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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

gestellt; sie erkennt das als ihren Gegenstand, was jeder in sich als Wahrheit und Sitte vorfindet“<br />

usw. (S. 447, 448). Unter solchen Bedingungen ist Corneilles Streben nach Wahrheit<br />

durchaus nicht etwas, was nicht durch die gesellschaftliche Ursachen erklärt werden könnte,<br />

und man kann sich nur darüber wundern, daß die Wahrheit in der dramatischen Dichtung nicht<br />

schon vor dem Erscheinen Corneilles durchgedrungen ist.<br />

Somit war Corneille in der französischen dramatischen Dichtung der erste geniale Vertreter der<br />

rationalistischen Strömungen, die seiner Zeit allgemein eigen waren und die teils schon früher,<br />

teils zu gleicher Zeit in den anderen Zweigen der Literatur, zum Beispiel in der Philosophie,<br />

ihren Ausdruck fanden. Wenn wir uns nicht täuschen, können derartige „persönliche Reste“<br />

kein Hindernis für die wissenschaftliche Erklärung der Entwicklung der Weltliteratur sein.<br />

Gehen wir nun zur Auswahl der Sujets über. Corneille „hat an Stoffe aus dem privaten und aus<br />

dem bürgerlichen Leben gedacht, an das, was wir Drama <strong>nennen</strong>“, sagt Lanson, „er hat die<br />

Formel dazu geliefert; selbst hat er sie nicht angewandt“ (S. 550). Weshalb? Bildet dieser Umstand<br />

[965] nicht einen „persönlichen Rest“ in der literarischen Tätigkeit Corneilles? Lanson ist<br />

der Ansicht, daß er durch vielerlei Ursachen hervorgerufen worden ist. Erstens deshalb, weil<br />

„die Macht den Mann beweist“, wie die alten Griechen sagten: sie befreit ihn von den vielen<br />

Beengungen des privaten Lebens und ermöglicht es, die Natur seiner Leidenschaften besser zu<br />

erforschen. Das ist eine schlechte Erklärung. Sie läßt die Frage gänzlich ungelöst, weshalb diese<br />

Betrachtung bezüglich des Einflusses der Macht für alle hervorragenden Schriftsteller des<br />

17. Jahrhunderts überzeugend war und im 18. Jahrhundert, als Nivelle de La Chaussee, Diderot<br />

und Beaumarchais an Stelle der traditionellen Könige und Helden in ihren Dramen gewöhnliche<br />

Sterbliche auftreten zu lassen begannen, keine überzeugende Kraft mehr hatte. Erklärt nicht<br />

die zweite der von Lanson aufgezählten Ursachen die Sache? Zweitens, so fährt er fort, „zu<br />

seiner“ (Corneilles) „Zeit interessierte das Schicksal berühmter Männer das Publikum mehr als<br />

das Schicksal einfacher Bürger und lieferte mehr Gelegenheit, große Leidenschaften zu zeigen.“<br />

Das ist etwas anderes. Wenn das Schicksal einfacher Bürger zur Zeit Corneilles für das<br />

Theaterpublikum wenig interessant war, so ist verständlich, daß die Schriftsteller diese Bürger<br />

nicht zu Helden ihrer Dramen machten. Wir wollen noch mehr sagen: das bürgerliche Leben<br />

der damaligen Zeit war in der Tat vom Gesichtspunkt der dramatischen Handlung aus uninteressant.<br />

Und wenn im folgenden Jahrhundert das Schicksal der bürgerlichen Helden bei den<br />

Zuschauern ein so gewaltiges Interesse erwecken konnte, so lag hierfür die völlig hinreichende<br />

Ursache in der gesellschaftlichen Stellung, die sich die französische Bourgeoisie zum Teil bereits<br />

damals erobert hatte, zum Teil zu erobern bestrebt war. „Schließlich“, so schließt Lanson‚<br />

„geben historische Interessen ganz allgemein den Leidenschaften ein gemeinverständlicheres<br />

Motiv als berufliche oder finanzielle Interessen, woraus die bürgerlichen Leidenschaften entspringen.“<br />

Das ist richtig und auch wieder nicht richtig. Die Quelle der bürgerlichen Leidenschaften<br />

sind nicht immer nur berufliche oder finanzielle Interessen allein: so wurde die Bourgeoisie<br />

zum Beispiel am Ende des vorigen Jahrhunderts von leidenschaftlicher Teilnahme auch<br />

für die großen „historischen Interessen“ ergriffen. Aber natürlich konnten diese bei ihr nur<br />

beim Vorhandensein gewisser Bedingungen auftreten, die zur Zeit Corneilles nicht vorhanden<br />

waren. Also ... also war auch dafür, daß dieser Schriftsteller gerade diese und nicht andere Stoffe<br />

gewählt hat, die gesellschaftliche Ursache hinreichend.<br />

Man könnte leicht zeigen – wohlgemerkt, an Hand der von Lanson selbst angeführten Tatsachen<br />

und Überlegungen –‚ daß sich die „Form des Corneilleschen Dramas“ sehr gut erklären<br />

läßt durch die Mentalität [966] und die Gewohnheiten des damals herrschenden Standes, der<br />

zur Zeit Corneilles eigentlich auch das Theater,,publikum“ bildete. Aber wo ist jener „persönliche<br />

Rest“, der sich unbedingt in den Werken Corneilles zeigen mußte, falls Lansons Theorie<br />

richtig war? Wir sehen nichts von einem solchen Rest. Und das wundert uns nicht. Jedes<br />

Werk der Literatur ist der Ausdruck seiner Zeit. Sein Inhalt, seine Form werden bestimmt<br />

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