erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
from max.stirner.archiv.leipzig.de More from this publisher
18.09.2015 Views

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 „Das Grundprinzip des Corneilleschen Schauspiels“, sagt er, „ist die Wahrheit, die Ähnlichkeit mit dem Leben. Zunächst hat er nur getastet, da eine Zeit ihn geformt hatte, in der niemand daran dachte, die dramatische Kunst in diese Richtung zu lenken: er hat seine Phantasie nach allen Richtungen hin versucht... Aber gleich von Anfang an hatte er zu seinem Gebrauch eine nüchterne, ernsthafte, wahre Form der Komödie geschaffen... Dann schuf er die wahre Komödie, an der er festhielt“ (S. 547). In diesem Fall haben wir es, wie es scheint, mit dem zu tun, was in den Werken Corneilles den „persönlichen Rest“ ausmacht. In der Tat, wenn er die Wahrheit zum Grundprinzip seiner dramatischen Werke machte, obwohl eine Zeit ihn geformt hatte, in der niemand an diese dachte, so scheint es klar zu sein, daß er das wichtigste Unterscheidungsmerkmal seiner Werke sich selbst verdankte, nicht aber dem ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieu. Indes, auch hier ist zu bemerken, daß diese Schlußfolgerung nur auf den ersten Blick richtig ist. Die Wahrheit der Corneilleschen Tragödie beruht auf dem Fehlen jener romantischen Verwicklung, die in den dramatischen Werken seiner Vorgänger vorherrschte und vermöge der die Handlung nicht durch die Charaktere und Situationen der handelnden Personen bedingt war, sondern durch das zufällige Zusammenwirken zufälliger Ursachen. Lanson sagt, daß Corneille niemals von romantischen Mitteln Gebrauch gemacht hat. C’est trop dire [Das wäre zuviel gesagt] Schon Lessing hat in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ gezeigt, daß sich sehr viel absichtlich Verwickeltes und Unnatürliches manchmal sogar in den besten Werken Corneilles, zum Beispiel in dem Drama „Rodogunde“ 1 findet. 2 Nichtsdestoweniger ist es unbestreitbar, daß in diesen Wer- [964]ken ungleich mehr Wahrheit enthalten war als in den Werken von Hardy, Scudéry usw. Daher muß man Corneille trotzdem für den der Zeit nach ersten Repräsentant des Strebens nach Wahrheit in der französischen dramatischen Dichtung erklären. Aber dieser Umstand spricht durchaus nicht zugunsten Lansons Ansicht über die Literatur. Die Sache ist die, daß Corneilles Streben nach Wahrheit in der dramatischen Dichtung nichts weiter war als der Ausdruck jener rationalistischen Bestrebungen, die der ganzen damaligen Gesellschaft eigen waren und die selbst sich als eine natürliche Reaktion auf die Stimmung erwiesen, die in der vorangegangenen historischen Periode geherrscht hatte. Lanson selbst sagt, die allgemeinen Resultate des 16. Jahrhunderts zusammenfassend über diese Reaktion folgendes: „Durch die Wiederherstellung der absoluten Monarchie und der katholischen Religion“ (unter Henri IV) „beseitigt der französische Geist die aufregenden und gefährliche Fragen... Montaigne hat das Unerkennbare wohl abgegrenzt: aber wenn er in seinem Positivismus Ruhe findet, so verlangen alle Gemüter, die Gewißheit haben wollen, vom Glauben, daß er ihnen das sage, worüber die Vernunft schweigt... Nach dieser Seite hin wohl versichert, erkennt sich die Vernunft, gereift in den Unruhen des Jahrhunderts und im Studium der Alten, als obersten Richter der Wahrheit, die man erkennen kann, und die Literatur durchdringt ein positiver und wissenschaftlicher Rationalismus. Dem Glauben ist sein Gebiet reserviert: außerhalb dieses Gebietes entscheidet alles die Vernunft... Die Literatur, in der die Vernunft zur Herrschaft gelangt, ist auf das Universale ein- 1 In der Darstellung dieser Wahrheit war seinerseits sehr viel Konventionelles, entsprechend den Gewohnheiten und Geschmacksrichtungen der damaligen höheren Gesellschaft. Aber darum handelt es sich hier nicht. 2 Manuskripttext dieser Stelle: „... war nicht das unvermeidliche Resultat der Charaktere und Situationen der handelnden Personen, sondern wurde bedingt durch die von ihrem Willen unabhängige zufällige Verknüpfung zufälliger Ursachen.“ Und gerade dieses Fehlen der romantischen Verwicklung ist es, auf das Lanson hinweist: „Zunächst einmal hat Corneille von keinen romantischen Mitteln Gebrauch gemacht: man könnte in seinem Schauspiel keine einzige Verkleidung, kein einziges Incognito anführen, abgesehen von Don Sancho, das keine Tragödie ist, abgesehen auch von Héraclius: aber in Héraclius ist die Kindesunterschiebung kein Mittel zur Behandlung des Stoffes, es ist das eigentliche Wesen des Stoffes.“ Lanson ist der Ansicht, daß Corneille von romantischen etc. nicht Gebrauch gemacht habe. Lessing: „...im Drama ‚Rodogunde‘ ist die Handlung absichtlich verwickelt und unnatürlich.“ Die Stelle im gedruckten Text von „nicht durch die Charaktere...“ bis „Nichtsdestoweniger“ ist im Manuskript durchgestrichen. 9

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 gestellt; sie erkennt das als ihren Gegenstand, was jeder in sich als Wahrheit und Sitte vorfindet“ usw. (S. 447, 448). Unter solchen Bedingungen ist Corneilles Streben nach Wahrheit durchaus nicht etwas, was nicht durch die gesellschaftliche Ursachen erklärt werden könnte, und man kann sich nur darüber wundern, daß die Wahrheit in der dramatischen Dichtung nicht schon vor dem Erscheinen Corneilles durchgedrungen ist. Somit war Corneille in der französischen dramatischen Dichtung der erste geniale Vertreter der rationalistischen Strömungen, die seiner Zeit allgemein eigen waren und die teils schon früher, teils zu gleicher Zeit in den anderen Zweigen der Literatur, zum Beispiel in der Philosophie, ihren Ausdruck fanden. Wenn wir uns nicht täuschen, können derartige „persönliche Reste“ kein Hindernis für die wissenschaftliche Erklärung der Entwicklung der Weltliteratur sein. Gehen wir nun zur Auswahl der Sujets über. Corneille „hat an Stoffe aus dem privaten und aus dem bürgerlichen Leben gedacht, an das, was wir Drama nennen“, sagt Lanson, „er hat die Formel dazu geliefert; selbst hat er sie nicht angewandt“ (S. 550). Weshalb? Bildet dieser Umstand [965] nicht einen „persönlichen Rest“ in der literarischen Tätigkeit Corneilles? Lanson ist der Ansicht, daß er durch vielerlei Ursachen hervorgerufen worden ist. Erstens deshalb, weil „die Macht den Mann beweist“, wie die alten Griechen sagten: sie befreit ihn von den vielen Beengungen des privaten Lebens und ermöglicht es, die Natur seiner Leidenschaften besser zu erforschen. Das ist eine schlechte Erklärung. Sie läßt die Frage gänzlich ungelöst, weshalb diese Betrachtung bezüglich des Einflusses der Macht für alle hervorragenden Schriftsteller des 17. Jahrhunderts überzeugend war und im 18. Jahrhundert, als Nivelle de La Chaussee, Diderot und Beaumarchais an Stelle der traditionellen Könige und Helden in ihren Dramen gewöhnliche Sterbliche auftreten zu lassen begannen, keine überzeugende Kraft mehr hatte. Erklärt nicht die zweite der von Lanson aufgezählten Ursachen die Sache? Zweitens, so fährt er fort, „zu seiner“ (Corneilles) „Zeit interessierte das Schicksal berühmter Männer das Publikum mehr als das Schicksal einfacher Bürger und lieferte mehr Gelegenheit, große Leidenschaften zu zeigen.“ Das ist etwas anderes. Wenn das Schicksal einfacher Bürger zur Zeit Corneilles für das Theaterpublikum wenig interessant war, so ist verständlich, daß die Schriftsteller diese Bürger nicht zu Helden ihrer Dramen machten. Wir wollen noch mehr sagen: das bürgerliche Leben der damaligen Zeit war in der Tat vom Gesichtspunkt der dramatischen Handlung aus uninteressant. Und wenn im folgenden Jahrhundert das Schicksal der bürgerlichen Helden bei den Zuschauern ein so gewaltiges Interesse erwecken konnte, so lag hierfür die völlig hinreichende Ursache in der gesellschaftlichen Stellung, die sich die französische Bourgeoisie zum Teil bereits damals erobert hatte, zum Teil zu erobern bestrebt war. „Schließlich“, so schließt Lanson‚ „geben historische Interessen ganz allgemein den Leidenschaften ein gemeinverständlicheres Motiv als berufliche oder finanzielle Interessen, woraus die bürgerlichen Leidenschaften entspringen.“ Das ist richtig und auch wieder nicht richtig. Die Quelle der bürgerlichen Leidenschaften sind nicht immer nur berufliche oder finanzielle Interessen allein: so wurde die Bourgeoisie zum Beispiel am Ende des vorigen Jahrhunderts von leidenschaftlicher Teilnahme auch für die großen „historischen Interessen“ ergriffen. Aber natürlich konnten diese bei ihr nur beim Vorhandensein gewisser Bedingungen auftreten, die zur Zeit Corneilles nicht vorhanden waren. Also ... also war auch dafür, daß dieser Schriftsteller gerade diese und nicht andere Stoffe gewählt hat, die gesellschaftliche Ursache hinreichend. Man könnte leicht zeigen – wohlgemerkt, an Hand der von Lanson selbst angeführten Tatsachen und Überlegungen –‚ daß sich die „Form des Corneilleschen Dramas“ sehr gut erklären läßt durch die Mentalität [966] und die Gewohnheiten des damals herrschenden Standes, der zur Zeit Corneilles eigentlich auch das Theater,,publikum“ bildete. Aber wo ist jener „persönliche Rest“, der sich unbedingt in den Werken Corneilles zeigen mußte, falls Lansons Theorie richtig war? Wir sehen nichts von einem solchen Rest. Und das wundert uns nicht. Jedes Werk der Literatur ist der Ausdruck seiner Zeit. Sein Inhalt, seine Form werden bestimmt 10

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

„Das Grundprinzip des Corneilleschen Schauspiels“, sagt er, „ist die Wahrheit, die Ähnlichkeit<br />

mit dem Leben. Zunächst hat er nur getastet, da eine Zeit ihn geformt hatte, in der niemand<br />

daran dachte, die dramatische Kunst in diese Richtung zu lenken: er hat seine Phantasie<br />

nach allen Richtungen hin versucht... Aber gleich von Anfang an hatte er zu seinem Gebrauch<br />

eine nüchterne, ernsthafte, wahre Form der Komödie geschaffen... Dann schuf er die<br />

wahre Komödie, an der er festhielt“ (S. 547).<br />

In diesem Fall haben wir es, wie es scheint, mit dem zu tun, was in den Werken Corneilles den<br />

„persönlichen Rest“ ausmacht. In der Tat, wenn er die Wahrheit zum Grundprinzip seiner dramatischen<br />

Werke machte, obwohl eine Zeit ihn geformt hatte, in der niemand an diese dachte,<br />

so scheint es klar zu sein, daß er das wichtigste Unterscheidungsmerkmal seiner Werke sich<br />

selbst verdankte, nicht aber dem ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieu. Indes, auch hier ist<br />

zu bemerken, daß diese Schlußfolgerung nur auf den ersten Blick richtig ist. Die Wahrheit der<br />

Corneilleschen Tragödie beruht auf dem Fehlen jener romantischen Verwicklung, die in den<br />

dramatischen Werken seiner Vorgänger vorherrschte und vermöge der die Handlung nicht<br />

durch die Charaktere und Situationen der handelnden Personen bedingt war, sondern durch das<br />

zufällige Zusammenwirken zufälliger Ursachen. Lanson sagt, daß Corneille niemals von romantischen<br />

Mitteln Gebrauch gemacht hat. C’est trop dire [Das wäre zuviel gesagt] Schon Lessing<br />

hat in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ gezeigt, daß sich sehr viel absichtlich Verwickeltes<br />

und Unnatürliches manchmal sogar in den besten Werken Corneilles, zum Beispiel in<br />

dem Drama „Rodogunde“ 1 findet. 2 Nichtsdestoweniger ist es unbestreitbar, daß in diesen Wer-<br />

[964]ken ungleich mehr Wahrheit enthalten war als in den Werken von Hardy, Scudéry usw.<br />

Daher muß man Corneille trotzdem für den der Zeit nach ersten Repräsentant des Strebens<br />

nach Wahrheit in der französischen dramatischen Dichtung erklären. Aber dieser Umstand<br />

spricht durchaus nicht zugunsten Lansons Ansicht über die Literatur. Die Sache ist die, daß<br />

Corneilles Streben nach Wahrheit in der dramatischen Dichtung nichts weiter war als der Ausdruck<br />

jener rationalistischen Bestrebungen, die der ganzen damaligen Gesellschaft eigen waren<br />

und die selbst sich als eine natürliche Reaktion auf die Stimmung erwiesen, die in der vorangegangenen<br />

historischen Periode geherrscht hatte. Lanson selbst sagt, die allgemeinen Resultate<br />

des 16. Jahrhunderts zusammenfassend über diese Reaktion folgendes: „Durch die Wiederherstellung<br />

der absoluten Monarchie und der katholischen Religion“ (unter Henri IV) „beseitigt<br />

der französische Geist die aufregenden und gefährliche Fragen... Montaigne hat das Unerkennbare<br />

wohl abgegrenzt: aber wenn er in seinem Positivismus Ruhe findet, so verlangen alle Gemüter,<br />

die Gewißheit haben wollen, vom Glauben, daß er ihnen das sage, worüber die Vernunft<br />

schweigt... Nach dieser Seite hin wohl versichert, erkennt sich die Vernunft, gereift in den Unruhen<br />

des Jahrhunderts und im Studium der Alten, als obersten Richter der Wahrheit, die man<br />

erkennen kann, und die Literatur durchdringt ein positiver und wissenschaftlicher Rationalismus.<br />

Dem Glauben ist sein Gebiet reserviert: außerhalb dieses Gebietes entscheidet alles die<br />

Vernunft... Die Literatur, in der die Vernunft zur Herrschaft gelangt, ist auf das Universale ein-<br />

1 In der Darstellung dieser Wahrheit war seinerseits sehr viel Konventionelles, entsprechend den Gewohnheiten<br />

und Geschmacksrichtungen der damaligen höheren Gesellschaft. Aber darum handelt es sich hier nicht.<br />

2 Manuskripttext dieser Stelle:<br />

„... war nicht das unvermeidliche Resultat der Charaktere und Situationen der handelnden Personen, sondern<br />

wurde bedingt durch die von ihrem Willen unabhängige zufällige Verknüpfung zufälliger Ursachen.“ Und gerade<br />

dieses Fehlen der romantischen Verwicklung ist es, auf das Lanson hinweist: „Zunächst einmal hat Corneille<br />

von keinen romantischen Mitteln Gebrauch gemacht: man könnte in seinem Schauspiel keine einzige Verkleidung,<br />

kein einziges Incognito anführen, abgesehen von Don Sancho, das keine Tragödie ist, abgesehen auch von<br />

Héraclius: aber in Héraclius ist die Kindesunterschiebung kein Mittel zur Behandlung des Stoffes, es ist das<br />

eigentliche Wesen des Stoffes.“ Lanson ist der Ansicht, daß Corneille von romantischen etc. nicht Gebrauch<br />

gemacht habe. Lessing: „...im Drama ‚Rodogunde‘ ist die Handlung absichtlich verwickelt und unnatürlich.“<br />

Die Stelle im gedruckten Text von „nicht durch die Charaktere...“ bis „Nichtsdestoweniger“ ist im Manuskript<br />

durchgestrichen.<br />

9

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!