erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
from max.stirner.archiv.leipzig.de More from this publisher
18.09.2015 Views

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 [929] Doktor Stockmanns Geisteskind* , 1 I Leider kann ich Hamsun nicht im Original lesen. Und die Übersetzung, die ich zur Hand habe, ist nicht frei von Mängeln. Der Übersetzer, Herr J. Danilin, ist wie ein Ausländer, der sich die russische Sprache gut angeeignet hat, aber nicht in alle ihre Feinheiten eingedrungen ist. Es kommen bei ihm Wendungen vor wie: „Du nimmst es mir doch nicht übel, wenn ich dir irgend etwas sage?“ (S. 156). Dabei geht aus dem Gang der Handlung ganz klar hervor, daß die Person, die diesen Satz sagt (Jerven), nicht „irgend etwas“, sondern etwas ganz Bestimmtes sagen will: „Du brauchst Geld“, sagt er usw. Deshalb hätte man nicht übersetzen dürfen: „Irgend etwas“; es muß vielmehr heißen: „etwas“. 2 Das ist ein großer Unterschied. Und auch die handelnde Person selbst, die es dem Übersetzer zu verdanken hat, daß sie die von mir angegebene unrichtige Wendung gebraucht, hat, wenn ich mich nicht irre, einen Namen, der nicht richtig ist: man dürfte ihren Namen nicht „Иepвен“ schreiben, sondern einfach „Epвен“. Unser „e“ ist das jotierte „e“ der westeuropäischen Sprachen. Ähnlich wie hier wird bei uns unrichtig Иeкк [Jäckh] (der deutsche Verfasser der Geschichte der Internationale) geschrieben anstatt Eкк. Eine andere handelnde Person des Dramas (der Journalist Bondesen) ruft aus: „Um Gottes willen, nur jetzt nicht. Nur jetzt nicht. Denn sonst weiß ich nicht mehr mit Ihnen zu reden“ (S. 59). Aber es ist doch wiedertun ganz klar, daß Bondesen nicht befürchtet, die Fähigkeit zu reden nicht mehr zu haben, sondern daß er keine Möglichkeit mehr haben wird, von seiner Fähigkeit Gebrauch zu machen. Genauso spricht auch die Hauptperson des Stückes (der Schriftsteller Ivar Kareno). Er drückt sich (d. h. in der Übersetzung des Herrn Danilin) so aus: Wenn der Herbst warm ist, dann „versteht er im Garten zu arbeiten“ (S. 81). Aber auch hier ist klar, daß ein kalter Herbst Kareno nicht der geistigen Fähigkeit berauben [930] wird, im Garten zu arbeiten, sondern nur der Möglichkeit, diese Fähigkeit zu gebrauchen. Das sind natürlich Kleinigkeiten. Aber es sind sehr ärgerliche Kleinigkeiten. Weshalb soll man denn unsere mächtige und reiche russische Sprache durch plumpe Provinzialismen verhunzen? Außerdem kommen in dem Stück eine Menge Druckfehler vor. Das ist ebenfalls eine Kleinigkeit, und zwar ebenfalls eine sehr ärgerliche Kleinigkeit. Es soll von diesem Stück noch eine andere Übersetzung geben, aber ich habe sie nicht. Deshalb benütze ich die Übersetzung des Herrn J. Danilin. In Hamsuns Stück sind eigentlich zwei Dramen: das eine hat privaten, das andere gesellschaftlichen Charakter. Das eine ist über ein sehr altes, aber ewig neues Thema geschrieben; das andere bringt ein ganz neues Thema, aber von diesem neuen Thema geht ein Hauch greisenhafter Schwäche, richtiger Dekadenz aus. Im ersten zeigt sich das große künstlerische Talent, das Hamsun eigen ist; das zweite wirkt komisch, obwohl sich der Verfasser bemüht, die Handlung tragisch zu gestalten. Kurz gesagt, das erste Drama ist dem Verfasser gelungen, während man das zweite als gänzlich mißglückt bezeichnen muß. Ich will mich nicht lange bei dem ersten, d. h. gelungenen Drama aufhalten. Ich habe schon gesagt, daß sein Thema sehr alt ist, wenn es auch ewig neu bleibt. Die junge, kulturell unentwickelte und vielleicht sogar beschränkte, aber auf jeden Fall moralisch völlig einwandfreie Frau Elina Kareno liebt ihren Mann, den cand. phil. Ivar Kareno, der sie dafür, wenn auch * Anmerkungen zu: Doktor Stockmanns Geisteskind (S. 929-950) am Ende des Kapitels. 1 Knut Hamsun, „An des Reiches Pforten“, Schauspiel in 4 Akten, ins Russische übertragen von J. Danilin, Moskau, Verlag „Sarja“. 2 [Russisch: nicht что-нибудъ, sondern что-то.] 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013 nicht mit völliger Gleichgültigkeit, so doch mit einem für sie sehr beleidigenden und quälenden Mangel an Aufmerksamkeit behandelt. Im Grunde des Herzens liebt er sie zwar, aber er hat keine Zeit für die Liebe. Er schreibt eine Abhandlung, von der er glaubt, daß sie sehr vielen und sehr schädlichen Vorurteilen einen furchtbaren Schlag versetzen wird. Und er geht ganz in seiner Arbeit auf. Frau Kareno beklagt sich bei Bondesen: „Er denkt nicht an mich, er denkt auch nicht an sich selbst, sondern nur an seine Arbeit, einzig und allein an seine Arbeit. So geht es nun seit drei Jahren. Aber drei Jahre sind keine Zeit, sagt er; zehn Jahre sind nicht einmal eine Zeit, sagt er. Wenn er sich so betragen kann, so hat er mich nicht mehr lieb, dachte ich mir. Ich sehe ihn nicht einmal bei Nacht immer; er sitzt auch da hier am Tisch, er arbeitet bis zum lichten Morgen. Das ist wirklich alles so gräßlich. Da wurde ich ganz verstört in meinem Kopf“ (S. 76 [93 1 ]). Und in ihrem Kopfe ging wirklich alles wirr durcheinander. Auf Schritt und Tritt durch die Teilnahmslosigkeit des Mannes gekränkt, ergeht sie sich in Mutmaßungen über die Ursachen dieser Teilnahmslosigkeit und wird grundlos eifersüchtig. Sie ist nicht [931] nur auf ihr Dienstmädchen Ingeborg eifersüchtig, mit der er notwendigerweise oft zusammenkommt, sondern auch auf die Braut seines Kollegen Jerven, Fräulein Nathalia Hovind, der er zum erstenmal im Leben begegnet und die mit ihm einige gänzlich harmlose Redensarten austauscht. Schließlich greift die arme Frau Kareno zur List. Sie will ihren Mann eifersüchtig machen und kokettiert deshalb mit dem Journalisten Bondesen. Aber Kareno merkt gar nichts von der Sache. Da geht sie in der Koketterie noch etwas weiter und – fängt sich im eigenen Netz: sie verliebt sich in diesen unbedeutenden und vulgären Menschen, den Bondesen. Kareno gehen die Augen über das Benehmen seiner Frau erst dann auf, als es bereits zu spät ist. Nun macht er einige Versuche, dem ihm drohenden Unglück zu entgehen, aber es hat keinen Zweck. Seine Frau verläßt ihn und geht in Begleitung Bondesens zu ihren Eltern, und damit schließt das erste Drama. Ich habe gesagt, daß sich in diesem Drama das große künstlerische Talent zeige, das Hamsun eigen ist. Zur Bestätigung dieses meines Urteils braucht man nur auf die Feinheit hinzuweisen, mit der die seelischen Regungen der Frau Kareno gezeichnet sind. Der Charakter dieser unglücklichen Frau ist im vollen Sinne des Wortes ein Meisterwerk. Und ebenso meisterhaft ist auch die Gestalt des Bondesen gezeichnet, der sie verführt hat. Mit einigen wenigen Strichen hat Hamsun äußerst anschaulich den prinzipienlosen Schreiberling dargestellt, der bereit ist, sich für soundso viel pro Zeile an die Zeitung zu verkaufen. Und nicht bloß Bondesen! Nicht bloß Frau Kareno! Der Vogelausstopfer ist eine gänzlich episodische Person in dem Stück, und dennoch ist auch seine Gestalt so plastisch herausgearbeitet! Mit einem Wort, das erste Drama bestätigt aufs beste die alte Regel: das Werk lobt den Meister. Weshalb wird sie nicht durch das zweite Drama bestätigt? Stammt es denn nicht aus der Feder des gleichen hervorragenden Meisters? Um das zu beantworten, muß man den Schriftsteller Ivar Kareno kennenlernen, der die Hauptperson des zweiten Dramas ist, ähnlich wie seine Frau die Hauptrolle im ersten Drama spielt. Ich habe gesagt, daß er ein Buch schreibt, das seiner Meinung nach ungeheure Bedeutung hat. Ich habe mich nicht stark genug ausgedrückt. Kareno selbst drückt sich ungleich stärker aus. Ein Beispiel: „Heute nacht, während ich schrieb“, sagt er zu seiner Frau im 3. Aufzug, „zogen mir Gedanken wie Balken durchs Gehirn. Du solltest es nicht glauben, aber ich beantwortete alle Fragen und durchschaute das Dasein. Ich schrieb und schrieb. Mir war, als strömten mir große Kräfte zu“ (S. 70 [86]). Zur Lösung „aller Fragen“ sind allerdings große Kräfte nötig. Aber in welchem Sinne löst Ivar Kareno alle Fragen? Er drückt sich hierüber 1 [Die Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Originalausgabe des Verlages Albert Langen, München 1926, Elfter Band der Gesammelten Werke.] 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

nicht mit völliger Gleichgültigkeit, so doch mit einem für sie sehr beleidigenden und quälenden<br />

Mangel an Aufmerksamkeit behandelt. Im Grunde des Herzens liebt er sie zwar, aber er<br />

hat keine Zeit für die Liebe. Er schreibt eine Abhandlung, von der er glaubt, daß sie sehr vielen<br />

und sehr schädlichen Vorurteilen einen furchtbaren Schlag versetzen wird. Und er geht<br />

ganz in seiner Arbeit auf. Frau Kareno beklagt sich bei Bondesen: „Er denkt nicht an mich, er<br />

denkt auch nicht an sich selbst, sondern nur an seine Arbeit, einzig und allein an seine Arbeit.<br />

So geht es nun seit drei Jahren. Aber drei Jahre sind keine Zeit, sagt er; zehn Jahre sind nicht<br />

einmal eine Zeit, sagt er. Wenn er sich so betragen kann, so hat er mich nicht mehr lieb, dachte<br />

ich mir. Ich sehe ihn nicht einmal bei Nacht immer; er sitzt auch da hier am Tisch, er arbeitet<br />

bis zum lichten Morgen. Das ist wirklich alles so gräßlich. Da wurde ich ganz verstört in<br />

meinem Kopf“ (S. 76 [93 1 ]). Und in ihrem Kopfe ging wirklich alles wirr durcheinander. Auf<br />

Schritt und Tritt durch die Teilnahmslosigkeit des Mannes gekränkt, ergeht sie sich in Mutmaßungen<br />

über die Ursachen dieser Teilnahmslosigkeit und wird grundlos eifersüchtig. Sie<br />

ist nicht [931] nur auf ihr Dienstmädchen Ingeborg eifersüchtig, mit der er notwendigerweise<br />

oft zusammenkommt, sondern auch auf die Braut seines Kollegen Jerven, Fräulein Nathalia<br />

Hovind, der er zum erstenmal im Leben begegnet und die mit ihm einige gänzlich harmlose<br />

Redensarten austauscht. Schließlich greift die arme Frau Kareno zur List. Sie will ihren Mann<br />

eifersüchtig machen und kokettiert deshalb mit dem Journalisten Bondesen. Aber Kareno<br />

merkt gar nichts von der Sache. Da geht sie in der Koketterie noch etwas weiter und – fängt<br />

sich im eigenen Netz: sie verliebt sich in diesen unbedeutenden und vulgären Menschen, den<br />

Bondesen. Kareno gehen die Augen über das Benehmen seiner Frau erst dann auf, als es bereits<br />

zu spät ist. Nun macht er einige Versuche, dem ihm drohenden Unglück zu entgehen,<br />

aber es hat keinen Zweck. Seine Frau verläßt ihn und geht in Begleitung Bondesens zu ihren<br />

Eltern, und damit schließt das erste Drama.<br />

Ich habe gesagt, daß sich in diesem Drama das große künstlerische Talent zeige, das Hamsun<br />

eigen ist. Zur Bestätigung dieses meines Urteils braucht man nur auf die Feinheit hinzuweisen,<br />

mit der die seelischen Regungen der Frau Kareno gezeichnet sind. Der Charakter dieser<br />

unglücklichen Frau ist im vollen Sinne des Wortes ein Meisterwerk. Und ebenso meisterhaft<br />

ist auch die Gestalt des Bondesen gezeichnet, der sie verführt hat. Mit einigen wenigen Strichen<br />

hat Hamsun äußerst anschaulich den prinzipienlosen Schreiberling dargestellt, der bereit<br />

ist, sich für soundso viel pro Zeile an die Zeitung zu verkaufen. Und nicht bloß Bondesen!<br />

Nicht bloß Frau Kareno! Der Vogelausstopfer ist eine gänzlich episodische Person in dem<br />

Stück, und dennoch ist auch seine Gestalt so plastisch herausgearbeitet! Mit einem Wort, das<br />

erste Drama bestätigt aufs beste die alte Regel: das Werk lobt den Meister.<br />

Weshalb wird sie nicht durch das zweite Drama bestätigt? Stammt es denn nicht aus der Feder<br />

des gleichen hervorragenden Meisters?<br />

Um das zu beantworten, muß man den Schriftsteller Ivar Kareno kennenlernen, der die<br />

Hauptperson des zweiten Dramas ist, ähnlich wie seine Frau die Hauptrolle im ersten Drama<br />

spielt.<br />

Ich habe gesagt, daß er ein Buch schreibt, das seiner Meinung nach ungeheure Bedeutung<br />

hat. Ich habe mich nicht stark genug ausgedrückt. Kareno selbst drückt sich ungleich stärker<br />

aus. Ein Beispiel: „Heute nacht, während ich schrieb“, sagt er zu seiner Frau im 3. Aufzug,<br />

„zogen mir Gedanken wie Balken durchs Gehirn. Du solltest es nicht glauben, aber ich beantwortete<br />

alle Fragen und durchschaute das Dasein. Ich schrieb und schrieb. Mir war, als<br />

strömten mir große Kräfte zu“ (S. 70 [86]). Zur Lösung „aller Fragen“ sind allerdings große<br />

Kräfte nötig. Aber in welchem Sinne löst Ivar Kareno alle Fragen? Er drückt sich hierüber<br />

1 [Die Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Originalausgabe des Verlages Albert Langen, München<br />

1926, Elfter Band der Gesammelten Werke.]<br />

2

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!