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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 die Art (die Gesellschaft) nützlich ist. Hier wiederholt sich das, was wir in der Moral sehen: Wenn jene Handlungen der Einzelperson sittlich sind, die sie entgegen den Erwägungen des persönlichen Nutzens vollbringt, dann [128] bedeutet das noch nicht, daß die Sittlichkeit keine Beziehung zum gesellschaftlichen Nutzen hat. Ganz im Gegenteil: Die Selbstlosigkeit des Individuums hat nur insofern einen Sinn, als sie der Sippe nützlich ist. Deshalb ist die Kantsche Definition: Schön ist 1 , was ohne alles Interesse wohlgefällt, unrichtig. Allein, wodurch soll man sie ersetzen? Kann man so sagen: Schön ist, was uns unabhängig von unserem persönlichen Interesse gefällt? Nein, das ist nicht genau. Wenn dem Künstler – sei es auch dem kollektiven – sein Werk Selbstzweck ist, vergessen auch die Menschen, die sich an dem Kunstwerk erfreuen (gleichgültig, ob es die „Antigone“ des Sophokles, die „Nacht“ Michelangelos oder der „Tanz der Ruderer“ ist), alle praktischen Zwecke überhaupt und den Nutzen der Sippe im besonderen. Folglich ist der Genuß an einem Kunstwerk der Genuß an der Darstellung dessen (des Gegenstandes, der Erscheinung oder der Stimmung), [was] für die Sippe unabhängig von jeglichen Nützlichkeitserwägungen nützlich ist. 2 Das Kunstwerk offenbart sich in Bildern oder Tönen und wirkt auf unser kontemplatives Vermögen und nicht auf die Logik, und ebendeshalb ist da kein ästhetischer Genuß vorhanden, wo der Anblick eines Kunstwerkes nur Erwägungen über den Nutzen der Gesellschaft erzeugt; in diesem Falle ist nur ein Surrogat des ästhetischen Genusses vorhanden: das Vergnügen, das diese Erwägung verschafft. Da uns aber ein künstlerisches Bild auf diese Erwägungen bringt, entsteht eine psychologische Aberration, dank der wir eben dieses Bild für die Ursache unseres Genusses ansehen, während er in Wirklichkeit durch die von ihm hervorgerufenen Gedanken verursacht wird und folglich in der Funktion unseres logischen Vermögens wurzelt und nicht in der Funktion unseres Anschauungsvermögens. Der wirkliche Künstler wendet sich nämlich immer an diese letztere Fähigkeit, während das tendenziöse Werk sich stets bemüht, in uns Betrachtungen über den allgemeinen Nutzen hervorzurufen, das heißt auf unsere Logik einwirkt. 3 Man muß übrigens bedenken: historisch geht die Beziehung zu den Gegenständen vom bewußt utilitaristischen Standpunkt häufig der Beziehung zu ihnen vom ästhetischen Standpunkt voraus. Ratzel, der die Neigung vieler Forscher der urgesellschaftlichen Sitten durchaus nicht billigt, Bewußtheit ‹dort› einzuführen, wo es keine geben konnte 4 , muß indes selbst in manchen wichtigen Fällen an sie appellieren. So reiben die [129] Wilden bekanntlich fast überall ihren Körper mit Fett, dem Saft gewisser Pflanzen oder schließlich einfach mit Lehm ein. Diese Gewohnheit spielt in der Kosmetik der Naturvölker eine ungeheure Rolle. Aber wo kam sie her? Ratzel meint, die Hottentotten, die ihren Körper mit dem Saft einer aromatischen Pflanze, dem Buchukraut, einreiben, tun das, um sich gegen Ungeziefer zu schützen. Und er fügt hinzu, daß dieselben Hottentotten ihre Haare besonders sorgfältig einreiben, und das erklärt sich aus dem Streben, den Kopf gegen die Sonnenhitze zu schützen. 5 Eine ähnliche Annahme hat schon der bekannte Jesuit Lafiteau anläßlich der Gewohnheit der Rothäute Nordamerikas, sich mit Fett einzureiben, ausgesprochen. 6 In unserer Zeit unterstützt sie mit 1 [Bei Plechanow: Schön ist das,...] 2 [Siehe unten: „Variante zu S. 41“ auf S. 149.] 3 [Siehe unten: „Varianten zu S. 42/43“ auf S. 149.] 4 [Ratzel,] „Völkerkunde“, [1. Auflage,] I, Einleitung, S. 69. 5 Ebenda, [1. Auflage,] Bd. I, S. 92. [„... mit einer Salbe, die aus Fett, zerstoßenem Buchukraut und Ruß oder Ocker besteht.“] 6 „Les mœurs des sauvages américains“ ‚ Paris MDCCXXIV, t. II, p. 59: „Les huiles dont les sauvages se graissent, les rendent extrêmement puants et crasseux... Mais ces huiles leur sont absolument nécessaires, et ils sont mangés de vermine quand elles leur manquent.“ [„Die Öle, mit denen die Wilden sich einreiben, machen sie 62

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 besonderer Stärke und Überzeugungskraft von den Steinen. Er spricht von der Gewohnheit der brasilianischen Indianer, sich mit farbigem Lehm einzuschmieren, und weist darauf hin, daß sie zuerst bemerken mußten, wie der Lehm die Haut erfrischt und vor Moskitos schützt, und erst dann darauf aufmerksam werden konnten, daß der eingeschmierte Körper schöner wird. „Auch ich glaube, daß der Schmuck aus dem Vergnügen, daß er wie Spiel und Tanz aus einem Überschuß an Spannkräften hervorgeht, aber die Dinge, die man braucht, um sich zu schmücken, hat man vorher durch ihren Nutzen kennengelernt.“ „Überall können wir bei unsern“ (d. h. den brasilianischen) „Indianern Methoden, die dem Nutzen, und solche, die der Verschönerung dienen, einträchtiglich nebeneinander im Gebrauch sehen, und wir haben allen Grund anzunehmen, daß jene die älteren sind.“ 1 So hat sich der Mensch anfänglich mit Lehm, Fett oder Pflanzensaft eingerieben, weil es nützlich war. 2 Dann fing der auf diese Weise eingeriebene Körper an, ihm schön zu erscheinen, und er begann sich um des ästhetischen Genusses willen einzureiben. War dieser Punkt einmal erreicht, dann erschien eine Menge der verschiedenartigsten „Faktoren“, die durch ihren Einfluß die weitere Evolution der ursprünglichen Kosmetik bedingten. So zum Beispiel lieben es, nach den Worten Burtons, die [130] Neger vom Stamme Wuashishi (in Ostafrika), sich den Kopf mit Kalk zu bedecken, dessen weiße Farbe ihre schwarze Haut schön schattiert. Dieselben Wuashishi lieben aus demselben Grunde Verschönerungen, die aus Nilpferdzähnen hergestellt sind und sich durch ein blendendes Weiß auszeichnen. 3 Genauso ziehen es die brasilianischen Indianer, nach den Worten von den Steinens vor, Glasperlen von blauer Farbe zu kaufen, die schöner als andere auf ihrer Haut hervortreten. 4 Überhaupt hat die Kontrastwirkung (das Prinzip der Antithese) in ähnlichen Fällen sehr große Bedeutung. 5 Ebenso groß, wenn nicht größer, ist natürlich der Einfluß der Lebensweise der Naturvölker. Der Wunsch, seinen Feinden möglichst schrecklich zu erscheinen, konnte – neben der oben erwähnten – eine weitere Ursache des Aufkommens der Gewohnheit sein, den Körper einzureiben und zu schmücken. „Der Wilde, der zum erstenmal im siegreichen Kampf mit dem Nebenbuhler oder auf der Jagd sich mit Blut und Schlamm besudelte“, sagt Joest, „wird sicher bemerkt haben, welch abscheu- und schreckenerregenden Eindruck er hierdurch auf seine Umgebung machte, die ihrerseits diesen Zufall gewiß nicht vorübergehen ließ, ohne für eigene Zwecke Nutzen daraus zu ziehen.“ 6 In der Tat, wir wissen, daß sich manche wilden Stämme nach einer erfolgreichen Jagd mit dem Blute der erlegten Tiere einschmieren. 7 Wir wissen auch, daß sich die Krieger der Naturvölker mit roter Farbe anstreichen, wenn sie in den Krieg ziehen oder einen Kriegstanz aufführen wollen. Die unter den Kriegern allmählich aufkommende und zur ständigen Gewohnheit werdende Sitte, sich rot zu bemalen, nämlich mit der Farbe des Blutes, hatte sicherlich ihre Ursache auch in ihrem Wunsch, den Frauen zu gefallen, die bei ihrer häuslichen Lebensweise den Männern mit Verachtung begegnen mußten, die nicht kriegerisch aussaäußerst stinkend und schmutzig ... Aber sie brauchen diese Öle unbedingt, und werden vom Ungeziefer aufgefressen, wenn sie ihnen fehlen.“] 1 „Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens“, S. 174; vgl. auch S. 186. 2 „Hier liegen ja auch Beispiele aus dem Tierleben vor“, bemerkt Joest richtig, „Büffel, Elefanten, Nilpferde usw. nehmen häufig Schlammbäder mit der unverkennbaren Absicht, sich durch den irdnen Panzer vor Fliegen-, Mücken- usw. Stichen zu schützen. Daß also der Mensch dasselbe tat, bzw. es noch tut, ist naheliegend.“ („Tätowieren, Narbenzeichnen und Körperbemalen“, Berlin 1887, S. 19.) 3 Burton, „Voyage aux grands lacs de l’Afrique Orientale“, pp. 411-413. 4 L. c., S. 185. 5 Siehe Ratzel, „Völkerkunde“, I, Einleitung, S. 69; Grosse, „[Die] Anfänge der Kunst“, S. 61 ff. 6 Gen. Werk [Joest, „Tätowieren...“ etc.], S. 19. 7 Ratzel, „Völkerkunde“, [1. Auflage,] Bd. II, S. 567. 63

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

die Art (die Gesellschaft) nützlich ist. Hier wiederholt sich das, was wir in der Moral sehen:<br />

Wenn jene Handlungen der Einzelperson sittlich sind, die sie entgegen den Erwägungen des<br />

persönlichen Nutzens vollbringt, dann [128] bedeutet das noch nicht, daß die Sittlichkeit keine<br />

Beziehung zum gesellschaftlichen Nutzen hat. Ganz im Gegenteil: Die Selbstlosigkeit des<br />

Individuums hat nur insofern einen Sinn, als sie der Sippe nützlich ist. Deshalb ist die Kantsche<br />

Definition: Schön ist 1 , was ohne alles Interesse wohlgefällt, unrichtig. Allein, wodurch<br />

soll man sie ersetzen? Kann man so sagen: Schön ist, was uns unabhängig von unserem<br />

persönlichen Interesse gefällt? Nein, das ist nicht genau. Wenn dem Künstler – sei es auch<br />

dem kollektiven – sein Werk Selbstzweck ist, vergessen auch die Menschen, die sich an dem<br />

Kunstwerk erfreuen (gleichgültig, ob es die „Antigone“ des Sophokles, die „Nacht“ Michelangelos<br />

oder der „Tanz der Ruderer“ ist), alle praktischen Zwecke überhaupt und den Nutzen<br />

der Sippe im besonderen.<br />

Folglich ist der Genuß an einem Kunstwerk der Genuß an der Darstellung dessen (des Gegenstandes,<br />

der Erscheinung oder der Stimmung), [was] für die Sippe unabhängig von jeglichen<br />

Nützlichkeitserwägungen nützlich ist. 2<br />

Das Kunstwerk offenbart sich in Bildern oder Tönen und wirkt auf unser kontemplatives<br />

Vermögen und nicht auf die Logik, und ebendeshalb ist da kein ästhetischer Genuß vorhanden,<br />

wo der Anblick eines Kunstwerkes nur Erwägungen über den Nutzen der Gesellschaft<br />

erzeugt; in diesem Falle ist nur ein Surrogat des ästhetischen Genusses vorhanden: das Vergnügen,<br />

das diese Erwägung verschafft. Da uns aber ein künstlerisches Bild auf diese Erwägungen<br />

bringt, entsteht eine psychologische Aberration, dank der wir eben dieses Bild für die<br />

Ursache unseres Genusses ansehen, während er in Wirklichkeit durch die von ihm hervorgerufenen<br />

Gedanken verursacht wird und folglich in der Funktion unseres logischen Vermögens<br />

wurzelt und nicht in der Funktion unseres Anschauungsvermögens. Der wirkliche Künstler<br />

wendet sich nämlich immer an diese letztere Fähigkeit, während das tendenziöse Werk sich<br />

stets bemüht, in uns Betrachtungen über den allgemeinen Nutzen hervorzurufen, das heißt auf<br />

unsere Logik einwirkt. 3<br />

Man muß übrigens bedenken: historisch geht die Beziehung zu den Gegenständen vom bewußt<br />

utilitaristischen Standpunkt häufig der Beziehung zu ihnen vom ästhetischen Standpunkt<br />

voraus. Ratzel, der die Neigung vieler Forscher der urgesellschaftlichen Sitten durchaus<br />

nicht billigt, Bewußtheit ‹dort› einzuführen, wo es keine geben konnte 4 , muß indes selbst<br />

in manchen wichtigen Fällen an sie appellieren. So reiben die [129] Wilden bekanntlich fast<br />

überall ihren Körper mit Fett, dem Saft gewisser Pflanzen oder schließlich einfach mit Lehm<br />

ein. Diese Gewohnheit spielt in der Kosmetik der Naturvölker eine ungeheure Rolle. Aber wo<br />

kam sie her? Ratzel meint, die Hottentotten, die ihren Körper mit dem Saft einer aromatischen<br />

Pflanze, dem Buchukraut, einreiben, tun das, um sich gegen Ungeziefer zu schützen.<br />

Und er fügt hinzu, daß dieselben Hottentotten ihre Haare besonders sorgfältig einreiben, und<br />

das erklärt sich aus dem Streben, den Kopf gegen die Sonnenhitze zu schützen. 5 Eine ähnliche<br />

Annahme hat schon der bekannte Jesuit Lafiteau anläßlich der Gewohnheit der Rothäute<br />

Nordamerikas, sich mit Fett einzureiben, ausgesprochen. 6 In unserer Zeit unterstützt sie mit<br />

1 [Bei Plechanow: Schön ist das,...]<br />

2 [Siehe unten: „Variante zu S. 41“ auf S. 149.]<br />

3 [Siehe unten: „Varianten zu S. 42/43“ auf S. 149.]<br />

4 [Ratzel,] „Völkerkunde“, [1. Auflage,] I, Einleitung, S. 69.<br />

5 Ebenda, [1. Auflage,] Bd. I, S. 92. [„... mit einer Salbe, die aus Fett, zerstoßenem Buchukraut und Ruß oder<br />

Ocker besteht.“]<br />

6 „Les mœurs des sauvages américains“ ‚ Paris MDCCXXIV, t. II, p. 59: „Les huiles dont les sauvages se graissent,<br />

les rendent extrêmement puants et crasseux... Mais ces huiles leur sont absolument nécessaires, et ils sont<br />

mangés de vermine quand elles leur manquent.“ [„Die Öle, mit denen die Wilden sich einreiben, machen sie<br />

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