

Herr Brey: Bei diesem Projekt ist es meiner Meinung<br />

nach sehr gut gelungen, die berufliche<br />

Entwicklung von Frau Zabielski zu fördern und<br />

einen wichtigen Beitrag für das Wohnquartier<br />

zu leisten. Sowohl die angebotenen Schulungen<br />

als auch die praktische Unterstützung bei Computerproblemen<br />

wurden von den Bewohner/<br />

-innen der Siedlung <strong>Nordostbahnhof</strong> gerne<br />

angenommen. Damit hat Frau Zabielski einen<br />

wichtigen Beitrag zur Unterstützung der Menschen<br />

und der regionalen Institutionen geleistet.<br />

Hervorzuheben ist außerdem, dass die PC-Hilfe<br />

eng mit anderen Projekten am <strong>Nordostbahnhof</strong>,<br />

wie z. B. dem Projekt Homepagepflege, einer<br />

lokalen Internetpräsentation, zusammengearbeitet<br />

hat. Bleibt zu wünschen, dass Frau Zabielski der<br />

Schritt in die Selbständigkeit gelingt und dieses<br />

wichtige Dienstleistungsangebot weiter erhalten<br />

bleiben kann.<br />

6 Erste-PC-Hilfe – mit wenig Geld viel bewegen


DIE HABEN MIR DIE BUDE EINGERANNT!<br />

Isabella Zabielski war Teilnehmerin am „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekt Erste-PC-Hilfe.<br />

Frau Zabielski, was hat die Erste-PC-Hilfe<br />

für Sie persönlich gebracht?<br />

Durch die „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-<br />

Förderung habe ich die Chance bekommen, wieder<br />

beruflich aktiv zu werden. Das Wichtigste war<br />

aber für mich, endlich wieder gebraucht zu werden<br />

und helfen zu können.<br />

Wie wurden Ihre EDV-Beratung und Ihre PC-<br />

Kurse am <strong>Nordostbahnhof</strong> angenommen?<br />

Die haben mir die Bude eingerannt. Und das,<br />

obwohl wir bis auf Flyer kaum Werbung gemacht<br />

haben. Sicher war ein Faktor, dass die Erste-PC-<br />

Hilfe im ersten Jahr kostenlos war. Im zweiten<br />

Jahr wurden minimale Preise berechnet und der<br />

Telefonsupport war weiterhin kostenlos. Das hatte<br />

zur Folge, dass sich die Telefonanrufe verdoppelten.<br />

Die Beratung bei den allgemeinen Sprechzeiten<br />

in der NOA war ebenfalls kostenlos und<br />

wurde rege genutzt. Nur die Beratung der<br />

Kund/-innen zu Hause ging nach Einführung der<br />

Gebühren zurück. Daran sieht man aber auch die<br />

finanziellen Probleme der Menschen.


Welche Erfahrung mit der Ersten-PC-Hilfe<br />

hat Sie besonders beeindruckt?<br />

Dass die Nachfrage einfach so enorm war und<br />

das Interesse an Computerthemen so groß. Es<br />

ist auch heute immer noch so, dass mich die<br />

Menschen im Stadtteil ständig auf der Straße<br />

ansprechen und mich um Hilfe bei Computerproblemen<br />

fragen. Unvergessen war die Familie,<br />

die zu Weihnachten einen neuen PC geschenkt<br />

bekommen hat und mich gleich am zweiten<br />

Weihnachtsfeiertag um sechs Uhr morgens vor<br />

meiner Tür abfing. Natürlich sollte ich wieder<br />

mal ein kleines PC-Problem auf die Schnelle<br />

lösen.<br />

Wie sieht die Zukunft der<br />

Ersten-PC-Hilfe aus?<br />

Nachdem die „Lokales Kapital für soziale Zwekke“-Förderung<br />

ausgelaufen ist, hoffe ich, dass<br />

im Stadtteil auch weiterhin PC-Kurse angeboten<br />

werden, denn das ist besonders für Jugendliche<br />

und Arbeitslose ganz wichtig. Ohne PC-Kenntnisse<br />

kommt man heutzutage nicht weiter.<br />

Und wie sieht Ihre Zukunft aus?<br />

Ich möchte mich mit meinem Computerangebot<br />

selbstständig machen. Bei der Existenzgründung<br />

werde ich von Herrn Schramm vom Planwerk<br />

unterstützt und durch das Projekt WoBiz<br />

(Women in Business). Hier lerne ich für die<br />

Selbstständigkeit wichtige Dinge wie einen<br />

Businessplan erstellen, Controlling und Marketing.<br />

Wir haben auch einen neuen Namen für<br />

mein Unternehmen entwickelt. Den Namen<br />

„Erste-PC-Hilfe“ konnte ich leider nicht übernehmen,<br />

denn dieser Name ist nach wie vor<br />

mit einem kostenlosen Angebot verbunden.<br />

Aus der „Erste-PC-Hilfe“ wurde: PC U?S?W<br />

(Unterricht?Software?Webdesign).<br />

Dann wünsche ich Ihnen ganz viel Erfolg mit<br />

PC U?S?W!<br />

7 Die haben mir die Bude eingerannt!


PERSPEKTIVEN VERBESSERN DIE ATMOSPHÄRE<br />

Renate Conrad arbeitet als freie Sozialpädagogin<br />

an der Konrad-Groß-Schule. Sie hat in<br />

den Jahren 2004-2008 „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Projekte an der Schule<br />

betreut, darunter mehrere berufsvorbereitende<br />

Projekte.<br />

Frau Conrad, was ist eine gute Schulatmosphäre?<br />

Eine Schulatmosphäre ist dann gut, wenn<br />

Schüler/-innen in der Klasse auch Schwächen<br />

eingestehen können. Wenn sie in der Klasse<br />

offen sagen können, was sie denken – ohne<br />

dass alle lachen.<br />

das bekommen sie deutlich zu spüren, wenn sie ab<br />

der siebten Klasse bei der Suche nach Praktikumsplätzen<br />

immer wieder Misserfolge erleben. Durch<br />

diese Erfahrung des Scheiterns wird die allgemeine<br />

Atmosphäre in den Klassen stark beeinflusst. Wie<br />

soll die Stimmung auch gut sein, wenn sich eine<br />

ganze Klasse als Versagerin fühlt?<br />

Wir wollen uns darüber unterhalten, ob<br />

Projekte dazu beitragen können, die<br />

Atmosphäre an Schulen zu verbessern. Die<br />

Mehrzahl der „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Projekte an der Konrad-Groß-<br />

Schule hatte aber nicht die Gegenwart,<br />

sondern die Zukunft zum Thema: die Zeit<br />

nach der Schule, den Berufseinstieg.<br />

Die berufsvorbereitenden Projekte helfen den<br />

Jugendlichen, ihre Fähigkeiten zu entdecken,<br />

Selbstvertrauen zu entwickeln und Mut zu schöpfen<br />

für ihr künftiges Leben. Das wirkt sich ganz<br />

entscheidend auf die Gegenwart aus, verbessert<br />

die Atmosphäre in der Schule spürbar. Und eine<br />

gute Atmosphäre ist wiederum eine gute Basis, um<br />

miteinander zu lernen und zu leben.<br />

Das schulische Leben der Klassen sieben bis<br />

neun wird ganz wesentlich von den Themen<br />

berufliche Qualifizierung, Berufswahl, Berufseinstieg<br />

geprägt. Hauptschüler/-innen haben<br />

in der Öffentlichkeit ein schlechtes Image, und<br />

Wenn hingegen Schüler/-innen den Eindruck<br />

haben: Aus mir kann eh nichts werden, dann müssen<br />

sie sich in irgendeiner anderen Weise beweisen<br />

und bestätigen, was häufig aggressiv<br />

geschieht.


Die Schüler/-innen lernen in den berufsvorbereitenden<br />

Projekten auch ganz allgemein, mit<br />

Schwierigkeiten umzugehen, verantwortungsvoll zu<br />

handeln, Hilfe einzufordern und anzunehmen.<br />

Warum gelingt das alles nicht im Unterricht?<br />

Es gelingt auch im Unterricht, aber bei Klassenstärken<br />

von 28 Schüler/-innen oder mehr haben es<br />

die Lehrkräfte schwer, vorgegebenen Stoff zu vermitteln,<br />

zu prüfen, und zusätzlich noch individuell<br />

auf Einzelne einzugehen, sie zu stützen und zu<br />

begleiten. Das mag im Einzelfall gelingen, aber in<br />

einem größeren Umfang kann man es einfach<br />

nicht erwarten. In der Projektarbeit gibt es ganz<br />

andere Möglichkeiten der Interaktion.<br />

Was sind die Traumberufe Ihrer<br />

Schüler/-innen ?<br />

In letzter Zeit ist vor allem bei Mädchen Innenarchitektur<br />

sehr aktuell. Auf den ersten Plätzen bei<br />

den Jungs steht nach wie vor Fußballprofi. Wir<br />

hatten auch schon den Trend Tierpfleger/-in, als<br />

es im Fernsehprogramm viele Serien über Zoos<br />

gab. Eltern wünschen sich für ihre Kinder, dass<br />

sie in der beruflichen Laufbahn möglichst hoch<br />

kommen. Dass sie am liebsten ein Studium<br />

abschließen oder in einem sehr angesehenen<br />

Beruf arbeiten, etwa in einer Bank. Viele Schüler/-innen<br />

nehmen die Wünsche der Eltern an.<br />

Vermitteln die Projekte den Schüler/-innen<br />

dann eine ganz andere Realität?<br />

Durch die Projekte lernen die Jugendlichen auch<br />

Berufe kennen, die für sie greifbarer sind. Aber<br />

uns ist ganz wichtig, niemandem den Traumberuf<br />

auszureden. Wir versuchen immer, beide Wege<br />

aufzuzeigen. Wenn sich jemand ein Studium<br />

wünscht, dann beraten wir über Möglichkeiten<br />

dahin. Wir machen klar, was die Schülerin oder<br />

der Schüler in den nächsten Jahren tun muss,<br />

um zum Studium zugelassen zu werden.<br />

Wenn ein Junge Fußballspieler werden will,<br />

sagen wir: Probiere es. Aber arbeite auch<br />

an einem Plan B. Unsere Schüler/-innen<br />

sind sehr offen. Aber sie wollen ernst<br />

genommen werden.<br />

8 Perspektiven verbessern die Atmosphäre


KEIMZELLE MITTAGSTISCH<br />

Stefan Boos, Quartiermanager und Vorstandsvorsitzender<br />

des Bürgertreff <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

e. V. (BüNo), gibt Auskunft über die<br />

gastronomischen Projekte im Stadtteil.<br />

Herr Boos, die Förderung des Mittagstischs<br />

ist ausgelaufen. Hat der Mittagstisch<br />

überlebt?<br />

Das Projekt war und ist ein großer Erfolg. Nach<br />

der Qualifizierungsmaßnahme konnte eine Teilnehmerin,<br />

Sandra Schrinner den Mittagstisch<br />

auf selbstständiger Basis weiterführen. Das<br />

Tolle war, dass sich aus ihrer Tätigkeit im Rahmen<br />

des Mittagstischs weitere Dienstleistungen<br />

entwickelt haben. So bietet Frau Schrinner<br />

jetzt z. B. einen Catering-Service für Veranstaltungen<br />

im Stadtteil an.<br />

Und was bedeutet der Mittagstisch für<br />

seine Gäste und den Stadtteil?<br />

Der Mittagstisch ist eine wesentliche Dienstleistung<br />

für den Stadtteil und erfüllt ganz<br />

unterschiedliche Bedürfnisse. Es gibt den kommunikativen<br />

Aspekt des Mittagstischs, der gerade für<br />

ältere alleinstehende Menschen wichtig ist. Den<br />

finanziellen Aspekt – schließlich ist das Essen<br />

günstig. Und der Mittagstisch ist „Keimzelle“. Als<br />

regelmäßige Anlaufstelle treffen sich hier Menschen,<br />

tauschen Informationen aus und es entstehen<br />

neue Ideen und Aktivitäten.<br />

Was tut sich gastronomisch noch am<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong>?<br />

Es tut sich gerade sehr viel. Das Projekt Stadtteilküche<br />

hat deswegen auch zum Ziel, die verschiedenen<br />

gastronomischen Projekte im Stadtteil zu<br />

integrieren und zu professionalisieren. So ist z. B.<br />

auch das ehemalige Projekt Mittagstisch in der<br />

Stadtteilküche aufgegangen.<br />

Welche Ziele verfolgt die Stadtteilküche<br />

noch?<br />

Mit der Stadtteilküche wird ein tragfähiges<br />

Gesamtkonzept angestrebt, um die gastronomische<br />

Nahversorgung im Stadtteil sicherzustellen.<br />

Mit der renommierten Qualifizierungsträgerin NOA


haben wir eine leistungsstarke Partnerin gefunden,<br />

der es uns ermöglicht, den großen Bedarf an<br />

gastronomischer Versorgung im Stadtteil zu<br />

decken.<br />

Wie sieht die Zukunft der<br />

Stadtteilküche aus?<br />

Derzeit wird geplant, Schulen und Kindertagesstätten<br />

mit warmem Essen zu versorgen. Auch<br />

bei den Senior/-innen gibt es großen Bedarf. Im<br />

Rahmen des neu gegründeten Seniorennetzwerkes<br />

möchte man „Essen auf Rädern“ anbieten. Und<br />

mit dem sogenannten „Qualifizierungsimbiss“<br />

will man Ausbildungsplätze schaffen.<br />

Ein weiteres Projekt ist die Förderung öffentlicher<br />

Gastronomie. Am <strong>Nordostbahnhof</strong> gibt es nur eine<br />

Gastwirtschaft, die die Bedarfe im Stadtteil nicht<br />

abdeckt. Da der Pachtvertrag in zwei Jahren ausläuft,<br />

sucht man derzeit nach einer Lösung, die<br />

dem Stadtteil gerechter wird. Erhöhter gastronomischer<br />

Bedarf wird es auch ab 2009 mit der neuen<br />

Jugendkirche von St. Lukas geben. Es gibt also<br />

viel zu tun!<br />

9 Keimzelle Mittagstisch


NEUE CHANCE FÜR SULTAN SOFRASI<br />

Nicht alle Projekte verlaufen wie geplant. Es<br />

gibt auch Projekte, bei denen das anfängliche<br />

Ziel revidiert werden muss. Wie beim<br />

Projekt Sultan Sofrasi. Die ursprüngliche<br />

Idee, den erfolgreichen türkischen Catering-<br />

Service an zwei Projektteilnehmerinnen zu<br />

übertragen und ihnen damit im Rahmen<br />

einer Existenzgründung eine berufliche<br />

Selbstständigkeit zu ermöglichen, ließ sich<br />

nicht verwirklichen.<br />

Wir fragen Helga Beßler, Mitarbeiterin im<br />

Bürgertreff <strong>Nordostbahnhof</strong> und Projektbegleiterin<br />

nach ihren Erfahrungen mit dem<br />

Projekt Sultan Sofrasi.<br />

Frau Beßler, die Teilnehmerinnen des<br />

Projektes Sultan Sofrasi konnten sich nicht<br />

als Unternehmerinnen behaupten. Ist das<br />

Projekt für Sie gescheitert?<br />

Ganz im Gegenteil. Der Catering-Service hat ganz<br />

viel Positives bewirkt. Die Teilnehmerinnen konnten<br />

sich beruflich qualifizieren. Sultan Sofrasi hat<br />

im Stadtteil Beachtung und Bewunderung erfahren.<br />

Er hat die Bewohner/-innen inspiriert und<br />

für neue Ideen gesorgt. Er hat Mut gemacht,<br />

etwas Neues zu wagen. So hat sich z. B. eine<br />

russische Frau im Anschluss an das Projekt Kochkultur<br />

mit einem Event-Cooking-Unternehmen<br />

selbstständig gemacht.<br />

Welche positiven Effekte hatte Sultan<br />

Sofrasi noch?<br />

Für die Teilnehmerinnen war Sultan Sofrasi eine<br />

wichtige Erfahrung. Der im Stadtteil angesehene<br />

Catering-Service stärkte ihr Selbstbewusstsein.<br />

Durch begleitende Kurse konnten die türkischen<br />

Frauen ihre Sprachkenntnisse, ihr betriebswirt-


schaftliches und kundenorientiertes Denken<br />

und Handeln wesentlich verbessern.<br />

Warum konnte nun das ursprüngliche<br />

Projektziel, nämlich aus Projektteilnehmerinnen<br />

Unternehmerinnen zu machen,<br />

nicht erreicht werden?<br />

Betriebswirtschaftliches Denken und Handeln<br />

war ganz wesentlich für den Erfolg des Catering-Services.<br />

Die konsequente Umsetzung von<br />

Aufgaben, wie z. B. Kostenabrechnung, Einkauf<br />

und Personaleinsatz war den Frauen oft<br />

nicht möglich, da ihre privaten Bedürfnisse<br />

und Belange dieses Denken und Handeln<br />

beeinträchtigte oder sogar ausschaltete. Auch<br />

ist eine Führungspersönlichkeit ganz wichtig.<br />

Diese konnte aus der Gruppe der Frauen nicht<br />

hervorgehen.<br />

Und was wird nun aus Sultan Sofrasi?<br />

Idee und Konzept des Catering-Services wird die<br />

gemeinnützigen Beschäftigungsgesellschaft<br />

Noris-Arbeit (NOA) übernehmen und damit<br />

Arbeitsplätze anbieten. Sultan Sofrasi bekommt<br />

also eine neue Chance.<br />

Was haben Sie aus dem Projekt gelernt?<br />

Ohne eine Führungspersönlichkeit aus der Frauengruppe,<br />

die konsequent das Ziel verfolgt, den<br />

Laden ordentlich, nach betriebswirtschaftlichen<br />

Richtlinien zu führen, ist eine Existenzgründung<br />

nicht möglich. Die privaten Probleme hatten<br />

immer Vorrang vor den beruflichen Anforderungen.<br />

Deswegen wäre es nötig gewesen, die Frauen<br />

in ein schon funktionierendes betriebswirtschaftliches<br />

Konzept einzubinden. Dies wird jetzt die<br />

NOA übernehmen.<br />

10 Neue Chance für Sultan Sofrasi


JEDER SOLL SICH WOHL FÜHLEN!<br />

Sandra Schrinner, ehemalige Projektteilnehmerin<br />

einer „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Qualifizierungsmaßnahme zur<br />

Vorbereitung auf eine gastronomische<br />

Existenzgründung und jetzt selbstständige<br />

Betreiberin des Mittagstischs im Bürgertreff<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong> (BüNo), berichtet von ihrem<br />

Gastroangebot.<br />

Frau Schrinner, was hat der Mittagstisch<br />

in Ihrem Leben verändert?<br />

Durch die „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-<br />

Projekte habe ich eine Arbeit gefunden, die mir<br />

sehr großen Spaß macht. Ich koche und backe<br />

sehr gerne. Aber vor allem gefällt mir die Aufgabe<br />

so gut, weil ich mich sozial engagieren und<br />

dem Stadtteil viel geben kann. Der Umgang mit<br />

den Menschen ist mir sehr wichtig. Besonders,<br />

weil der <strong>Nordostbahnhof</strong> ein sozial schwaches<br />

Viertel ist. Es gibt hier viele Menschen, die Probleme<br />

haben und diskriminiert werden. Beispielsweise<br />

einfach deswegen, weil ihre Zahnstellung<br />

nicht stimmt oder sie eine andere Hautfarbe<br />

haben.<br />

Was steht für die Gäste am Mittagstisch<br />

im Vordergrund?<br />

Natürlich geht es erst einmal darum, ein günstiges<br />

Mittagessen zu bekommen. Aber daneben<br />

spielt der Mittagstisch eine ganz große Rolle als<br />

Anlaufstelle und Ort der Begegnung. Hier treffen


sich Menschen, um sich auszutauschen und sich<br />

gegenseitig zu helfen, um die kleinen und<br />

großen Sorgen des Alltags zu besprechen.<br />

Auf was legen Sie Wert beim Mittagstisch?<br />

Ich möchte, dass sich beim Mittagstisch alle<br />

Gäste wohl fühlen – egal wie unterschiedlich sie<br />

sind. Mir ist wichtig, dass nicht nur das Essen<br />

gut ist, sondern dass auch eine nette und gesellige<br />

Atmosphäre herrscht. Deswegen kümmere<br />

ich mich auch um Dekoration oder um Musik.<br />

und eine bekannte Adresse für die gastronomische<br />

Versorgung von Veranstaltungen werde, wäre ich<br />

rundum glücklich. Für die Bewohner/-innen des<br />

<strong>Nordostbahnhof</strong>s wünsche ich mir, dass sich das<br />

BüNo weiter etabliert. Es gibt so tolle Angebote<br />

wie gerade erst der Maitanz. Ich wünsche mir,<br />

dass diese Angebote noch besser angenommen<br />

werden.<br />

Hat Sie die Qualifizierungsmaßnahme<br />

ausreichend auf Ihre Selbstständigkeit<br />

vorbereitet?<br />

Ja, ich habe sehr viel gelernt, z. B. notwendige<br />

Aufgaben wie Kalkulation und Mitarbeiter/<br />

-innenführung. Meine Selbstständigkeit war<br />

ein Lernprozess, bei dem ich vom BüNo ständige<br />

Begleitung erfahren habe. Auch jetzt noch stehen<br />

mir die Mitarbeiter/-innen mit Rat und Tat<br />

zur Seite.<br />

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?<br />

Dass ich mit dem Mittagstisch weiter im BüNo<br />

bleiben darf. Wenn ich meine Zusatzangebote<br />

wie den Catering-Service weiter ausbauen kann<br />

11 Jeder soll sich wohl fühlen!


<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong>


INHALT<br />

<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong><br />

1 Neue Chancen für die <strong>Süd</strong>stadt<br />

Barbara Schatz, Mitarbeiterin im Amt für<br />

Wohnen und Stadterneuerung<br />

2 Warum nicht mal Mini Venture<br />

Capital für Einzelunternehmer/-innen?!<br />

S. Boos, Quartiermanager<br />

6 Ich komme her, um keinen<br />

Stress zu haben<br />

Sinem und Sönmez, Teilnehmerinnen von<br />

Projekten des Jugendtreffs Schloßäcker<br />

7 Eine ganz andere Art von Lernen<br />

U. Eber, Herschelschule<br />

10 Nicht in Jahren, sondern in<br />

Generationen denken<br />

M. Ergün, Elternschule<br />

11 Meine Kinder sollen nicht hinten<br />

anstehen<br />

Teilnehmerin der Elternschule<br />

3 Ich baue mir ein Raketenfahrrad<br />

H. Forster, Forster Autovermietung<br />

4 Wer sich nicht auszudrücken weiß, fällt<br />

durch alle Raster<br />

M. Zirk, GEKKO<br />

5 Nicht nur konsumieren,<br />

sondern gestalten<br />

N. Muntahder, Jugendtreff Schloßäcker<br />

8 Informationen mit Event-Charakter<br />

kommen an<br />

M. Schwincke, emMesS media Service<br />

9 Stärker werden und weiter gehen<br />

Tanja, Ebru und Mourat, Teilnehmer/-innen<br />

von Projekten des emMesS media Service<br />

12 Praktikum mit einer<br />

Extraportion Koffein<br />

B. Riehl, Café Brunner<br />

13 Alles läuft perfekt!<br />

Elvira, Praktikantin im Café Brunner<br />

14 Wir sind sehr, sehr traurig<br />

Yekta, Adelina und Tugba, Teilnehmerinnen<br />

des Projekts „Ich halte durch“


NEUE CHANCE FÜR DIE SÜDSTADT<br />

1996 begann der Stadterneuerungsprozess in<br />

<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong>. In dem 61 ha großen,<br />

sehr heterogenen Gebiet konnte damals auf kein<br />

Netzwerk oder Arbeitskreis zurückgegriffen werden.<br />

Der Aufbau eines Meinungsträgerkreises<br />

war das Ziel, um Bewohner/-innen, Institutionen<br />

und Vereinen, die in der <strong>Süd</strong>stadt verankert<br />

sind, für den Prozess der Stadterneuerung zu<br />

interessieren und sie an der Entwicklung in<br />

ihren Stadtteilen zu beteiligen. Die Hauptthemen<br />

konzentrierten sich damals auf bauliche<br />

und städtebauliche Projektansätze wie Modernisierung<br />

von Altbauten und Nachkriegsbauten,<br />

Begrünung von Höfen sowie Gestaltungen im<br />

öffentlichen Raum. Mit dem Bund-Länder-Programm<br />

„Stadt- und Ortsteile mit besonderem<br />

Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ konnten<br />

ab 1999 endlich auch die Bedarfe berücksichtigt<br />

werden, die in einem heterogenen, kulturell<br />

gemischten und mit sozialen Problemen behafteten<br />

Stadtteil vorhanden sind und denen nicht<br />

mit baulichen Projekten allein zu begegnen<br />

war: Sprachkurse für Mütter, Schreibworkshops<br />

in Schulen, Tauschbörsen, Förderkurse für<br />

Klein- und Vorschulkinder um nur einige zu<br />

nennen. Zu einem wichtigen Baustein wurde,<br />

das Image der <strong>Süd</strong>stadt zu verbessern. Dies<br />

gelang mit neuen interessanten Veranstaltungen<br />

wie dem „Asia Night Market“ (dieser findet<br />

inzwischen als „Spirit Asia“ im vierten Jahr<br />

statt) und dem Projekt „Haltestelle!Kunst“, mit<br />

dem der <strong>Süd</strong>stadt 2007 große und nicht nur<br />

lokale sondern auch regionale und überregionale<br />

Aufmerksamkeit zuteil wurde.<br />

Aber die Möglichkeiten des Programms „Soziale<br />

Stadt“ und die für <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong> zur Verfügung<br />

stehenden Mittel sind begrenzt. Daher<br />

war es ein großes Glück für den Stadtteil, als<br />

im Jahr 2003 das Programm „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“ aufgelegt wurde. Mit den<br />

geförderten Mikroprojekten gelang es, zahlreiche<br />

junge Menschen und arbeitslose Erwachsene<br />

zu erreichen und ihnen mit vielfältigen<br />

Angeboten Motivation, Wissen und praktische<br />

Erfahrungen zu vermitteln. Viele der Mikropro-


jekte zeichneten sich durch einen ungewöhnlichen<br />

Rahmen aus. Die jährlichen resümierenden<br />

Diskussionen im Begleitausschuss zeigten<br />

uns Mitgliedern wie schwer es ist, aus einer<br />

Vielfalt von guten Projektideen auswählen zu<br />

müssen, da die zu vergebende Summe<br />

begrenzt war. Zu den beeindruckenden Projekten<br />

in diesen fünf Jahren gehörten u. a. der<br />

Bau eines Solartrikes mit Jugendlichen, das<br />

Gecco Dance Festival, die Schnupperpraktika<br />

im Bereich Veranstaltungen und Veranstaltungstechnik<br />

und vor allem die Beschäftigung<br />

von Schüler/-innen der Hauptschule Hummelsteiner<br />

Weg mit der jüngeren Geschichte. Sie<br />

recherchierten und schrieben die Lebensgeschichte<br />

eines <strong>Süd</strong>stadtbewohners auf und<br />

veröffentlichten diese in einem Buch mit dem<br />

Titel „Schüsse am Aufseßplatz“. Nicht weniger<br />

beeindruckend war aber auch, dass durch verschiedene<br />

Projekte und Praktika Menschen<br />

tatsächlich die Chance auf einen neuen<br />

Arbeitsplatz erhielten.<br />

Dass der Verwaltungsaufwand des Programms<br />

etwas aufwändig war und manchen Träger stark<br />

forderte – vor allem in Hinblick auf eine Vorfinanzierung<br />

– sollte nicht verschwiegen werden. Die<br />

Laufzeit von einem Jahr für die einzelnen Projekte<br />

war aus unserer Sicht etwas zu knapp bemessen.<br />

Die „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekte<br />

hatten aber immer den Vorteil basisorientiert zu<br />

sein und sie konnten relativ schnell umgesetzt<br />

werden. Das Ergebnis kann sich wie wir meinen<br />

sehen lassen: in der <strong>Süd</strong>stadt wurden 58 Projekte<br />

durchgeführt, die 1.307 Personen erreichten.<br />

Es bleibt zu hoffen, dass ein Programm wie „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ neu aufgelegt wird,<br />

da es erfolgreich in den „Soziale-Stadt“-Gebieten<br />

eingesetzt werden kann und die Ziele der Stadterneuerung<br />

hilfreich unterstützt und dort ergänzt,<br />

wo die Städtebauförderung an ihre Grenzen stößt.<br />

Barbara Schatz, Mitarbeiterin im Amt für<br />

Wohnen und Stadterneuerung<br />

1 Neue Chance für die <strong>Süd</strong>stadt


WARUM NICHT MAL MINI VENTURE CAPITAL FÜR EINZEL-<br />

UNTERNEHMER/-INNEN?!<br />

Stefan Boos, Quartiermanager am <strong>Nordostbahnhof</strong><br />

und in <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong><br />

berichtet von den Möglichkeiten und<br />

Grenzen des „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Programmes aus seiner ganz<br />

persönlichen Sicht.<br />

Herr Boos, welchen Part spielt das<br />

Quartiermanagement eigentlich bei<br />

den Projekten?<br />

Die Quartiermanager entwickeln neue Projekte,<br />

beraten Projektträger/-innen oder fungieren selber<br />

als Träger. Der große Vorteil der Quartiermanager<br />

ist ja, dass sie durch die Stadtteilarbeit<br />

die Bedarfe genau kennen.<br />

Kommt Ihnen das „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Programm als<br />

Quartiermanager wie gerufen?<br />

Ja! „Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekte<br />

sind ein wesentliches Element, um niederschwellige<br />

Projekte im kleinen Rahmen umzusetzen. Aus<br />

dem Stadtteil heraus können Träger/-innen,<br />

Bewohner/-innen und Ehrenamtliche Projekte<br />

initiieren. So ist das Programm sehr handlungs-,<br />

basis- und bedarfsorientiert und ein ideales<br />

Instrument für die Stadtteilentwicklung. Weiterer<br />

Vorteil von „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

ist, dass die Projekte kurzfristig umsetzbar sind.<br />

Haben Sie auch Schwächen des Programmes<br />

kennengelernt?<br />

Viele schreckt der hohe Verwaltungsaufwand ab<br />

– besonders in Bezug zur niedrigen Fördersumme<br />

von 10.000 EUR. Auch die Förderstruktur ist kritisch:<br />

Da Projektträger/-innen Projekte vorfinanzieren<br />

müssen, können manche Projekte nicht<br />

realisiert werden, weil das nötige Kapital fehlt.<br />

Ebenso ist die Förderdauer von einem Jahr zu<br />

kurz, um einen längerfristigen Projekterfolg zu<br />

erreichen. Eine Verlängerung lässt sich nur mit<br />

hohem Aufwand realisieren.<br />

Berufliche Qualifizierung und Integration<br />

stehen im Vordergrund des Programmes.<br />

Wie geeignet sind Mikroprojekte<br />

hierfür?<br />

Qualifizierung kann sehr gut mit „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“-Projekten umgesetzt werden.<br />

Allerdings halte ich das „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Programm nicht für geeignet,<br />

um das Ziel von dauerhafter und nachhaltiger


Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen.<br />

Um es einfach zu sagen: Das Programm ist<br />

zu klein, hat zu wenig Finanzmittel und zu kurze<br />

Förderzeiträume. Das Programm ist eher geeignet,<br />

Beschäftigung auf dem zweiten und dritten<br />

Arbeitsmarkt zu fördern.<br />

Wenn nicht Integration in den ersten<br />

Arbeitsmarkt, was sind dann die wesentlichen<br />

Effekte des „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Programmes?<br />

Ganz wichtig ist, dass Teilnehmer/-innen sinnvolle<br />

Tätigkeiten übernehmen können und positive<br />

Erfahrungen machen. Dass ihre Arbeit im<br />

Stadtteil geschätzt wird. Ein weiterer wesentlicher<br />

Effekt ist, dass das Programm viele Ideen<br />

in den Stadtteilen hervorgebracht und kreative<br />

Prozesse angeschoben hat.<br />

Wie sieht das ideale Förderprogramm aus,<br />

um soziale und beschäftigungswirksame<br />

Potenziale vor Ort zu aktivieren?<br />

Ein Programm mit weniger starren Förderregularien.<br />

Mehr Flexibilität wäre wünschenswert in<br />

der Förderdauer und -summe und bei den Förderschwerpunkten.<br />

Auch die Förderung von Ehrenamtsprojekten<br />

wäre ein großer Gewinn für die<br />

Stadtentwicklung. Ebenso wie die Unterstützung<br />

von Einzelunternehmer/-innen, die Kapital für<br />

eine gute Projektidee brauchen. Warum sollte<br />

man da nicht so etwas wie „Mini Venture Capital“<br />

zur Verfügung stellen!? Das wäre doch mal<br />

ein sinnvolles Risikokapital!<br />

2 Warum nicht mal Mini Venture Capital für Einzelunternehmer/-innen?!


ICH BAUE MIR EIN RAKETENFAHRRAD<br />

Wie sind Sie zu „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“ gekommen?<br />

Ich habe einen Bericht über „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ in der Tageszeitung gelesen.<br />

Über den Quartiermanager habe ich den Kontakt<br />

hergestellt. Kurz darauf durfte ich bei „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ meine Ideen vortragen.<br />

Horst Forster lebt und arbeitet im Quartier.<br />

Sein besonderes Interesse gilt solarbetriebenen<br />

Fahrzeugen. Von 2003 an war sein Unternehmen<br />

„Forster Autovermietung“ vier mal<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projektträger,<br />

zuletzt mit einer Machbarkeitsstudie<br />

für das „Jugendhaus der Technik.“ Herr Forster<br />

hat sich darüber hinaus im Begleitausschuss<br />

engagiert.<br />

Ging es Ihnen hauptsächlich um die<br />

finanzielle Förderung?<br />

Natürlich auch, aber für mich war der Status als<br />

Teilnehmer am Förderprogramm eigentlich noch<br />

wichtiger. Ich habe schon vor „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“ Konzepte entwickelt, wie ich<br />

Jugendlichen das Thema Technik näher bringen<br />

kann, und zum Teil habe ich diese Konzepte<br />

auch schon aus eigenen Mitteln umgesetzt; aber<br />

durch „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ hatte<br />

ich eine bessere Ausgangsposition für die Suche<br />

nach Projektpartner/-innen. Als offizieller Projektträger<br />

hatte ich bei der Kontaktaufnahme<br />

mit Schulen, Vereinen und Jugendhäusern ein<br />

ganz anderes Standing. Sonst hätte ich als Privatmann<br />

vorsprechen müssen. So konnte ich<br />

meine Ziele viel klarer vertreten.<br />

Welche Gründe haben Sie für Ihr<br />

Engagement?<br />

Mich fasziniert, wie sich Jugendliche entwickeln,<br />

wenn man sie individuell betreut. Ich hatte in


einem Projekt einen Jungen, der nicht die allergeringste<br />

technische Erfahrung hatte. Er wusste<br />

nicht einmal, was ein Schraubenschlüssel ist. Es<br />

hatte ihn nie interessiert. Nach unserem Kurs<br />

konnte er sogar ein Fahrrad einspeichen. Das können<br />

die wenigsten Erwachsenen. Fahrradmechaniker<br />

machen das. Das ist doch ein tolles Feedback:<br />

zu sehen, mit welchem Interesse und mit welchem<br />

Geschick dieser Junge schließlich dabei war.<br />

Warum können Jugendliche denn keine<br />

Fahrräder reparieren?<br />

Die meisten Jugendlichen aus meinen Projekten<br />

sitzen nachmittags zu Hause vor ihren Computern<br />

und machen Spiele. Das ist ihre Freizeitbeschäftigung.<br />

Sie machen nichts Praktisches, sie<br />

haben keine Möglichkeit, etwas Technisches auszuprobieren.<br />

Weder mit den Eltern noch mit<br />

anderen Jugendlichen teilen sie viele Aktivitäten.<br />

Sie bräuchten mehr Orte für gemeinsame<br />

Erfahrungen. Gerade im Bereich Technik passiert<br />

nicht viel. Es gibt zahlreiche Angebote aus dem<br />

Bereich Kunst und Kultur für Jugendliche, aber<br />

dafür interessieren sich nicht alle.<br />

Haben die Jugendlichen denn Lust, etwas<br />

Technisches auszuprobieren?<br />

Und wie! Man muss ihnen nur das richtige Setting<br />

bieten. Es darf nicht zu verschult sein. Am<br />

meisten lernen die Jugendlichen, wenn man<br />

ihnen Freiraum bietet. Bei uns dürfen sie auch<br />

verrückte Ideen verwirklichen. Sie können kommen<br />

und sagen: So, jetzt baue ich mir ein Raketenfahrrad.<br />

Gemeinsam gehen wir das Vorhaben an,<br />

und schnell wird allen klar, warum die Konstruktion<br />

eines Raketenfahrrads problematisch ist. Vielleicht<br />

wird aus dem Raketenfahrrad dann ein Elektrofahrrad.<br />

Man muss die Ideen der Jugendlichen ernst<br />

nehmen. Nur so fühlen sie sich als Person angenommen.<br />

Bei allem Spaß – haben die Projekte etwas<br />

sichtbar bewirkt bei den Teilnehmer/-innen?<br />

Ja. Erst diese Woche ist ein ehemaliger Projektteilnehmer<br />

bei uns in der Werkstatt vorbei gekommen.<br />

Er zeigte mir seine Brandwunden vom Schweißen.<br />

Ich hatte ihn als einen Jungen kennen gelernt, der<br />

ohne jede Idee war, was er aus seinem Leben<br />

machen sollte. Nichts interessierte ihn. Bei uns<br />

stellte er fest, dass es Freude machen kann, mit<br />

den eigenen Händen etwas zu konstruieren. Er lernte,<br />

sich etwas zuzutrauen. Heute ist er KFZ-Mechaniker<br />

bei BMW. Er hat seinen Traumjob gekriegt.<br />

Und wir haben den Anstoß dazu gegeben!<br />

3 Ich baue mir ein Raketenfahrrad


WER SICH NICHT AUSZUDRÜCKEN WEIß,<br />

FÄLLT DURCH ALLE RASTER<br />

Geschichtenerzählkunst wäre ein wunderbares<br />

Unterrichtsfach. Weil der Lehrplan das nicht<br />

vorsieht, hat Michael Zirk von der GeschichtenErzählKunstKOmpanie<br />

– kurz GEKKO – die<br />

Hauptschule Insel Schütt, die Konrad-Groß-<br />

Schule und die Herschelschule besucht, um<br />

mit den Schüler/-innen das Erzählen zu üben.<br />

Die Teilnehmenden sollen mit den spielerischen<br />

Mitteln der Geschichtenerzählkunst ihre<br />

sprachlichen Fähigkeiten erweitern.<br />

Wie kommt es, dass Jugendliche so<br />

sprachlos sind?<br />

Es gibt zahlreiche Studien, die nachweisen, dass<br />

Kinder, die mit dem Fernseher ruhiggestellt werden,<br />

einen deutlich niedrigeren Wortschatz haben<br />

als Gleichaltrige, die wenig oder kaum fernsehen.<br />

Auch haben Jugendliche, die viel Fernsehen,<br />

Schwierigkeiten, komplexe sprachliche<br />

Zusammenhänge zu verstehen oder selber zu bilden.<br />

Eine Erklärung hierfür ist, dass der Spracherwerb<br />

nicht aktiv eingeübt wird.<br />

Fällt es den Teilnehmenden schwer, sich auf<br />

das Erzählen einzulassen?<br />

Der Mensch ist ein „homo narrans“, d.h. auch<br />

Leute, denen eigentlich die Worte fehlen, erzählen<br />

gerne, was sie erlebt haben, oder noch klarer,<br />

was sie geleistet haben. „Hey Alter, genau da<br />

geht’s ab. Alles klar?“


Was sind das für Geschichten, die im Rahmen<br />

der GEKKO-Projekte erzählt werden?<br />

Gibt es Themen oder Vorgaben?<br />

Geschichten, die die Teilnehmenden selbst erfunden<br />

haben, die aus der Alltags- und Erlebniswelt<br />

der Jugendlichen kommen. Themen oder Vorgaben<br />

gibt es nur bei der Verengung des Prozesses<br />

auf die Bewerbungssituation.<br />

Wie vollzieht sich der Wechsel vom fantasievollen<br />

Fabulieren zum formaleren<br />

Bewerbungsgespräch?<br />

Fließend, als Transferleistung. Viele Schüler/<br />

-innen suchen in ihrer Hilflosigkeit Zuflucht zu<br />

festen Formulierungen, die sie in Musterbewerbungen<br />

gefunden haben oder die nicht ihrer<br />

Sprachwelt entsprechen. Das verbessert ihre<br />

Chancen nicht. Deshalb erfolgt aus dem freien<br />

Fabulieren die Ermutigung zu einer ebenso individuell<br />

vorgetragenen Bewerbung.<br />

Würden Sie abschließend sagen, die Projekte<br />

an den drei Schulen waren erfolgreich?<br />

Laut Lehrer Manfred Scharf fanden 80 % der Schüler/-innen<br />

seiner Abschlussklasse an der HS Insel<br />

Schütt entweder einen Ausbildungsplatz oder<br />

einen Platz in einer weiterführenden Schule. Im<br />

Vorjahr waren das nur 40 %. Inwieweit das nun an<br />

diesem Projekt hing oder an anderen günstigen<br />

Umständen, lässt sich natürlich kaum messen. Aber<br />

immerhin ist es eine Vergleichszahl.<br />

Auch das Projekt an der Konrad-Groß-Schule würde<br />

ich als erfolgreich bewerten. Das letzte Projekt an<br />

der Herschelschule jedoch nur eingeschränkt. Zwei<br />

Drittel haben gut mitgemacht, aber ein Drittel der<br />

Schüler/-innen hat sich gänzlich verweigert.<br />

Welche Faktoren sind für Erfolg oder Misserfolg<br />

verantwortlich zu machen?<br />

Den Erfolg eines Projekts beeinflussen günstige<br />

Rahmenbedingungen: vor allem die Unterstützung<br />

durch Lehrer/-innen und Eltern. Das Projekt muss<br />

von allen Beteiligten gewollt und mitgetragen<br />

werden, nur so lässt sich eine angstfreie und<br />

lockere Atmosphäre in den Kursen herstellen.<br />

Grundsätzlich ist es in der neunten Klasse<br />

eigentlich schon zu spät: Gezielte Sprachförderung<br />

muss viel früher beginnen.<br />

Warum ist Sprachkompetenz überhaupt<br />

so wichtig?<br />

Wir leben in einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft.<br />

Wer sich nicht auszudrücken<br />

weiß, fällt durch alle Raster.<br />

4 Wer sich nicht auszudrücken weiß, fällt durch alle Raster


NICHT NUR KONSUMIEREN, SONDERN GESTALTEN<br />

Die Sozialpädagogin Nadja Muntahder leitet<br />

den Jugendtreff Schloßäcker, eine Einrichtung<br />

der Stadt Nürnberg. Fünf Jahre lang hat<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ Projekte<br />

des Jugendtreffs gefördert, zuletzt die Musicalproduktion<br />

“Celebrate Youth”.<br />

Der Jugendtreff Schloßäcker ist eine städtische<br />

Einrichtung. Warum sind zusätzliche<br />

Fördergelder wichtig?<br />

Unsere Grundfinanzierung ist gesichert, aber das<br />

Budget reicht natürlich nur für den Alltagsbetrieb.<br />

Zusätzliche Projekte, bei denen mit den<br />

Jugendlichen über einen längeren Zeitraum<br />

wirklich etwas erarbeitet wird, sind damit wenig<br />

möglich. Für unser Musical-Projekt zum Beispiel<br />

mussten wir uns Honorarkräfte aus den Bereichen<br />

Choreografie, Tontechnik, Videoproduktion<br />

und Fotografie einkaufen.<br />

Frau Muntahder, Musical klingt nach Event<br />

und guter Laune. Wie haben die Jugendlichen<br />

von dem Projekt profitiert?<br />

Gute Laune ist auch gar nicht verkehrt für diese<br />

Zielgruppe. Denn die meisten kommen aus Konfliktfamilien<br />

und blicken hoffnungslos in die<br />

Zukunft. Das Highlight Musical hat ihnen ganz<br />

viel positive Gefühle und Energie vermittelt und<br />

ihr Selbstwertgefühl gesteigert.<br />

Ein wichtiger Aspekt an der Musical-Arbeit war,<br />

dass sich die Jugendlichen einmal ganz anders<br />

erleben und ausdrücken konnten. Die kreative<br />

Arbeit mit Musik, Text, Tanz und Gesang bot<br />

ihnen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten auszuprobieren.<br />

Aufgrund ihres sozialen Status und fehlender<br />

finanzieller Mittel ist ihnen das sonst<br />

kaum möglich.<br />

Auch das gemeinsame Planen und Organisieren<br />

war für die jungen Menschen eine wichtige Lernerfahrung,<br />

denn die meisten kennen von zu Hause<br />

aus keine Strukturen. Das Musical bot den<br />

Jugendlichen zudem die Gelegenheit, sich mit<br />

ihrer eigenen Situation auseinanderzusetzen.<br />

Die Jugendlichen kennen von zu Hause<br />

aus keine Strukturen, sagen Sie. Woran<br />

liegt das?<br />

Manche Eltern dieser Jugendlichen sind doppelbelastet,<br />

sie haben zwei Jobs und arbeiten in


Schicht, andere sind arbeitslos, in manchen<br />

Familien gibt es ein Suchtproblem ... Unseren<br />

Jugendlichen fehlt es an Unterstützung. Die<br />

einzige Struktur in ihrem Leben ist die Schule,<br />

und die überfordert sie dann von Anfang an,<br />

weil sie nicht darauf vorbereitet sind. Sie<br />

bekommen schlechte Ergebnisse, können kein<br />

Selbstbewusstsein aufbauen, trauen sich<br />

nichts zu.<br />

Auch die Schulen sind überfordert. Denn die<br />

Jugendlichen, die zu uns kommen, bräuchten<br />

eigentlich Einzelunterstützung, und das können<br />

die Schulen gar nicht leisten.<br />

Wir können das nicht alles auffangen und große<br />

Wunder bewirken, aber wir hatten immer<br />

wieder Jugendliche in den Projekten, die sehr<br />

viel für sich herausholen konnten. Die<br />

Jugendlichen kommen freiwillig zu uns, und<br />

sie kommen gerne. Das ist eine ganz wichtige<br />

Basis für unsere Arbeit.<br />

Die Jugendlichen können sich ausprobieren<br />

– das geht bei ihren Projekten so weit,<br />

dass sie auch in die Konzeptionsphase mit<br />

eingebunden werden. Sind die Jugendlichen<br />

mit so viel Eigenständigkeit und Verantwortung<br />

nicht überfordert?<br />

Nein, unser Konzept funktioniert und wird auch<br />

sehr gut angenommen. Mit Hilfe von Workshops<br />

werden die Jugendlichen in den gesamten<br />

Ablauf eingebunden. So haben wir bei der Musicalproduktion<br />

viele Bereiche in die Hand unserer<br />

Jugendlichen gegeben, zum Beispiel die gesamte<br />

Dokumentation, die Internetseite, die Ton- und<br />

Beleuchtungstechnik bei der Aufführung. Unter<br />

Anleitung von Profis haben sie ganz nach ihrer<br />

Interessenlage zusätzliche Kompetenzen erwerben<br />

können. Dadurch bieten sich den Jugendlichen<br />

ja auch tolle Möglichkeiten. Wer hat im<br />

Alltag schon Gelegenheit, am Mischpult zu stehen<br />

...<br />

Uns ist wichtig, dass die Jugendlichen Angebote<br />

nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten.<br />

Deswegen setzten wir diesen Baustein jetzt<br />

eigentlich bei jedem Projekt ein.<br />

5 Nicht nur konsumieren, sondern gestalten


ICH KOMME HER, UM KEINEN STRESS ZU HABEN<br />

Sönmez und Sinem besuchen seit vielen<br />

Jahren den Jugendtreff Schloßäcker, er<br />

ist eine wichtige Koordinate in ihrem Leben<br />

geworden. Auch an einigen der hier angebotenen<br />

„Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Projekte haben sie teilgenommen.<br />

Sinem und Sönmez, was macht Ihr zur<br />

Zeit? Geht Ihr noch zur Schule?<br />

Sinem: Ich habe noch zwei Jahre Abendschule<br />

vor mir. Ich mache mein Abitur.<br />

Sönmez: Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich<br />

fand Schule uninteressant. In meinem Freundeskreis<br />

spielte Schule keine Rolle.<br />

Wenn Ihr etwas an der Schule ändern<br />

könntet, was wäre das?<br />

Sinem: Ich habe eine Lehrerin, die nicht erklären<br />

kann. Und wenn ich nachfrage, fühlt sie<br />

sich gleich angegriffen. Ich bekomme einfach<br />

keine Antworten auf meine Fragen. Außerdem<br />

benotet sie ungerecht. Das erste, was ich<br />

machen würde, wäre: diese Lehrerin auszutauschen!<br />

Sönmez, du warst an der Herschelschule.<br />

Ich habe die Herschelschule vor kurzem<br />

besucht und mir die Schulcafeteria<br />

angesehen ...<br />

Sönmez: ... ja, ich habe von der Cafeteria<br />

gehört. Das ist eine gute Idee! Die Schüler, die<br />

Nachmittagsunterricht haben, können sich jetzt<br />

in die Cafeteria setzen.<br />

Beim Warten auf den Nachmittagsunterricht


habe ich das Rauchen angefangen. Im Park. Wir<br />

standen immer im Park herum, wussten nicht,<br />

wo wir hingehen sollten.<br />

Welche Rolle spielt der Jugendtreff in<br />

Eurem Leben?<br />

Sinem: Ich komme hier her, um mal abzuschalten,<br />

um keinen Stress zu haben.<br />

Stellt Euch vor, Ihr dürftet für den Jugendtreff<br />

Schloßäcker Projekte vorschlagen, die<br />

ganz speziell auf Euch zugeschnitten sind.<br />

Was könnten das für Projekte sein?<br />

Sinem: Ausflüge. Zusammen mit den anderen<br />

etwas Interessantes sehen und erleben.<br />

Sönmez, du zuckst die Achseln. Stell dir<br />

vor, jemand gibt dir 10.000 EUR in die<br />

Hand, und du sollst für den Jugendtreff<br />

damit etwas organisieren. Was wäre das?<br />

Sönmez: Ich würde das nicht allein entscheiden.<br />

Ich würde mich mit den anderen absprechen.<br />

Sinem, Sönmez, was habt Ihr mit Eurem<br />

Leben geplant? Wo geht es hin?<br />

Sinem: Nach dem Abitur möchte ich Jura studieren.<br />

Sönmez: Ich habe keine Pläne. Ich habe nicht<br />

einmal eine Ausbildung. Ich habe zwei Ausbildungen<br />

begonnen, eine als Bäckereifachverkäuferin,<br />

eine als Einzelhandelskauffrau. Wegen<br />

einer Mehlallergie konnte ich die erste nicht zu<br />

Ende machen. Und in der zweiten habe ich die<br />

Probezeit nicht bestanden. Ich würde gern Friseurin<br />

werden, aber da bekommt man fast nur<br />

noch mit mittlerer Reife einen Ausbildungsplatz.<br />

Ich will ja nicht Bankkauffrau werden ...<br />

das ist schon unverschämt.<br />

Bekommst du im Jugendtreff Unterstützung?<br />

Sönmez: Ja, auf jeden Fall. Beim Schreiben<br />

von Bewerbungen. Und Bewerbungsgespräche,<br />

die üben wir hier richtig intensiv. Falls es mal<br />

dazu kommt.<br />

Sehen Eure Eltern gern, dass Ihr in den<br />

Jugendtreff kommt?<br />

Sönmez: Meiner Mutter war das anfangs gar<br />

nicht recht. Es gibt viele türkische Männervereine,<br />

das ist selbstverständlich, aber dass<br />

Mädchen auch Anlaufpunkte haben, das war<br />

für sie ungewohnt. Sie hatte Angst, dass hier<br />

nur Jungs sind! Aber sie ist einfach mitgekommen<br />

und hat sich den Jugendtreff angeschaut.<br />

Er hat ihr gefallen. Und sie fand es gut, dass<br />

wir hier auch Bewerbungstraining und andere<br />

sinnvolle Dinge machen. Schließlich hat sie<br />

gesagt: „Gott sei Dank gibt es das hier.“<br />

6 Ich komme her, um keinen Stress zu haben


EINE GANZ ANDERE ART VON LERNEN<br />

Uwe Eber, Jugendsozialarbeiter an der<br />

Herschelschule, hat mit der Schulleitung<br />

gemeinsam das Projekt Schulcafé initiiert,<br />

das von Schüler/-innen betrieben wird<br />

und so eine praxisorientierte Vorbereitung<br />

auf den Einstieg ins Berufsleben bietet.<br />

Wie entstand die Idee zum Schulcafé?<br />

Die Idee entstand gemeinsam mit dem Schulleiter,<br />

Herrn Titgemeyer. Die Grundidee war einfach,<br />

ein Café aufzubauen. Unser Schulhaus ist<br />

sehr alt, die Architektur sieht keine Ruhezonen<br />

vor. Es gab für Schüler/-innen keine Möglichkeiten,<br />

sich außerhalb des Unterrichts irgendwo<br />

hinzusetzen.<br />

Der erste Gedanke war also, einen ruhigen Ort<br />

zu schaffen, an dem sich die Schüler/-innen<br />

niederlassen können.<br />

Dann reifte in mir die Idee, das Projekt Schulcafé<br />

mit einer Möglichkeit zur beruflichen Qualifizierung,<br />

mit einer Schülerfirma zu verknüpfen.<br />

Das Café ist ideal dafür, denn es ist auf<br />

ganz unterschiedliche Bereiche angewiesen:<br />

Einkauf, Service, Kochen, Kaufmännische Tätigkeiten<br />

wie Abrechnung, Buchhaltung, Kalkulation.<br />

Das Café ist wie eine kleine Firma mit verschiedenen<br />

Abteilungen.<br />

Wie sind sie zu Ihren „Angestellten“<br />

gekommen?<br />

Wir haben eine offizielle Stellenausschreibung<br />

gemacht. Schon eine ganze Weile vor Projektbeginn.<br />

Begleitet von sehr viel Werbung.<br />

Die Interessent/-innen mussten eine Bewerbung<br />

schreiben. Wir haben die Bewerbungen gesichtet<br />

und die Schüler/-innen zu Vorstellungsgesprächen<br />

eingeladen.<br />

Nach welchen Kriterien haben Sie die<br />

Bewerber/-innen ausgewählt?<br />

Es gab ungefähr 40 Bewerbungen für 30 Plätze.<br />

Wir haben mit allen Bewerber/-innen ein<br />

Gespräch geführt. Es ging uns darum, das Interesse<br />

am Projekt herauszufinden.<br />

Wir haben das heruntergebrochen auf ganz konkrete<br />

Fragen. Was machst du, wenn ein Gast Kaffee<br />

bestellt, du aber merkst: niemand hat Kaffeepulver<br />

eingekauft? Oder: Wie planst du dein


Essen? Auf was achtest du, wenn du einkaufen<br />

gehst? Was ist dir wichtig bei den Produkten,<br />

die du kaufst?<br />

Wir haben auch eine Probezeit. Denn viele stellten<br />

sich die Arbeit im Café anders vor. Es gab<br />

auch einige wenige, die schnell ausgestiegen<br />

sind, weil sie festgestellt haben: Das ist<br />

anstrengend.<br />

Aber die Mehrheit ist sehr engagiert. Es sind<br />

eher die Details, an denen wir jetzt arbeiten.<br />

Die Zusammensetzung der Gruppen etwa. Die<br />

meisten wollen nur bedienen. Buchhaltung,<br />

Kalkulation – das empfinden viele als trocken,<br />

da müssen wir die Teilnehmer/-innen stark<br />

motivieren.<br />

Hatten Sie mit so viel Interesse<br />

gerechnet?<br />

Ehrlich gesagt, ich war ein wenig skeptisch.<br />

Schließlich fordern wir viel ein, z. B. was<br />

Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit anbetrifft.<br />

Aber ich bin positiv überrascht worden.<br />

7 Eine ganz andere Art von Lernen


Sind die Teilnehmer/-innen an dem<br />

Projekt die, die ohnehin interessiert<br />

und engagiert sind?<br />

Nicht nur. Ein Teil derer, die im Schulcafé<br />

mitmachen, gehört ganz klar zu den Schüler/<br />

-innen, die sich auch in anderen Projekten<br />

engagieren. Wir haben aber auch einige in der<br />

Firma, die im Unterricht immer wieder Probleme<br />

haben mit Regeln, mit verlässlichen Zusagen,<br />

aber alle zeigen sich im Projekt von einer sehr<br />

guten Seite.<br />

Wie reagiert die Gruppe auf<br />

Schwierigkeiten?<br />

Da sind wir noch im Prozess. Viele haben auch<br />

im Café Probleme mit Pünktlichkeit. Aber das<br />

reguliert sich zunehmend durch die Reaktionen<br />

der anderen. Wenn sechs Leute Dienst haben,<br />

und drei stellen fest, dass sie früher gehen müssen,<br />

weil sie Nachmittagsunterricht haben, verschlechtert<br />

das natürlich die Stimmung. Da<br />

moderieren wir noch viel in den Teambesprechungen.<br />

Aber die Selbstkontrolle durch die


Schüler/-innen nimmt zu. Weil sie merken: Moment,<br />

da muss ich ja viel mehr arbeiten, wenn drei ausfallen,<br />

weil sie wieder ihren Termin verschusselt haben.<br />

Was unterscheidet so ein Projekt vom Regelunterricht?<br />

Das Projekt ermöglicht den Schüler/-innen eine ganz<br />

andere Art von Lernen. Wir haben auch Schüler/<br />

-innen im Projekt, die nicht alle Grundvoraussetzungen<br />

optimal erfüllen, aber große Lust haben, mit zu<br />

arbeiten. Und die bekommen hier die Chance, sich<br />

auszuprobieren, an den Aufgaben zu wachsen.<br />

Wichtig ist auch die soziale Situation, nur im Team<br />

funktioniert das Café, verbindliche Absprachen sind<br />

absolut notwendig.<br />

Sie berichten so begeistert – das Projekt ist<br />

also erfolgreich?<br />

Absolut! Das Projekt läuft noch nicht sehr lange.<br />

Aber bislang bin ich sehr zufrieden.<br />

Wir haben jetzt mit Aktionen begonnen, ich möchte<br />

da ganz besonders meine Kollegin Frau Fürst hervorheben,<br />

die unsere Schüler/-innen mit viel Kreativität<br />

zu Variationen im Angebot anregt. Jetzt im Sommer<br />

gibt es Fruchtcocktails und Eis. Sie animiert die<br />

Schüler/-innen dazu, gelegentlich Pausenverkauf<br />

zu veranstalten, als Werbung für das Café.<br />

Wir sind ja noch ganz am Anfang. Wir haben die<br />

Idee, diesen Raum für künstlerische oder musikalische<br />

Veranstaltungen zu nutzen. Das Café ist auch<br />

eine Chance, Eltern stärker mit einzubeziehen.<br />

Schule muss offen sein. Wir haben viele Schüler/<br />

-innen mit Migrationshintergrund, da ist die<br />

Hemmschwelle für die Eltern oft sehr groß, in die<br />

Schule zu kommen.<br />

Das klingt alles so perfekt – gab es denn<br />

auch schwierige Momente?<br />

Unsere Hauptschwierigkeiten lagen eher im Vorfeld.<br />

Die Finanzierung z. B. war nicht klar. Nachdem<br />

wir die Zusage der Förderung durch „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ hatten, lief eigentlich<br />

alles rund.<br />

Was haben Sie aus dem Projekt gelernt?<br />

Das Café hat mir ein weiteres Mal gezeigt, wie viel<br />

Potenzial eigentlich in den jungen Menschen stekkt.<br />

Dieser Wille der Schüler/-innen, etwas vollkommen<br />

Neues auszuprobieren, war für mich sehr<br />

beeindruckend.<br />

Kommt dieses Potenzial im Unterricht nicht<br />

zum Vorschein?<br />

Nur bedingt. Es ist erstaunlich, was Schüler/<br />

-innen aus sich herausholen, wenn man ihnen<br />

etwas in die Hand gibt, ihnen etwas zutraut.<br />

Natürlich ist auch die Projektarbeit Lernen, unser<br />

Projekt Schulcafé ist sehr zielorientiert, aber die<br />

Schüler/-innen empfinden es nicht so, weil sie<br />

sich im Projekt besser einbringen können. Wir<br />

begegnen den Jugendlichen in diesem Projekt<br />

mehr auf Augenhöhe. Sie spüren unseren Respekt.<br />

Wir sind ein Team. Außerdem ist der Erfolg sichtbarer,<br />

unmittelbarer.<br />

Frau Fürst pflegt zu sagen: Ohne Euch können wir<br />

zumachen. Ihr seid die Hauptpersonen.<br />

7 Eine ganz andere Art von Lernen


INFORMATIONEN MIT EVENT-CHARAKTER KOMMEN AN<br />

Broschüren über Berufe sind hilfreich –<br />

wenn man sie liest. Journalist Matthias<br />

Schwincke vom emMeS media Service verpackte<br />

Informationen gemeinsam mit<br />

Jugendlichen spannender. In seinen<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“-Projekten<br />

„blick B.“ oder „Hip-Hop-A-Job“<br />

erarbeiteten Jugendliche, die sich an der<br />

Schwelle Schule-Beruf befinden, Informationen<br />

über Berufsbilder auf völlig ungewohnte<br />

Weise. Und verbesserten zugleich<br />

soziale und kommunikative Kompetenzen.<br />

Warum ist es schwer, Jugendliche mit<br />

herkömmlichen Berufsinformationen zu<br />

erreichen?<br />

Printmedien sind Schüler/-innen relativ fern.<br />

Das Interesse am Lesen ist gering. Zum einen,<br />

weil die Jungen und Mädchen sprachlich nicht<br />

fit sind, zum anderen können sie sich oft nur<br />

schlecht konzentrieren. Darum organisierte ich<br />

mit ihnen Exkursionen in die Praxis. Vor Ort<br />

interviewten sie Vertreter/-innen verschiedener<br />

Berufe. Über die Berufsbilder wie zum Beispiel<br />

Tierpflege oder Verkauf schrieben sie Erlebnisberichte<br />

– oder wir bauten Berufe in Rollenspiele<br />

ein. Im letzten Projekt „Hip-Hop-A-Job“<br />

verarbeiteten wir Berufsinhalte in Hip-Hop-<br />

Songs. Ein toller Erfolg! Man muss die Sprache<br />

der Jugendlichen sprechen, damit man sie<br />

erreicht. Immer dann, wenn Informationen<br />

einen Eventcharakter bekamen, wurden sie von<br />

den Schüler/-innen interessiert aufgenommen.<br />

Was haben die Jugendlichen gelernt?<br />

Es spezifizierten sich schnell Vorlieben und<br />

Fähigkeiten heraus. Wir wussten bereits nach<br />

wenigen Tagen, wer gut interviewen, fotografieren<br />

oder schreiben kann. Das förderten wir<br />

gezielt. Außerdem lernten die Teilnehmer/-innen,<br />

wie man richtig telefoniert, formuliert, kommuniziert.<br />

Die Projekte waren gute Spielwiesen für die<br />

Jugendlichen, um zu erkennen, was in ihnen<br />

steckt und was ihnen liegt.<br />

Einige Schüler/-innen waren bei mehreren<br />

Projekten dabei. Konnten Sie bei ihnen<br />

eine Entwicklung beobachten?<br />

Viele Teilnehmer/-innen gewannen im Laufe der<br />

Projekte deutlich an Selbstbewusstsein. Das wirkte<br />

sich positiv auf die Atmosphäre aus: Die Gruppen<br />

gingen respektvoller miteinander um.<br />

Manche gingen in den Projekten voll auf, wie<br />

zum Beispiel Ebru. Sie wurde nach einem Projekt


ereits Tutorin, organisierte Termine, leitete<br />

andere Hauptschüler/-innen an, übernahm Führungsfunktionen<br />

innerhalb der Gruppe. Oder<br />

Mourat – er wurde zum Tutor des Hip-Hop-Projekts.<br />

Beide übernahmen freiwillig und gern<br />

mehr Verantwortung.<br />

Ihre Teilnehmer/-innen standen an der Schwelle<br />

von der Schule zum Beruf. War die Sorge, keinen<br />

Ausbildungsplatz zu bekommen, ein Thema?<br />

Nein – im Gegenteil. Sie waren eher gedankenlos.<br />

Ich war überrascht, wie verspielt diese Schüler/-innen<br />

noch waren, obwohl sie kurz vor dem<br />

Einstieg ins Berufsleben standen. Es hat mich<br />

immer wieder erstaunt, dass sie auf den Übergang<br />

Schule-Beruf nicht mit der notwendigen<br />

Ernsthaftigkeit vorbereitet wurden. Unsere Projekte<br />

konnten die Jugendlichen ein wenig wachrütteln<br />

– besonders die Firmenbesuche. Manche<br />

Jugendliche erreichten diese Signale aus der<br />

Realität und störten ihre Traumexistenz ganz<br />

erheblich. Andere schoben die Zukunft auch<br />

dann noch beiseite – nach dem Motto: Das<br />

kommt später.<br />

Wie beurteilen Sie rückblickend „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ als Förderprogramm?<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ ermöglichte<br />

mir und den Jugendlichen eine sehr freie Arbeit,<br />

da eine Vollfinanzierung des Mikroprojektes<br />

immer gewährleistet war. Als ein wenig nachteilig<br />

empfand ich, dass ich die Projekte jährlich<br />

modifizieren musste. Für mich als Projektträger<br />

war das schwierig, da ich so fast immer wieder<br />

ganz von vorn anfing.<br />

8 Informationen mit Event-Charakter kommen an


STÄRKER WERDEN UND WEITER GEHEN<br />

Exkursionen in Betriebe, Interviews mit<br />

Angestellten und das Aufarbeiten der<br />

Erlebnisse für andere Schüler/-innen – die<br />

verschiedenen „Lokales Kapital für soziale<br />

Zwecke“-Projekte von Journalist Matthias<br />

Schwincke sollten Jugendlichen Medienund<br />

Sozialkompetenzen vermitteln. Wie sie<br />

von dem Projekt profitierten – das erzählen<br />

Mourat (18), Ebru (17) und Tanja (20).<br />

Warum fällt vielen Schüler/-innen der<br />

Wechsel in den Beruf so schwer?<br />

Tanja: Vielen fehlt die Eigeninitiative – es sollte<br />

in der Schule mehr Wert darauf gelegt werden,<br />

Initiative zu fördern. Aber ich weiß nicht, ob die<br />

Schule wirklich an alle rankommt. Vielleicht sollte<br />

man mehr sozialpädagogische Fachkräfte einstellen<br />

wie etwa in der Sperberschule. Da hatten<br />

die Jugendlichen jemanden, mit dem sie ihre<br />

Probleme besprechen konnten, der ihnen Mut<br />

machte und sie antrieb.<br />

Mourat: Viele wachen erst auf, wenn sie im<br />

Beruf nicht klarkommen.<br />

Tanja: Die Schüler/-innen denken eben, sie<br />

haben noch viel Zeit.<br />

Was haben Euch die Projekte gebracht?<br />

Tanja: Der redaktionelle Teil hat mich ganz<br />

besonders interessiert – die Interviews, das<br />

Schreiben. Ich habe zum Beispiel gelernt, wie<br />

man in eine Reportage einsteigt. Das hat mir<br />

danach bei Bewerbungen und im Beruf geholfen.


Klar, Erfolge hatte ich nicht gleich – ich habe<br />

auch über 100 Bewerbungen geschrieben, lernte<br />

dann drei Jahre Rechtsanwaltsfachangestellte, bin<br />

nun fertig. Aber das ist mir immer noch zu<br />

wenig. Ich will aufsteigen und mehr verdienen.<br />

Ich mache jetzt mein Abitur nach und will Jura<br />

studieren.<br />

Ebru: In der achten Klasse stieg ich beim Projekt<br />

„ Blick b.“ ein. Mich haben eigentlich schon<br />

immer sehr viele Berufsfelder interessiert – aber<br />

ich konnte mich nicht entscheiden. Dank der Projekte<br />

habe ich sehr viele Praktika machen können<br />

und viele Betriebe kennen gelernt. Ich habe<br />

schon als Gleisbauerin, Altenpflegerin, medizinische<br />

Fachangestellte gearbeitet. Drei Jahre lang<br />

habe ich bei den Projekten von Herrn Schwincke<br />

mitgemacht. Und wenn ich das in den Bewerbungen<br />

schreibe, kommt es immer gut an.<br />

Mourat: Ich konnte in Berufe reinschnuppern, die<br />

mich sonst nie interessiert hätten. Ich war<br />

damals in einer Berufsmaßnahme. Freunde erzählten<br />

mir von den Projekten, da wollte ich auch<br />

mitmachen. 2007 habe ich eine Ausbildung als<br />

Fachverkäufer in einer Bäckerei begonnen. In<br />

einem Projekt hatten wir eine Bäckerei besucht –<br />

meine Berufswahl ist also kein Zufall ...<br />

Wie begegneten Euch die Mitarbeiter/-<br />

innen der Betriebe, die Ihr besucht<br />

habt?<br />

Mourat: Die haben zum Glück nicht gedacht:<br />

„Jetzt kommt schon wieder eine Klasse, wieder<br />

mehr Arbeit.“ Sondern sie haben sich<br />

besonders viel Mühe gegeben. Etwa der Frisör,<br />

der hat uns ausführlich gezeigt, welchen<br />

Schnitt er warum wählt. Man konnte ohne<br />

Scheu fragen, alle waren offen, locker, haben<br />

auch mal Witze gemacht.<br />

Hat sich für Euch etwas verändert durch<br />

Eure Teilnahme an den Projekten?<br />

Tanja: Ich kann mich besser ausdrücken. Und<br />

ich bin selbstsicherer. Die Projekte haben mir<br />

geholfen, meine Stärken zu erkennen. Ich<br />

wusste vorher zum Beispiel gar nicht, dass<br />

ich sehr gut organisieren kann.<br />

Ebru: Ich bin auch selbstsicherer im Umgang<br />

mit anderen. Ich kann gut Bewerbungen<br />

schreiben und habe keine Angst mehr vor<br />

Vorstellungsgesprächen.<br />

Mourat: Ich bin jetzt im ersten Lehrjahr beim<br />

„Casa Pane“. Es gab eine Zeit, da wollte ich<br />

aufgeben. Aber ich sagte mir: Das schaffst<br />

9 Stärker werden und weiter gehen


du. Ich bleibe dabei, ich halte die Regeln ein.<br />

Ich gebe etwas von mir, sie geben etwas von<br />

sich. In den Projekten war das nicht anders.<br />

Was war gut – was vielleicht enttäuschend?<br />

Mourat: Mir hat alles sehr gut gefallen. Wir hatten<br />

immer Spaß. Und der Besuch in der Bäckerei<br />

– das war quasi die Einführung in den Beruf, den<br />

ich jetzt ausübe. Ich wusste, was auf mich<br />

zukommt.<br />

Das letzte Projekt, die Hip-Hop-CD mit den<br />

gesungenen Berufen, war für mich das schönste.<br />

Im Vorfeld haben wir uns überlegt: Was ist überhaupt<br />

Hip-Hop? Wie weit kann man textlich<br />

gehen? Wir haben gelernt, wie man das macht.<br />

Darauf bin ich stolz. Und ich bin sicher, die<br />

Jugendlichen werden die CD hören, weil Musik<br />

sie einfach interessiert. Die Schüler sind eben<br />

faul. Lesen wollen die nichts.<br />

Leider war die Zeit beim letzten „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“-Projekt mit der CD relativ<br />

knapp. Wir hätten noch mehr Lieder produzieren<br />

können.<br />

Tanja: Ich hatte auch immer Spaß. Die Stunden<br />

waren locker. Wir hatten ja nie das Gefühl, vor<br />

einem Lehrer zu stehen. Negativ war, dass einige<br />

der Teilnehmenden nicht so mitzogen. Da dachte<br />

ich mir: „Wacht doch mal auf, Leute!“ Diese<br />

Einstellung hat mich extrem gestört.<br />

Habt Ihr Freund/-innen davon erzählt?<br />

Alle: Klar.<br />

Ebru: Und ich habe meine Schwester gleich mitgebracht.<br />

Mourat: Ich habe meinen Bruder und einen<br />

Freund mitgebracht. Der Bekannte ist Stuckateur<br />

und er hat im letzten „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Projekt ein Lied über seinen<br />

Beruf gesungen.


Fühlt Ihr Euch gut vorbereitet für den<br />

Beruf?<br />

Ebru: Ja, ich glaube, ich kann beruflich ganz gut<br />

starten. Aber ich habe mich entschieden, jetzt<br />

keine Ausbildung zu machen. Ich habe einen<br />

Noten-Durchschnitt von 1,8 und werde auf die<br />

Wirtschaftsschule gehen.<br />

Mourat: Es gibt ja immer etwas zu lernen, ich<br />

würde gern weiter bei Projekten mitmachen. Und<br />

neue Schüler/-innen, die so unerfahren sind wie<br />

wir am Anfang, die könnten wir coachen. Manche<br />

Jugendliche lassen sich ja von Eltern oder Lehrkräften<br />

nicht an die Hand nehmen, aber vielleicht<br />

von uns? Wir sprechen ihre Sprache.<br />

Tanja: Dann könnten sie sehen, dass man auch<br />

mehr als die Hauptschule schaffen kann. Und<br />

dass man nach ein paar Bewerbungen, die zurükkkommen,<br />

nicht gleich aufgibt.<br />

9 Stärker werden und weiter gehen


NICHT IN JAHREN, SONDERN IN GENERATIONEN DENKEN<br />

Nur wenn Mütter und Väter mit Migrationshintergrund<br />

das deutsche Schulsystem kennen<br />

und verstehen, sind sie auch in der<br />

Lage, ihre Kinder angemessen zu fördern –<br />

das ist die Erfahrung von Diplom-Psychologin<br />

Mukadder Ergün. Im Projekt „Elternschule“<br />

arbeitete sie deswegen nicht mit<br />

Kindern, sondern mit Eltern.


„Wenn wir heute beginnen, etwas Grundlegendes<br />

zu verändern, könnten Kinder von Eltern<br />

mit Migrationshintergrund in zwei Generationen<br />

erfolgreich in Schule und Beruf sein“, so die<br />

Einschätzung von Mukadder Ergün nach dem<br />

Ende des Projektes „Elternschule“. Die Diplom-<br />

Psychologin erlebte in ihrer Arbeit immer wieder,<br />

dass Kinder trotz Anstrengung in der Schule<br />

hinter den Anforderungen zurück bleiben,<br />

und sie hat die Gründe dafür identifiziert.<br />

„Im Projekt wurde ganz deutlich, dass Migrantenmütter<br />

eine Eins-zu-Eins-Betreuung brauchen.<br />

Mir offenbarten sich Frauen bei „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“-Treffen. Sie erzählten<br />

von der Last, die auf ihnen liege, alles zu<br />

managen – Kinder, Haushalt, Schule. Sie berichteten<br />

von ihrer Unkenntnis dem deutschen<br />

Schulsystem gegenüber. Insbesondere türkische<br />

Mütter fühlen sich mit ihren Erziehungsaufgaben<br />

zwischen zwei Kulturen häufig überfordert<br />

und hilflos. Wir brauchen mehr Menschen, die<br />

diese Mütter begleiten und die ihre Erziehungskompetenz<br />

gezielt stärken und unterstützen.<br />

Zwar gibt es die Migranten-Erstberatung, aber<br />

meine Erfahrung zeigt, dass dort speziell<br />

geschulte Ansprechpartner/-innen sowie Gespräche<br />

auf gleicher Augenhöhe selten sind. In den<br />

Kommunen vermisse ich türkische Mitarbeiter/<br />

-innen, die die nötige kulturelle Sensibilität<br />

besitzen.“<br />

In der „Elternschule“ wurde Frau Ergün immer<br />

wieder mit dem Hauptproblem von Familien mit<br />

türkischem Hintergrund konfrontiert: „Viele<br />

Jugendliche und Erwachsene sprechen nicht nur<br />

schlechtes Deutsch, sondern auch schlechtes<br />

Türkisch. Sprachprobleme sind die Hauptursache<br />

für Verständnisschwierigkeiten der Eltern innerhalb<br />

der Schule, etwa bei Lehrergesprächen. Hinzu<br />

kommt, dass 90 % all dieser Familien bildungsfern<br />

sind. Das heißt, ihre Kinder kommen<br />

schon mit Wissensdefiziten in die Schule. Der<br />

praktizierte Frontalunterricht vermag es nicht,<br />

diese zu beheben. Wir brauchen dringend flexible<br />

Lehrpläne, die die Bedürfnisse aller berücksichtigen“,<br />

sagt die Projektleiterin.<br />

Frau Ergün sieht die einzige Möglichkeit, späteren<br />

Schul- oder Ausbildungsproblemen entgegen<br />

zu wirken, in der Frühförderung aller Vorschul-<br />

kinder. „Dies sollte ein Recht und eine Pflicht für<br />

alle Kleinkinder sein“, so Frau Ergün. „Manche<br />

Eltern, die die „Elternschule“ besuchten, sehen<br />

noch immer nicht ein, dass sie auch selbst in die<br />

Ausbildung ihrer Kinder investieren müssen. Sie<br />

meinen, dass dies Aufgabe des Staates sei. Sie<br />

sind überzeugt, ihre Kinder werden sich schon<br />

irgendwie erfolgreich in die Arbeitswelt integrieren<br />

– so wie sie damals. Ein Irrglaube.“<br />

In der „Elternschule“ sprachen die Teilnehmer/<br />

-innen auch gesellschaftliche Probleme an, die<br />

Frau Ergün ebenso sieht: „ Menschen mit Migrationshintergrund<br />

und Deutsche leben immer noch<br />

zu sehr nebeneinander her statt miteinander. Der<br />

nötige Respekt und das Feingefühl füreinander<br />

fehlen beiderseits. Aber nur wer sich als Kind,<br />

Schüler/-in, Mutter angenommen und verstanden<br />

fühlt, kann gute Leistungen erbringen.“<br />

Frau Ergün bedauert das Projektende, denn viele<br />

Eltern haben großes Interesse an der Elternschule.<br />

„Solche Projekte müssen auf lange Sicht<br />

angelegt sein, um zu wirken. Die Politik sollte<br />

nicht in Jahren, sondern in Generationen denken“,<br />

fordert sie.<br />

10 Nicht in Jahren, sondern in Generationen denken


MEINE KINDER SOLLEN NICHT HINTEN ANSTEHEN<br />

Haushalt, Ernährung, Kinder großziehen –<br />

in vielen türkischen Familien kümmern sich<br />

darum allein die Mütter. Der 30-jährigen<br />

Gülsen* wuchs dieser Alltag über den<br />

Kopf. Die Mutter von drei Kindern besuchte<br />

daraufhin Frau Ergüns Elternschule. In<br />

zwei türkischsprachigen Projekten lernte<br />

sie Strategien kennen, wie sie ihre Kinder<br />

stützen und fördern kann – und dabei sich<br />

selbst nicht verliert.<br />

Weshalb besuchten sie die Elternschule?<br />

Ach, ich war einfach überfordert. Ich wollte so<br />

vieles anders und besser machen mit meinen<br />

Kindern, aber mir war alles zu viel. Ich hatte<br />

das Gefühl, wir kommen überhaupt nicht weiter.<br />

Eine Nachbarin erzählte mir dann von der<br />

Elternschule.<br />

Konnte Ihnen die Elternschule helfen?<br />

Ja, sehr. Die Psychologin half uns, besser mit<br />

unseren Kindern umzugehen, sie ernst zu nehmen.<br />

Miteinander zu sprechen, wenn es Meinungsverschiedenheiten<br />

gibt. Sie erklärte uns,<br />

dass eine aggressive Körpersprache auch eine<br />

Art von Gewalt ist. Das Motto „Keine Gewalt, in<br />

welcher Form auch immer“ ist heute mein Leitspruch.<br />

Ich muss zugeben: Ich habe das vorher<br />

nicht beachtet. Ich habe meine Kinder oft böse<br />

angeschaut. Ich habe ihnen auch mal einen<br />

Klaps auf den Po gegeben, wenn ich nicht weiter<br />

wusste. Heute mache ich es so: Wenn ich<br />

merke, dass ich sehr wütend bin, gehe ich kurz<br />

aus dem Zimmer.<br />

Meine eigenen Eltern sind extrem konservativ –<br />

und so haben sie mich auch erzogen. Meinem<br />

Vater durfte niemand widersprechen. Wir als<br />

Kinder wurden streng und hart erzogen. Sicher<br />

hat mich das geprägt. Es war in meiner Familie<br />

nicht üblich, mit Kindern auf Augenhöhe zu<br />

sprechen.<br />

Hat die Elternschule Ihren Alltag<br />

beeinflusst?<br />

Ich habe mir kleine Notizzettel gemacht mit all<br />

den Tipps von Frau Ergün. Sie kleben überall in<br />

der Wohnung. Ich sehe meine Kinder jetzt mit<br />

anderen Augen. Ich frage mich: Was können<br />

sie? Statt wie vorher: Was können sie nicht?<br />

Wir lernten in den Kursen auch, den Schulalltag<br />

zu verstehen und mit Lehrer/-innen zu diskutieren.<br />

Ich weiß jetzt besser, worauf es<br />

ankommt, und wie ich meine Kinder motiviere,<br />

wenn es in der Schule einmal nicht so klappt.<br />

Ich schimpfe nicht mehr einfach bei schlechten<br />

Noten, sondern sage: „Ich weiß, du hast gut


gelernt, aber es hat nicht gereicht ...“ Ich versuche<br />

sie dazu zu bringen, nicht aufzugeben, an<br />

sich zu glauben ...<br />

Es war sehr gut, dass wir das deutsche Schulsystem<br />

erklärt bekamen. Vieles war mir vorher<br />

nämlich gar nicht klar. Mir ist wichtig, dass<br />

meine Kinder etwas wissen und können. Sie sollen<br />

nicht hinten anstehen.<br />

Was hielt Ihr Mann von der Elternschule?<br />

Er war nicht besonders interessiert und sagte:<br />

„Du erziehst die Kinder doch. Ich bin sowieso<br />

nie da.“ Aber an Tagen, an denen wir als Paar<br />

Probleme hatten, fragte er: „Na, hast du das<br />

dort auch besprochen? Frag doch mal deine<br />

Lehrerin, ob sie nicht auch dafür eine Lösung<br />

weiß.“ Das hat mich geärgert. Aber mittlerweile<br />

hat sich doch einiges geändert, er ist geduldiger<br />

mit den Kindern, geht besser auf sie ein<br />

und zeigt wirkliches Interesse an ihnen. Das ist<br />

in anderen Familien nicht selbstverständlich!<br />

* Name der Redaktion bekannt.<br />

11 Meine Kinder sollen nicht hinten anstehen


PRAKTIKUM MIT EINER EXTRAPORTION KOFFEIN<br />

Beate Riehl ist Inhaberin des Cafés „Brunner<br />

Espressolounge“ am Aufseßplatz und bietet<br />

jungen Arbeitslosen und Arbeitssuchenden im<br />

Rahmen eines Praktikums eine gastronomische<br />

Basisqualifizierung an. Die Förderung<br />

ermöglichte es ihr, eine intensive Betreuung<br />

der Praktikant/-innen gewährleisten.<br />

Frau Riehl, was kann man in 80 Stunden pro<br />

Praktikant/-innen erreichen?<br />

Die Teilnehmer/-innen erleben, wie es ist, in der<br />

Gastronomie zu arbeiten.<br />

Aber es geht uns beim Praktikum nicht allein<br />

Berufspraxis, sondern ganz stark auch um eine<br />

Stärkung des Selbstbewusstseins und eine veränderte<br />

Wahrnehmung persönlicher Perspektiven.<br />

Die meisten jungen Menschen kommen mit einer<br />

pessimistischen Grundstimmung zu uns. Sie<br />

sehen es als gegeben an, dass sie keinen Ausbildungsplatz<br />

bekommen. Wir verstehen es als<br />

unsere Aufgabe, sie aus diesem negativen Weltbild,<br />

aus ihrer Lethargie herauszuholen.<br />

Als drittes Ziel haben wir, unseren Praktikant/<br />

-innen zu helfen, ihren beruflichen Weg zu pla-


nen. Wir schreiben mit ihnen Bewerbungen und<br />

stellen einen ersten Kontakt mit potentiellen<br />

Arbeitgebern her. Ich rufe auch selbst schon mal<br />

in einem Restaurant oder Café an und sage: “Ich<br />

hab da jemanden, die/der strengt sich total an,<br />

schaut die/den mal an.“ Bei einem normalen<br />

Bewerbungsverfahren würde diese Zielgruppe<br />

immer durchfallen. Aber mit so einem Türöffner<br />

funktioniert das.<br />

Wie sieht denn Ihre Zielgruppe aus?<br />

Warum sind die jungen Menschen so<br />

pessimistisch?<br />

Die Praktikant/-innen sind zwischen 16 und 19<br />

Jahre alt. Von allen, die bei mir Praktikum<br />

gemacht haben, hatte niemand vorher jemals ein<br />

Vorstellungsgespräch. Der typische Lebenslauf ist<br />

so: Sie haben vielleicht ein paar Bewerbungen<br />

geschrieben, als sie mit der Schule fertig waren,<br />

sind niemals zum Vorstellungsgespräch geladen<br />

worden und haben zwei, drei Jahre verbummelt.<br />

Jeder sagt ihnen: Jetzt brauchst du dich auch<br />

nicht mehr bewerben.<br />

Das persönliche Umfeld der jungen<br />

Menschen ist also auch nicht gerade<br />

motivierend?<br />

Von den Familien kriegen die Jugendlichen oft<br />

gar keine Unterstützung. Ganz im Gegenteil,<br />

sie müssen froh sein, wenn ihre beruflichen<br />

Pläne nicht boykottiert werden. Oft sind die<br />

Jugendlichen die ersten in ihrer Kernfamilie,<br />

die arbeiten und sich für einen Ausbildungsberuf<br />

interessieren.<br />

Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen: Einem<br />

Mädchen, das hier gearbeitet hat, konnten wir<br />

einen Vorstellungstermin organisieren. Sie hat<br />

sich sehr gefreut und gleich ihre Mutter angerufen,<br />

die dazu nur sagte: „Was, ein Vorstellungsgespräch?<br />

Wozu denn das?“ Das Mädchen<br />

war unendlich enttäuscht von der Reaktion<br />

ihrer Mutter und musste bitterlich weinen.<br />

Und die Schule, warum kann sie hier<br />

nicht helfen?<br />

Die Klassen sind zu groß. Eine individuelle<br />

12 Praktikum mit einer Extraportion Koffein


Betreuung ist gar nicht möglich. Wir können uns<br />

jedoch dank „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

intensiv um die Jugendlichen kümmern. Bei uns<br />

machen die Praktikant/-innen die Erfahrung, dass<br />

sich die Welt um sie dreht. Sie sind wichtig, wenn<br />

sie bei uns sind.<br />

Was müsste sich ändern, damit die Jugendlichen<br />

mehr berufliche Chancen bekommen?<br />

Als erstes müsste man davon wegkommen, für<br />

einen Ausbildungsberuf nur jemanden zu suchen,<br />

der mindestens mittlere Reife hat. Die Zielgruppe,<br />

über die wir sprechen und die nicht über den<br />

„richtigen“ Schulabschluss verfügt, hat verständlicherweise<br />

wenig Motivation, sich zu bewerben.<br />

Eine weitere, sehr sinnvolle Hilfe für Jugendliche<br />

wäre, wenn ihnen in der Schule Paten vermittelt<br />

würden, die sie während der kritischen Phase des<br />

Übergangs von der Schule in den Beruf begleiten<br />

und beraten. Es gibt bereits solche Projekte.


Wie sehen denn die beruflichen Chancen Ihrer<br />

Praktikant/-innen aus?<br />

Die Erfolge waren dieses Jahr sehr groß. Ich konnte<br />

drei Jugendliche in Ausbildungsverhältnisse vermitteln,<br />

z. B. die Elvira: Sie beginnt am ersten<br />

August eine dreijährige Ausbildung zur Restaurantfachfrau.<br />

Hat allen das Praktikum bei Ihnen<br />

gefallen?<br />

Den meisten, ja. Aber es gibt auch immer wieder<br />

welche, die schon zum zweiten Termin nicht kommen,<br />

weil sie sich etwas anderes vorgestellt haben.<br />

Aktuell macht ein Mädchen aus Angola Praktikum<br />

hier, die Gäste nicht grüßen möchte, weil es in<br />

ihrer Kultur nicht üblich ist, mit Fremden zu sprechen.<br />

Wir diskutieren viel über diesen Punkt! Ich<br />

muss erst mal sehen, ob diese Hürde für sie zu<br />

überwinden ist. Ansonsten gefällt ihr die Arbeit<br />

nämlich sehr gut.<br />

Haben Sie selbst etwas aus den<br />

Projekten gelernt?<br />

Ich war jedes Mal überrascht, wie wenig<br />

Impulse nötig sind, um die Jugendlichen aus<br />

ihrer Situation zu holen. Wie schnell sie aus<br />

sich herausgehen, Verantwortung übernehmen<br />

und sich begeistern lassen. Nach dem ersten<br />

oder zweiten Tag dachte ich zwar oft, das<br />

wird ja gar nichts. Aber in den vier Wochen<br />

Praktikum haben fast alle Jugendlichen dann<br />

eine großartige Entwicklung durchlaufen.<br />

Machen Sie weiter?<br />

Auf jeden Fall! Eigentlich ist inzwischen<br />

immer irgendeine Praktikantin oder ein Praktikant<br />

bei uns ...<br />

12 Praktikum mit einer Extraportion Koffein


ALLES LÄUFT PERFEKT!<br />

Mir sitzt eine freundliche junge Frau mit<br />

einem herzlichen, ansteckenden Lachen<br />

gegenüber. Elvira, 16 Jahre, war nach ihrem<br />

Schulabschluss arbeitslos. Einmal pro Woche<br />

ging sie in die Jungarbeiterklasse, das ist<br />

eine Einrichtung an Berufsschulen für noch<br />

schulpflichtige Jugendliche, die nach dem<br />

Ende ihrer Schulzeit keinen Ausbildungsplatz<br />

gefunden haben und keine weiterführende<br />

Schule besuchen. Elvira lebt nicht in ihrer<br />

Familie, sie hat eine eigene Wohnung und<br />

wird durch das Jugendamt betreut.<br />

Elvira, was hast du in der Zeit vor dem<br />

Praktikum im Café Brunner gemacht?<br />

Nichts besonderes, ich hing viel zu Hause herum,<br />

lebte in den Tag hinein. Ich habe ja nur einmal<br />

pro Woche Schule ...<br />

Was für Pläne hattest du für dein Leben?<br />

Keine bestimmten. Ich hatte ja schon ein paar<br />

Bewerbungen geschrieben, aber nie eine Einladung<br />

zum Vorstellungsgespräch bekommen. Mein<br />

Freund war auch arbeitslos.<br />

Hat das Praktikum etwas daran geändert?<br />

Oh ja! Das Praktikum war Schicksal! (Lacht.) Das<br />

war das Beste, was mir passieren konnte. Es hat<br />

mein Leben total verändert! Die Arbeit im Café<br />

hat mir gleich Spaß gemacht. Aber es war noch<br />

viel mehr als diese Arbeitserfahrung ... die Bea<br />

hat sich auch mit mir hingehockt und sich meine<br />

Probleme angehört. Die Bea hört wirklich zu, ich<br />

kann auch über schwierige Themen mit ihr reden.<br />

Wir haben zusammen Bewerbungen geschrieben,


und sie hat dafür gesorgt, dass ich die Bewerbungen<br />

sofort losschicke, am selben Tag. Das<br />

habe ich dann gemacht, und das Erstaunliche:<br />

Ich habe sofort eine Einladung zum Vorstellungsgespräch<br />

bekommen! Das erste Mal in<br />

meinem Leben!<br />

Hattest du vorher niemanden, der dir<br />

mit Bewerbungen helfen konnte?<br />

Doch, schon, aber es hat nicht so viel<br />

gebracht. Klar, in der Schule haben wir Bewerbungstraining<br />

gemacht, aber das waren<br />

irgendwie so Standardbriefe, die Person darin<br />

war nicht wirklich ich. Und mein Betreuer vom<br />

Jugendamt hilft mir, wo er kann, aber ich sehe<br />

ihn nur zweimal pro Woche für zwei Stunden.<br />

Das ist nicht viel, und wir haben ja nicht nur<br />

das Thema Bewerbung.<br />

Die Bea, die hat sich total viel Zeit genommen.<br />

Außerdem habe ich durch das Praktikum<br />

auch erst herausgefunden, was ich will. Dass<br />

mir das Arbeiten in der Gastronomie Spaß<br />

macht. Vorher wusste ich ja gar nicht, wo es<br />

hingehen sollte, und wie will man sich dann<br />

überzeugend bewerben ...<br />

Du wurdest zum Vorstellungsgespräch<br />

eingeladen ...<br />

... ja, und das Beste ist, es lief gleich sehr gut,<br />

ich habe den Ausbildungsplatz bekommen! In<br />

einem großen italienischen Restaurant. Im September<br />

fange ich an, ich lerne Restaurantfachfrau.<br />

(Lacht.) Mir ging es noch nie so gut ...<br />

alles läuft perfekt. Die Bea hat ja sogar meinem<br />

Freund einen Ausbildungsplatz verschafft ... Er<br />

hatte schon mal eine Ausbildung angefangen,<br />

auch in der Gastronomie. Hat dann aber abgebrochen,<br />

weil es Probleme gab. Die Bea hat ihm<br />

Mut gemacht, in seinem alten Betrieb anzurufen<br />

und zu fragen, ob er wieder anfangen kann. Er<br />

wollte zuerst nicht, aber sie hat einfach nicht<br />

locker gelassen und gesagt: „Los! Mehr als Nein<br />

sagen können sie nicht!“ Naja, schließlich hat er<br />

angerufen. Und sie haben ihn wirklich wieder<br />

genommen!<br />

Respekt vor dieser Frau! Es gibt zu wenige<br />

Menschen auf der Welt, die so sind. Bea ist ein<br />

Engel!<br />

13 Alles läuft perfekt!


WIR SIND SEHR, SEHR TRAURIG<br />

Ich besuche Yekta, Adelina, Tugba: drei junge<br />

Frauen, die Frau Reuter in ihrem ersten<br />

Ausbildungsjahr zur Medizinischen Fachangestellten<br />

im Rahmen des Projekts „Ich halte<br />

durch“ begleitet hat. Ziel des Projekts war,<br />

einen Ausbildungsabbruch zu verhindern.<br />

Die Stimmung ist gedrückt, weil sie gerade<br />

ihren letzten Termin mit Frau Reuter hatten.<br />

Das Auslaufen des Projekts ist ein Thema, auf<br />

das die Frauen immer wieder zurückkommen.<br />

Es ist noch eine gemeinsame Abschlussfahrt<br />

nach München geplant, und Frau Reuter wird<br />

sich zu Beginn des neuen Schuljahrs ein letztes<br />

Mal mit ihnen zusammensetzen und sie<br />

fragen, wie es läuft. Am Ende unseres<br />

Gesprächs bitten mich Yekta, Adelina und<br />

Tugba, so deutlich wie möglich in den Text zu<br />

schreiben, dass sie sehr, sehr traurig sind.<br />

Am besten gleich in die Überschrift.<br />

Mit welchen Erwartungen seid Ihr zu Frau<br />

Reuter gekommen?<br />

Adelina: Wir wussten ja schon, dass uns hier gut<br />

geholfen wird. Ich habe die „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“-Projekte jedes Jahr mitgemacht,<br />

Berufsorientierung und Bewerbungstraining.<br />

Tugba: Ich auch. Es war schnell klar, dass uns die<br />

Projekte wirklich weiter bringen.<br />

Adelina: Mir hat vor allem das Bewerbungstraining<br />

geholfen.<br />

Wird Bewerbungstraining auch in der Schule<br />

angeboten?<br />

Adelina: Schon, aber nicht so intensiv wie hier.<br />

Und nicht auf Einzelne bezogen. Wir waren 30<br />

Schüler in der Klasse. Der Lehrer hat sein Bestes<br />

gegeben, aber korrigieren Sie mal 30 Bewerbungen<br />

...<br />

Tugba: Und hier hatten wir auch Einzeltermine.<br />

Die Betreuung war einfach besser als in der<br />

Schule.<br />

Adelina: Ja, wir haben auch Situationen am Telefon<br />

und Vorstellungsgespräche trainiert. Das hat viel<br />

gebracht.<br />

Wie fanden Eure Eltern die Projekte?<br />

Adelina: Meine Eltern waren glücklich, dass ich so<br />

viel Unterstützung bekam. Meine Eltern kommen<br />

aus Albanien und können nicht so gut Deutsch,<br />

deswegen hat es auch nicht viel Sinn, wenn sie<br />

meine Bewerbungen kontrollieren. Aber sie waren<br />

sehr daran interessiert, dass ich vorankomme.


Wer kann Euch dann helfen, wenn dieses<br />

Projekt ausgelaufen ist?<br />

Adelina: Die Lehrkräfte kaum. Sie ziehen ihren<br />

Stoff durch, und wer nicht mitkommt, hat Pech<br />

gehabt und muss zu Hause nacharbeiten. Das<br />

Problem dabei: Wir haben nicht einmal Bücher<br />

in der Berufsschule. Es ist nicht leicht.<br />

Yekta: Und die anderen Auszubildenden, die<br />

kennen wir nicht gut genug, als dass wir uns<br />

gegenseitig um Hilfe fragen würden. Wir haben<br />

nur zweimal in der Woche Berufsschule, nächstes<br />

Jahr sogar nur noch einmal.<br />

Könnt Ihr Eure Arbeitgeber um Hilfe bitten?<br />

Tugba: Ja, auf jeden Fall kann ich meinen Chef<br />

ansprechen, und er erklärt mir auch gern den<br />

Wie geht es weiter?<br />

Adelina: Ich bin sehr, sehr traurig, dass es<br />

vorbei ist. Mir wird auch die Gruppe sehr fehlen.<br />

Die Gespräche.<br />

Tugba: Mir auch, aber auch die Unterstützung.<br />

Es ist gar nicht so einfach, sich als Hauptschülerin<br />

an der Berufsschule zu behaupten.<br />

Die meisten in unserer Klasse sind von der<br />

Realschule, die haben in vielen Fächern bessere<br />

Grundlagen als wir.<br />

14 Wir sind sehr, sehr traurig


Stoff, aber nur bei medizinischen Themen. Von<br />

Abrechnung zum Beispiel hat er wenig Ahnung.<br />

Aber es gibt ja auch Probleme in der Praxis, die<br />

kann ich nicht mit meinem Chef besprechen.<br />

Was sind das für Probleme?<br />

Tugba: Patienten!<br />

Yekta: Kolleginnen!<br />

Adelina: Heute hatte es ein Patient sehr eilig und<br />

fragte gleich, als er im Wartezimmer Platz nahm:<br />

„Wo ist der Arzt?“ Als er dann dran gewesen wäre,<br />

war er aber nicht im Wartezimmer, sondern auf der<br />

Toilette. Der Arzt hat jemand anderen vorgezogen,<br />

er kann ja nicht ewig warten. Als der Patient von<br />

der Toilette zurück kam und erfuhr, dass er gerade<br />

den Arzt verpasst hatte, schrie er mich an.<br />

Yekta: Manche Patienten fangen an, mit mir zu<br />

diskutieren, weil sie nicht die zehn Euro Praxisgebühr<br />

bezahlen wollen.<br />

Tugba: Ein Patient hat immer wieder gefragt,<br />

woher ich komme, ob ich Türkin bin. Er hat ein-


fach nicht aufgehört zu fragen, da bin ich<br />

geplatzt. Ich habe immer Respekt vor den Menschen,<br />

aber das ging zu weit.<br />

Yekta: Solche Probleme kann ich mit meinem<br />

Chef und meinen Kolleginnen nicht besprechen.<br />

Die denken dann, ich komme mit den Patient/<br />

-innen nicht zurecht ...<br />

Können Euch da nicht auch Eure Eltern mit<br />

ihrer Lebenserfahrung helfen?<br />

Tugba: Meine Mutter sagt immer: „Egal, was der<br />

Chef sagt; egal, was die Leute sagen: Sei immer<br />

lieb!“<br />

Adelina: Meine Eltern sehen das auch so. Sie<br />

sagen, ich soll immer Respekt und Verständnis<br />

für die Menschen aufbringen, egal, wie sie sich<br />

benehmen. Weil sie vielleicht Gründe für ihr Verhalten<br />

haben, die nichts mit mir zu tun haben.<br />

Tugba: Über diese Themen – Probleme in der<br />

Praxis – reden wir schon viel zu Hause, auch<br />

wenn wir nicht immer einer Meinung sind.<br />

Werdet Ihr vier Euch weiter treffen?<br />

Tugba: Bestimmt ab und zu, ich habe mich<br />

immer so auf unsere Termine am Mittwoch<br />

gefreut, aber Frau Reuter wird uns sehr fehlen.<br />

Adelina: Klar werden wir uns treffen, aber es<br />

wird nicht dasselbe sein ...<br />

Was sind Eure Zukunftspläne?<br />

Tugba: Ich habe gute Noten und will mich auf<br />

jeden Fall weiter bilden. Aber dazu brauche ich<br />

Unterstützung!<br />

14 Wir sind sehr, sehr traurig


GLOSSAR<br />

Begleitausschuss<br />

Das Programm „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

hat u.a. zum Ziel, die Beteiligung<br />

von betroffenen und/oder engagierten Bürger/<br />

-innen an kommunalen Entscheidungen zu<br />

stärken. Aus diesem Grund werden die Mikroprojekte<br />

nicht allein von der Politik oder der kommunalen<br />

Verwaltung ausgewählt, sondern von<br />

Vertreter/-innen aller relevanten Akteure, die<br />

Verantwortung für das Fördergebiet übernehmen.<br />

Neben den Vertreter/-innen der Kommune oder<br />

des Landkreises soll das Lokale Netzwerk abgebildet<br />

sein, insbesondere durch Bewohner/<br />

-innen des jeweiligen Fördergebietes und Vertreter/-innen<br />

der Zielgruppen von „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“.<br />

(Quelle: Internetseiten „Lokales Kapital für soziale Zwecke“)<br />

Europäischer Sozialfonds<br />

Der 1957 ins Leben gerufene Europäische Sozialfonds<br />

ist das wichtigste Finanzinstrument der<br />

Europäischen Union zur Investition in Menschen.<br />

Er fördert die Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

und hilft Menschen bei der Ausbildung sowie<br />

beim Ausbau ihrer Fähigkeiten im Hinblick auf<br />

eine Verbesserung ihrer Berufsaussichten.<br />

Im Rahmen des ESF legen Mitgliedstaaten und<br />

Regionen ihre eigenen operationellen Programme<br />

vor, um so den tatsächlichen Bedürfnissen<br />

vor Ort entsprechen zu können.<br />

(Quelle: www.ec.europa.eu)<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ wir aus<br />

Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert.<br />

Kooperation<br />

Kooperation ist das Zusammenwirken von<br />

Handlungen zweier oder mehrerer Personen<br />

oder Systeme, und zwar derart, dass die Wirkungen<br />

der Handlungen zum Nutzen aller dieser<br />

Personen, bzw. Systeme führen. Kooperationen<br />

nutzen die Kompetenzen und Fähigkeiten<br />

unterschiedlicher Ressourcen zur optimalen<br />

Zielerreichung.<br />

(In Anlehnung „Kooperation“ in www.wikipedia.de)<br />

Lokale Netzwerke<br />

Ein lokales Netzwerk besteht aus den für das Fördergebiet<br />

relevanten Akteuren, die Verantwortung<br />

für dieses Gebiet übernehmen. Dies können<br />

Stadtteilvertreter/-innen, Bewohner/-innen,<br />

kleine Vereine, Kirchengemeinden, Unternehmer/<br />

-innen, Wohlfahrtsverbände, verschiedene kommunale<br />

Ämter, Beschäftigungs- oder Wohnungsbaugesellschaften,<br />

die Agentur für Arbeit u.v.m.<br />

sein.<br />

(Quelle: Internetseiten „Lokales Kapital für soziale Zwecke“)<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ ist das<br />

Bundesmodellprogramm des Bundesministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

(BMFSFJ) aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds<br />

(ESF) mit einer Laufzeit bis zum Jahr<br />

2007. „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ finan-


ziert sogenannte Mikroprojekte zur Verbesserung<br />

der sozialen und beruflichen Integration von Menschen<br />

in Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf.<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ korrespondiert<br />

eng mit dem Bund-Länder-Programm „Die<br />

Soziale Stadt“ bzw. seiner komplementären Programmplattform<br />

„Entwicklung und Chancen junger<br />

Menschen in sozialen Brennpunkten (E & C)“.<br />

(Quelle: Internetseiten „Lokales Kapital für soziale Zwecke“)<br />

Nachhaltigkeit<br />

Die soziale Nachhaltigkeit versteht die Entwikklung<br />

der Gesellschaft als einen Weg, der Partizipation<br />

für alle Mitglieder einer Gemeinschaft<br />

ermöglicht. Dies umfasst einen Ausgleich sozialer<br />

Kräfte mit dem Ziel, eine auf Dauer zukunftsfähige,<br />

lebenswerte Gesellschaft zu erreichen.<br />

(Quelle: www.wikipedia.de)<br />

Quartiermanagement<br />

Quartiermanagement gilt als Schlüsselinstrument<br />

zur wirkungsvollen Umsetzung der Ziele<br />

der "Sozialen Stadt". Quartiermanagement zielt<br />

darauf ab, benachteiligten Stadtquartieren eine<br />

Entwicklungschance zu bieten. Es unterstützt<br />

selbstständige Aktivitäten der Bewohner/-innen<br />

in einem Gebiet, liefert Anstöße zum Aufbau<br />

von Projekten und vermittelt zwischen Verwaltung<br />

und den verschiedenen Akteuren im Quartier.<br />

Soziale Stadt<br />

Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“<br />

wurde 1999 gestartet, um der zunehmenden<br />

sozialen und räumlichen Spaltung in den Städten<br />

entgegenzuwirken. Durch das Programm<br />

werden gegenwärtig in 498 Programmgebieten<br />

in 318 deutschen Städten und Gemeinden neue<br />

Herangehensweisen in der Stadtteilentwicklung<br />

gefördert.<br />

Ziele des Programms sind<br />

• die physischen Wohn- und Lebensbedingungen<br />

sowie die wirtschaftliche Basis in den Stadtteilen<br />

zu stabilisieren und zu verbessern<br />

• die Lebenschancen durch Vermittlung von<br />

Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen zu<br />

erhöhen<br />

• Gebietsimage, Stadtteilöffentlichkeit und die<br />

Identifikation mit den Quartieren zu stärken.<br />

(Quelle: www.sozialestadt.de)<br />

Vernetzung<br />

In der Soziologie hat eine gut „vernetzte“ Person<br />

ein Geflecht von Beziehungen zu anderen Personen,<br />

zum Beispiel in verschiedenen Organisationen,<br />

die ihr unter anderem helfen, rasch an<br />

Informationen oder Hilfe zu kommen oder Krisensituationen<br />

zu vermeiden oder zu bewältigen.<br />

(Quelle: www.wikipedia.de)<br />

Glossar


VIEL ARBEIT, DIE SICH<br />

GELOHNT HAT<br />

Die letzte Redaktionskonferenz: Während der<br />

Abschlussarbeiten an dieser Sonderdokumentation<br />

trifft sich das Redaktionsteam in den<br />

Büroräumen von Grafikerin Katja Raithel,<br />

bespricht Texte und Bilder, redet ... Am<br />

Tisch sitzen Simone Herold und Hans-Jürgen<br />

Fischer (Leitung der Lokalen Koordinierungsstelle<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“),<br />

Katja Raithel (Grafik), Tanja Elm (Fotografie),<br />

Maren Burghard und Anne von Minnigerode<br />

(Redaktion).<br />

Herold: Jetzt sind wir fast fertig. Wenn ich die<br />

Interviews durchlese, glaube ich, wir haben unser<br />

Ziel erreicht. Denn es ging uns hier ganz klar<br />

nicht um eine sozialpädagogische Bewertung der<br />

einzelnen Projekte, sondern um eine lebendige<br />

Dokumentation der vergangenen fünf Jahre<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ in Nürnberg,<br />

in den drei Stadtteilen <strong>Nordostbahnhof</strong>, <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong><br />

und <strong>Altstadt</strong>-<strong>Süd</strong>.<br />

Burghard: Bevor ich zu meinem ersten Interviewtermin<br />

ging, habe ich die Projektberichte aus den<br />

Jahresdokumentationen gelesen. Ich bin ja erst<br />

diesen Sommer zum Team gekommen und wusste<br />

wenig über „Lokales Kapital für soziale Zwecke“.<br />

Verblüffend fand ich, wie wenig fassbar ein Projekt<br />

nach der Lektüre eines sachlichen Berichts<br />

doch bleibt. Wenn ich die beteiligten Menschen<br />

an ihren Orten aufgesucht und befragt habe,<br />

kamen ganz viele Wahrnehmungen dazu. Begeisterung,<br />

unglaubliche Energie. Bei den Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen ein sehr starker Wille,<br />

ihre Situation zu verbessern.<br />

Minnigerode: Mir ging es ähnlich. Ich war jedes<br />

Mal fasziniert davon, wie viel Positives „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ in den Teilnehmer/<br />

-innen der geförderten Projekte ausgelöst und<br />

zurück gelassen hat. Es war schon fast skurril,<br />

so als ob meine Interviewpartner/-innen den Auftrag<br />

hätten, Werbung für „Lokales Kapital für<br />

soziale Zwecke“ zu machen. Eine Projektleiterin<br />

sagte sogar: „Das Förderprogramm ist ein Segen!“<br />

Die Interviews am <strong>Nordostbahnhof</strong> habe ich<br />

gemacht und den Stadtteil richtig gehend lieb


gewonnen. Ich habe dort eine sehr, sehr gute<br />

Atmosphäre erlebt.<br />

Elm: Ja, der <strong>Nordostbahnhof</strong> ist so in sich<br />

geschlossen. Die Leute kennen sich und bringen<br />

sich unheimlich ein. Wenn ich fotografiert<br />

habe, bin ich immer wieder denselben Menschen<br />

begegnet, die auch außerhalb von „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“ gemeinsam<br />

etwas gemacht haben.<br />

Burghard: Hast du über die Jahre hinweg Veränderungen<br />

erlebt?<br />

das Gefühl, sie empfanden ihre Projekte zunehmend<br />

als etwas Wichtiges, das auch entsprechend<br />

dokumentiert werden sollte.<br />

Raithel: Leider bin ich die einzige von Euch<br />

allen, die all diese Menschen nicht persönlich<br />

kennen gelernt hat. Aber wenn im Sommer immer<br />

die Bilder und Berichte kamen, fand ich es sehr<br />

spannend zu sehen, was aus den Projekten, was<br />

aus den Beteiligten geworden ist.<br />

Elm: Ich habe beim Fotografieren sehr schöne<br />

Momente gehabt. Ich bin ja direkt rein gegangen<br />

in die laufenden Projekte. Unvergessen zum Beispiel<br />

sind die Workshops von Frau Ergün, da ist<br />

richtig viel passiert. Türkische Mütter waren gerade<br />

beim Rollenspiel zum Thema „Erziehung und<br />

interkulturelles Aufwachsen“, türkische Väter<br />

lagen auf dem Boden, schrieben Gedanken auf<br />

Zettel, diskutierten lebhaft. Frau Ergün arbeitet<br />

sehr unkonventionell. Ich finde es großartig,<br />

dass sie genau an dem Punkt anpackt, wo es den<br />

meisten zu heikel ist.<br />

Minnigerode: Sonst arbeite ich viel für den –<br />

sagen wir: knallhart profitorientierten Sektor;<br />

von daher hat mir die Arbeit an der Sonderdokumentation<br />

sehr gefallen, weil ich nicht mit Zahlen,<br />

sondern mit Menschen zu tun hatte, weil es<br />

wohltuend war, so viel Engagement zu begegnen,<br />

so viel Interesse für Mitmenschen und lebhafter<br />

Verbundenheit mit der eigenen Lebenswelt.<br />

Übrigens finde ich es schön, dass die Jahresdokumentationen<br />

einem professionellen Markenauftritt<br />

ästhetisch in nichts nachstehen ...<br />

Raithel: Ja, es hat sich gezeigt, dass es eine<br />

gute Entscheidung war, von Anfang an die Dokus<br />

hoch professionell anzulegen. Wir wussten ja zu<br />

Beginn noch gar nicht, wo es mit „Lokales Kapital<br />

für soziale Zwecke“ hingeht, aber es hat sich<br />

im Lauf der Jahre herausgestellt, dass der ästhetisch<br />

anspruchsvolle Weg der richtige war. Denn<br />

das hat nicht zuletzt auch allen Beteiligten verdeutlicht,<br />

dass ihre Projekte, dass sie selbst<br />

einen hohen Stellenwert haben.<br />

Herold: Die Gestaltung unserer Dokumentationen<br />

ist auf jeden Fall auch ein Puzzlestein zum<br />

Erfolg! Übrigens sind Teile des Designs von<br />

anderen beteiligten Städten kopiert worden ...<br />

Elm: Ja, die Leute sind mir gegenüber offener<br />

geworden, hatten weniger Vorbehalte, sich von<br />

mir fotografieren zu lassen. Das lag nicht nur<br />

daran, dass sie mich schon kannten; ich hatte<br />

Raithel: Auch Tanjas Fotos haben viel ausgemacht.<br />

Sie hat sehr authentisch die Stimmungen<br />

in den Projekten eingefangen. Ich habe hier von<br />

meinem Schreibtisch aus immer gleich anhand<br />

Viel Arbeit, die sich gelohnt hat


der Fotos gesehen, wie die Stimmung in<br />

einem Projekt war.<br />

gute Projekte zu finden, die gefundenen Projekte<br />

gut zu initiieren und sie gut zu begleiten.<br />

Die fünf Jahre sind wahnsinnig schnell vergangen.<br />

Es fällt mir schwer zu glauben, dass<br />

wir jetzt schon unsere fünfte Dokumentation<br />

machen ... es ist viel passiert in der Zeit.<br />

Fischer: „Lokales Kapital für soziale Zwecke“<br />

habe ich immer auch als eine Art „Spielwiese“<br />

empfunden. Das Programm sollte ja innovative<br />

Ideen zum Vorschein bringen. Das heißt aber<br />

auch, dass man da mal etwas ausprobieren<br />

und experimentieren muss. Da ist dann eine<br />

Erfolgsgarantie nicht zu geben. Wir hatten ja<br />

auch viele Mikroprojektträger/-innen, die über<br />

keine (sozial-)pädagogischen Erfahrungen verfügen,<br />

aber mit Engagement und gesundem<br />

Menschenverstand an die Sache herangegangen<br />

sind. Wichtig war uns immer eine gute<br />

Idee. Dass da manches nicht optimal laufen<br />

wird, ist dann eigentlich klar. Nur Menschen<br />

die nix machen, machen auch keine Fehler.<br />

Minnigerode: Hätten Sie gern mehr Zeit für<br />

„Lokales Kapital für soziale Zwecke“ gehabt?<br />

Fischer: Zeit kann man nie genug haben. Es<br />

ist schon wichtig, intensiv daran zu arbeiten,<br />

Und manchmal hat uns einfach die Zeit gefehlt,<br />

das nachhaltig zu betreiben.<br />

Herold: Wir waren eigentlich nie an einem Punkt,<br />

an dem wir dachten: Jetzt haben wir alles getan,<br />

was möglich gewesen wäre. Wir haben immer<br />

noch Optimierungsbedarf gesehen, oft haben wir<br />

uns mehr Zeit gewünscht, denn während der<br />

Arbeit entstanden viele Ideen, wie wir Abläufe<br />

vereinfachen, wie wir Projekte noch stärker voranbringen<br />

könnten ...<br />

Fischer: Zum Beispiel agierten manche Projekte<br />

ein bisschen isoliert. Diese waren nicht – wie die<br />

meisten anderen – eingebunden in ein Netzwerk.<br />

Dann fehlte es trotz guter Qualifizierung ein<br />

bisschen an Wirksamkeit, weil einfach das Eingebettetsein<br />

in den Stadtteil und in andere Maßnahmen<br />

nicht ganz ausreichte. Da hätten wir<br />

sehr viel mehr Zeit gebraucht, um die Dinge<br />

anzuschieben.<br />

Raithel: Für die Gestaltung kann ich sagen, dass<br />

es gut und sinnvoll war, gleich zu Beginn viel<br />

Zeit in das Konzept zu investieren, wir sind<br />

gestalterisch nie in eine Sackgasse gekommen.<br />

Mit der geleisteten Vorarbeit sind wir gut fünf<br />

Jahre zurecht gekommen. Gestaltungskonstanten<br />

wie Typografie, grafische Elemente, Farbigkeit –<br />

das hat funktioniert und auf visueller Ebene die<br />

Lesbarkeit der Medien verbessert.<br />

Burghard: Wie sind eigentlich die drei Stadtteile<br />

zu ihren Farben gekommen?<br />

Raithel: Es war uns allen von Anfang an klar,<br />

dass der <strong>Nordostbahnhof</strong> grün wird, weil er durch<br />

sehr viele Grünflächen geprägt wird.<br />

Fischer: Und das Rot steht für die <strong>Altstadt</strong> mit<br />

ihren Sandsteinfassaden.<br />

Herold: Für <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong> haben wir Blau


gewählt, das sollte eine gewisse Kühle transportieren.<br />

Dieser Stadtteil ist ein bisschen kühler als<br />

die anderen.<br />

Elm: Das liegt auch mit daran, dass<br />

<strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong> so inhomogen ist. Die Identifikation<br />

der Bevölkerung mit dem gesamten<br />

Stadtteil fällt schwerer. Der Aufsßsplatz abends,<br />

wenn überall Kinder spielen: Das ist eine andere<br />

Atmosphäre als die Wölckernstraße oder diese<br />

50er-Jahre-Wohnviertel. Beim Fotografieren ging<br />

es mir immer so, dass ich das Gefühl hatte, ich<br />

kann den Stadtteil gar nicht fassen.<br />

Herold: Auch bei der Betreuung der Projekte war<br />

das ein bisschen so. Am liebsten hätte ich <strong>Galgenhof</strong>/<strong>Steinbühl</strong><br />

ordentlich sortiert!<br />

Fischer: Am klarsten zu erfassen und zu verstehen<br />

ist der <strong>Nordostbahnhof</strong>. Ich habe auch den<br />

Eindruck, dass am <strong>Nordostbahnhof</strong> die Projekte<br />

am stärksten von den Bewohner/-innen dieses<br />

Stadtteils angenommen wurden.<br />

In der <strong>Altstadt</strong> haben wir zwar eine relativ hohe<br />

Bevölkerungsdichte, aber das große Stadtgebiet<br />

ist sehr zersiedelt; es gibt eigentlich keine<br />

Institution, die ein Netzwerk für die Bürger/<br />

-innen darstellt, wie es von den Stadtteilarbeitskreisen<br />

in anderen Stadtteilen betrieben wird.<br />

Minnigerode: Da hatte ich ja Glück, dass ich<br />

mich um den <strong>Nordostbahnhof</strong> kümmern durfte.<br />

Auch in den Gesprächen mit den Projektbeteiligten<br />

war diese Homogenität ganz deutlich zu<br />

spüren. Immer wieder ging es um: Vernetzung,<br />

Potenziale wecken, Begabungen entdecken und<br />

fördern, Perspektiven geben ... Es war fast so,<br />

als hätte ich nicht über viele einzelne Projekte,<br />

sondern über ein großes geredet.<br />

Herold: Dann haben wir ja gute Arbeit geleistet,<br />

denn genau das sind die Hauptziele von „Lokales<br />

Kapital für soziale Zwecke“!<br />

Viel Arbeit, die sich gelohnt hat


IMPRESSUM<br />

Herausgeber<br />

Stadt Nürnberg<br />

Amt für Kinder, Jugendliche und<br />

Familien – Jugendamt<br />

Bereich „Kinder- und Jugendarbeit,<br />

Familienbildung, Erziehungsberatung“<br />

Dietzstraße 4, 90443 Nürnberg<br />

Telefon 0911/231-2433<br />

Fax 0911/231-3488<br />

E-Mail: simone.herold@stadt.nuernberg.de<br />

www.jugendamt.nuernberg.de<br />

Redaktion<br />

Simone Herold (verantw.), Hans-Jürgen Fischer<br />

Interviews<br />

Maren Burghard, Anne von Minnigerode, Nürnberg<br />

Fotografie<br />

Tanja Elm, Fürth<br />

Grafik<br />

zur.gestaltung, Nürnberg<br />

Stadtkartenausschnitte<br />

Wiedergabe mit der Genehmigung der<br />

Stadt Nürnberg – Amt für Geoinformation und<br />

Bodenordnung, Nr. 217<br />

Druck<br />

Fahner GmbH, Hans-Bunte-Straße 43,<br />

90431 Nürnberg<br />

Erscheinungsdatum<br />

August 2008<br />

Auflage<br />

800 Exemplare<br />

Alle Rechte vorbehalten


Gefördert vom:<br />

Der Europäische Sozialfonds<br />

ist der Beitrag zur Entwicklung<br />

der Beschäftigung durch<br />

Förderung der Beschäftigungsfähigkeit,<br />

des Unternehmensgeistes,<br />

der Anpassungsfähigkeit<br />

sowie der Chancengleichheit und<br />

der Investitionen in die Humanressourcen<br />

Lokale Koordinierungsstelle:<br />

In Kooperation mit dem Amt für Wohnen und Stadterneuerung<br />

der Stadt Nürnberg und dem Programm Soziale Stadt

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