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erschien nennen menschenähnlichen

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OCR-Texterkennung durch Max Stirner Archiv Leipzig, 22.07.2013<br />

chen Verhältnisse umgestaltet werden müssen, wollte er durchaus nicht erklären, daß ihm die<br />

moralische Entwicklung des Individuums ungelegen sei. Im Gegenteil! Nach seiner Theorie<br />

ist die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse eine unbedingte Notwendigkeit gerade<br />

deshalb, weil sonst der Hang zum Verbrechen, d. h. die sittliche Verderbtheit wenigstens<br />

eines gewissen Teils der Bevölkerung, unvermeidlich ist: Die Umgestaltung der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse ist nicht das letzte Ziel und war niemals das letzte Ziel. Sie ist nur das<br />

Mittel zur Erreichung des letzten Ziels, d. h. der allseitigen und unter anderem auch sittlichen<br />

Entwicklung der Persönlichkeit. Außerdem – und das wird leider allzu wenig beachtet – setzt<br />

schon die Forderung nach gesellschaftlicher Organisation, als Vorbedingung einer allseitigen<br />

und [828] folglich auch der sittlichen Entwicklung der Persönlichkeit, indem sie das Mitgefühl<br />

für die Menschen zur Voraussetzung hat, ein gewisses hohes Niveau der sittlichen Entwicklung<br />

bei dem, der dieses Mitgefühl hat, voraus. Und je energischer ein Mensch um die<br />

Verwirklichung seines gesellschaftlichen Ideals kämpft, je mehr Selbstaufopferung er in diesem<br />

Kampfe an den Tag legt, desto höher steigt er auf der Stufenleiter der sittlichen Entwicklung.<br />

Folglich muß man die angebliche Antinomie – entweder sittliche Vervollkommnung<br />

der Persönlichkeit oder gesellschaftliche Umgestaltung – als eine törichte Erfindung von Geistern<br />

verwerfen, die von dieser Sache ganz und gar nichts verstehen. Sowohl in diesem als<br />

auch in jenem Falle ist das Ziel das gleiche: die Vervollkommnung der Individuen, aus denen<br />

die Gesellschaft letzten Endes besteht. Der Unterschied liegt nur in den Mitteln. Der Unterschied<br />

liegt nur in der Frage, was wir zur notwendigen und hinreichenden Vorbedingung einer<br />

Entwicklung der Persönlichkeiten erklären müssen: die vernünftige Organisation der Beziehungen<br />

zwischen ihnen, d. h. die soziale Reform, die soziale Revolution – wie Sie es <strong>nennen</strong><br />

wollen – oder die bloße, mitunter sehr talentvolle Wiederholung der alten Gebote: Du<br />

sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht fluchen, du<br />

sollst dich nicht betrinken, du sollst nicht Tabak rauchen usw. Die Sozialisten, Feuerbach,<br />

und mit ihnen auch Herzen, betrachteten die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

als diese Voraussetzung. Tolstoi vertraute auf die Wiederholung der Gebote. Darum ist<br />

seine Lehre, trotz teilweiser Übereinstimmung, dem Sozialismus entgegengesetzt. Und darum<br />

sagt er mit Recht, daß man seine Lehre nur kraft einer „Verwirrung der Begriffe“ der Lehre<br />

der Sozialisten gleichsetzen kann. „Die Sozialisten raten, man solle das Eigentum vernichten,<br />

ich aber rate, es zu ignorieren.“ 1 Die geschichtliche Erfahrung hat gezeigt, daß man das Eigentum<br />

nicht ignorieren kann. Aber Tolstoi ist mit dieser Schwierigkeit sehr einfach fertiggeworden:<br />

er hat auch die geschichtliche Erfahrung ignoriert.<br />

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die Frage der Gewalt überhaupt in einem<br />

völlig anderen Licht. Es handelt sich nunmehr durchaus nicht darum, ob man dem Verbrecher<br />

den Rücken „auspeitschen“ soll. Herzen und Tolstoi sagen einmütig, man darf nicht auspeitschen,<br />

wobei Tolstoi den Gedanken Herzens nur wiederholt. Es handelt sich darum, ob es<br />

erlaubt ist, Gewalt anzuwenden, wenn sie notwendig ist, um die Auspeitschungen zu verhindern,<br />

d. h. um die gesellschaftlichen Verhältnisse umzugestalten. Erläutern. Die Büchse der<br />

Pandora. Hier ist Tolstoi völlig anderer Meinung als Herzen, und er hat auf seine Art recht.<br />

[829] Wenn ich sage: man muß das Eigentum ignorieren, so erkläre ich alle Handlungen für<br />

völlig überflüssig, die auf eine Änderung seiner Formen abzielen. Tolstoi mußten die Fragen<br />

der gesellschaftlichen Umgestaltung ganz gleichgültig sein. Als er aber dem Kampfe, der<br />

wegen dieser Umgestaltung geführt wurde, seine Aufmerksamkeit zuwandte, gab er seine<br />

indifferente Haltung auf und wurde zum Ankläger, indem er den Männern des Kampfes immer<br />

wieder sagte: Wenn wir zu dem einen Mord noch einen anderen hinzufügen, vergrößern<br />

wir nur die Summe des Übels auf der Erde. Diese primitive Kriminalarithmetik konnte die<br />

1 [Das Zitat ist aus „Reife Ähren“ entnommen.]<br />

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