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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

[863]<br />

Aus den Erinnerungen an A. N. Skrjabin*<br />

Brief an Doktor W. W. Bogorodski<br />

San Remo, 9. Mai n. St. 1916<br />

Hochverehrter Wladimir Wassiljewitsch, es hat mich überaus gefreut, aus Ihrem liebenswürdigen<br />

Schreiben zu erfahren, daß Alexander Nikolajewitsch Skrjabin mich in guter Erinnerung<br />

behalten hat. Nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank entgegen für diese mir so wertvolle<br />

Mitteilung.<br />

Mein Lebensweg war so ganz anders als der, den mit solchem Erfolg – wenn auch leider nur<br />

kurze Zeit – Alexander Nikolajewitsch Skrjabin gegangen ist. Meine Begegnung mit ihm fällt<br />

erst in die Jahre 1906/1907, die zu denen gehören, die er im Ausland verbrachte. Und, ehrlich<br />

gesagt, bei uns waren viele Voraussetzungen da, gleich nach der ersten Begegnung für immer<br />

beinahe als Feinde auseinanderzugehen. Wir hielten beide sehr viel von Theorie und pflegten<br />

unsere Ansichten mit jenem manchmal in Heftigkeit übergehenden Nachdruck zu verteidigen,<br />

über den sich westliche Menschen so sehr wundern oder zum Teil auch entsetzen. Obendrein<br />

waren unsere Weltanschauungen einander diametral entgegengesetzt: er hielt hartnäckig am<br />

Idealismus fest; ich vertrat mit derselben Hartnäckigkeit den materialistischen Standpunkt.<br />

Dieser Grundgegensatz der Ausgangspunkte bedingte natürlich Meinungsverschiedenheiten<br />

auch in vielen, vielen anderen Fragen, zum Beispiel in den Fragen der Ästhetik und der Politik.<br />

Man muß bemerken, daß sich Alexander Nikolajewitsch, wenigstens damals, für das gesellschaftliche<br />

Leben der heutigen zivilisierten Welt im allgemeinen und Rußlands im besonderen<br />

lebhaft interessierte. Nach seiner wundervollen Gewohnheit versuchte er, auch das stets vom<br />

theoretischen Standpunkt zu betrachten. Seine Ansicht über den historischen Entwicklungsgang<br />

der Menschheit stand der Ansicht Carlyles nahe, der dem Wirken der „Helden“ entscheidende<br />

Bedeutung beimaß. Ich war der Ansicht, daß diese Anschauung die tiefsten Ursachen der genannten<br />

Entwicklung nicht in gebührender Weise berücksichtige. Dies – gar nicht zu reden von<br />

den oben erwähnten grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten auf dem Gebiete der „ersten<br />

[864] Fragen“ – genügte vollauf, es zwischen uns zu heftigen Disputen kommen zu lassen.<br />

Und wirklich gerieten wir fast sofort, nachdem wir einander in Boliasco (bei Genua) vorgestellt<br />

worden waren (in der Villa Kobyljanski), miteinander in heftigen Streit. Dieser erste Zusammenstoß<br />

war keineswegs der letzte. Wir stritten bei jeder Zusammenkunft. Aber zu meiner<br />

größten Genugtuung entfremdeten uns die Auseinandersetzungen nicht nur nicht einander, sie<br />

trugen sogar viel zu unserer gegenseitigen Annäherung bei.<br />

Es gibt Menschen, die die Meinung ihres Gegners bestreiten, ohne weder die Meinung selbst<br />

noch die Beweisgründe zu verstehen, die der Gegner zu ihrer Verteidigung anführt. Ein Streit<br />

mit solchen Leuten ist schlimmer als Zahnschmerzen. Mit Alexander Nikolajewitsch dagegen<br />

war es sehr angenehm zu streiten, weil er die Fähigkeit besaß, die Ideen seines Gegners wunderbar<br />

rasch und vollständig zu erfassen. Dank dieser seiner wertvollen – und, es ist hinzuzufügen,<br />

äußerst seltenen – Fähigkeit enthob er seinen Gesprächspartner nicht nur der traurigen Notwendigkeit<br />

stets langweiliger Wiederholungen, sondern nahm sozusagen selbst aktiven Anteil an<br />

seinem Bestreben, alle starken Seiten seiner Position auszunutzen. Wo gemeinschaftliche Arbeit<br />

des Geistes ist, entsteht unbedingt gegenseitige Sympathie. Wahrscheinlich kamen Skrjabin und<br />

ich um so mehr einander nahe, je mehr sich zeigte, wie unendlich groß die Summe unserer Meinungsverschiedenheiten<br />

war. Jedesmal, wenn ich mit ihm zusammenkommen sollte, wußte ich<br />

im voraus, daß wir streiten würden. Ich will noch mehr sagen: ich wußte im voraus, daß gerade<br />

er mich zum „Kampf“ herausfordern würde. Ich wußte auch ganz sicher im voraus; daß es ein-<br />

* Anmerkungen zu: Aus den Erinnerungen an A. N. Skrjabin (S. 863-866) am Ende des Kapitels.<br />

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