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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

durch die Geschmacksrichtungen, Gewohnheiten und Bestrebungen dieser Zeit, und je größer<br />

ein Schriftsteller ist, desto stärker und klarer ist diese Abhängigkeit des Charakters seiner<br />

Werke vom Charakter seiner Zeit – das heißt, mit anderen Worten: desto geringer ist in seinen<br />

Werken jener „Rest“, den man als persönlich bezeichnen könnte. Die hauptsächlichste<br />

persönliche Eigentümlichkeit, die „tiefere Originalität“ (der Leser erinnert sich an diesen<br />

Ausdruck Lansons) eines großen Menschen ist daran zu erkennen, daß er auf seinem Gebiete<br />

früher oder besser, vollständiger als andere die gesellschaftlich oder geistigen Bedürfnisse<br />

und Bestrebungen seiner Zeit zum Ausdruck gebracht hat. Vor dieser Eigentümlichkeit, die<br />

seine „historische Individualität“ ausmacht, verschwinden alle übrigen, wie die Sterne beim<br />

Sonnenlicht verschwinden. Und diese historische Individualität kann durchaus Gegenstand<br />

einer exakten Analyse sein.<br />

„Ich kann mir also nicht denken“, sagt Lanson, „daß man die Literatur anders studiert, als um<br />

sich zu bilden, und aus einem anderen Grunde, als weil es einem Vergnügen macht.“ Das ist<br />

ganz verständlich, wenn man seine Theorie der „persönlichen Reste“ berücksichtigt. Man versteht<br />

auch, daß keiner von denen, die diese Theorie wie wir für falsch halten, ihm recht geben<br />

wird. Die Literatur kann und muß man zu demselben Zwecke studieren, wie der Biologe das<br />

organische Leben studiert. Man braucht hier wohl kaum hinzuzufügen, daß dieses Studium nicht<br />

in Widerspruch stehen kann zu dem Zweck der eigenen Bildung und daß der geistige Genuß,<br />

den es einem gewährt, in seiner Art nicht weniger groß und von nicht geringerem Wert ist als<br />

der ästhetische Genuß, den einem das Lesen hervorragender schöngeistiger Werke verschafft. 1<br />

Anmerkungen<br />

Diese Rezensionen <strong>erschien</strong>en erstmals in der Zeitschrift „Nowoje Slowo“ (1897); die erste<br />

Rezension im Juniheft (Nr. 9, S. 62-67); die zweite im Septemberheft (Nr. 12, S. 30-36). Sodann,<br />

nachdem auf Grund einiger in seinem Archiv erhaltener Manuskriptseiten des Textes<br />

dieser Rezensionen die Autorschaft Plechanows festgestellt war, wurden sie von neuem gedruckt<br />

im 1. Band des „Literaturnoje Nasledstwo“ (Verlag „Shurgas“, Moskau 1931, S. 47-69).<br />

Die „Geschichte der französischen Literatur“, die bereits in der 10. Auflage <strong>erschien</strong>en ist, ist<br />

das Hauptwerk Gustave Lansons (1857-1934), Professor an der Sorbonne (seit 1900) und<br />

Direktor der „École normale“ (1920-1927), eines angesehenen französischen Literaturwissenschaftlers<br />

und Verfassers einer Reihe literaturhistorischer Monographien (über Boileau,<br />

Corneille, Voltaire u. a.).<br />

1 Variante des Schlusses des Aufsatzes (der zwei letzten Absätze):<br />

„... durch die Mentalität und die Gewohnheiten des herrschenden Standes, der zur Zeit Corneilles eigentlich<br />

auch das Theaterpublikum bildete. Aber der Raum erlaubt uns nicht, hierauf näher einzugehen. Wir wollen uns<br />

auf die allgemeine Bemerkung beschränken, daß der einzige bemerkbare ‚persönliche Rest‘ in den Werken jedes<br />

großen Schriftstellers gerade der ist, daß diese Werke die gesellschaftlichen Bestrebungen ihrer Zeit in wohlgelungener<br />

Form zum Ausdruck bringen. Ein solcher Rest... Die hauptsächliche persönliche Eigentümlichkeit, die<br />

‚tiefere Originalität‘ – um hier den Ausdruck Lansons zu gebrauchen – eines großen Menschen besteht in seiner<br />

Einstellung zu den gesellschaftlichen (oder geistigen) Bedürfnissen und [967] Bestrebungen seiner Zeit. Vor<br />

dieser Eigentümlichkeit – die seine historische Individualität ausmacht – verschwinden alle seine übrigen Eigenarten<br />

wie die Sterne beim Sonnenlicht verschwinden.<br />

Bei seiner Ansicht über die Bedeutung der ‚persönlichen Reste‘ hat Lanson ganz recht, wenn er sagt: ‚Ich kann mir<br />

also nicht denken, daß man die Literatur anders studiert, als um sich zu bilden, und aus einem anderen Grunde, als<br />

weil es einem Vergnügen macht.‘ Indes versteht es sich von selbst, daß ihm keiner von denen recht geben wird, die<br />

wie wir den ‚Resten‘ keinerlei wesentliche Bedeutung beimessen. Die eigene Bildung ist eine sehr wichtige Sache:<br />

aber kann denn die wissenschaftliche Erkenntnis der Geschichte des menschlichen Geistes nicht auch zur eigenen<br />

Bildung beitragen? Der ästhetische Genuß, den einem die Lektüre eines literarischen Kunstwerkes gewährt, ist ebenfalls<br />

etwas sehr Achtenswertes; aber er schließt nicht den Genuß aus, den einem die Analyse dieses Werkes als eines<br />

Produktes dieses oder jenes Zustandes der Gesellschaft verschaffen kann. In der Tat ist nur diese Analyse imstande,<br />

uns das innerste Wesen des Werkes in seinem tiefsten Grunde zu enthüllen.“ (S. 21/22 des Manuskripts.)<br />

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