Harald Pamminger: Max Stirner – ein Schüler Hegels?

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OCR-Texterkennung und Copyright by Max Stirner Archiv Leipzig 12.09.2009 War für Kant die Erkenntnis von Gegenständen dadurch möglich, daß das Subjekt den Gegenstand zwar nicht hinsichtlich seines Daseins, wohl aber hinsichtlich seiner Erscheinung hervorbringt, als endliches Subjekt, so geht Fichte davon aus, daß Wissen nicht nur das Wissen erscheinender [25] Gegenständlichkeit ist, sondern absolutes Wissen. Das bedeutet weiterhin, daß das Subjekt nicht länger endliches, sondern absolutes Subjekt ist als reine Spontaneität („Thathandlung“), die ihr Gewußtes auch hinsichtlich ihrer Faktizität hervorbringt. Es fällt die Unterscheidung von erscheinendem Gegenstand und Ding an sich. „Das Gegebene ist ein im Wissen Gegebenes: es ist in Ich und durch das Ich gesetzt. Es ist ,geradezu unmöglich, sich ein Ding unabhängig von irgendeinem Vorstellungs-Vermögen zu denken ... Den Gedanken ... von einem Dinge, das nicht nur von dem menschlichen Vorstellungs- Vermögen, sondern von aller und jeder Intelligenz unabhängig, Realität und Eigenschaften haben soll, hat noch nie ein Mensch gedacht, so oft er es auch vorgeben mag, und es kann ihn keiner denken; man denkt allemal sich selbst als Intelligenz, die das Ding zu erkennen strebt, mit hinzu‘“ (SW I, 19). Gegenständlichkeit besagt jetzt: ausschließliches Gesetztsein im Ich. Der Gegenstand ist das im Ich gesetzte Nicht-Ich. Das den Gegenstand setzende Ich ist nicht das endliche, sondern das absolute Ich (Subjekt). Fichte nennt seine Philosophie eine „Wissenschaftslehre“. „Er versteht darunter jene oberste Wissenschaft, die den Grund aller Wissenschaften anzugeben hat. Darin soll sich künftig die ganze Philosophie aufheben.“ (G. Pöltner) Wissenschaftslehre ist Wissen des Wissens. Es geht ihr um die Theorie des Wissens und nicht bloß des Selbstbewußtseins, wobei unter Wissen auch die Imperative des Handelns verstanden werden. „Sie unternimmt die Rekonstruktion des welthaften Gegenstandsbewußtseins aus dem gegensatzlosen Absoluten, d. h. sie versucht, im Ausgang vom Absoluten, die Konstitutionsbewegung nachzuzeichnen, welche als das welthafte, in theoretischer und praktischer Hinsicht sich vollziehende Gegenstandsbewußtsein des (empirischen) Ich sich ereignet.“ (G. Pöltner) [26] Die „Wissenschaftslehre“ erhebt den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und muß aus diesem Grunde systematisch vorgehen. Sie muß von dem der Sache nach Ersten ausgehen, den schlechthin ersten Grundsatz menschlichen Wissens aufsuchen. Dieser „soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewußtseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtseyn zum Grunde liegt, und es allein möglich macht“ (SW I, 91). Diese „Thathandlung“ weist drei Momente auf, die in den drei Grundsätzen der „Wissenschaftslehre“ formuliert werden. Der erste Grundsatz lautet: „Das Ich setzt sich selbst“ (SW I, 96), der zweite, es „wird dem Ich schlechthin entgegengesetzt ein NichtIch“ (SW I, 104) und der dritte lautet, „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen“ (SW 1, 110). Die Selbstsetzung des Ich bildet den Kern der Fichteschen Philosophie. Zu den drei genannten Grundsätzen führt Hermann Glockner in seinem Buch ‚Die europäische Philosophie‘ (1958) aus: „Als vollständiges System vorgetragen, umfaßt die ‚Wissenschaftslehre‘ drei Teile. Der Erste Teil stellt die drei Grundsätze der Identität, des Widerspruchs und der einschränkenden Beziehung auf; der Zweite Teil deduziert die Grundlage des theoretischen Wissens; der Dritte Teil deduziert die Grundlage der Wissenschaft des Praktischen, woraus dann weiterhin eine Rechts- und Sittenlehre entwickelt werden. Inwieweit die Darstellung ,dialektisch‘ genannt werden darf, hängt zunächst von der Auffassung der Grundsätze ab. ‚I. Das Ich setzt sich als Ich.‘ Durch diese freie Tathandlung wird Ich als ein Unterscheiden-

OCR-Texterkennung und Copyright by Max Stirner Archiv Leipzig 12.09.2009 des und Entscheidendes möglich. Mit dieser Möglichkeit tritt jedoch auch das Nicht-Ich in den Kreis der Möglichkeit: das Verharren in der Unfreiheit. [27] Also ,II. Das Ich setzt Nicht-Ich als sich entgegengesetzt‘. Diese ,Antithesis‘ könnte bereits dialektisch gedeutet werden, insoferne nun Widersprechendes Ich und Nicht-Ich im Ich gesetzt sind. Aber der III. Satz zeigt, daß Thesis und Antithesis nicht in dem Verhältnis der späteren Hegelschen Dialektik zueinander stehen; es ist keine dialektische Synthesis, wenn ihn Fichte wie folgt formuliert: ‚Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht- Ich entgegen.‘ Daraus ergeben sich dann die beiden weiteren Sätze, welche eine Wissenschaft des Theoretischen und des Praktischen begründen: 1. Das Ich setzt sich als beschränkt durch das Nicht-Ich, d. h. es verhält sich anerkennend; 2. Das Ich setzt das Nicht-Ich als bestimmt durch das Ich, d. h. es verhält sich handelnd.“ 1 Für Fichte ist das Ich der „Inbegriff von Geist, Wille, Sittlichkeit, Glaube“ 2 , der Ausdruck Nicht-Ich steht für die Existenz der Welt. Das absolute Ich steht am Anfang der Wissenschaftslehre als das der Sache nach erste, jedoch gelingt es Fichte nicht am Ende seiner Wissenschaftslehre, die Spannung von endlichem und unendlichem Ich abzubauen, und so bleibt das absolute Ich das nie erreichbare Ideal des endlichen Ich. „Daß sich diese Spannung nicht mehr aufheben läßt, und sich der Gedankengang nicht zu dem sich in sich vollendenden Kreis zusammenschließt, daß das Ich bin Ich nur am Anfang steht, nicht jedoch am Ende, sondern nur das ‚Ich soll Ich sein‘, wurde vor allem von Hegel an Fichte kritisiert.“ (G. Pöltner) Fichtes „Wissenschaftslehre“ erschien seit 1794 in über zehn Fassungen und er hielt bis an sein Lebensende an den systematischen Ziel fest. [28] Kurz erwähnt sei hier noch der „Atheismusstreit“, der durch die Veröffentlichung der Schrift ‚Über den Grund des Glaubens an eine göttliche Weltordnung‘ (1798) ausbrach, im Zuge dessen er seine Professur in Jena verlor. Der Grund für den Vorwurf des Atheismus gegen ihn ist darin zu suchen, daß er die moralische Weltordnung mit Gott verglich, d. h. Gott als unpersönlich aufgefaßt hatte. Er verstand darunter nicht eine formale Ordnung moralischer Gesetze, sondern eine „lebendige und wirkende moralische Ordnung“, die selbst Gott ist. Der Träger der moralischen Ordnung müßte ein besonderes und damit ein endliches Wesen sein, was auf Gott nicht zutreffen kann. „Die Überzeugung, daß das Bewußtsein einer dinglichen Welt außer uns absolut nichts weiter ist als das Produkt unseres eigenen Vorstellungsvermögens, gibt uns zugleich die Gewißheit unserer Freiheit. Nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend ist das Ich zu denken: die Welt ist nichts anderes als das Material unserer Tätigkeit, das versinnlichte Material unserer Pflicht. Alles, was zur Tätigkeit gefordert ist, ist auch sittlich gefordert. Dahin gehört vor allem die Ausbildung des Körpers und des Geistes und die Eingliederung in die menschliche Gemeinschaft; denn die Arbeit an der Sinnenwelt, d. h. die Kulturarbeit, kann nur eine gemeinsame sein. Andererseits haben alle Staatsbürger nicht nur das Recht auf formale Freiheit und Schutz vor Vergewaltigung, sondern auch auf Eigentum, Arbeitsgelegenheit und Teilnahme an den Erträgnissen der Staatswirtschaft“ 3 , wie Fichte in seinem ‚Geschlossenen Handelsstaat‘ 1800 darlegt. Fichte war der Überzeugung, daß die Politik „das Geschäft auch des spekulativen Philoso- 1 Glockner, H.: Europ. Philosophie. S. 734 f. 2 Schischkoff, G.: Phil. Wörterbuch. S. 187. 3 Ebd.

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War für Kant die Erkenntnis von Gegenständen dadurch möglich, daß das Subjekt den Gegenstand<br />

zwar nicht hinsichtlich s<strong>ein</strong>es Das<strong>ein</strong>s, wohl aber hinsichtlich s<strong>ein</strong>er Ersch<strong>ein</strong>ung<br />

hervorbringt, als endliches Subjekt, so geht Fichte davon aus, daß Wissen nicht nur das Wissen<br />

ersch<strong>ein</strong>ender [25] Gegenständlichkeit ist, sondern absolutes Wissen. Das bedeutet weiterhin,<br />

daß das Subjekt nicht länger endliches, sondern absolutes Subjekt ist als r<strong>ein</strong>e Spontaneität<br />

(„Thathandlung“), die ihr Gewußtes auch hinsichtlich ihrer Faktizität hervorbringt.<br />

Es fällt die Unterscheidung von ersch<strong>ein</strong>endem Gegenstand und Ding an sich. „Das Gegebene<br />

ist <strong>ein</strong> im Wissen Gegebenes: es ist in Ich und durch das Ich gesetzt. Es ist ,geradezu unmöglich,<br />

sich <strong>ein</strong> Ding unabhängig von irgend<strong>ein</strong>em Vorstellungs-Vermögen zu denken ...<br />

Den Gedanken ... von <strong>ein</strong>em Dinge, das nicht nur von dem menschlichen Vorstellungs-<br />

Vermögen, sondern von aller und jeder Intelligenz unabhängig, Realität und Eigenschaften<br />

haben soll, hat noch nie <strong>ein</strong> Mensch gedacht, so oft er es auch vorgeben mag, und es kann ihn<br />

k<strong>ein</strong>er denken; man denkt allemal sich selbst als Intelligenz, die das Ding zu erkennen strebt,<br />

mit hinzu‘“ (SW I, 19).<br />

Gegenständlichkeit besagt jetzt: ausschließliches Gesetzts<strong>ein</strong> im Ich. Der Gegenstand ist das<br />

im Ich gesetzte Nicht-Ich. Das den Gegenstand setzende Ich ist nicht das endliche, sondern<br />

das absolute Ich (Subjekt).<br />

Fichte nennt s<strong>ein</strong>e Philosophie <strong>ein</strong>e „Wissenschaftslehre“.<br />

„Er versteht darunter jene oberste Wissenschaft, die den Grund aller Wissenschaften anzugeben<br />

hat. Darin soll sich künftig die ganze Philosophie aufheben.“ (G. Pöltner)<br />

Wissenschaftslehre ist Wissen des Wissens. Es geht ihr um die Theorie des Wissens und<br />

nicht bloß des Selbstbewußts<strong>ein</strong>s, wobei unter Wissen auch die Imperative des Handelns verstanden<br />

werden. „Sie unternimmt die Rekonstruktion des welthaften Gegenstandsbewußts<strong>ein</strong>s<br />

aus dem gegensatzlosen Absoluten, d. h. sie versucht, im Ausgang vom Absoluten, die<br />

Konstitutionsbewegung nachzuzeichnen, welche als das welthafte, in theoretischer und praktischer<br />

Hinsicht sich vollziehende Gegenstandsbewußts<strong>ein</strong> des (empirischen) Ich sich ereignet.“<br />

(G. Pöltner)<br />

[26] Die „Wissenschaftslehre“ erhebt den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und muß aus<br />

diesem Grunde systematisch vorgehen. Sie muß von dem der Sache nach Ersten ausgehen,<br />

den schlechthin ersten Grundsatz menschlichen Wissens aufsuchen.<br />

Dieser „soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen<br />

unseres Bewußtseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem<br />

Bewußtseyn zum Grunde liegt, und es all<strong>ein</strong> möglich macht“ (SW I, 91).<br />

Diese „Thathandlung“ weist drei Momente auf, die in den drei Grundsätzen der „Wissenschaftslehre“<br />

formuliert werden.<br />

Der erste Grundsatz lautet: „Das Ich setzt sich selbst“ (SW I, 96), der zweite, es „wird dem<br />

Ich schlechthin entgegengesetzt <strong>ein</strong> Nicht<strong>–</strong>Ich“ (SW I, 104) und der dritte lautet, „Ich setze<br />

im Ich dem theilbaren Ich <strong>ein</strong> theilbares Nicht-Ich entgegen“ (SW 1, 110).<br />

Die Selbstsetzung des Ich bildet den Kern der Fichteschen Philosophie.<br />

Zu den drei genannten Grundsätzen führt Hermann Glockner in s<strong>ein</strong>em Buch ‚Die europäische<br />

Philosophie‘ (1958) aus:<br />

„Als vollständiges System vorgetragen, umfaßt die ‚Wissenschaftslehre‘ drei Teile. Der Erste<br />

Teil stellt die drei Grundsätze der Identität, des Widerspruchs und der <strong>ein</strong>schränkenden Beziehung<br />

auf; der Zweite Teil deduziert die Grundlage des theoretischen Wissens; der Dritte<br />

Teil deduziert die Grundlage der Wissenschaft des Praktischen, woraus dann weiterhin <strong>ein</strong>e<br />

Rechts- und Sittenlehre entwickelt werden.<br />

Inwieweit die Darstellung ,dialektisch‘ genannt werden darf, hängt zunächst von der Auffassung<br />

der Grundsätze ab.<br />

‚I. Das Ich setzt sich als Ich.‘ Durch diese freie Tathandlung wird Ich als <strong>ein</strong> Unterscheiden-

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