erschien nennen menschenähnlichen
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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 „Der hungernde Indianer braucht nur darum zu bitten, und schon erhält er das Erbetene, wenn auch der Vorrat (beim Gebenden) noch so klein und wenn auch die Aussichten für die Zukunft noch so schlecht sind.“ 1 Und beachten Sie, geehrter Herr, daß sich dieses Recht des Bittenden, das Erbetene zu erhalten, hier nicht auf die Grenzen eines Blutsverbandes oder eines Stammes beschränkt. „Das, was ursprünglich ein auf die Sippschaft gegründetes Recht war, nahm in der Folge breitere Ausmaße an und ging in eine unbegrenzte Gastfreundschaft über.“ 2 Von Dorsey wissen wir, daß die Indianer des Stammes Omaha, wenn sie viel Brot hatten, während der Stamm Ponka oder der Stamm Pauni Mangel litt, ihre Vorräte mit jenen teilten, und das gleiche taten die Pauni und Ponka, wenn die Omaha kein Brot hatten. 3 Auf die löbliche Gewohnheit dieser Art wies schon der alte Lafitau hin, wobei er richtig bemerkte, daß „Europäer so nicht handeln“ 4 . Bezüglich der Indianer Südamerikas genügt es, auf Martius und von den Steinen hinzuweisen. Nach den Worten Martius’ blieben bei den brasilianischen Indianern die durch die gemeinsame Arbeit vieler Mitglieder [92] der Gemeinschaft hergestellten Gegenstände im gemeinsamen Besitz dieser Mitglieder, und nach den Worten von den Steinens lebten die von ihm gut studierten brasilianischen Bakaïri wie eine Familie, indem sie die bei der Jagd oder beim Fischfang gewonnene Beute ständig untereinander teilten. 5 Bei den Bororo ruft der Jäger, der einen Jaguar erlegt hat, die anderen Jäger herbei und verzehrt das Fleisch des getöteten Tieres gemeinsam mit ihnen, aber die Zähne und das Fell gibt er dem, der zum zuletzt verstorbenen Gemeindemitglied in nächster verwandtschaftlicher Beziehung steht. 6 Bei den Kaffern in Südafrika hat der Jäger nicht das Recht, über seine Beute nach eigener Willkür zu verfügen, vielmehr ist er verpflichtet, sie mit anderen zu teilen. 7 Hat einer von ihnen einen Stier geschlachtet, so kommen alle Nachbarn zu ihm zu Gast und bleiben so lange sitzen, bis sie das ganze Fleisch verzehrt haben. Selbst der „König“ unterwirft sich dieser Gewohnheit und bewirtet geduldig seine Untertanen. 8 Die Europäer handeln so nicht, möchte ich mit den Worten Lafitaus sagen! Wir wissen schon von Ehrenreich, daß der Botokude ein erhaltenes Geschenk unter alle Mitglieder seiner Sippe verteilt. Dasselbe sagt Darwin über die Feuerländer 9 und Lichtenstein über die Urvölker Südafrikas. Nach den Worten Lichtensteins ist ein Mensch, der ein erhaltenes Geschenk nicht mit anderen teilt, den beleidigendsten Sticheleien ausgesetzt. 10 Wenn die Brüder Sarasin einem Wedda eine Silbermünze schenkten, nahm er sein Beil und tat, als wolle er sie in Teile spalten, und nach dieser ausdrucksvollen Geste bat er, man möge ihm weitere Münzen geben, damit er sie mit den anderen teilen könne. 11 Der Betschuanenhäuptling Muligawang bat einen der Begleiter Lichtensteins, man möge ihm Geschenke heimlich geben, weil die dunkelhäutige Majestät andernfalls gezwungen wäre, sie mit seinen Untertanen 1 „Indian Linguistic Families“; „Seventh annual Report of the Bureau of Ethnology“, p. 34. Ich füge hier eine Bemerkung von Matilda Stevenson hinzu, derzufolge bei den amerikanischen Indianern der Starke im Vergleich zum Schwachen bei der Beuteverteilung keinerlei Vorzüge genießt („The Siou“, by Matilda Coxe Stevenson, „Seventh annual Report“, p. 12). 2 Powell, op. cit., p. 34. 3 „Omaha Sociology“, by Owen Dorsey; „Third annual Report of the Bureau of Ethnology“, p. 274. 4 Lafitau, „Les mœurs des sauvages...“, t. II, p. 91. 5 Von den Steinen, „Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens“, S. 67/68. Martius, „Von dem Rechtszustande unter den Ureinwohnern Brasiliens“, S. 35. 6 Von den Steinen, ibid., S. 491. 7 H. Lichtenstein, „Reisen“, I, S. 444. 8 Lichtenstein, „Reisen“, I, S. 450. 9 „Journal of researches“ etc., p. 242. 10 [Lichtenstein,] „Reisen“, I, S. 450. 11 [P. und F. Sarasin,] „Die Weddas von Ceylon“, S. 560. 36
OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 11.07.2013 zu teilen. 1 Nordenskjöld erzählt, während seines Besuches bei den Tschuktschen hatte irgendeiner der minderjährigen Mitglieder dieses Stammes ein Stück Zucker erhalten, und unverzüglich machte dieser Leckerbissen die Runde von Mund zu Mund. 2 [93] Das genügt. Bücher verfällt einem großen Irrtum, wenn er sagt, der Wilde denke nur an sich. Das dem modernen Ethnologen zur Verfügung stehende empirische Material läßt in dieser Hinsicht keinen Zweifel bestehen. Deshalb können wir jetzt von den Tatsachen zur Hypothese übergehen und uns fragen, wie wir uns die gegenseitigen Beziehungen unserer wilden Vorfahren in jener weit zurückliegenden Zeit vorzustellen haben, als ihnen der Gebrauch des Feuers und der Waffe noch unbekannt war. Haben wir irgendeine Veranlassung zu glauben, daß diese Zeit die Herrschaft des Individualismus gewesen und die Existenz der Einzelpersonen damals nicht im geringsten durch gesellschaftliche Solidarität erleichtert worden sei? Mir scheint, wir haben nicht die geringste Veranlassung, so zu denken. Alles, was mir über die Sitten der Affen der Alten Welt bekannt ist, zwingt mich zu der Annahme, daß unsere Vorfahren bereits zu einem Zeitpunkt gesellschaftliche Tiere waren, als sie noch dem Menschen bloß „ähnlich“ sahen. Espinas sagt: „Was die Herden der Affen vor denen anderer Tiere auszeichnet, ist erstens das Zusammenwirken, welches jedes Individuum den anderen entgegenbringt, oder die Solidarität ihrer Glieder; zweitens der Gehorsam, den alle, selbst die Männchen, einem einzigen Führer leisten, welcher für das gemeinsame Wohl zu wachen hat, oder die Subordination.“ 3 Wie Sie sehen, ist das schon ein gesellschaftlicher Verband im vollsten Sinne des Wortes. Allerdings neigen die großen menschenähnlichen Affen anscheinend nicht sehr zum gesellschaftlichen Leben. Aber auch sie kann man nicht als ausgesprochene Individualisten bezeichnen. Einige kommen oft zusammen und singen im Chor und trommeln dabei auf hohlen Bäumen. Du Chaillu hat Gorillas in Gruppen von acht bis zehn Stück angetroffen; Gibbons hat man in Herden zu hundert und sogar hundertfünfzig Köpfen gesehen. Wenn die Orang- Utans in einzelnen kleinen Familien leben, so müssen wir die außergewöhnlichen Daseinsbedingungen dieser Tiere berücksichtigen. Die menschenähnlichen Affen erweisen sich jetzt als außerstande, den Kampf ums Dasein fortzusetzen. Sie entarten, gehen zahlenmäßig sehr zurück, und deshalb kann uns, wie Topinard sehr richtig bemerkt hat, ihre jetzige Lebensweise nicht die geringste Vorstellung davon geben, wie sie früher gelebt haben. 4 Darwin war jedenfalls überzeugt, daß unsere menschenähnlichen Vorfahren in Gesellschaften gelebt haben 5 , und ich wüßte keinen Grund, der [94] uns veranlassen könnte, diese Überzeugung falsch zu finden. Und wenn unsere menschenähnlichen Vorfahren in Gesellschaften lebten, so stellt sich die Frage, wann, zu welchem Zeitpunkt der zoologischen Entwicklung, und weshalb mußten ihre gesellschaftlichen Instinkte dem Individualismus weichen, der dem Urmenschen angeblich eigen gewesen sein soll? Ich weiß es nicht. Auch Bücher weiß es nicht. Wenigstens teilt er uns überhaupt nichts hierüber mit. Wir sehen also, seine Ansicht wird ebensowenig durch hypothetische Erwägungen wie durch das Tatsachenmaterial bestätigt. 1 Lichtenstein, ebenda, Bd. II, S. 479/80. 2 [Nordenskjöld,] „Die Umsegelung Asiens und Europas auf der ‚Vega‘“‚ Leipzig 1882, Band II, S. 139. 3 „Les sociétés animales“, deuxième edition, Paris 1878, p. 502. [Alfred Espinas, „Die tierischen Gesellschaften...“‚ Braunschweig 1879, S. 482.] 4 [P. Topinard,] „L’Anthropologie et la science sociale“, Paris 1900, pp. 122/123. 5 [Charles Darwin,] „The Descent of Man“, 1883, p. 502. 37
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der minderjährigen Mitglieder dieses Stammes ein Stück Zucker erhalten, und unverzüglich<br />
machte dieser Leckerbissen die Runde von Mund zu Mund. 2<br />
[93] Das genügt. Bücher verfällt einem großen Irrtum, wenn er sagt, der Wilde denke nur an<br />
sich. Das dem modernen Ethnologen zur Verfügung stehende empirische Material läßt in<br />
dieser Hinsicht keinen Zweifel bestehen. Deshalb können wir jetzt von den Tatsachen zur<br />
Hypothese übergehen und uns fragen, wie wir uns die gegenseitigen Beziehungen unserer<br />
wilden Vorfahren in jener weit zurückliegenden Zeit vorzustellen haben, als ihnen der Gebrauch<br />
des Feuers und der Waffe noch unbekannt war. Haben wir irgendeine Veranlassung<br />
zu glauben, daß diese Zeit die Herrschaft des Individualismus gewesen und die Existenz der<br />
Einzelpersonen damals nicht im geringsten durch gesellschaftliche Solidarität erleichtert<br />
worden sei?<br />
Mir scheint, wir haben nicht die geringste Veranlassung, so zu denken. Alles, was mir über<br />
die Sitten der Affen der Alten Welt bekannt ist, zwingt mich zu der Annahme, daß unsere<br />
Vorfahren bereits zu einem Zeitpunkt gesellschaftliche Tiere waren, als sie noch dem Menschen<br />
bloß „ähnlich“ sahen. Espinas sagt: „Was die Herden der Affen vor denen anderer Tiere<br />
auszeichnet, ist erstens das Zusammenwirken, welches jedes Individuum den anderen entgegenbringt,<br />
oder die Solidarität ihrer Glieder; zweitens der Gehorsam, den alle, selbst die<br />
Männchen, einem einzigen Führer leisten, welcher für das gemeinsame Wohl zu wachen hat,<br />
oder die Subordination.“ 3 Wie Sie sehen, ist das schon ein gesellschaftlicher Verband im<br />
vollsten Sinne des Wortes.<br />
Allerdings neigen die großen <strong>menschenähnlichen</strong> Affen anscheinend nicht sehr zum gesellschaftlichen<br />
Leben. Aber auch sie kann man nicht als ausgesprochene Individualisten bezeichnen.<br />
Einige kommen oft zusammen und singen im Chor und trommeln dabei auf hohlen<br />
Bäumen. Du Chaillu hat Gorillas in Gruppen von acht bis zehn Stück angetroffen; Gibbons<br />
hat man in Herden zu hundert und sogar hundertfünfzig Köpfen gesehen. Wenn die Orang-<br />
Utans in einzelnen kleinen Familien leben, so müssen wir die außergewöhnlichen Daseinsbedingungen<br />
dieser Tiere berücksichtigen. Die <strong>menschenähnlichen</strong> Affen erweisen sich jetzt als<br />
außerstande, den Kampf ums Dasein fortzusetzen. Sie entarten, gehen zahlenmäßig sehr zurück,<br />
und deshalb kann uns, wie Topinard sehr richtig bemerkt hat, ihre jetzige Lebensweise<br />
nicht die geringste Vorstellung davon geben, wie sie früher gelebt haben. 4<br />
Darwin war jedenfalls überzeugt, daß unsere <strong>menschenähnlichen</strong> Vorfahren in Gesellschaften<br />
gelebt haben 5 , und ich wüßte keinen Grund, der [94] uns veranlassen könnte, diese Überzeugung<br />
falsch zu finden. Und wenn unsere <strong>menschenähnlichen</strong> Vorfahren in Gesellschaften<br />
lebten, so stellt sich die Frage, wann, zu welchem Zeitpunkt der zoologischen Entwicklung,<br />
und weshalb mußten ihre gesellschaftlichen Instinkte dem Individualismus weichen, der dem<br />
Urmenschen angeblich eigen gewesen sein soll? Ich weiß es nicht. Auch Bücher weiß es<br />
nicht. Wenigstens teilt er uns überhaupt nichts hierüber mit.<br />
Wir sehen also, seine Ansicht wird ebensowenig durch hypothetische Erwägungen wie durch<br />
das Tatsachenmaterial bestätigt.<br />
1 Lichtenstein, ebenda, Bd. II, S. 479/80.<br />
2 [Nordenskjöld,] „Die Umsegelung Asiens und Europas auf der ‚Vega‘“‚ Leipzig 1882, Band II, S. 139.<br />
3 „Les sociétés animales“, deuxième edition, Paris 1878, p. 502. [Alfred Espinas, „Die tierischen Gesellschaften...“‚<br />
Braunschweig 1879, S. 482.]<br />
4 [P. Topinard,] „L’Anthropologie et la science sociale“, Paris 1900, pp. 122/123.<br />
5 [Charles Darwin,] „The Descent of Man“, 1883, p. 502.<br />
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