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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 23.07.2013<br />

die in Schlingen geraten, in der Beseitigung aller Spuren von Schwachheit und Faulheit, mit<br />

anderen Worten: in der Bekehrung aller Menschen zur Loslösung von den Banden [878] des<br />

Kompromisses. Und was dann? Das weiß weder Brand noch Ibsen selbst. Infolgedessen wird<br />

der Kampf mit dem Kompromiß zum Selbstzweck und somit zwecklos, während die Schilderung<br />

dieses Kampfes im Drama – der Zug, den Brand und die ihm nachfolgende Menge „durch<br />

die Wüste des Gebirges“ unternimmt – nichts Künstlerisches an sich hat, ja beinahe antiästhetisch<br />

wirkt. Ich weiß nicht, welchen Eindruck dieser Zug auf andere gemacht hat, mir wenigstens<br />

hat er Don Quichotte ins Gedächtnis gerufen, denn die skeptischen Bemerkungen, die von<br />

der müden Menge Brand zugerufen werden, sehen jenen sehr ähnlich, die Sancho Pansa seinem<br />

ritterlichen Herrn zu hören gab. Der Unterschied ist nur der, daß Cervantes lacht, während Ibsen<br />

predigt, was den Vergleich gerade nicht zugunsten des letzteren ausfallen läßt.<br />

Ibsen wirkt anziehend durch seine „sittliche Unruhe“, durch sein Interesse für Gewissensfragen,<br />

durch den sittlichen Charakter seiner Predigt. Doch ist seine Moral ebenso abstrakt und<br />

infolgedessen ebenso inhaltlos wie die Kants.<br />

Kant sagt, daß in den Fällen, wo man an die Logik die Frage richtet, was wahr ist, und sich<br />

bemüht, von ihr eine Antwort zu erlangen, eine komische Situation entsteht, die dem Bilde<br />

jener beiden Leute gleicht, von denen der eine einen Ziegenbock melkt, und zwar in ein Sieb,<br />

das ihm der andere hinhält.<br />

In bezug auf diese Frage bemerkt Hegel zutreffend, daß genau dasselbe Bild entstehen würde,<br />

wenn Leute an die reine praktische Vernunft die Frage richteten, was Recht und Pflicht ist,<br />

und mit Hilfe derselben Vernunft darauf antworten wollten.<br />

Kant sah das Kriterium des sittlichen Gesetzes nicht im Inhalt, sondern in der Form des Willens,<br />

nicht darin, was wir wollen, sondern wie wir wollen. Ein solches Gesetz ist leer.<br />

Nach den Worten Hegels sagt ein solches Gesetz nicht, „was unter allen Umständen zu wollen<br />

und zu tun ist, sondern was nicht; es ist nicht positiv absolut, sondern ‚negativ absolut‘,<br />

ganz unbestimmt oder ‚unendlich‘; das Sittengesetz muß seinem Wesen nach absolut und<br />

positiv sein: darum ist das Kantische Sittengesetz nicht sittlich“. 1<br />

Ebenso wie dieses ist auch das von Brand gepredigte Sittlichkeitsgesetz jedes sittlichen Inhalts<br />

bar. Dank seiner Leere erweist es sich als ein vollkommen unmenschliches Gesetz, das<br />

deutlich zum Beispiel in der Szene zutage tritt, wo Brand von seiner Frau verlangt, daß sie<br />

sich aus Wohltätigkeitsgründen von dem Häubchen trenne, das ihr Kind in seinen [879] Sterbestunden<br />

getragen und das sie auf ihrer Brust aufbewahrte und mit ihren Tränen benetzte.<br />

Wenn Brand dieses Gesetz predigt, das eben wegen seiner Inhaltlosigkeit unmenschlich ist,<br />

ist er daran, den Ziegenbock zu melken; und wenn Ibsen uns dieses Gesetz in einer Gestalt<br />

verkörpert vor Augen führt, gleicht er jenem Manne, der das Sieb hinhält, um beim Melken<br />

des Ziegenbocks behilflich zu sein.<br />

Man könnte mir hier entgegenhalten, daß Ibsen selbst eine wichtige Korrektur in die Predigt<br />

seines Helden hineingetragen hat. Wie Brand stirbt, von der stürzenden Lawine verschüttet,<br />

ruft „eine Stimme“ von oben ihm zu, daß Gott ein Gott der Barmherzigkeit (deus caritatis)<br />

sei. Diese Korrektur ändert jedoch am Sachverhalt nichts. Das sittliche Gesetz bleibt in den<br />

Augen Ibsens trotzdem Selbstzweck. Und wenn unser Autor hier einen Helden vorgeführt<br />

hätte, der Barmherzigkeit predigte, so wäre dessen Predigt nicht weniger abstrakt gewesen als<br />

die des Brand. Er hätte bloß eine neue Abart desselben Typus dargestellt, zu welchem sowohl<br />

Baumeister Solneß und Bildhauer Rubeck („Wenn wir Toten erwachen“), wie auch Rosmer<br />

und sogar der sterbende bankrotte Kaufmann John Gabriel Borkmann gehören.<br />

1 Vgl. Kuno Fischer, „Geschichte der neueren Philosophie“, Bd. VIII, Petersburg 1902, S. 279/280.<br />

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