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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 alten Übel ein neues hinzufügen. Diese Argumentation ist für den Grafen L. Tolstoi überaus charakteristisch. Die Gewaltanwendung gegenüber dem Übel erscheint unserem aristokratischen „Lehrer der Lebensweisheit“ in Gestalt der Todesstrafe für einen begangenen Mord: Mord + Mord = zweimal Mord. In einer allgemeinen Formel ausgedrückt, ergibt das: Gewalt + Gewalt = zweimal Gewalt. Und dann – neuer Mord und neue Todesstrafe, [857] d. h. noch ein weiterer Mord. Das Übel wird hier durch die Gewalt nicht beseitigt – das ist richtig. Warum ist das aber so? Weil die Kriminalität einer Gesellschaft von ihrer Organisation abhängt und weil, solange sich diese Organisation nicht geändert oder wenigstens nicht in gewisser Hinsicht mildere Formen angenommen hat, kein Grund für einen Rückgang der Kriminalität besteht. Jetzt muß man sich fragen: Verändert der Henker die gesellschaftliche Organisation? Bestimmt nicht. Der Henker ist kein Revolutionär und auch kein Reformator; er ist vornehmlich Bewahrer. Es wäre doch seltsam, von der Henkersgewalt eine Verringerung des Übels zu erwarten, das sich im Verbrechertum äußert. Und wenn die Gewalt in der gesellschaftlichen Organisation eine Wendung zum Besseren brächte, wenn sie einen beträchtlichen Teil der Ursachen beseitigte, durch die das Verbrechertum hervorgerufen wird, so würde sie nicht zu einer Vermehrung, sondern zu einer Verringerung des Übels führen. Hier fällt die ganze Beweisführung des Grafen Tolstoi wie ein Kartenhaus zusammen, sobald wir den Standpunkt der Vergeltung für Verbrechen aufgeben und zum Standpunkt der gesellschaftlichen Organisation übergehen. Aber Graf Tolstoi hat niemals verstanden, sich diesen Standpunkt zu eigen zu machen: er ist zu sehr vom aristokratischen Konservatismus durchdrungen. Aber die Proletarier, wie Lewschin und seine Genossen, sind schon durch ihre soziale Stellung gezwungen, sich diesen Standpunkt zu eigen zu machen: denn sie haben bekanntlich nichts zu verlieren als ihre Ketten und durch die zweckmäßige Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung die ganze Welt zu gewinnen. Der Standpunkt der gesellschaftlichen Umgestaltung ist der Standpunkt, zu dem sie instinktiv hinneigen, bevor sie lernen, ihn verstandesmäßig zu begreifen. Ihr Blick wird durch ihre soziale Stellung nicht beengt, sondern erweitert. Und so fällt es ihnen nicht schwer, die kalte Immoralität der Tolstoischen Moral zu verstehen. Und darum hat ihre Menschenliebe vor allem aktiven Charakter. Sie fühlen sich verpflichtet, das Übel zu beseitigen, nicht aber sich der Teilnahme zu enthalten. „Meine Liebe! Alle bringen wir um! Die einen schießen wir nieder, andere bringen wir mit Worten um; alle bringen wir um mit dem, was wir tun. Wir hetzen einen Menschen und bringen ihn ins Grab und sehen es nicht und fühlen es nicht... uns hetzt man doch auch so, und uns steht das Grab noch bevor...“ So spricht Lewschin zu Nadja. Können Sie behaupten, dies sei nicht wahr? Können Sie sagen, das alles geschehe nicht wegen der „Kopeke“? Wenn Sie das nicht können, wenn Lewschin recht hat, wenn er sagt, daß „wir alle umbringen“, so ist der Verzicht auf Gewaltanwendung gegenüber dem Übel, eine der Formen der indirekten Unterstützung der [858] bestehenden Ordnung, selbst eine Form der indirekten Beteiligung an der Gewalt. Die Moralisten mit der Geistesverfassung der Menschen, aus den „höheren Gesellschaftsklassen“ können sich mit der Erwägung trösten, daß diese Beteiligung an der Gewalt immerhin nur indirekten Charakter habe. Das so feinfühlige Gewissen von Menschen wie Lewschin kann in einer solchen Erwägung keine Befriedigung finden. Die Moralisten aus den „höheren Gesellschaftsklassen“ sagen: Geh dem Übel aus dem Wege, dann wirst du das Gute schaffen. Die Moral des Proletariats sagt: „Indem du dem Übel aus dem Weg gehst, erhältst du doch weiterhin sein Bestehen aufrecht; man muß das Übel vernichten, um das Gute zu schaffen.“ Dieser Unterschied in der Moral wurzelt in der Verschiedenheit der sozialen Stellung. Maxim Gorki hat uns in der Person Lewschins eine anschauliche Illustration der von mir erwähnten Seite der proletarischen Moral gegeben. Und das allein würde schon genügen, sein neues Stück ein bemerkenswertes Kunstwerk werden zu lassen. 14

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 Man sagt, in Berlin habe dieses Werk keinen Erfolg gehabt, während das Drama „Nachtasyl“ doch recht viele Vorstellungen erlebt habe. Das wundert mich durchaus nicht: Der gut dargestellte Lumpenproletarier mag den bürgerlichen Kunstliebhaber interessieren; der gut dargestellte klassenbewußte Arbeiter muß in ihm eine ganze Reihe unangenehmster Vorstellungen hervorrufen. Was aber die Berliner Proletarier betrifft, so war ihnen in diesem Winter nicht danach, ins Theater zu gehen. Der bürgerliche Kunstliebhaber mag sich über Gorkis Werke lobend oder abfällig äußern soviel er will. Die Tatsache bleibt bestehen. Von dem Künstler Gorki, von dem verstorbenen Künstler G. I. Uspenski kann der gelehrteste Soziologe vieles lernen. In ihnen steckt eine ganze Offenbarung. Und welche Sprache alle diese Proletarier Gorkis sprechen! Hier ist alles gediegen, denn hier ist nichts künstlich Erdachtes, sondern alles ist „echt“. Puschkin hatte unseren Schriftstellern einst geraten, die russische Sprache bei den Moskauer Hostienbäckerinnen zu lernen. Maxim Gorki, der Proletarier-Künstler, an dessen Wiege keine ausländischen „Bonnen“ standen, hat keine Not, dem Puschkinschen Rate zu folgen. Er beherrscht, auch ohne Hostienbäckerinnen, die große, reiche und mächtige russische Sprache wundervoll. 15

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Man sagt, in Berlin habe dieses Werk keinen Erfolg gehabt, während das Drama „Nachtasyl“<br />

doch recht viele Vorstellungen erlebt habe. Das wundert mich durchaus nicht: Der gut dargestellte<br />

Lumpenproletarier mag den bürgerlichen Kunstliebhaber interessieren; der gut dargestellte<br />

klassenbewußte Arbeiter muß in ihm eine ganze Reihe unangenehmster Vorstellungen<br />

hervorrufen. Was aber die Berliner Proletarier betrifft, so war ihnen in diesem Winter<br />

nicht danach, ins Theater zu gehen.<br />

Der bürgerliche Kunstliebhaber mag sich über Gorkis Werke lobend oder abfällig äußern<br />

soviel er will. Die Tatsache bleibt bestehen. Von dem Künstler Gorki, von dem verstorbenen<br />

Künstler G. I. Uspenski kann der gelehrteste Soziologe vieles lernen. In ihnen steckt eine<br />

ganze Offenbarung.<br />

Und welche Sprache alle diese Proletarier Gorkis sprechen! Hier ist alles gediegen, denn hier<br />

ist nichts künstlich Erdachtes, sondern alles ist „echt“. Puschkin hatte unseren Schriftstellern<br />

einst geraten, die russische Sprache bei den Moskauer Hostienbäckerinnen zu lernen. Maxim<br />

Gorki, der Proletarier-Künstler, an dessen Wiege keine ausländischen „Bonnen“ standen, hat<br />

keine Not, dem Puschkinschen Rate zu folgen. Er beherrscht, auch ohne Hostienbäckerinnen,<br />

die große, reiche und mächtige russische Sprache wundervoll.<br />

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