18.09.2015 Views

erschien nennen menschenähnlichen

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

SHOW MORE
SHOW LESS
  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

Spott: „Du, Jefimytsch, du streust den Samen auch auf steinigen Boden... Sonderling... Deine<br />

Mühe ist umsonst... Wird man denn das verstehen? Die Seele des Arbeiters wird es verstehen,<br />

aber für das Herz der feinen Leute taugt das nicht.“ Aber er geht auf diesen Beweisgrund<br />

nicht ein: „Seele hin, Seele her“, sagt er, „es dreht sich bei [851] allen doch immer nur um<br />

eines.“ Er ist – anscheinend ehe er noch mit den Sozialisten zusammenkam – zu der festen<br />

Schlußfolgerung gelangt, daß das Übel nicht bei den Menschen liege, sondern eben bei der<br />

„Kopeke“. Seine einfache, aber originelle und von tiefem menschlichen Gefühl bewegte Lebensanschauung<br />

kam in seinem Gespräch mit Nadja und der uns schon bekannten Schauspielerin<br />

Tatjana Lugowaja deutlich zum Ausdruck.<br />

Nach der Tötung Michail Skrobotows, während der Leichnam in Erwartung des Begräbnisses<br />

und – der gerichtlichen Untersuchung zu Hause liegt, erkundigt sich die überaus sensible<br />

Nadja bei Tatjana: „Tante Tanja! Wenn im Haus ein Toter ist, warum sprechen da alle so<br />

leise?“ Tatjana antwortet: „Das weiß ich nicht.“ Aber Lewschin, der bei der Leiche Wache<br />

halten muß, ist schnell mit seiner traurigen Erklärung bei der Hand:<br />

Lewschin (mit einem Lächeln): Deshalb, mein Fräulein, weil wir dem Toten gegenüber schuldig sind, ganz und gar<br />

schuldig.<br />

Nadja: Aber doch nicht immer, Jefimytsch, bringt man die Menschen ... so wie hier... um... Bei jedem Toten<br />

spricht man leise...<br />

Lewschin: Meine Liebe! Alle bringen wir um! Die einen schießen wir nieder, andere bringen wir mit Worten um;<br />

alle bringen wir um mit dem, was wir tun. Wir hetzen einen Menschen und bringen ihn ins Grab und sehen es nicht<br />

und fühlen es nicht ... aber wenn wir einen Menschen schnell zum Tode bringen, dann werden wir uns unserer<br />

Schuld vor ihm bewußt. Dann tut uns der Tote leid, dann schämen wir uns vor ihm, und dann ist uns schrecklich<br />

zumute ... uns hetzt man doch auch so, und uns steht das Grab noch bevor!<br />

Nadja: Das, das – ist ja schrecklich!<br />

Lewschin: Das tut nichts! Jetzt ist es schrecklich, aber morgen ist es schon vorbei. Und dann stoßen sich die Menschen<br />

wieder von neuem herum ... ein Mensch, der gestoßen wird, fällt um, alle schweigen eine Minute, sind verwirrt<br />

... seufzen – und alles bleibt beim alten! ... Dann geht’s auf demselben Weg weiter... Immer im Finstern! Und<br />

alle sind sie auf dem gleichen Wege... das ist ein Gedränge, ja ... Sie aber, gnädiges Fräulein, sind sich keiner<br />

Schuld bewußt, Ihnen sind auch die Toten keine Hemmung, Sie können, auch wenn Tote im Hause sind, laut reden...<br />

Tatjana: Wie soll man es anders machen im Leben?... Wissen Sie das?<br />

Lewschin (geheimnisvoll): Die Kopeke muß man vernichten ... man muß sie wegtun ... Ist sie nicht mehr da, wozu<br />

soll man dann in Feindschaft leben, wozu einander verdrängen?<br />

Tatjana: Ist das alles?<br />

Lewschin: Für den Anfang genügt es.<br />

Tatjana: Willst du in den Garten gehen, Nadja?<br />

Nadja (nachdenklich): Gut...<br />

Der Schluß des Gespräches scheint mir charakteristisch für Tatjana. Der eigenartige „ökonomische<br />

Materialismus“ Lewschins konnte in ihr fürs erste nur den Wunsch wecken, „in den<br />

Garten zu gehen“. Wir wissen [852] bereits, daß sie Leidenschaften und Heldentum sehen<br />

will, aber die Erwägungen über die Kopeke lassen gleichsam auch nicht den allergeringsten<br />

Platz für Leidenschaft oder Heldentum. Die Kopeke ist etwas derart Prosaisches, daß alle<br />

diesbezüglichen Gespräche – wenigstens wenn sie so ganz ungewohnt sind – auf den „fein“<br />

empfindenden „Kulturmenschen“ unsagbar langweilig wirken müssen. Aber das ist es ja gerade:<br />

Lewschin erscheint dieses Problem in einem ganz anderen Lichte. Und das findet seine<br />

vollständige Erklärung darin, daß er die prosaische Kopeke von seinem besonderen, proletarischen<br />

Standpunkt aus betrachtet.<br />

Hier möchte ich mir eine kleine Abschweifung erlauben. Der verstorbene Nekrassow ließ<br />

10

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!