erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 nicht [932] immer klar genug aus. Hier ein Beispiel: Nachdem er seiner Frau mitgeteilt hat, daß es ihm gelungen sei, das Dasein zu durchschauen, fügt er hinzu: „Es war gleichsam, als sei ich heute nacht auf der Erde allein und einsam geworden. Es steht eine Mauer zwischen dem Menschen und der Außenwelt; aber diese Mauer ist nun dünn geworden, und ich will versuchen, sie zu sprengen, den Kopf durchzustecken und zu sehen“ (S. 70/71 [86/87]). Das ist sehr nebelhaft. Seltsam dabei ist, daß ein Mensch, der bereits alle Fragen gelöst hat, es trotzdem für nötig hält, die Mauer zu sprengen, den Kopf durchzustecken und zu sehen. Wozu das? Wenn alle Fragen gelöst sind, dann braucht man nichts mehr zu „sehen“, und man kann sich ausruhen. Aber in dem gleichen Gespräch Karenos mit seiner Frau findet sich eine Stelle, in der seine Ansichten in bestimmterer Form angedeutet sind. Kareno bezeichnet sich als einen Menschen, der bei den Menschen anklopft „mit seinen Ideen, die frei sind wie der Vogel in der Luft“. Es zeigt sich, daß unser Held, nachdem er die Mauer gesprengt und den Kopf durchgesteckt hat, das Ideal der Freiheit sieht. Das ist schon weniger nebelhaft. Aber trotzdem kann man die Freiheit verschieden auffassen. Welches ist der Inhalt der freien Ideen Ivar Karenos? Davon gibt die folgende lange Tirade einen sehr klaren Begriff: „Sieh her“, sagt er, indem er vor seiner Frau sein Manuskript ausbreitet, „all das ist über die Majoritätsherrschaft und ich schlage sie nieder. Das ist eine Lehre für Engländer, sage ich, ein Evangelium, das auf einem Markt geoffenbart, auf den Londoner Docks gepredigt, von der Mittelmäßigkeit zu Macht und Recht gebracht wurde. Das hier ist über den Trotz, das über den Haß, das über die Rache – ethische Mächte, die im Verfall sind. Über all das habe ich geschrieben. Nein, sei nur ein bißchen aufmerksam, Elina, so wirst du selber hören. Das ist über den ewigen Frieden. Alle finden, es sei so schön, das vom ewigen Frieden; ich sage, es ist eine Lehre, würdig des Kalbsgehirns, das es ausgebrütet hat. Ja. Ich verhöhne den ewigen Frieden und seinen frechen Mangel an Stolz. Laßt den Krieg kommen; es gilt nicht, soundso viele Leben zu bewahren, denn des Lebens Quelle ist unerschöpflich; aber es gilt, den Menschen in uns aufrechten Ganges zu erhalten. Sieh hier, das ist der Hauptabschnitt über den Liberalismus. Ich schone den Liberalismus nicht; ich greife ihn aus innerster Seele an. Aber das versteht man nicht. Die Engländer und Professor Gylling, die sind liberal, aber ich bin nicht liberal, und das ist das einzige, was man versteht. Ich glaube nicht an den Liberalismus, ich glaube nicht an Wahlen und glaube nicht an Volksvertretung. Und das habe ich geradeheraus geschrieben. (Liest): ‚Dieser Liberalismus, der das alte, unnatürliche Falsum wieder eingeführt hat, daß die zwei Ellen hohe Menge ihre drei Ellen hohen Anführer selbst wählen soll...‘ Da kannst [933] du selbst hören; so geht es die ganze Zeit... Und siehst du hier! Das ist der Schluß. Hier habe ich ein Gebäude aufgeführt auf all diesen Ruinen, ein stolzes Schloß, Elina; ich habe mir selbst Rechenschaft gegeben. Ich glaube an den geborenen Herrn, den Despoten von Natur aus, den Befehlshaber, an ihn, der nicht gewählt wird, sondern der sich selbst zum Anführer aufwirft über die Horden dieser Erde. Ich glaube und hoffe nur eines, und das ist die Wiederkunft des großen Terroristen, der Menschenquintessenz, des Cäsar...“ (S. 106/107 [128/129]). Wir werden bald sehen, was Professor Gylling will, gegen den Kareno zu Felde zieht. Für jetzt wollen wir bemerken, daß die „freien Ideen“ unseres Helden auf den Kampf gegen die Macht der Mehrheit hinauslaufen. Das ist das Grundmotiv seines Werkes. Und in diesem Sinne ist er das Geisteskind des Ibsenschen Doktor Stockmann. Aber seine Denkweise ist viel konkreter als die Denkweise des guten Doktors. Angefangen damit, daß Stockmann von der Majorität eigentlich infolge eines Mißverständnisses spricht, da sein Kampf in Wirklichkeit der Minorität gilt (d. h. der Aktiengesellschaft, die das Kurbad ausbeutet, wo er als Arzt angestellt ist), und zwar im Interesse der Majorität (d. h. der Kranken, die das Kurbad besuchen und besuchen können). Und seine Überlegungen erreichen ihren Kulminationspunkt da, wo er beweist, daß jede Wahrheit mit der Zeit veralten und einer anderen, neuen Wahrheit Platz 3

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 machen muß. 1 Allerdings macht er, während er dies „aus der Naturwissenschaft“ beweist, einige sehr mißglückte Exkursionen in das Gebiet der gesellschaftlichen Verhältnisse. 2 Aber es bleibt bei diesen mißglückten Exkursionen. Nicht durch diese wird das praktische Programm des Doktors Stockmann bestimmt. Und von einem solchen Programm ist bei ihm auch gar nichts zu sehen. Aber sein Geisteskind, Ivar Kareno, spricht vom Kampf gegen [934] die Mehrheit nicht mehr, weil er die Sache nicht richtig versteht, sondern kraft wohldurchdachter Überzeugung. Und er hat ein bestimmtes praktisches Programm. Nicht nur, daß er „nicht an den Liberalismus glaubt“ und ihn nicht schont; er glaubt auch nicht an Wahlen, er glaubt nicht an Volksvertretung und will davon nichts wissen. Er „glaubt“ an den Despotismus, er will die Wiederkunft des großen Terroristen, der ihm als Quintessenz des Menschen erscheint. Sehen Sie, welche „Freiheit“ unser Held will? Die Freiheit des Despoten. Nachdem er die Mauer gesprengt und den Kopf durchgesteckt hat, hat er die bevorstehende Wiederkunft des „großen Terroristen“ gesehen, der die Mehrheit seinem eisernen Willen unterwirft. Und um seine Wiederkunft zu erleichtern, hält er die entsprechende Moralpredigt. Er predigt „Haß“, „Rache“ und „Stolz“ – nicht den Stolz, der nicht zuläßt, daß ein Mensch Sklave sei, sondern den Stolz, der in dem Bestreben zum Ausdruck kommt, Sklaven zu haben oder wenigstens dazu beizutragen, daß an solchen bei dem „großen Terroristen“ und „Despoten“ kein Mangel ist. Es ist daher nicht verwunderlich daß der gute Kareno die Idee des Friedens als eine „Lehre“ bezeichnet, „würdig des Kalbsgehirns, das sie ausgebrütet hat“. Es gilt nicht, „soundso viele Leben zu bewahren!“ „Es gilt nur, den Menschen in uns aufrechten Ganges zu erhalten“, das heißt offenbar, die Menschen sollen sich willig hinschlachten lassen, wenn der „große Terrorist“ und „Despot“ es für nötig findet, einen Aderlaß vorzunehmen. All das erscheint hinlänglich bestimmt. Indes, das Unbestimmte fehlt nicht gänzlich in dieser Tirade. In ihren ersten Zeilen wird, wie wir gesehen haben, die Majorität als Mittelmäßigkeit bezeichnet, und dieser Ausdruck verleiht der Rede Ivar Karenos den Beigeschmack jenes gegenstandslosen Idealismus, von dem die Reden seines geistigen Urhebers, des Doktors Stockmann, von Anfang bis zu Ende durchdrungen sind. An den anderen Stellen verschwindet dieser Beigeschmack völlig. In dem Artikel, der Veranlassung gibt zu seinem interessanten Gespräch mit Professor Gylling, verurteilt er die „moderne Arbeiterfreundlichkeit“ als etwas Dummes und schreibt: „Die Arbeiter sind nicht bloß als Triebkraft außer Brauch gekommen, sondern auch ihre Stellung als unentbehrliche Menschenkaste ist aufgehoben... Als sie Sklaven waren, hatten sie ihre Funktion; sie arbeiteten. Nun arbeiten an ihrer Stelle Maschinen mit Dampf, Elektrizität, Wasser und Wind, und die Arbeiter werden dadurch immer mehr ein überflüssiger Stand auf Erden. Aus dem Sklaven ist ein Arbeiter geworden, aus dem Arbeiter ein Para-[935]sit, der von nun an ohne Mission im Weltleben ist. Und diese Leute, die sogar ihre Position als notwendige Menschen verloren haben, bestrebt 1 Dr. Stockmann: „Ja, ja, ihr möget mir glauben oder nicht, aber die Wahrheiten sind nicht so zählebige Methusalems, wie die Menschen sich einbilden. Eine normal gebaute Wahrheit lebt – nun sagen wir: in der Regel fünfzehn, sechzehn, höchstens zwanzig Jahre; selten länger. Aber solche bejahrte Wahrheiten sind stets entsetzlich dürr und mager. Und dennoch macht sich erst dann die Mehrheit mit ihnen zu schaffen und empfiehlt sie der Menschheit als gesunde geistige Nahrung. Aber ich kann euch versichern: es ist nicht viel Nahrungsstoff in einer solchen Kost, und darauf muß ich mich als Arzt verstehen. Alle diese Majoritätswahrheiten gleichen dem überjährigen ranzigen Speck; sie sind wie verdorbner, grün angelaufener Schinken; und daher kommt all der moralische Skorbut, der rings um uns her in der Gesellschaft grassiert.“ [Henrik Ibsens gesammelte Werke, Philipp Reclam jun., Leipzig, Zweiter Band, S. 77.] 2 „Denkt euch nun zunächst einen simpeln Bauernhund – ich meine: so einen widerwärtigen, zottigen, pöbelhaften Köter, der da alle Welt auf der Gasse belästigt. Und dann stellt den Köter neben einen Pudel, der durch mehrere Generationen hindurch aus einem vornehmen Hause stammt, wo er feine Kost erhalten und Gelegenheit [934] gehabt, harmonische Stimmen und Musik zu hören. Meint ihr, das Gehirn des Pudels habe sich nicht ganz anders entwickelt als das des Köters? Ja, darauf könnt ihr euch fest verlassen.“ [Ebenda, S. 79.] Das ist eines von den krassen Beispielen für den Unsinn, den der Dr. Stockmann „mit seiner Naturwissenschaft“ verzapft. 4

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nicht [932] immer klar genug aus. Hier ein Beispiel: Nachdem er seiner Frau mitgeteilt hat,<br />

daß es ihm gelungen sei, das Dasein zu durchschauen, fügt er hinzu: „Es war gleichsam, als<br />

sei ich heute nacht auf der Erde allein und einsam geworden. Es steht eine Mauer zwischen<br />

dem Menschen und der Außenwelt; aber diese Mauer ist nun dünn geworden, und ich will<br />

versuchen, sie zu sprengen, den Kopf durchzustecken und zu sehen“ (S. 70/71 [86/87]). Das<br />

ist sehr nebelhaft. Seltsam dabei ist, daß ein Mensch, der bereits alle Fragen gelöst hat, es<br />

trotzdem für nötig hält, die Mauer zu sprengen, den Kopf durchzustecken und zu sehen. Wozu<br />

das? Wenn alle Fragen gelöst sind, dann braucht man nichts mehr zu „sehen“, und man<br />

kann sich ausruhen. Aber in dem gleichen Gespräch Karenos mit seiner Frau findet sich eine<br />

Stelle, in der seine Ansichten in bestimmterer Form angedeutet sind. Kareno bezeichnet sich<br />

als einen Menschen, der bei den Menschen anklopft „mit seinen Ideen, die frei sind wie der<br />

Vogel in der Luft“. Es zeigt sich, daß unser Held, nachdem er die Mauer gesprengt und den<br />

Kopf durchgesteckt hat, das Ideal der Freiheit sieht. Das ist schon weniger nebelhaft. Aber<br />

trotzdem kann man die Freiheit verschieden auffassen. Welches ist der Inhalt der freien Ideen<br />

Ivar Karenos? Davon gibt die folgende lange Tirade einen sehr klaren Begriff:<br />

„Sieh her“, sagt er, indem er vor seiner Frau sein Manuskript ausbreitet, „all das ist über die<br />

Majoritätsherrschaft und ich schlage sie nieder. Das ist eine Lehre für Engländer, sage ich,<br />

ein Evangelium, das auf einem Markt geoffenbart, auf den Londoner Docks gepredigt, von<br />

der Mittelmäßigkeit zu Macht und Recht gebracht wurde. Das hier ist über den Trotz, das<br />

über den Haß, das über die Rache – ethische Mächte, die im Verfall sind. Über all das habe<br />

ich geschrieben. Nein, sei nur ein bißchen aufmerksam, Elina, so wirst du selber hören. Das<br />

ist über den ewigen Frieden. Alle finden, es sei so schön, das vom ewigen Frieden; ich sage,<br />

es ist eine Lehre, würdig des Kalbsgehirns, das es ausgebrütet hat. Ja. Ich verhöhne den ewigen<br />

Frieden und seinen frechen Mangel an Stolz. Laßt den Krieg kommen; es gilt nicht, soundso<br />

viele Leben zu bewahren, denn des Lebens Quelle ist unerschöpflich; aber es gilt, den<br />

Menschen in uns aufrechten Ganges zu erhalten. Sieh hier, das ist der Hauptabschnitt über<br />

den Liberalismus. Ich schone den Liberalismus nicht; ich greife ihn aus innerster Seele an.<br />

Aber das versteht man nicht. Die Engländer und Professor Gylling, die sind liberal, aber ich<br />

bin nicht liberal, und das ist das einzige, was man versteht. Ich glaube nicht an den Liberalismus,<br />

ich glaube nicht an Wahlen und glaube nicht an Volksvertretung. Und das habe ich<br />

geradeheraus geschrieben. (Liest): ‚Dieser Liberalismus, der das alte, unnatürliche Falsum<br />

wieder eingeführt hat, daß die zwei Ellen hohe Menge ihre drei Ellen hohen Anführer selbst<br />

wählen soll...‘ Da kannst [933] du selbst hören; so geht es die ganze Zeit... Und siehst du<br />

hier! Das ist der Schluß. Hier habe ich ein Gebäude aufgeführt auf all diesen Ruinen, ein stolzes<br />

Schloß, Elina; ich habe mir selbst Rechenschaft gegeben. Ich glaube an den geborenen<br />

Herrn, den Despoten von Natur aus, den Befehlshaber, an ihn, der nicht gewählt wird, sondern<br />

der sich selbst zum Anführer aufwirft über die Horden dieser Erde. Ich glaube und hoffe<br />

nur eines, und das ist die Wiederkunft des großen Terroristen, der Menschenquintessenz, des<br />

Cäsar...“ (S. 106/107 [128/129]).<br />

Wir werden bald sehen, was Professor Gylling will, gegen den Kareno zu Felde zieht. Für<br />

jetzt wollen wir bemerken, daß die „freien Ideen“ unseres Helden auf den Kampf gegen die<br />

Macht der Mehrheit hinauslaufen. Das ist das Grundmotiv seines Werkes. Und in diesem<br />

Sinne ist er das Geisteskind des Ibsenschen Doktor Stockmann. Aber seine Denkweise ist viel<br />

konkreter als die Denkweise des guten Doktors. Angefangen damit, daß Stockmann von der<br />

Majorität eigentlich infolge eines Mißverständnisses spricht, da sein Kampf in Wirklichkeit<br />

der Minorität gilt (d. h. der Aktiengesellschaft, die das Kurbad ausbeutet, wo er als Arzt angestellt<br />

ist), und zwar im Interesse der Majorität (d. h. der Kranken, die das Kurbad besuchen<br />

und besuchen können). Und seine Überlegungen erreichen ihren Kulminationspunkt da, wo<br />

er beweist, daß jede Wahrheit mit der Zeit veralten und einer anderen, neuen Wahrheit Platz<br />

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