18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

genommen und wirken in einer erdichteten, künstlichen, ja [954] man kann sagen, in einer völlig<br />

utopischen Umwelt. Einer ähnlichen „Psychologie“ begegnen wir in der überwältigenden<br />

Mehrzahl der Fälle in den Romanen von George Sand. Balzacs Werke sind frei von diesem<br />

Mangel. Er „nahm“ die Leidenschaften in der Form, die ihnen die bürgerliche Gesellschaft<br />

seiner Zeit verlieh; er verfolgte mit der Aufmerksamkeit eines Naturforschers, wie sie in dem<br />

gegebenen gesellschaftlichen Milieu wachsen und sich entwickeln. Infolgedessen wurde er Realist<br />

in des Wortes tiefster Bedeutung, und seine Werke sind eine unschätzbare Quelle für das<br />

Studium der Geistesverfassung der französischen Gesellschaft in der Zeit der Restauration und<br />

Louis-Philippes. Wenn man ihn nicht als den Vater des französischen Realismus bezeichnen<br />

kann, so doch wohl nur aus dem einzigen Grunde, weil es unter den französischen Realisten<br />

keinen einzigen gab, der fähig gewesen wäre, in ihrer ganzen Fülle die große Aufgabe zu verstehen,<br />

die sich der geniale Verfasser der „Comédie humaine“ gestellt hatte: die Kinder waren<br />

des Vaters nicht würdig. Aber die Schuld daran ist nicht bei Balzac zu suchen, sondern in der<br />

ganzen Geschichte der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution und den Juniereignissen<br />

des Jahres 1848.<br />

Lanson versteht die Bedeutung Balzacs nicht. Das ist schlimm; aber das hindert ihn nicht,<br />

viele andere französische Schriftsteller sehr gut zu verstehen und sehr treffend zu charakterisieren.<br />

Seine Charakteristik Hugos ist einwandfrei (siehe S. 191-197 der russischen Übersetzung).<br />

Über Royer-Collard sagt er: „Er hatte den neuen Spiritualismus aufgebracht, die philosophische<br />

Beredsamkeit, den philosophischen Liberalismus, eine angepaßte und bequeme<br />

Doktrin 1 , zugeschnitten auf die Intelligenz und die Interessen des französischen Bourgeois“<br />

(S. 66 der russischen Übersetzung). Diese wenigen Worte charakterisieren Royer-Collard<br />

besser als dies Schriftsteller wie Spuller in ihren Spezialwerken über ihn tun konnten. Auch<br />

Guizot ist von ihm ganz wunderbar erfaßt: „M. Guizot war ein großer Charakter, energisch,<br />

autoritativ, ein gewaltiger Geist, despotisch, dogmatisch von einer heiteren und unerschütterlichen<br />

Gewißheit: die seiner Klasse nützlichen Ideen <strong>erschien</strong>en ihm stets im strahlenden<br />

Lichte der Klarheit, als die wahre Form der Vernunft; und er fand, daß immer nur er selbst<br />

ihnen die nötige Geltung in der Regierungspolitik verschaffen konnte. Nach seiner Ansicht<br />

zielte die ganze europäische Geschichte seit dem Einfall der Barbaren wie kraft versehentlicher<br />

Weisung überall und besonders in Frankreich darauf ab, eine [955] Mittelklasse zu formieren,<br />

heranzuziehen, zu bilden und zu bereichern: seine Tätigkeit als Geschichtsschreiber<br />

hat darin bestanden, diese Entwicklung zu bestimmen. Er hielt die Religion für notwendig,<br />

um die Ordnung und die Gesellschaft aufrechtzuerhalten“ usw. (siehe S. 67 der russischen<br />

Übersetzung, die wir übrigens in den von uns zitierten Zeilen ein wenig abgeändert haben).<br />

Das ist ganz und gar richtig. Weiterhin bemerkt Lanson: „Die feudalen Ansprüche der Legitimisten<br />

waren nicht zu fürchten: M. Guizot richtete alle seine Anstrengungen vielmehr gegen<br />

die Demokratie. Er ist bewundernswert und aufreizend in seiner Politik des Widerstands,<br />

wobei er ständig die Bourgeoisie mit Frankreich, die Interessen der Bourgeoisie mit der Vernunft<br />

gleichsetzt... niemals war er ein glänzenderer Redner, niemals ist seine Beweisführung<br />

zwingender, die Glut seiner Rede mächtiger gewesen als dann, wenn er sich voll Stolz gegen<br />

die Gerechtigkeit und die Notwendigkeit wandte, wenn er auf die Gefahr hin, alles zu verderben,<br />

die Ungerechtigkeit einer ins Wanken geratenen Gesellschaft aufrechterhalten wollte“<br />

(S. 68 der russischen Übersetzung, an der wir wieder einige Verbesserungen vornehmen<br />

mußten). Hier sind große Ungenauigkeiten. Vor der Revolution von 1830 hatte Guizot die<br />

Bestrebungen der Legitimisten sehr zu fürchten, damals bekämpfte er sie energisch, und in<br />

seinem Kampf zeigte er dieselben Eigenschaften, die später in seinem Kampf gegen die De-<br />

1 In der russischen Übersetzung steht: richtige, im französischen Original: juste. Aber Lanson will durchaus<br />

nicht sagen, daß die Lehre Royer-Collards richtig gewesen sei; er will nur sagen, daß sie nicht ins Extreme ging,<br />

daß sie das wirkliche „juste milieu“ (die rechte Mitte) war.<br />

3

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!