erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
from max.stirner.archiv.leipzig.de More from this publisher
18.09.2015 Views

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 [951] Zwei Rezensionen der Bücher von G. Lanson über die Geschichte der französischen Literatur* I GESCHICHTE DER FRANZÖSICHEN LITERATUR XIX. JAHRHUNDERT Von G. Lanson, Prof. der École Normale in Paris. Übertragung aus dem Französischen unter der Redaktion von P. O. Morosow. Ausgabe der Redaktion „Obrasowanije“, St. Petersburg 1897. Wollen Sie übersetzen? Das ist eine löbliche Absicht, aber bedenken Sie, daß Sie erstens die Sprache können müssen, aus der Sie übersetzen; zweitens die Sprache, in die Sie übersetzen; drittens, daß Sie mit dem Gegenstand vertraut sein müssen, der in dem zu übersetzenden Werk behandelt wird. Ist auch nur eine einzige dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist es besser, Sie lassen die Hand davon, denn das wird dann eine schlechte Übersetzung, und die Leser werden von Ihnen nur irregeführt. Besonders raten wir Ihnen nicht, sich auf freundschaftliche Versprechungen zu verlassen, daß man Ihre Übersetzung. „durchsehen“ und „verbessern“ wolle: meistens kommt dabei gar nichts heraus, und wenn die Übersetzung schlecht ist, so bleibt sie schlecht, auch wenn man noch soviel daran „redigiert“. Und von einem guten Buch eine schlechte Übersetzung liefern und in Druck geben, das heißt, den Leser, der nichts weiter verschuldet hat, als daß er wißbegierig ist und die Sprache nicht kann, in der dieses Buch geschrieben ist, in die Irre zu führen und einer Tortur zu unterwerfen: Sie werden zugeben, daß man schlimmer mit ihm nicht verfahren kann. Das Buch, dessen Titel wir oben genannt haben, ist schlecht übersetzt. Aus allem ist zu ersehen, daß der Übersetzer die französische Sprache nicht genügend beherrscht. Er ist ungeschickt in der Wiedergabe dessen, was im Original steht, und manchmal kommen bei ihm in dieser Hinsicht ganz kuriose Sachen vor. So ist auf Seite 13 über die äußere Erscheinung Mirabeaus zu lesen: „schließlich saß sein ganzer unproportioniert entwickelter Kopf auf einem breiten, plumpen Körper“. Sagen Sie, kann es einen Menschen geben, bei dem nicht der ganze Kopf auf dem Körper [952] ruht? Im Original schließt Lemercier, dessen Zeugnis Lanson hier anführt, nachdem er bemerkt hat, daß Mirabeau häßlich war, und nachdem er recht ausführlich sein Gesicht beschrieben hat, seine Beschreibung mit den Worten: „toute cette tête disproportionnée que portrait une large poitrine“. Das heißt, sein ganzer Kopf, der etc. ruhte, war häßlich, und nicht, der ganze Kopf ruhte auf dem Körper. Auf Seite 66 der russischen Übersetzung heißt es über Royer-Collard: „Ausgezeichnet durch erfinderischen Geist sowohl auf dem Gebiete der politischen Theorien als auch auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie, war er in der Kammer das Haupt der Schule, deren Schüler die Bezeichnung Doktrinäre trugen, was ihre geistige Mittelmäßigkeit sehr schön zum Ausdruck brachte.“ Im Original steht anstatt „ihre geistige Mittelmäßigkeit“: leur esprit commun, welches bedeutet: der ihnen allen (d. h. allen Schülern dieser Schule) eigene Geist oder ihr gemeinsamer Geist. Durch diesen Fehler wird der Gedanke Lansons stark entstellt, der die geistigen Fähigkeiten mancher Doktrinäre sehr hoch einschätzt. In den Anmerkungen, auf Seite IX, findet sich in der kurzen Lebensbeschreibung Guizots folgende Stelle: „Hierauf (nachdem er die politische Tätigkeit aufgegeben hat) wendet er sich seinen literarischen Arbeiten zu... indem er gleichzeitig die Leitung der französischen kalvinistischen Kirche übernimmt und hierbei sich als * Anmerkungen für: Zwei Rezensionen des Buches von Lanson „Geschichte der französischen Literatur“ (S. 951-967) am Ende des Kapitels. 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 strenger Katholik erweist.“ Der Leser stutzt: wie konnte ein Katholik, und noch dazu ein strenger Katholik, die kalvinistische Kirche leiten? Und wann ist denn Guizot Katholik geworden? Dieser Zweifel kann nur durch Heranziehung des Originals gelöst werden. Im Original steht: sévèrement orthodoxe, und das bedeutet – streng rechtgläubig oder orthodox. Guizot war streng rechtgläubig in kalvinistischem Sinn, und die kalvinistische Rechtgläubigkeit entfernt sich bekanntlich sehr weit vom Katholizismus. Wir könnten noch viele solcher Beispiele anführen, aber wir sind gezwungen, uns auf den Hinweis zu beschränken, daß dem Übersetzer, weil er mit der französischen Sprache und der französischen Literatur viel zuwenig vertraut ist, bei der Übersetzung der Titel allgemein bekannter Werke ins Russische seltsame Schnitzer unterlaufen: so heißt bei ihm der „Compagnon du tour de France“ von George Sand „Reisegefährte auf der Fahrt durch Frankreich“ (!!). „La maison du chat qui pelote“ ist umgetauft in „Haus der verzärtelten Katze“ (!?) usw. Überhaupt ist das Buch in der russischen Übersetzung schwer zu lesen, und seine Lektüre hinterläßt einen recht unästhetischen Eindruck, obwohl es französisch sehr schön geschrieben ist. Der Übersetzer beherrscht die russische Sprache nicht genügend, um, wenn er darin die Gedanken des Schriftstellers des fremden Landes wiedergibt, die dieser Sprache eigene Geschmeidigkeit und Frische zu bewahren; im Gegenteil, er folgt [953] dem Original in unbeholfener Weise und ohne eigene freie Gestaltung des Ausdrucks, wobei er, wie wir bereits gesehen haben, sogar nicht immer den Sinn des Originals versteht. Der Leser kann einem nur leid tun, und man kann Herrn P. O. Morosow den Vorwurf nicht ersparen, daß er seiner Pflicht als Redakteur nicht genügend nachgekommen ist. Was das Buch selbst betrifft, das in der berühmten „Histoire de la Littérature française“ von Lanson den Abschnitt über das „XIX. Jahrhundert“ 1 bildet, so könnte es für das russische Leserpublikum von großem Nutzen sein. Es ist mit unleugbarer Sachkenntnis geschrieben, von einem Mann, der etwas versteht und seine Aufgabe ernst nimmt. Allerdings finden sich bei ihm mitunter ganz unpassende literarische Urteile. So ist er der Ansicht, daß „George Sand mehr Psychologie hat als Balzac“. Darüber kann man nur die Hände ringen. Der Verfasser ist überhaupt ungerecht gegen Balzac. Nach seinen Worten war Balzac ein zügelloser Romantiker, „aber da er des künstlerischen Instinkts, des dichterischen Genies und des Stils ermangelte, so sind seine Romane und szenischen Bilder, die durchdrungen sind von dem Geist der Romantik, in der Gegenwart zu toten Dingen geworden, weil sie stets das Mißlungene seines Werkes gewesen sind. Dagegen hat er meisterhaft seelische Stimmungen der Menschen auf mittlerer oder niedriger Entwicklungsstufe, Bourgeoiessitten oder Volkssitten, materielle und sinnliche Dinge dargestellt; und sein Temperament erwies sich als wunderbar geeignet für die Sujets, auf die sich, wie es scheint, bei uns die reale Kunst immer konzentrieren muß. So hat Balzac durch seine Fähigkeit und Unfähigkeit im Roman Romantik und Realismus voneinander geschieden. Und trotzdem bleibt in seinen Werken etwas Ungeheueres, eine unnötige Überfülle, eine zwecklose Übertreibung, mit einem Wort, etwas, was ihren romantischen Ursprung verrät.“ 2 All das ist sehr sonderbar. Welches auch der Ursprung der Werke Balzacs gewesen sein mag, so unterliegt es doch nicht dem geringsten Zweifel, daß ihn eine gewaltige Kluft von den Romantikern trennt. Lesen Sie die Vorreden nach, die Hugo zu seinen eigenen Dramen geschrieben hat; Sie werden darin sehen, wie die Romantiker die Aufgabe der psychologischen Analyse aufgefaßt haben. Hugo gibt für gewöhnlich bekannt, daß er in dem betreffenden Werk darlegen wollte, wozu die und die Leidenschaft führt, wenn sie unter diesen oder jenen Bedingungen auftritt. Die menschlichen Leidenschaften werden dabei von ihm in der abstraktesten Form 1 [Der Abschnitt trägt vielmehr die Überschrift: „Epoque contemporaine“.] 2 Das ist der Wortlaut der russischen Übersetzung, aber französisch heißt es einfach, daß in allen seinen Werken etwas Ungeheueres, eine Überfülle und eine Übersteigerung vorhanden sind, die ihren romantischen Ursprung verraten. 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

[951]<br />

Zwei Rezensionen der Bücher von G. Lanson<br />

über die Geschichte der französischen Literatur*<br />

I<br />

GESCHICHTE DER FRANZÖSICHEN LITERATUR<br />

XIX. JAHRHUNDERT<br />

Von G. Lanson, Prof. der École Normale in Paris. Übertragung aus dem Französischen unter der Redaktion von P.<br />

O. Morosow. Ausgabe der Redaktion „Obrasowanije“, St. Petersburg 1897.<br />

Wollen Sie übersetzen? Das ist eine löbliche Absicht, aber bedenken Sie, daß Sie erstens die<br />

Sprache können müssen, aus der Sie übersetzen; zweitens die Sprache, in die Sie übersetzen;<br />

drittens, daß Sie mit dem Gegenstand vertraut sein müssen, der in dem zu übersetzenden<br />

Werk behandelt wird. Ist auch nur eine einzige dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist es<br />

besser, Sie lassen die Hand davon, denn das wird dann eine schlechte Übersetzung, und die<br />

Leser werden von Ihnen nur irregeführt. Besonders raten wir Ihnen nicht, sich auf freundschaftliche<br />

Versprechungen zu verlassen, daß man Ihre Übersetzung. „durchsehen“ und „verbessern“<br />

wolle: meistens kommt dabei gar nichts heraus, und wenn die Übersetzung schlecht<br />

ist, so bleibt sie schlecht, auch wenn man noch soviel daran „redigiert“. Und von einem guten<br />

Buch eine schlechte Übersetzung liefern und in Druck geben, das heißt, den Leser, der nichts<br />

weiter verschuldet hat, als daß er wißbegierig ist und die Sprache nicht kann, in der dieses<br />

Buch geschrieben ist, in die Irre zu führen und einer Tortur zu unterwerfen: Sie werden zugeben,<br />

daß man schlimmer mit ihm nicht verfahren kann.<br />

Das Buch, dessen Titel wir oben genannt haben, ist schlecht übersetzt. Aus allem ist zu ersehen,<br />

daß der Übersetzer die französische Sprache nicht genügend beherrscht. Er ist ungeschickt<br />

in der Wiedergabe dessen, was im Original steht, und manchmal kommen bei ihm in<br />

dieser Hinsicht ganz kuriose Sachen vor. So ist auf Seite 13 über die äußere Erscheinung Mirabeaus<br />

zu lesen: „schließlich saß sein ganzer unproportioniert entwickelter Kopf auf einem<br />

breiten, plumpen Körper“. Sagen Sie, kann es einen Menschen geben, bei dem nicht der ganze<br />

Kopf auf dem Körper [952] ruht? Im Original schließt Lemercier, dessen Zeugnis Lanson<br />

hier anführt, nachdem er bemerkt hat, daß Mirabeau häßlich war, und nachdem er recht ausführlich<br />

sein Gesicht beschrieben hat, seine Beschreibung mit den Worten: „toute cette tête<br />

disproportionnée que portrait une large poitrine“. Das heißt, sein ganzer Kopf, der etc. ruhte,<br />

war häßlich, und nicht, der ganze Kopf ruhte auf dem Körper. Auf Seite 66 der russischen<br />

Übersetzung heißt es über Royer-Collard: „Ausgezeichnet durch erfinderischen Geist sowohl<br />

auf dem Gebiete der politischen Theorien als auch auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie,<br />

war er in der Kammer das Haupt der Schule, deren Schüler die Bezeichnung Doktrinäre<br />

trugen, was ihre geistige Mittelmäßigkeit sehr schön zum Ausdruck brachte.“ Im Original<br />

steht anstatt „ihre geistige Mittelmäßigkeit“: leur esprit commun, welches bedeutet: der ihnen<br />

allen (d. h. allen Schülern dieser Schule) eigene Geist oder ihr gemeinsamer Geist. Durch<br />

diesen Fehler wird der Gedanke Lansons stark entstellt, der die geistigen Fähigkeiten mancher<br />

Doktrinäre sehr hoch einschätzt. In den Anmerkungen, auf Seite IX, findet sich in der<br />

kurzen Lebensbeschreibung Guizots folgende Stelle: „Hierauf (nachdem er die politische<br />

Tätigkeit aufgegeben hat) wendet er sich seinen literarischen Arbeiten zu... indem er gleichzeitig<br />

die Leitung der französischen kalvinistischen Kirche übernimmt und hierbei sich als<br />

* Anmerkungen für: Zwei Rezensionen des Buches von Lanson „Geschichte der französischen Literatur“ (S.<br />

951-967) am Ende des Kapitels.<br />

1

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!