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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

unumschränkt mächtig gilt.“ Der Held bei Corneille ist vor allem ein Mensch, der einen außergewöhnlich<br />

starken Willen besitzt und sich dieser kennzeichnenden Eigenschaft seines<br />

Charakters bewußt ist: „Ich bin Herr über mich wie über die Welt“, sagt Auguste in der Tragödie<br />

„Cinna“. Herr über sich sind auch die anderen Helden Corneilles, und das bezieht sich<br />

nicht nur auf die Männer: seine Frauengestalten zeichnen sich durch nicht minder stolze<br />

Energie aus, durch nicht minder erhabene Kraft der Selbstanklage. Es erhebt sich die Frage,<br />

wie man diese interessante literarische Erscheinung erklären soll. „Durch den Einfluß des<br />

gesellschaftlichen Milieus“, beantwortet Lanson selbst diese Frage. „Es besteht eine wunderbare<br />

Harmonie zwischen der psychologischen Erdichtung Corneilles und der wirklichen Geistesgeschichte<br />

jener Zeit: selbst die Frauen sind nur wenig weiblich; ihr Innenleben liegt<br />

mehr im Geist denn ihr Gefühl“ (S. 554). Woher kam das wohl? Bekanntlich war die zweite<br />

Hälfte des 16. Jahrhunderts in Frankreich durch außergewöhnlich starke gesellschaftliche<br />

Unruhen, durch einen erbitterten Parteienkampf gekennzeichnet. Dieser Kampf und diese<br />

Unruhen riefen eine starke Willensanspannung hervor, stählten den Charakter. In der Literatur<br />

trat dies in Form des verstärkten Interesses für die Morallehren in Erscheinung, in denen<br />

dem Willen die erste Stelle eingeräumt wird: Du Vair übersetzt Epiktet, Du Plessis-Mor-<br />

[962]nay, d’Urfé und andere paraphrasieren Seneca usw. „In diesem Erwachen der sittlichen<br />

Kraft wird sowohl die cartesianische Theorie des Willens als auch Corneilles Theorie des<br />

Heroismus vorbereitet“, sagt Lanson, „und hier ist auch die Erklärung zu suchen für den Erfolg<br />

des Jansenismus, dieser strengen Form des Katholizismus“ (S. 448). In der gleichen<br />

Richtung übte auch das gesellschaftliche Leben der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts seinen<br />

Einfluß aus. „Die Generation, die inmitten der Erinnerungen an eine schreckliche Vergangenheit<br />

und der Erschütterungen einer noch unruhigen Gegenwart herangewachsen ist, diese<br />

Menschen der Verschwörungen gegen Richelieu und des Dreißigjährigen Krieges sind starke,<br />

ja, sogar rohe Naturen, die nicht geeignet sind, sich mit den Kindereien des Gefühlslebens<br />

abzugeben... Die Leidenschaften sind eher brutal als zart... Diese Menschen haben nichts,<br />

aber auch gar nichts Weibliches: sie lassen sich vom Verstand und vom Willen leiten... Ihr<br />

romantischer Heroismus entspricht einem gebieterischen Verlangen nach kraftvollem Handeln“<br />

(S. 512). Wiederum spiegeln sich diese hervorstechenden Züge der gesellschaftliche<br />

Stimmung in der Literatur: „Die Romane und die epischen Dichtungen dieser Zeit sind nur<br />

Karikaturen auf den mächtigen Typus, dessen Porträt wir bei Corneille und dessen Definition<br />

wir bei Descartes finden.“ In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als die Unruhen beendet<br />

waren und als der volle Sieg der absoluten Monarchie auf lange Zeit die Bahnen versperrte,<br />

auf denen sich vorher die Energie der Individuen (die zu den mehr oder weniger privilegierten<br />

Klassen und Schichten gehörten) bewegt hatte, treten im Leben wie in der Literatur<br />

andere Typen in den Vordergrund. Wir wollen uns hier nicht mit ihrer Charakteristik befassen;<br />

wir mußten nur auf den für uns höchst wichtigen Umstand hinweisen, daß die Geistesverfassung<br />

der Helden bei Corneille 1 , nach Lansons eigenem Geständnis, ein getreues Spiegelbild<br />

der geistigen Eigenschaften des gesellschaftliche Milieus ihrer Zeit ist. 2 Und nun<br />

[963] wollen wir unserem Verfasser weiter folgen und hören, was er über die „Form des<br />

Dramas Corneilles“ zu sagen hat.<br />

1 Noch deutlicher ist dies in einem anderen Werke unseres Verfassers dargetan, und zwar in seinem Buch „Nivelle<br />

de La Chaussée et la comédie larmoyante“, Paris 1887, deuxième partie, chapitre premier: Origine de la<br />

comédie larmoyante“. Es wäre sehr nützlich gewesen, die russische Übersetzung dieses interessanten und schön<br />

geschriebenen Kapitels dem zweiten Band der „Geschichte der französischen Literatur“ anzufügen.<br />

2 Die letzten zehn Zeilen, nach dem Zitat aus Lanson, lauten im Manuskript: „In der zweiten Hälfte des gleichen<br />

Jahrhunderts, als Frankreich zur Ruhe gekommen war und sich erholt hatte, begannen schließlich unter der<br />

Regierung des ‚Sonnenkönigs‘ sowohl im Leben als auch in der Literatur andere Typen vorzuherrschen. Aber<br />

wir wollen von diesen neuen Typen nicht sprechen; wir mußten nur auf den für uns im höchsten Grade wichtigen<br />

Umstand hinweisen, daß nach Lansons eigenem Geständnis die vorherrschenden vier psychologischen Typen<br />

der Helden Corneilles...“ (S. 12 des Manuskripts).<br />

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