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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

wir doch jetzt lange genug gekaut und wiedergekäut. Die Begriffe verlangen einen neuen<br />

Inhalt und eine neue Erklärung. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind nicht mehr dieselben<br />

Dinge, die sie in den Tagen der seligen Guillotine waren. Das ist es, was die Politiker<br />

nicht verstehen wollen, und darum hasse ich sie. Die Menschen wollen nur Spezialrevolutionen,<br />

Revo-[904]lutionen im Äußeren, im Politischen usw. Aber all dergleichen ist Lappalie.<br />

Worauf es ankommt, das ist die Revolutionierung des Menschengeistes.“ 1<br />

Die Gegenüberstellung politischer und anderer (vermutlich sozialer) Revolutionen, die sich<br />

nicht mit oberflächlichen Einzelheiten begnügen, ist unhaltbar. Die Französische Revolution,<br />

die Ibsen hier erwähnt, war gleichzeitig eine politische und eine soziale. Und das muß von<br />

jeder gesellschaftlichen Bewegung gesagt werden, die den Namen einer revolutionären verdient.<br />

Doch das ist hier nicht die Hauptsache. Von Bedeutung ist hier, daß die angeführten<br />

Zeilen besser als alles andere Ibsens negatives Verhalten zu den Politikern charakterisieren.<br />

Er haßt sie, weil sie die „Brosamen“ vom Tisch der großen Französischen Revolution wiederkäuen;<br />

er haßt sie, weil sie nicht weiter gehen wollen, weil ihr Blick nicht weiter als bis<br />

zur Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens dringt. Das ist genau dasselbe, was die westeuropäischen<br />

Sozialdemokraten den kleinbürgerlichen Politikern um Vorwurf machen (die politischen<br />

Vertreter der westeuropäischen Großbourgeoisie erwähnen irgendwelche „Revolutionen“<br />

schon gar nicht mehr). Und soweit Ibsen gegen diese Politiker diesen Vorwurf erhebt,<br />

ist er vollkommen im Recht, und soweit zeugt seine Gleichgültigkeit gegen die Politiker nur<br />

von der Hoheit seiner eigenen Bestrebungen und der Stärke seiner Persönlichkeit. Doch dabei<br />

glaubte er, daß es andere Politiker überhaupt nicht geben könne als solche, wie er sie in seiner<br />

kleinbürgerlichen Heimat damals kennengelernt hatte, als sich seine Ansichten bildeten. Damit<br />

irrte er natürlich gewaltig, und sein Haß gegen die Politiker zeugt nur von der Beschränktheit<br />

seines eigenen Horizonts. Er vergißt, daß auch die Helden der großen Revolution<br />

Politiker waren und daß sich ihre heldenhaften Taten auch auf dem Gebiete der Politik abspielten.<br />

Der Schlußakkord ist auch hier wie überall bei Ibsen die „Empörung des Menschengeistes“<br />

im Interesse der Empörung des Menschengeistes selber, die Begeisterung für die Form, unabhängig<br />

von ihrem Inhalt.<br />

V<br />

Ich sagte, daß das negative Verhalten Ibsens zur Politik unter den erwähnten Bedingungen<br />

von der Hoheit seiner eigenen Bestrebungen zeugt. Doch diese Eigenschaft ist es auch, die<br />

ihn in jene endlosen Widersprüche verwickelt, die ich zum Teil schon berührte, zum Teil<br />

noch anführen werde.<br />

[905] Die tiefste Tragik seines Loses bestand darin, daß er, dieser gediegene, charakterfeste<br />

Mann, der höher als alles die Konsequenz stellte, dazu verurteilt war, sich in stete Widersprüche<br />

zu verwickeln.<br />

Ibsen sagte übrigens selbst einmal im Freundeskreis: „Haben Sie schon je einen Gedanken zu<br />

Ende gedacht, ohne auf einen Widerspruch zu stoßen?“ 2 Man muß leider annehmen, daß dies<br />

Ibsen selbst nur äußerst selten gelang.<br />

Alles fließt, alles ändert sich, und jedes Ding trägt den Keim seines Vergehens schon in seinem<br />

Wesen in sich. Die Widerspiegelung dieses Laufes der Dinge in den Menschenköpfen<br />

bedingt, daß jeder Begriff den Keim seiner Negation schon in sich trägt. Das ist die natürliche<br />

Dialektik der Begriffe, die auf der natürlichen Dialektik der Dinge beruht. Sie verwirrt denje-<br />

1 [Henrik Ibsens sämtliche Werke, Berlin, S. Fischer, Zehnter Band, S. 156.]<br />

2 Rudolph Lothar, „Ibsen“, S. 32.<br />

21

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