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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013<br />

[127] Allerdings steht diese allbekannte Tatsache in scharfem Gegensatz zu der Anschauung<br />

des Grafen L. Tolstoi, auf die ich Sie im ersten Briefe aufmerksam machte und nach der das<br />

allen Menschen der Gesellschaft eigene Bewußtsein dessen, was schlecht und was gut ist,<br />

immer und überall („in jeder Gesellschaft“) ein religiöses Bewußtsein ist. Die vielgestaltigen<br />

und malerischen Tänze der Naturvölker, die in der Kunst eine so wichtige Stelle einnehmen,<br />

sind Ausdruck und Darstellung jener Gefühle und Handlungen, die in ihrem Leben die wesentlichste<br />

Bedeutung haben. Sie haben also die unmittelbarste Beziehung zu dem, „was<br />

schlecht und was gut ist“, aber in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle stehen sie außerhalb<br />

jedes Zusammenhangs mit der urgesellschaftlichen „Religion“. Der Gedanke des Grafen L.<br />

Tolstoi ist falsch selbst in der Anwendung auf die mittelalterlichen katholischen Völker, bei<br />

denen die Assoziation der religiösen Vorstellungen mit der praktischen Moral bereits unvergleichlich<br />

fester war und sich auf ein bei weitem größeres Gebiet ausdehnte. Auch bei diesen<br />

Völkern war das Bewußtsein dessen, „was schlecht und was gut ist“, bei weitem nicht immer<br />

ein religiöses Bewußtsein, und deshalb hatten die Gefühle, die durch die Kunst wiedergegeben<br />

wurden, oft nicht die geringste Beziehung zur Religion. 1<br />

Aber wenn das Bewußtsein dessen, was schlecht und was gut, bei weitem nicht immer ein<br />

religiöses Bewußtsein ist, dann erlangt die Kunst zweifellos nur in dem Maße gesellschaftliche<br />

Bedeutung, wie sie Handlungen, Gefühle oder Ereignisse darstellt, erregt oder wiedergibt,<br />

die eine wichtige Bedeutung für die Gesellschaft haben. 2<br />

Wir haben das an den Tänzen gesehen: die brasilianischen Fischtänze sind ebenso eng mit<br />

den Erscheinungen verknüpft, von denen das Leben des Stammes abhängt, wie auch der<br />

nordamerikanische Skalptanz oder der Tanz, der den Fang der Muscheln darstellt, wie ihn<br />

die australischen Frauen tanzen. Allerdings bringt weder der eine, noch der zweite oder dritte<br />

Tanz den Tänzern selbst oder den Zuschauenden irgendeinen unmittelbaren Nutzen. Hier wie<br />

auch sonst immer gefällt den Menschen das Schöne unabhängig von jeglichen utilitaristischen<br />

Erwägungen. Aber das Individuum kann sich ganz selbstlos an dem erfreuen, was für<br />

des „Literarischen Nachlasses G. W. Plechanows“ (S. 73/74) hatte G. W. Plechanow die Ansicht Tylors über die<br />

Moral im Auge, die in Kap. XI, Bd. II seines Buches „Die primitive Kultur“ dargelegt ist. „Ein überaus wichtiges<br />

Element der Religion“ sagt Tylor, „nämlich jenes sittliche Element, das für uns seinen wesentlichsten Bestandteil<br />

bildet, findet sich in der Religion der niedrigen Rassen nur sehr schwach angedeutet. Nicht, daß sie<br />

kein sittliches Gefühl oder sittliches Ideal hätten – sowohl das eine wie auch das andere ist bei ihnen vorhanden,<br />

wenn auch nicht in Form bestimmter Lehren, so doch in jenem traditionellen Bewußtsein, das wir öffentliche<br />

Meinung <strong>nennen</strong> und das bei uns bestimmend ist für Gut und Böse. Die Sache ist die, daß die Verbindung von<br />

Moralphilosophie und animistischer Philosophie, die bei der höheren Kultur so eng und mächtig ist, bei der<br />

niederen Kultur anscheinend kaum im Entstehen begriffen ist.“ (Tylor, „Die primitive Kultur“, St. Petersburg<br />

1897, Bd. II, S. 10.) – 7* Bei Marillier hat G. W. Plechanow nach Mitteilung des Kommentators von Bd. III des<br />

„Literarischen Nachlasses G. W. Plechanows“ (S. 74) im eigenen Exemplar dieses Buches die folgende Stelle<br />

angemerkt: „Die Vorstellung, welche die Menschen sich von der Gottheit machen, hat sich also im Laufe der<br />

Zeit so umgestaltet, daß sich bei den zivilisierten Völkern der Glaube an Gott und der Glaube an ein künftiges<br />

Leben sehr fest auf sittliche Gründe, auf Motive gründen, die hergeleitet sind aus einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit,<br />

das hier auf Erden unbefriedigt bleibt, während ursprünglich das Weiterleben der Seele und die Existenz<br />

der Geister und der Götter Vorstellungen waren, die dem menschlichen Verstand im wesentlichen dazu dienten,<br />

die Erscheinungen der Natur und des Lebens zu erklären und zu verstehen; sie nahmen in dem primitiven Denken<br />

die Stelle ein, die in unserem Denken die großen Naturkräfte und die großen Hypothesen über die Entstehung<br />

der Welt einnehmen. Die Moral hat sich in dem Maße entwickelt, wie die gesellschaftlichen Gebilde verwickelter<br />

wurden, und indem die Menschen sich ihre Moral schufen, sind auch die Götter moralisch geworden.“<br />

(L. Marillier, „La survivance de l’âme et l’idée de justice chez les peuples non civilisée“, Paris 1894, p. 46.)]<br />

1 Im weiteren wurden von Plechanow folgende Sätze ausgestrichen: „Nichtsdestoweniger bringt uns dieser Gedanke<br />

des Grafen Tolstoi der Frage nach der Rolle der Kunst in der Geschichte der Menschheit näher, worauf<br />

ich bereits im ersten Brief hingewiesen habe. in den Auseinandersetzungen darüber, ob die Kunst Selbstzweck<br />

‚sein müsse‘ oder ‚nicht sein müsse‘, wie auch in allen...“ Red. L. N.<br />

2 [Anm. über die Spencersche Definition (siehe weiter oben, S. 96/97 u. 101).]<br />

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