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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 man sie beachtet. Und man möge uns nicht entgegenhalten, daß wir, außerstande, alle Bedingungen aufzuzählen, die das Auftreten eines bestimmten Schriftstellers verursacht haben, auch seine literarische Tätigkeit nicht wissenschaftlich erklären können. Das ist ein recht jämmerlicher Sophismus. Was können wir von der wissenschaftlichen Erklärung der Literaturgeschichte verlangen? Die Darstellung der gesellschaftlichen Bedingungen, durch welche diese Geschichte bestimmt wurde. Aber wenn man uns fragt, warum gerade Corneille den „Cid“ geschrieben hat, so verlangt man, daß wir nicht nur die Eigentümlichkeiten jenes gesellschaftlichen Milieus bestimmen, in dem Corneille und die anderen Schriftsteller seiner Zeit lebten, sondern daß wir auch alle Umstände des Privatlebens aufzählen sollen, durch welche die Entwicklung der Persönlichkeit Corneilles und all seiner literarischen Zeitgenossen bedingt war. Wir sagen – aller, weil nur eine genaue Aufzählung der Entwicklungsbedingungen jedes einzelnen Schriftstellers zeigen würde, warum nur Corneille Corneille gewesen ist, und kein anderer dieser war und sein konnte. Die Wissenschaft wird niemals imstande sein, alle diese Bedingungen aufzuzählen. Aber daraus folgt nicht, daß man für sie das „Element der Freiheit“ zu Hilfe rufen müsse. Die Mechanik kann die Flugbahn eines. jeden Artilleriegeschosses genau bestimmen, aber sie ist nicht imstande zu sagen, warum ein bestimmter Geschoßsplitter gerade dahin und nicht anderswohin geflogen ist. Folgt etwa daraus, daß wir das „Element der Freiheit“ in die Erklärung der Bewegung der Artilleriegeschosse aufnehmen müssen? „Es ist wohl nicht möglich, daß die Erneuerung, die in der sozialen, politischen und moralischen Ordnung vor sich zu gehen scheint, auf die Literatur ohne Rückwirkung bleibt“, sagt Lanson im letzten Kapitel seines Buches. – „Für oder gegen den Sozialismus? das ist die große Frage der heutigen Zeit. Uneigennützigkeit und Intelligenz sind mehr denn je für die Bourgeoisie vonnöten: sie muß den Sinn für Zusammengehörigkeit, den Solidaritätsgeist besitzen, durch die allein das Geistige sich entfalten und der Egoismus überwunden werden kann“ (S. 237/238 der russischen Übersetzung). Nach dem, was Lanson über Guizot gesagt hat, konnte man annehmen, daß er ein Feind der Bourgeoisie sei. Jetzt sehen wir, daß er sie mittels einiger wohlgemeinter utopischer Ratschläge retten möchte. Dieser scheinbare Widerspruch ist daraus zu erklären, daß er in Wirklichkeit nur gegen die Privilegien ist, welche die Großbourgeoisie für sich beanspruchen könnte und tatsächlich auch beansprucht hat, aber durchaus nicht gegen die bürgerliche Ordnung der Dinge. Er weiß, daß [958] diese Ordnung in Frankreich in allen Fugen kracht, aber er weiß, was man an ihre Stelle setzen kann. Deshalb erscheint ihm ihr Untergang als der Untergang jedes menschlichen gesellschaftlichen Lebens und aller Errungenschaften der Zivilisation. Und da will er nun versuchen, sie zu retten, indem er an das „Element der Freiheit“ appelliert. Der Glaube an dieses „Element“ verschafft ihm einige moralische Beruhigung. Mit anderen Worten: Lanson appelliert, von der Notwendigkeit zur Freiheit übergehend, deshalb, weil er fühlt, wie sich die objektive Notwendigkeit in Frankreich immer entschiedener gegen die „Mittelklassen“ wendet. II GESCHICHTE DER FRANZOSISCHEN LITERATUR Von Gustave Lanson. Übertragung nach der zweiten französischen, vom Verfasser revidierten und vervollständigten Ausgabe. Herausgegeben von K. T. Soldatenkow. Bd. I. M[oskau] 1896. Preis: 5 R[ubel] 50 K[opeken]. Neulich – im Juniheft der Zeitschrift „Nowoje Slowo“ haben wir auf das Erscheinen eines Teils („Neunzehntes Jahrhundert“) der Geschichte der französischen Literatur von Lanson in der russischen Übersetzung, unter der „Redaktion“ des Herrn Morosow, hingewiesen. Jetzt wollen wir die Leser auf das Vorliegen einer anderen – ungleich sorgfältigeren und geschick- 5

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 teren – Übersetzung des gleichen Werkes aufmerksam machen. Diese Übersetzung ist ebenfalls zur Zeit noch unvollständig: es ist nur der erste Band erschienen – vom 10. bis zum 17. Jahrhundert einschließlich. Leider ist die Ausgabe des Herrn Soldatenkow ungewöhnlich teuer und für viele völlig unerschwinglich. Das ist um so bedauerlicher, als wir jetzt mehr denn je eifrig und aufmerksam die Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit auf allen Gebieten und überall, wo sie vor sich ging, studieren müssen: jetzt ist bei uns der (in unserem literarischen Jargon) sogenannte ökonomische Materialismus sehr stark verbreitet, nach welchem die geistige Entwicklung der Menschheit letzten Endes durch die ökonomischen Verhältnisse, durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Diese Ansicht ist natürlich völlig richtig: nur vom Standpunkt des ökonomischen (d. h., richtiger gesagt: des dialektischen) Materialismus aus ist eine wirklich wissenschaftliche Erklärung der Geistesgeschichte der Menschheit möglich. Aber diese Erklärung – wie jede andere wissenschaftliche Erklärung – setzt ein aufmerksames Studium der Tatsachen, eine gründliche Kenntnis der Wirklichkeit voraus, die man durch keine Theorien, durch keine allgemeinen [959] Ansichten ersetzen kann, auch wenn diese Ansichten und Theorien im allgemeinen richtig sind. Wer von der geistigen Entwicklung der Menschheit spricht und sich dabei auf den Hinweis beschränkt, daß sie letzten Endes hervorgerufen wurde durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die alle aufeinanderfolgenden Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen bestimmten, der spricht ohne Zweifel einen richtigen Gedanken aus. Aber wir wissen noch nicht, ob er diesen ohne Zweifel richtigen Gedanken richtig versteht oder ob dieser in seinem Kopfe eine tote Abstraktion bleibt, ein steriles Dogma, das gläubig hingenommen wurde und in seiner erhabenen Unbeweglichkeit erstarrt ist. Für den dialektischen Materialismus wäre es mehr als für jedes andere philosophische System von Nachteil, wenn man ihn dogmatisch behandelte, denn der Dogmatismus ist der schlimmste Feind der Dialektik. Der dialektische Materialismus ist keine Zusammenfassung erstarrter Dogmen; es ist vornehmlich eine Methode des Studiums der Erscheinungen. Seine Bedeutung ist wahrhaft kolossal. Aber sie wird denen nie ganz verständlich und klar sein, die sich allein auf methodologische Betrachtungen beschränken und sich nicht bemühen, ihre richtige Methode auf das Studium der Wirklichkeit anzuwenden. Wir wiederholen, es ist heutzutage mehr denn je notwendig, die Geistesgeschichte der Menschheit zu studieren. Lanson kann hierbei, was die Geschichte der französischen Literatur betrifft, eine wertvolle Hilfe bieten. Zwar können seine eigenen Ansichten über die Hauptaufgaben derer, die die Geschichte der Literatur studieren, nicht als befriedigend bezeichnet werden; aber dieser nicht unerhebliche Mangel wird ausgeglichen durch eine ganz gründliche Kenntnis des Gegenstandes, durch feinen literarischen Instinkt und durch die Gewissenhaftigkeit, die dem Verfasser nicht erlaubt, Erscheinungen, die in scharfem Widerspruch zu den von ihm gehegten Ansichten stehen, ungeklärt zu lassen oder stillschweigend zu übergehen. Diese Gewissenhaftigkeit ist für den Leser ein großer Gewinn, obwohl Lanson selbst dabei sehr viel verliert: die von ihm geschriebene Geschichte der französischen Literatur ist selbst in sehr beträchtlichem Grade eine Widerlegung seiner irrigen Anschauungen; und was noch wertvoller ist, er zeigt uns den Weg, der unvermeidlich dazu führt, daß das Falsche dieser Ansichten offenbar wird. Im Juniheft haben wir bereits zum Teil sowohl auf die schwachen wie auch auf die starken Seiten in den Werken Lansons hingewiesen. Aber wir haben dies gerade deshalb nur zum Teil getan, weil zu deren vollständiger Würdigung ein umfangreicher kritischer Artikel notwendig wäre. Wir benutzen die vorliegende Notiz, um wenigstens einiges von dem, was von uns nicht deutlich gesagt wurde, gründlich zu behandeln. [960] „Das Studium der Literatur“, sagt Lanson, „erfordert heutzutage eine gründliche Bildung: ein gewisses Maß exakter, positiver Kenntnisse ist notwendig, damit unsere Urteile 6

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man sie beachtet. Und man möge uns nicht entgegenhalten, daß wir, außerstande, alle Bedingungen<br />

aufzuzählen, die das Auftreten eines bestimmten Schriftstellers verursacht haben,<br />

auch seine literarische Tätigkeit nicht wissenschaftlich erklären können. Das ist ein recht<br />

jämmerlicher Sophismus. Was können wir von der wissenschaftlichen Erklärung der Literaturgeschichte<br />

verlangen? Die Darstellung der gesellschaftlichen Bedingungen, durch welche<br />

diese Geschichte bestimmt wurde. Aber wenn man uns fragt, warum gerade Corneille den<br />

„Cid“ geschrieben hat, so verlangt man, daß wir nicht nur die Eigentümlichkeiten jenes gesellschaftlichen<br />

Milieus bestimmen, in dem Corneille und die anderen Schriftsteller seiner<br />

Zeit lebten, sondern daß wir auch alle Umstände des Privatlebens aufzählen sollen, durch<br />

welche die Entwicklung der Persönlichkeit Corneilles und all seiner literarischen Zeitgenossen<br />

bedingt war.<br />

Wir sagen – aller, weil nur eine genaue Aufzählung der Entwicklungsbedingungen jedes einzelnen<br />

Schriftstellers zeigen würde, warum nur Corneille Corneille gewesen ist, und kein<br />

anderer dieser war und sein konnte. Die Wissenschaft wird niemals imstande sein, alle diese<br />

Bedingungen aufzuzählen. Aber daraus folgt nicht, daß man für sie das „Element der Freiheit“<br />

zu Hilfe rufen müsse. Die Mechanik kann die Flugbahn eines. jeden Artilleriegeschosses<br />

genau bestimmen, aber sie ist nicht imstande zu sagen, warum ein bestimmter Geschoßsplitter<br />

gerade dahin und nicht anderswohin geflogen ist. Folgt etwa daraus, daß wir das<br />

„Element der Freiheit“ in die Erklärung der Bewegung der Artilleriegeschosse aufnehmen<br />

müssen?<br />

„Es ist wohl nicht möglich, daß die Erneuerung, die in der sozialen, politischen und moralischen<br />

Ordnung vor sich zu gehen scheint, auf die Literatur ohne Rückwirkung bleibt“, sagt<br />

Lanson im letzten Kapitel seines Buches. – „Für oder gegen den Sozialismus? das ist die große<br />

Frage der heutigen Zeit. Uneigennützigkeit und Intelligenz sind mehr denn je für die<br />

Bourgeoisie vonnöten: sie muß den Sinn für Zusammengehörigkeit, den Solidaritätsgeist besitzen,<br />

durch die allein das Geistige sich entfalten und der Egoismus überwunden werden<br />

kann“ (S. 237/238 der russischen Übersetzung). Nach dem, was Lanson über Guizot gesagt<br />

hat, konnte man annehmen, daß er ein Feind der Bourgeoisie sei. Jetzt sehen wir, daß er sie<br />

mittels einiger wohlgemeinter utopischer Ratschläge retten möchte. Dieser scheinbare Widerspruch<br />

ist daraus zu erklären, daß er in Wirklichkeit nur gegen die Privilegien ist, welche die<br />

Großbourgeoisie für sich beanspruchen könnte und tatsächlich auch beansprucht hat, aber<br />

durchaus nicht gegen die bürgerliche Ordnung der Dinge. Er weiß, daß [958] diese Ordnung<br />

in Frankreich in allen Fugen kracht, aber er weiß, was man an ihre Stelle setzen kann.<br />

Deshalb erscheint ihm ihr Untergang als der Untergang jedes menschlichen gesellschaftlichen<br />

Lebens und aller Errungenschaften der Zivilisation. Und da will er nun versuchen, sie zu retten,<br />

indem er an das „Element der Freiheit“ appelliert. Der Glaube an dieses „Element“ verschafft<br />

ihm einige moralische Beruhigung. Mit anderen Worten: Lanson appelliert, von der<br />

Notwendigkeit zur Freiheit übergehend, deshalb, weil er fühlt, wie sich die objektive Notwendigkeit<br />

in Frankreich immer entschiedener gegen die „Mittelklassen“ wendet.<br />

II<br />

GESCHICHTE DER FRANZOSISCHEN LITERATUR<br />

Von Gustave Lanson. Übertragung nach der zweiten französischen, vom Verfasser revidierten und vervollständigten<br />

Ausgabe. Herausgegeben von K. T. Soldatenkow. Bd. I. M[oskau] 1896. Preis: 5 R[ubel] 50 K[opeken].<br />

Neulich – im Juniheft der Zeitschrift „Nowoje Slowo“ haben wir auf das Erscheinen eines<br />

Teils („Neunzehntes Jahrhundert“) der Geschichte der französischen Literatur von Lanson in<br />

der russischen Übersetzung, unter der „Redaktion“ des Herrn Morosow, hingewiesen. Jetzt<br />

wollen wir die Leser auf das Vorliegen einer anderen – ungleich sorgfältigeren und geschick-<br />

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