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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 [859] Drei Briefe G. W. Plechanows an A. M. Gorki* I 21. Dezember 1911 Hochverehrter und mir stets teurer – wenn auch persönlich wenig bekannter – Alexej Maximowitsch, Sie haben mir Ihren Brief und Ihr Buch 1* nach Genf geschickt, aber ich verbringe den Winter nun schon das zweite Jahr an der italienischen Riviera. Und so habe ich sie etwas verspätet bekommen. Schließlich haben sie mich doch erreicht, und Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich gefreut habe. Ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie an mich gedacht haben. Ihre Werke lese ich stets, sobald sie nur erschienen sind. Aber diesmal war ich noch nicht dazu gekommen, den Schluß von „Koshemjakin“ zu lesen. Um so angenehmer, ihn durch das Exemplar, das Sie mir geschickt haben, kennenzulernen. Nochmals vielen Dank. Sie wollen meine Meinung über Ihre Arbeit wissen? Hier ist sie. Nachdem Puschkin das ihm von Gogol überbrachte Manuskript der „Toten Seelen“ im ersten Entwurf gelesen hatte, rief er aus: „Mein Gott, wie traurig ist es doch in Rußland!“ Das gleiche wird jeder ernsthafte Leser von sich aus sagen müssen, wenn er seine Betrachtungen über „Koshemjakin“ anstellt: „Traurig ist es in Rußland!“ Und dieser Eindruck der Traurigkeit, tiefer, aufwühlender Traurigkeit hält noch lange an, nachdem man das Buch gelesen hat. Ich wenigstens konnte diesen Eindruck lange nicht loswerden. Auch wenn ich jetzt an „Koshemjakin“ denke, sage ich noch: „Traurig ist es in Rußland!“ Dieser Eindruck der Traurigkeit ist nun nicht die Schuld des Verfassers, er ist sein großes Verdienst: das Thema, das er darzustellen unternommen hat, ist doch unsagbar traurig. In seinem Buch haben wir es mit demselben finsteren Milieu zu tun, mit demselben „finsteren Reich“, das schon Ostrowski dargestellt hat. Dobroljubow glaubte, dieses finstere Reich sei schon zu Ende, aber es hat fünfzig Jahre nach seinem Tode noch weiterbestanden, und es besteht auch jetzt noch weiter und hängt wie ein Bleigewicht an den Füßen des russischen [860] Volkes. Aber die Geschichte läßt dieses Reich nicht in Ruhe, sie durchdringt es mit den Mikroben des Denkens, die Gärung und Zersetzung hervorrufen. Und gerade im „Koshemjakin“ ist dieser Gärungsprozeß dargestellt, und zwar dargestellt von Meisterhand. Wer diesen Prozeß kennenlernen will, wird den „Koshemjakin“ lesen müssen, wie der einige Werke von Balzac gelesen haben muß, der die Geistesverfassung der französischen Gesellschaft zur Zeit der Restauration und Louis-Philippes kennenlernen will. Da das so ist – und ich bin gewiß, daß es so ist –‚ kann der Verfasser auf sein Werk stolz sein. Unsere Kritik hat den „Koshemjakin“ nicht sehr gnädig aufgenommen. Nun, sie kann es Ihnen eben nicht verzeihen, daß Sie Sozialist sind. Sie sang Ihnen ein begeistertes Loblied, solange sie noch glaubte, aus Ihnen werde ein Künstler im Geiste Nietzsches hervorgehen. Als sie aber sah, wie Sie die Grenze des Nietzscheanismus überschritten, wurde sie böse, war gekränkt und hub an, das „Ende Gorkis“ 2* zu beklagen. Auf all das können Sie wiederum nur stolz sein. Was die Einzelheiten betrifft, so will ich auf einen psychologischen Zug Ihres Helden hinweisen, der ihn als einen Herrn zeigt, der einfach nicht verstehen kann, wie die Leute ihn mit seinem Arbeiter oder Hausknecht Maxim – das ist ganz gleich – auf eine Stufe stellen können. Das ist ein Zug, der für den, der sich mit Sozialpsychologie beschäftigt, sehr wichtig ist. * Anmerkungen zu: Drei Briefe &. W. Plechanows an A. M. Gorki (S. 859-862) am Ende des Kapitels. 1* Weder der Brief noch das Buch, das M. Gorki geschickt hatte, sind im persönlichen Archiv Plechanows vorhanden. 2* Plechanow meint den Aufsatz von D. Philosophoff, der in der Zeitschrift „Russkaja Mysl“ (1907, Nr. 4) unter dem Titel „Das Ende Gorkis“ gedruckt wurde. 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen meinerseits den Anfang meines Aufsatzes über Herzen 1* schicke. Der Schluß erscheint in der Dezembernummer des „Sowremenny Mir“. Sie werden daraus ersehen, daß mich die Fragen der Sozialpsychologie sehr interessieren. Schreiben Sie mir doch bitte, ob Sie finden, daß in meinen Betrachtungen etwas Richtiges ist. Ihre Meinung wird für mich große Bedeutung haben. Und überhaupt: Wenn Sie Ihren Partei- und Exilgenossen und zugleich leidenschaftlichen Verehrer G. Plechanow nicht vergessen, wird er Ihnen sehr, sehr dankbar sein. PS. Ich hoffe, daß Brief und Aufsatz trotz der Kürze der Adresse ankommen werden. G. Plechanow PS. Meine Adresse ist hier gedruckt 2 . Sicherheitshalber können Sie nach San Remo noch hinzufügen: Provincia de Porto Maurizio. [861] II G. P. San Remo, 2. Juli 1913 Hochverehrter und teurer Alexej Maximowitsch! Lassen Sie mich vor allem Ihnen beiden für die bezaubernde (wirklich bezaubernde!) Gastfreundschaft danken, mit der Sie uns bei sich auf Capri aufgenommen haben. Meine Frau sagt, von allen Eindrücken unserer Reise nach Süditalien sei der angenehmste und stärkste Eindruck der gewesen, den uns unser Besuch bei Ihnen verschafft hat. Ich stimme ihr zu. Ich habe viele Menschen gesehen, aber selten habe ich aus den Begegnungen mit ihnen einen solchen Vorrat an frischem Mut mitgenommen wie aus meiner letzten Begegnung mit Ihnen. Bleiben Sie nur gesund, das ist alles, was man Ihnen wünschen kann – das andere haben Sie: Talent, Bildung, Energie, einen lichten Glauben an die Zukunft und alle übrigen ähnlichen unschätzbaren Güter. Mögen Sie noch recht, recht lange leben und unsere schöne Literatur durch Ihre Werke bereichern. Die „Aufzeichnungen eines Passanten“ und den „Brotherrn“ habe ich erhalten. Besten Dank. In den nächsten Tagen will ich sie lesen. Bisher bin ich nicht dazu gekommen, denn ich war mit Arbeit überhäuft, die keinen Aufschub duldete. Es ist meinem Brief bestimmt, mich in ihm immer und immer wieder „bedanken“ zu müssen. Nochmals vielen Dank für die Bücher, die Sie mir freundlichst zum Lesen überlassen haben, ich werde sie so bald wie möglich zurücksenden. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir auch „Die Memoiren von Sheljabushski“ 3* leihen wollten; wenn ich mich nicht irre, haben Sie dieses Buch. Ich drücke Ihnen beiden kräftig die Hand. Meine Frau läßt Sie und Jekaterina Pawlowna herzlichst grüßen. Sie wird demnächst von sich aus an Ihre Gemahlin schreiben. – Ihr ergebenster Georgi Plechanow NB: Auf Wiedersehen. 1* Plechanow sandte M. Gorki seinen Aufsatz „A. I. Herzen und die Leibeigenschaft“, gedruckt in der Zeitschrift „Sowremenny Mir“ (1911, Nr. 11, November; siehe Gesamtausgabe der Werke Plechanows, Bd. XXIII). 2 Der Brief ist auf einem Briefbogen geschrieben mit dem Aufdruck: „Le Repos“, Villa Vittoria 2. San Remo. Dr. M. Bograde – Plekhanoff. Die Red. 3* „Die Memoiren von Sheljabushski“ von Iwan Afanasjewitsch Sheljabushski (1638-1709), einem Moskauer Höfling, der eine inhaltlich interessante Schilderung der Zeit Peters des Großen gegeben hat. Es gibt zwei Ausgaben der „Memoiren“: die von F. Tumanski (1832) und die von M. Jasykow (St. Petersburg 1840). 2

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

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Drei Briefe G. W. Plechanows an A. M. Gorki*<br />

I<br />

21. Dezember 1911<br />

Hochverehrter und mir stets teurer – wenn auch persönlich wenig bekannter – Alexej Maximowitsch,<br />

Sie haben mir Ihren Brief und Ihr Buch 1* nach Genf geschickt, aber ich verbringe<br />

den Winter nun schon das zweite Jahr an der italienischen Riviera. Und so habe ich sie etwas<br />

verspätet bekommen. Schließlich haben sie mich doch erreicht, und Sie können sich nicht<br />

vorstellen, wie ich mich gefreut habe. Ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie an mich gedacht<br />

haben. Ihre Werke lese ich stets, sobald sie nur <strong>erschien</strong>en sind. Aber diesmal war ich noch<br />

nicht dazu gekommen, den Schluß von „Koshemjakin“ zu lesen. Um so angenehmer, ihn<br />

durch das Exemplar, das Sie mir geschickt haben, kennenzulernen. Nochmals vielen Dank.<br />

Sie wollen meine Meinung über Ihre Arbeit wissen? Hier ist sie.<br />

Nachdem Puschkin das ihm von Gogol überbrachte Manuskript der „Toten Seelen“ im ersten<br />

Entwurf gelesen hatte, rief er aus: „Mein Gott, wie traurig ist es doch in Rußland!“ Das gleiche<br />

wird jeder ernsthafte Leser von sich aus sagen müssen, wenn er seine Betrachtungen über<br />

„Koshemjakin“ anstellt: „Traurig ist es in Rußland!“ Und dieser Eindruck der Traurigkeit, tiefer,<br />

aufwühlender Traurigkeit hält noch lange an, nachdem man das Buch gelesen hat. Ich wenigstens<br />

konnte diesen Eindruck lange nicht loswerden. Auch wenn ich jetzt an „Koshemjakin“<br />

denke, sage ich noch: „Traurig ist es in Rußland!“ Dieser Eindruck der Traurigkeit ist nun nicht<br />

die Schuld des Verfassers, er ist sein großes Verdienst: das Thema, das er darzustellen unternommen<br />

hat, ist doch unsagbar traurig. In seinem Buch haben wir es mit demselben finsteren<br />

Milieu zu tun, mit demselben „finsteren Reich“, das schon Ostrowski dargestellt hat. Dobroljubow<br />

glaubte, dieses finstere Reich sei schon zu Ende, aber es hat fünfzig Jahre nach seinem<br />

Tode noch weiterbestanden, und es besteht auch jetzt noch weiter und hängt wie ein Bleigewicht<br />

an den Füßen des russischen [860] Volkes. Aber die Geschichte läßt dieses Reich nicht in<br />

Ruhe, sie durchdringt es mit den Mikroben des Denkens, die Gärung und Zersetzung hervorrufen.<br />

Und gerade im „Koshemjakin“ ist dieser Gärungsprozeß dargestellt, und zwar dargestellt<br />

von Meisterhand. Wer diesen Prozeß kennenlernen will, wird den „Koshemjakin“ lesen müssen,<br />

wie der einige Werke von Balzac gelesen haben muß, der die Geistesverfassung der französischen<br />

Gesellschaft zur Zeit der Restauration und Louis-Philippes kennenlernen will. Da das<br />

so ist – und ich bin gewiß, daß es so ist –‚ kann der Verfasser auf sein Werk stolz sein.<br />

Unsere Kritik hat den „Koshemjakin“ nicht sehr gnädig aufgenommen. Nun, sie kann es Ihnen<br />

eben nicht verzeihen, daß Sie Sozialist sind. Sie sang Ihnen ein begeistertes Loblied, solange<br />

sie noch glaubte, aus Ihnen werde ein Künstler im Geiste Nietzsches hervorgehen. Als sie aber<br />

sah, wie Sie die Grenze des Nietzscheanismus überschritten, wurde sie böse, war gekränkt und<br />

hub an, das „Ende Gorkis“ 2* zu beklagen. Auf all das können Sie wiederum nur stolz sein. Was<br />

die Einzelheiten betrifft, so will ich auf einen psychologischen Zug Ihres Helden hinweisen, der<br />

ihn als einen Herrn zeigt, der einfach nicht verstehen kann, wie die Leute ihn mit seinem Arbeiter<br />

oder Hausknecht Maxim – das ist ganz gleich – auf eine Stufe stellen können. Das ist ein<br />

Zug, der für den, der sich mit Sozialpsychologie beschäftigt, sehr wichtig ist.<br />

* Anmerkungen zu: Drei Briefe &. W. Plechanows an A. M. Gorki (S. 859-862) am Ende des Kapitels.<br />

1* Weder der Brief noch das Buch, das M. Gorki geschickt hatte, sind im persönlichen Archiv Plechanows vorhanden.<br />

2* Plechanow meint den Aufsatz von D. Philosophoff, der in der Zeitschrift „Russkaja Mysl“ (1907, Nr. 4) unter<br />

dem Titel „Das Ende Gorkis“ gedruckt wurde.<br />

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