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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 und nicht die Revolutionäre. Und folglich muß die moralische Verantwortung für das Blutvergießen nicht die Aufständischen treffen, sondern eben diese Kreise. Der große Künstler Graf Tolstoi hat das nie begreifen können, denn [832] er war nicht nur nie ein großer, sondern überhaupt kein Staatsbürger. Das Reich, das ihn an sich zog, war nicht von dieser Welt: es war nur eine der zahlreichen Abarten des phantastischen himmlischen Reiches, während Herzen zu denen gehörte, die danach strebten, nach einem bekannten Ausspruch Heines, schon hier auf Erden das Himmelreich zu errichten und den Himmel den Engeln und Spatzen zu überlassen. Tolstoi hat die ergreifende Poesie des opferbereiten revolutionären Kampfes bei all seinem Künstlergefühl nicht verstanden und konnte sie nicht verstehen. Aber Herzen hat sie sehr wohl verstanden, wenn er auch den friedlichen Weg der Entwicklung vorgezogen hat, und jene Worte leidenschaftlicher Anteilnahme, mit denen er sich an die polnischen Revolutionäre gewandt hat, sind echte und wunderbare Gedichte in Prosa. Solcher Gedichte gibt es zu viele, als daß ich sie alle anführen könnte. Ich will zwei davon wiedergeben. „In der Tat, welcher Heldenmut, welch unüberwindliche Tapferkeit, welch unbezwingbare Liebe! Einer ganzen Armee, ja zwei, drei Armeen gegenüber, mit den schlimmsten Feinden im Rücken, offen das Banner der Empörung zu erheben und, der brutalen Selbstherrschaft den Fehdehandschuh hinwerfend, laut zu sagen: ‚Genug! Wir wollen nicht länger leiden. Hinaus mit dir, oder picke wie die Raben das Fleisch von unseren Leichen.‘“ 1 Und dieses hier: „Ja, meine polnischen Brüder, ob ihr nun zugrunde geht in euren Urwäldern, die Mickiewicz besungen, oder ob ihr frei in das freie Warschau zurückkehrt: die Welt kann euch gleichermaßen ihre Bewunderung nicht versagen. Ob ihr eine neue Ära der Unabhängigkeit und der Entwicklung einleitet oder ob ihr den jahrhundertelangen beispiellosen Kampf mit euerem Tode beschließt – ihr seid groß.“ Vergessen wir nicht, was wir Männern wie H[erze]n verdanken, und wünschen wir – da der Kampf unvermeidlich ist –‚ daß unsere künftigen Freiheitskämpfer die Reinheit des Rittertums mit dem ganzen Heldenmut des antiken Bürgers in sich vereinigen! Anmerkungen (Ein unveröffentlichter Vortrag) Nach den Erinnerungen B. I. Gorews „hielt Plechanow im Frühjahr 1912, am hundertsten Geburtstag Herzens, vor einem zahlreichen russischen Auditorium in Paris einen Vortrag über das Thema: ‚Tolstoi und Herzen‘. Um diese Zeit erreichte Plechanows Kampf gegen das ‚Liquidatorentum‘ der Menschewiki und den ‚philosophischen Revisionismus‘ seinen Höhepunkt.“ Der Anfang des Vortrags ist nicht erhalten; wir drucken den Text nach der Veröffentlichung in Bd. VI des „Literarischen Nachlasses G. W. Plechanows“ (S. 2 bis 13). 1 Das Zitat wird angeführt aus dem „Kolokol“ Nr. 155 vom 1. Februar 1863, Aufsatz von Herzen „Resurrexit“ (siehe Ges. Werke, Bd. XV, S. 26). Die Red. 9

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013 [833] Tolstoi und Herzen* (Erste Disposition eines unveröffentlichten Vortrags) Erste Stunde M[eine] H[erren]! Sie alle wissen sehr gut, daß jeder der beiden Schriftsteller, deren Namen im Titel meines Vortrags nebeneinanderstehen, eine Distanz von gewaltigem Ausmaß ist – wie Moskau in der anschaulichen Charakteristik Skalosubs 1 . Und nicht nur die liter[arischen] Begabungen. Sie sind grundverschieden in ihrer Denkart. Und Sie alle verstehen, daß der mindestens 10 Vorträge halten müßte, der sich zum Ziele setzte, ein so umfangreiches Thema wie den allseitigen Vergleich dieser beiden gewaltigen Distanzen auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Ich verfüge nicht über so viel Freizeit und bin zugegebenerweise nicht sicher, ob Sie die Geduld aufbrächten, mir so lange zuzuhören. Meine Aufgabe ist viel bescheidener. Ich erlaube mir indes anzunehmen, daß auch sie volle Aufmerksamkeit verdient. Ich möchte Tolstoi und Herzen hinsichtlich ihrer Stellung zu einer der größten sozialen Ideen unserer Zeit vergleichen: der Stellung zu der Idee, auf die sich die Tolstoische Lehre aufbaut: daß man sich dem Übel nicht gewaltsam widersetzen dürfe 2 . Widersetzt euch dem Übel nicht gewaltsam. Tolstoi hat diesen Gedanken bei Jesus gefunden. So sagt er. 3* Sei es wirklich so gewesen; welche Ideenassoziation hat aber diesen Gedanken in ihm ausgelöst? Es ist für uns sehr wichtig, das zu erfahren. Es ist dieser. Siehe Auszug Nr. 1. 4 Sie sehen: er dachte vor allem an die [834] Gerichte, obwohl man nicht weiß, ob Christus an sie gedacht hat, „falls“ er gedacht hat. Und er lehnte sie ab. Christus schrieb vor, man solle Böses mit Gutem vergelten – die Gerichte vergelten Böses mit Bösem. Christus verbot, Böse und Gute zu unterscheiden – die Gerichte befassen sich ausschließlich mit dieser Unterscheidung. Das sind die Glaubensbeweise. Darauf folgt der Herzensbeweis. Siehe Auszug Nr. 2. 5 Diesen Gedanken weiter- * Anmerkungen zu: Tolstoi und Herzen (S. 833-837) (Erste Disposition eines unveröffentlichten Vortrags) Wir drucken den Text nach Bd. VI des „Literarischen Nachlasses G. W. Plechanows“ (S. 44-48). 1 [Gestalt aus der Komödie „Verstand schafft Leiden“ von Gribojedow.] 2 Die untere Hälfte der Seite ist durchgestrichen. Wir führen sie an: „Diese Absicht mag wohl etwas sonderbar erscheinen. Sie kann zu der Frage Anlaß geben: Kann man denn bei Herzen solche Ideen finden, aus denen, wenn auch durch etwas gezwungene Interpretation...“ Der Satz ist nicht vollendet. Offenbar hat Plechanow die weiteren Seiten ausgerissen (davon zeugen drei Blattreste im Heft) und durch neuen Text ersetzt, der die direkte Fortsetzung des Vortrags ist. Red. L. N. 3* Tolstoi hat diesen seinen Gedanken ausgesprochen in dem Werk „Mein Glaube“. (Siehe L. Tolstoi, Sämtliche Werke, Bd. XX, Moskau 1913, S. 417.) 4 Wir bringen den im Archiv aufbewahrten Auszug, den Plechanow hier im Auge hat, überschrieben: „Auszug Nr. 1 Was mich zuerst stark beeindruckte, als ich das Gebot, sich dem Bösen nicht zu widersetzen, in seiner direkten Bedeutung begriff, war, daß die Gerichte der Men-[834]schen damit nicht nur unvereinbar sind, sondern in direktem Gegensatz dazu stehen, im Gegensatz auch zum Sinn der ganzen Lehre, und daß Christus, falls er an die Gerichte gedacht hat, sie verwerfen mußte.“ „Mein Glaube“ (Berliner Ausgabe 1902, S. 26; Ges. Werke, M. 1913, Bd. XX, S. 426). Red. L. N. 5 Wir bringen den diesbezüglichen Auszug mit der Überschrift: „Auszug Nr. 2 Ich, wie jeder, der in unserer Gesellschaft lebt, mußte, wenn er nur ein wenig über das Menschenlos nachdachte, entsetzt sein über das Leiden und das Übel, welches die menschlichen Strafgesetze über das Menschenleben bringen – ein Übel sowohl für die Gerichteten als auch für die Richtenden: von den Blutopfern des Dshingis-Khan und den Blutopfern der Revolution bis auf unsere Tage. Kein Mensch von Gefühl konnte sich dem Eindruck des Entsetzens und des Zweifels an dem Guten entziehen schon bei der bloßen Schilderung, geschweige denn beim An- 1

OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

und nicht die Revolutionäre. Und folglich muß die moralische Verantwortung für das Blutvergießen<br />

nicht die Aufständischen treffen, sondern eben diese Kreise.<br />

Der große Künstler Graf Tolstoi hat das nie begreifen können, denn [832] er war nicht nur<br />

nie ein großer, sondern überhaupt kein Staatsbürger. Das Reich, das ihn an sich zog, war<br />

nicht von dieser Welt: es war nur eine der zahlreichen Abarten des phantastischen himmlischen<br />

Reiches, während Herzen zu denen gehörte, die danach strebten, nach einem bekannten<br />

Ausspruch Heines, schon hier auf Erden das Himmelreich zu errichten und den Himmel den<br />

Engeln und Spatzen zu überlassen.<br />

Tolstoi hat die ergreifende Poesie des opferbereiten revolutionären Kampfes bei all seinem<br />

Künstlergefühl nicht verstanden und konnte sie nicht verstehen. Aber Herzen hat sie sehr<br />

wohl verstanden, wenn er auch den friedlichen Weg der Entwicklung vorgezogen hat, und<br />

jene Worte leidenschaftlicher Anteilnahme, mit denen er sich an die polnischen Revolutionäre<br />

gewandt hat, sind echte und wunderbare Gedichte in Prosa. Solcher Gedichte gibt es zu<br />

viele, als daß ich sie alle anführen könnte. Ich will zwei davon wiedergeben.<br />

„In der Tat, welcher Heldenmut, welch unüberwindliche Tapferkeit, welch unbezwingbare<br />

Liebe! Einer ganzen Armee, ja zwei, drei Armeen gegenüber, mit den schlimmsten Feinden<br />

im Rücken, offen das Banner der Empörung zu erheben und, der brutalen Selbstherrschaft<br />

den Fehdehandschuh hinwerfend, laut zu sagen: ‚Genug! Wir wollen nicht länger leiden.<br />

Hinaus mit dir, oder picke wie die Raben das Fleisch von unseren Leichen.‘“ 1<br />

Und dieses hier: „Ja, meine polnischen Brüder, ob ihr nun zugrunde geht in euren Urwäldern,<br />

die Mickiewicz besungen, oder ob ihr frei in das freie Warschau zurückkehrt: die Welt kann<br />

euch gleichermaßen ihre Bewunderung nicht versagen. Ob ihr eine neue Ära der Unabhängigkeit<br />

und der Entwicklung einleitet oder ob ihr den jahrhundertelangen beispiellosen<br />

Kampf mit euerem Tode beschließt – ihr seid groß.“<br />

Vergessen wir nicht, was wir Männern wie H[erze]n verdanken, und wünschen wir – da der<br />

Kampf unvermeidlich ist –‚ daß unsere künftigen Freiheitskämpfer die Reinheit des Rittertums<br />

mit dem ganzen Heldenmut des antiken Bürgers in sich vereinigen!<br />

Anmerkungen<br />

(Ein unveröffentlichter Vortrag)<br />

Nach den Erinnerungen B. I. Gorews „hielt Plechanow im Frühjahr 1912, am hundertsten<br />

Geburtstag Herzens, vor einem zahlreichen russischen Auditorium in Paris einen Vortrag<br />

über das Thema: ‚Tolstoi und Herzen‘. Um diese Zeit erreichte Plechanows Kampf gegen das<br />

‚Liquidatorentum‘ der Menschewiki und den ‚philosophischen Revisionismus‘ seinen Höhepunkt.“<br />

Der Anfang des Vortrags ist nicht erhalten; wir drucken den Text nach der Veröffentlichung<br />

in Bd. VI des „Literarischen Nachlasses G. W. Plechanows“ (S. 2 bis 13).<br />

1 Das Zitat wird angeführt aus dem „Kolokol“ Nr. 155 vom 1. Februar 1863, Aufsatz von Herzen „Resurrexit“<br />

(siehe Ges. Werke, Bd. XV, S. 26). Die Red.<br />

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