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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

IX<br />

Was ist denn diese soziale Grundlage? Um sie zu finden, müssen zuerst die sozialpsychologischen<br />

Bedingungen des Erfolges Ibsens in den westeuropäischen Ländern festgestellt werden,<br />

in denen die soziale Entwicklung eine weit höhere Stufe erreicht hat als in Skandinavien.<br />

Brandes sagt: „Um außerhalb des eigenen Landes durchzudringen, bedarf es mehr als der Stärke<br />

des Talentes. Es muß außer dem Talent auch Empfänglichkeit dafür vorhanden sein. Unter seinen<br />

eigenen Landsleuten schafft der hervorragende Geist sich diese Empfänglichkeit entweder<br />

langsam selbst, oder er fühlt nervös voraus und benutzt die Strömungen in den Gemütern, die er<br />

vorfindet oder die unmittelbar kommen werden. Aber Ibsen konnte diese Empfänglichkeit innerhalb<br />

eines fremden Sprachkreises, der nichts von ihm wußte, nicht schaffen, und selbst wo er<br />

etwas Kommendes vorausgeahnt zu haben scheint, fand er früher keinen Anklang.“ 1<br />

Das ist vollkommen richtig. Talent allein genügt in solchen Fällen niemals. Die Einwohner<br />

des mittelalterlichen Rom brachten den Kunstwerken der antiken Welt nicht nur keine Verehrung<br />

entgegen, sondern sie verbrannten die alten Statuen, um Kalk daraus zu gewinnen. Dann<br />

brach aber eine andere Zeit an, da die Römer und überhaupt die Italiener sich für die antike<br />

Kunst zu begeistern anfingen und sich diese zum Muster nahmen. Während der langen Periode,<br />

da die Einwohner Roms – und nicht allein Roms – mit den großen Werken der antiken<br />

Skulptur so barbarisch umgingen, vollzog sich im inneren Leben der mittelalterlichen Gesellschaft<br />

ein allmählicher Prozeß, der ihre Struktur und infolgedessen auch die Ansichten, Gefühle<br />

und Sympathien ihrer Mitglieder auf das tiefste veränderte. Die Umgestaltung des Seins<br />

führte die Umgestaltung des Bewußtseins nach sich, und nur die letztere machte die Römer<br />

der Epoche der „Renaissance“ fähig, die Werke der antiken Kunst zu genießen – oder richtiger,<br />

nur die letztere machte die „Renaissance“ möglich.<br />

Überhaupt, wenn ein Künstler oder Schriftsteller eines Landes auf die Einwohner anderer<br />

Länder Einfluß gewinnen will, muß die Stimmung [922] dieses Künstlers oder Schriftstellers<br />

der Stimmung jener Ausländer entsprechen, die seine Werke lesen. Hieraus folgt, daß wenn<br />

Ibsens Einfluß sich weit über die Grenzen seiner Heimat erstreckt hat, seine Werke Eigenschaften<br />

besaßen, die der Stimmung des lesenden Publikums der heutigen zivilisierten Welt<br />

entsprachen. Welche Eigenschaften sind das nun?<br />

Brandes weist auf den Individualismus Ibsens hin, auf seine Verachtung der Majorität. Er sagt:<br />

„Der erste Schritt zu Freiheit und Größe ist, Person zu haben. Wer wenig Person hat, ist nur<br />

ein Bruchteil eines Menschen, wer gar keine hat, ist eine Null. Aber nur die Nullen sind sich<br />

gleich. Man hat im heutigen Deutschland von neuem Leonardo da Vincis Worte bestätigt:<br />

‚Alle Nullen der Welt sind, was ihren Inhalt und Wert anbetrifft, gleich einer einzigen Null.‘<br />

Hier allein ist das Gleichheitsideal erreicht. Und man glaubt nicht an das Gleichheitsideal in<br />

den denkenden Kreisen Deutschlands. Henrik Ibsen glaubt nicht daran. Man ist in Deutschland<br />

vielfach der Ansicht, daß nach der Zeit des Majoritätsglaubens die Zeit des Minoritätsglaubens<br />

kommen wird, und Ibsen ist der Mann des Minoritätsglaubens. Viele behaupten<br />

endlich, daß der Weg zum Fortschritt durch die Isolierung der einzelnen geht. Henrik Ibsen<br />

schlägt diesen Gedankengang ein.“ 2<br />

entwickelten Länder zum Meister des Dramas in der modernen Weltliteratur werden konnte. Brandes bemerkt<br />

mit Recht*‚ daß man Ibsens Erfolg im Ausland nicht allein mit seinem Talent erklären könne, obwohl die von<br />

Brandes selbst gegebene Erklärung gar nichts taugt.<br />

Nun, ich komme darauf noch zurück.<br />

* Siehe seinen obenerwähnten Aufsatz „Henrik Ibsen und seine Schule in Deutschland“.]<br />

1 Brandes’ Werke, Bd. I, S. 38.<br />

2 [Brandes’ Werke, Bd. I, S. 40.]<br />

33

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