Harald Pamminger: Max Stirner – ein Schüler Hegels?

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OCR-Texterkennung und Copyright by Max Stirner Archiv Leipzig 12.09.2009 allein Derjenige, welcher in der Welt den Himmel, in dem Irdischen das Überirdische, in dem Weltlichen das Göttliche sieht und nachweist und beweist“. 1 Letzterer hat ein „wissenschaftliches Bewußtsein“. 2 Zu diesem brachte es die englische Philosophie, seiner Meinung nach, nicht, da sie sich nicht „um die theologischen Fragen“ 3 kümmerte. Philosophie kann sich jedoch „nur als Theologie ... wirklich ausleben, sich vollenden. In der Theologie ist die Wahlstatt ihres Todeskampfes“. 4 [276] An der Kardinalfrage des Lebens „hat das Erkennen seinen Gegenstand. Das deutsche Denken sucht mehr als das der Übrigen zu den Anfängen und Quellpunkten des Lebens zu gelangen, und sieht im Erkennen selbst erst das Leben. Cartesius‘ cogito, ergo sum hat den Sinn: Man lebt nur, wenn man denkt. Denkendes leben heißt: ,geistiges Leben‘! Es lebt nur der Geist, sein Leben ist das wahre Leben. Ebenso sind dann in der Natur nur die ,ewigen Gesetze‘, der Geist oder die Vernunft der Natur das wahre Leben derselben. Nur der Gedanke, im Menschen, wie in der Natur, lebt; alles Andere ist tot! Zu dieser Abstraktion, zum Leben der Allgemeinheiten oder des Leblosen muß es mit der Geschichte des Geistes kommen. Gott, welcher Geist ist, lebt allein. Es lebt nichts als das Gespenst“. 5 Max Stirner hegt massive Zweifel, ob man von der neueren Philosophie und Zeit tatsächlich behaupten kann, „sie habe es zur Freiheit gebracht, da sie Uns [doch] von der Gewalt der Gegenständlichkeit nicht befreite ...“. 6 Im Gegenteil: „Sie verwandelte nur die existierenden Objekte, den wirklichen Gewalthaber usw. in vorgestellte, d. h. in Begriffe, vor denen der alte Respekt sich nicht nur nicht verlor, sondern an Intensität zunahm. Schlug man auch Gott und dem Teufel in ihrer vormaligen krassen Wirklichkeit ein Schnippchen, so widmete man nur um so größere Aufmerksamkeit ihren Begriffen ... allein gegen den Begriff des Staates zu sündigen, dem Begriffe des Gesetzes sich nicht zu unterwerfen, wer hätte das gewagt ... Man hat nichts anderes getan, als daß man die Dinge in Vorstellungen von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwandelte, und die Abhängigkeit um so inniger und unauflöslicher wurde ... Ähnlich, wie mit der Familie, verhält sich‘s mit der Sittlichkeit. Von der Sitte sagt sich Mancher los, von der Vorstellung ,Sittlichkeit‘ sehr schwer. Die Sittlichkeit ist die ,Idee‘ der Sitte, ihre geistige Macht, ihre [277] Macht über die Gewissen; ... Der Protestant mag es anstellen, wie er will, heilig bleibt ihm doch die ,heilige Schrift‘, das ,Wort Gottes‘. Wem dies nicht mehr ,heilig‘ ist, der hat aufgehört ein Protestant zu sein. Hiermit bleibt ihm aber auch alles heilig, was in ihr ,verordnet‘ ist, die von Gott eingerichtete Obrigkeit usw. Diese Dinge bleiben ihm unauflöslich, unnahbar, ,über allem Zweifel erhaben‘, und da der Zweifel, der in der Praxis ein Rütteln wird, des Menschen Eigenstes ist, so bleiben diese Dinge über ihm selbst ,erhaben‘. Wer nicht davon loskommen kann, der wird glauben; denn daran glauben heißt daran gebunden sein. Dadurch, daß im Protestantismus der Glaube ein innerlicher wurde, ist auch die Knechtschaft eine innerliche geworden: man hat jene Heiligkeit in sich aufgenommen, sie mit seinem ganzen Dichten und Trachten verflochten, sie zur ,Gewissenssache‘ gemacht, sich eine ,heilige Pflicht‘ aus ihnen bereitet. Darum ist dem Protestanten heilig das, wovon sein Gewissen nicht loskommen kann, und die Gewissenhaftigkeit bezeichnet am deutlichsten seinen Charakter.“ 7 1 EE 93. 2 EE 93. 3 EE 94. 4 EE 93. 5 EE 94. 6 EE 94. 7 EE 94 ff.

OCR-Texterkennung und Copyright by Max Stirner Archiv Leipzig 12.09.2009 Darin sieht Stirner den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus. Ersterem ist „alles Tun und Denken ... eine ,Gewissenssache‘ ... [und er] handelt nach ,bestem Wissen und Gewissen‘“, während der zweite sich befriedigt findet, „wenn er den Befehl vollzieht ... Der Katholik ist ja nur ein Laie, der Protestant ist selbst Geistlicher“. 1 Die Quintessenz dieses Vergleiches von Katholizismus und Protestantismus besteht darin, daß dies „der Fortschritt über das Mitteralter [ist] und zugleich der Fluch der Reformationsperiode, daß das Geistliche vollständig wurde“. 2 In der Folge fährt er fort: „Im Katholizismus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im [278] Protestantismus sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz ... Dem Protestanten gilt die Majestät für heilig, dem Katholiken könnte nur die durch den Oberpriester geweihte dafür gelten ... Sucht der Protestant im Sinnlichen selbst eine Heiligkeit zu entdecken, um dann nur am Heiligen zu hängen, so strebt der Katholik vielmehr, das Sinnliche von sich weg in ein besonderes Gebiet zu verweisen, wo es wie die übrige Natur seinen Wert für sich behält ...“ 3 Stirner versucht uns weiters klar zu machen, daß die Protestanten, im Speziellen die Lutheraner, „in alle Dinge Geist zu bringen [suchen], den heiligen Geist in Allem als Wesen zu erkennen, und so alles Weltliche zu heiligen“. 4 Aus diesem Grund gelang dem „Lutheraner Hegel“ 5 der selbst von sich in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ sagt: „Ich bin es und will es bleiben“ 6 „die vollständige Durchführung des Begriffs durch Alles. In allem ist Vernunft, d. h. heiliger Geist, oder ,das Wirkliche ist vernünftig‘. Das Wirkliche ist nämlich in der Tat Alles, da in Jedem, z. B. jeder Lüge die Wahrheit aufgedeckt werden kann: es gibt keine absolute Lüge, kein absolut Böses u. dergl.“. 7 Die Frage, warum Stirner sich so sehr auf die Bedeutung des Protestantismus versteift „Große ‚Geisteswerke‘ wurden fast nur von Protestanten geschaffen, da sie allein die wahren Jünger und Vollbringer des Geistes waren“ 8 da er doch mit der Institution Kirche zu brechen versuchte, ja mit ihr abrechnete, läßt sich nur durch eine gewagte Behauptung beantworten, die jedoch den Beweis schuldig bleiben muß. [279] Es ist bekannt, daß Stirner selbst Lutheraner war. Trotz aller gegensätzlichen Anschauungen, die ihn mit Hegel verbanden und auch trennten, bestand zwischen beiden doch eine konfessionelle Bande, die sich nicht bestreiten läßt. Aus Hochachtung, aber auch aus Ablehnung vor seinem umfangreichen „Geisteswerk“, könnte ein Sendungsbewußtsein entstanden sein, sich durch eigene Schaffenskraft ein Denkmal in der Welt des Geistes zu errichten. Ins Reich der Spekulation möchte ich auch den Gedanken stellen, daß Stirner mit seinem „Einzigen“ einen „protestantischen Protestanten“ schaffen wollte, der sich über die Philosophie des Geistes hinwegsetzen will, um einen neuen „Himmel“ zu gründen. Resümierend beschreibt Stirner noch einmal seine Welt der „Alten“ und der „Neuen“. Steht der Mensch erst machtlos vor dem „Unbezwinglichen“, ist er „ohnmächtig“ gegen diese „riesenhafte Welt“, so „arbeitete nun die vorchristliche Menschheit? Dahin, das Einstür- 1 EE 97. 2 EE 97. 3 EE 99 f. 4 EE 100. 5 EE 100. 6 Hegel: Werke Bd. 18. S. 94. 7 EE 100 f. 8 EE 101.

OCR-Texterkennung und Copyright by <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> Archiv Leipzig <strong>–</strong> 12.09.2009<br />

Darin sieht <strong>Stirner</strong> den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus.<br />

Ersterem ist „alles Tun und Denken ... <strong>ein</strong>e ,Gewissenssache‘ ... [und er] handelt nach<br />

,bestem Wissen und Gewissen‘“, während der zweite sich befriedigt findet, „wenn er den Befehl<br />

vollzieht ... Der Katholik ist ja nur <strong>ein</strong> Laie, der Protestant ist selbst Geistlicher“. 1<br />

Die Quintessenz dieses Vergleiches von Katholizismus und Protestantismus besteht darin,<br />

daß dies „der Fortschritt über das Mitteralter [ist] und zugleich der Fluch der Reformationsperiode,<br />

daß das Geistliche vollständig wurde“. 2<br />

In der Folge fährt er fort: „Im Katholizismus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder<br />

geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im [278] Protestantismus<br />

sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz ...<br />

Dem Protestanten gilt die Majestät für heilig, dem Katholiken könnte nur die durch den<br />

Oberpriester geweihte dafür gelten ... Sucht der Protestant im Sinnlichen selbst <strong>ein</strong>e Heiligkeit<br />

zu entdecken, um dann nur am Heiligen zu hängen, so strebt der Katholik vielmehr, das<br />

Sinnliche von sich weg in <strong>ein</strong> besonderes Gebiet zu verweisen, wo es wie die übrige Natur<br />

s<strong>ein</strong>en Wert für sich behält ...“ 3<br />

<strong>Stirner</strong> versucht uns weiters klar zu machen, daß die Protestanten, im Speziellen die Lutheraner,<br />

„in alle Dinge Geist zu bringen [suchen], den heiligen Geist in Allem als Wesen zu erkennen,<br />

und so alles Weltliche zu heiligen“. 4 Aus diesem Grund gelang dem „Lutheraner Hegel“<br />

5 <strong>–</strong> der selbst von sich in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ sagt:<br />

„Ich bin es und will es bleiben“ 6 <strong>–</strong> „die vollständige Durchführung des Begriffs durch Alles.<br />

In allem ist Vernunft, d. h. heiliger Geist, oder ,das Wirkliche ist vernünftig‘. Das Wirkliche<br />

ist nämlich in der Tat Alles, da in Jedem, z. B. jeder Lüge die Wahrheit aufgedeckt werden<br />

kann: es gibt k<strong>ein</strong>e absolute Lüge, k<strong>ein</strong> absolut Böses u. dergl.“. 7<br />

Die Frage, warum <strong>Stirner</strong> sich so sehr auf die Bedeutung des Protestantismus versteift <strong>–</strong><br />

„Große ‚Geisteswerke‘ wurden fast nur von Protestanten geschaffen, da sie all<strong>ein</strong> die wahren<br />

Jünger und Vollbringer des Geistes waren“ 8 <strong>–</strong> da er doch mit der Institution Kirche zu brechen<br />

versuchte, ja mit ihr abrechnete, läßt sich nur durch <strong>ein</strong>e gewagte Behauptung beantworten,<br />

die jedoch den Beweis schuldig bleiben muß.<br />

[279] Es ist bekannt, daß <strong>Stirner</strong> selbst Lutheraner war. Trotz aller gegensätzlichen Anschauungen,<br />

die ihn mit Hegel verbanden und auch trennten, bestand zwischen beiden doch<br />

<strong>ein</strong>e konfessionelle Bande, die sich nicht bestreiten läßt. Aus Hochachtung, aber auch aus Ablehnung<br />

vor s<strong>ein</strong>em umfangreichen „Geisteswerk“, könnte <strong>ein</strong> Sendungsbewußts<strong>ein</strong> entstanden<br />

s<strong>ein</strong>, sich durch eigene Schaffenskraft <strong>ein</strong> Denkmal in der Welt des Geistes zu errichten.<br />

Ins Reich der Spekulation möchte ich auch den Gedanken stellen, daß <strong>Stirner</strong> mit s<strong>ein</strong>em<br />

„Einzigen“ <strong>ein</strong>en „protestantischen Protestanten“ schaffen wollte, der sich über die Philosophie<br />

des Geistes hinwegsetzen will, um <strong>ein</strong>en neuen „Himmel“ zu gründen.<br />

Resümierend beschreibt <strong>Stirner</strong> noch <strong>ein</strong>mal s<strong>ein</strong>e Welt der „Alten“ und der „Neuen“.<br />

Steht der Mensch erst machtlos vor dem „Unbezwinglichen“, ist er „ohnmächtig“ gegen diese<br />

„riesenhafte Welt“, so „arbeitete nun die vorchristliche Menschheit? Dahin, das Einstür-<br />

1 EE 97.<br />

2 EE 97.<br />

3 EE 99 f.<br />

4 EE 100.<br />

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6 Hegel: Werke Bd. 18. S. 94.<br />

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